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Oliver Twist wird in einem Armenhaus geboren. Die Mutter stirbt kurz nach der Geburt und hinterlässt nur ein kleines, geheimnisvolles Medaillon, das ihr ein alter Armenhausarbeiter abnimmt. Der Junge wächst als Waisenkind auf, ohne zu wissen, woher er stammt. Mit neun Jahren muss er ins Armenhaus gehen, weil er zu alt für das Waisenhaus ist. Dort sieht er sich Gewalt und willkürlicher Strafe ausgesetzt. Oliver wird für fünf Pfund an den Bestatter Sowerberry verkauft, um bei ihm in die Lehre zu gehen. Auch hier meint es das Schicksal schlecht mit ihm, und er flieht nach London. Dort angekommen, gerät er in die Fänge von Fagin, einem alten jüdischen Hehler, der Waisenkinder zu Verbrechern ausbildet: Zusammen mit dem Baldowerer und seinem Kumpel soll Oliver das Handwerk des Taschendiebstahls erlernen, wird aber von der Polizei erwischt. Der Geschädigte, ein freundlicher Mann namens Brownlow, setzt sich für Oliver ein und kümmert sich um ihn. Zum ersten Mal wird der Junge gut behandelt, aber sein Glück währt nicht lange. Er wird erneut von Fagin erwischt und muss mit einem der größten Verbrecher Londons einen Einbruch begehen. Und schließlich kommt auch noch ein unheimlicher Mensch namens Monks ins Spiel... Mit "Oliver Twist" prangerte Dickens die sozialen Missstände der damaligen Zeit an. Der Roman schildert auf unromantische Weise das schmutzige Leben von Verbrechern und stellt die grausame Behandlung der vielen Waisenkinder im London der Mitte des 19. Jahrhunderts dar. Der Waisenjunge Oliver wird körperlich und seelisch misshandelt und erfährt nur von wenigen Menschen Freundlichkeit und Mitleid. Die Armen und Kranken erscheinen als Aussätzige in einer Welt der Stärkeren und sozial Überlegenen. Ungerechtigkeit, Hunger und Tod sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Charles Dickens schmückt seine Geschichte mit ironischen, oft zynischen Beschreibungen aus. In diesem frühen Beispiel des Gesellschaftsromans persifliert Dickens Kinderarbeit, häusliche Gewalt, die Rekrutierung von Kindern als Kriminelle und die Präsenz von Straßenkindern. Die Beschreibungen der Grausamkeiten gegenüber den Armen und Schwachen sind aus heutiger Sicht oft so absurd, dass man sie kaum glauben kann. Nach dem Erscheinen des Romans wurde zum ersten Mal das Armengesetz diskutiert und erfolgreich geändert. Dies ist der erste von drei Bänden.
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Seitenzahl: 174
CHARLES DICKENS
OLIVER TWIST
ROMAN IN DREI BÄNDEN
BAND EINS
Aus dem EnglischenvonJ u l i u s S e y b t
OLIVER TWIST wurde im englischen Original zuerst als Serie veröffentlicht in der Zeitschrift Bentely´s Miscellany, England 1837-39.
Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
1. Auflage 2021
V 1.0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
Band Eins
ISBN 978-3-96130-426-4
Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
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Inhaltsverzeichnis
OLIVER TWIST. Band Eins
Impressum
ERSTER BAND
Erstes Kapitel. Handelt von dem Orte, an dem Oliver Twist geboren wurde, und von den seine Geburt begleitenden Umständen.
Zweites Kapitel. Handelt von Oliver Twists Heranwachsen und kümmerlicher Ernährung sowie von einer Sitzung des Armenkollegiums.
Drittes Kapitel. Berichtet, wie Oliver Twist nahe daran war, eine Anstellung zu bekommen, welche keine Sinekure gewesen wäre.
Viertes Kapitel. Oliver Twist, dem eine neue Stellung angeboten wird, tritt in das bürgerliche Leben ein.
Fünftes Kapitel. Oliver unter neuen Umgebungen und bei einem Leichenbegängnisse.
Sechstes Kapitel. In welchem Oliver kräftig auftritt.
Siebentes Kapitel. Oliver bleibt widerspenstig.
Achtes Kapitel. Oliver geht nach London und trifft mit einem absonderlichen jungen Gentleman zusammen.
Neuntes Kapitel. Weitere Mitteilungen über den alten Herrn und seine hoffnungsvollen Zöglinge.
Zehntes Kapitel. Oliver gewinnt Erfahrung um einen hohen Preis.
Elftes Kapitel. Wie Mr. Fang die Gerechtigkeit handhabte.
Zwölftes Kapitel. In welchem für Oliver bessere Fürsorge getragen wird, als er sie noch in seinem ganzen Leben erfahren. Die Geschichte kehrt zu dem lustigen alten Herrn und seinen hoffnungsvollen Zöglingen zurück.
Dreizehntes Kapitel. Der Leser macht einige neue Bekanntschaften.
Vierzehntes Kapitel. In welchem Mr. Grimwig auftritt.
Fünfzehntes Kapitel. Was Oliver auf dem Wege zum Buchhändler begegnete.
Sechzehntes Kapitel. Was sich mit dem entführten Oliver begab.
Siebzehntes Kapitel. Olivers Schicksal bleibt fortwährend günstig.
Achtzehntes Kapitel. Wie Oliver seine Zeit in der sittenverbessernden Gesellschaft seiner achtungswürdigen Freunde zubrachte.
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Zu guter Letzt
ERSTER BAND
Eine Stadt, die ich aus gewissen Gründen nicht näher bezeichnen will, der ich aber auch keinen erdichteten Namen beilegen möchte, besitzt unter anderen öffentlichen Gebäuden gleich den meisten anderen Städten, sie mögen groß oder klein sein, von altersher ein Armenhaus, und in diesem wurde an einem Tage, dessen genaues Datum für den Leser kein besonderes Interesse hat, das Mitglied der sterblichen Menschheit geboren, dessen Name in der Überschrift dieses Kapitels angegeben ist.
Lange Zeit, nachdem der Wundarzt des Kirchspiels ihn in diese Welt der Mühen und Sorgen befördert hatte, blieb es äußerst zweifelhaft, ob er lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Es war nämlich tatsächlich mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, Oliver dahin zu bringen, daß er sich der Aufgabe, Atem zu holen, selbst unterzog – einem mühsamen Geschäfte, das die Gewohnheit uns aber freilich zu einer notwendigen Lebensbedingung gemacht hat; eine Zeitlang lag er nach Luft schnappend auf einer kleinen Matratze aus Schafwolle und schien sich in der Schwebe zwischen dieser und jener Welt zu befinden, wobei die Wage sich entschieden zugunsten der letzteren neigte. Wenn Oliver während dieser kurzen Zeit von sorglichen Großmüttern, geschäftigen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelahrten Doktoren umgeben gewesen wäre, so würde er natürlich die Stunde nicht überlebt haben; allein es war niemand in seiner Nähe, außer einer alten Frau, die sich infolge des ungewohnten Genusses von Bier in einer etwas angeheiterten Stimmung befand, und dem Kirchspielwundarzte, der die Geburtshilfe kontraktmäßig leistete. Oliver und die Natur fochten also die Sache zwischen sich ganz allein aus, und die Folge davon war, daß nach kurzem Kampfe Oliver atmete, nieste und endlich den Insassen des Armenhauses die Tatsache ankündigte, daß dem Kirchspiele eine neue Last aufgebürdet worden sei, indem er ein so lautes Geschrei erhob, wie man es füglicherweise von einem neugeborenen Knaben erwarten konnte.
Als Oliver diesen ersten Beweis von der freien und selbständigen Tätigkeit seiner Lungen gab, bewegte sich die geflickte Decke, die nachlässig über die eiserne Bettstelle gebreitet war; das bleiche Antlitz einer jungen Frau erhob sich matt von dem harten Pfühle, und eine schwache Stimme brachte mühsam die Worte hervor: »Lassen Sie mich das Kind sehen, dann will ich gern sterben.«
Der Wundarzt, der vor dem Kamine saß und seine Hände abwechselnd an dem Feuer wärmte und rieb, erhob sich bei den Worten der jungen Frau, trat an das Kopfende des Bettes und sagte mit mehr Freundlichkeit im Tone, als man ihm zugetraut haben würde: »O, Sie dürfen jetzt nicht vom Sterben sprechen.«
»Der Herr segne ihr gutes Herzchen, nein!« unterbrach ihn die Wärterin, indem sie eine grüne Glasflasche, von deren Inhalt sie in einer verschwiegenen Ecke mit sichtlichem Behagen gekostet hatte, rasch in die Tasche steckte. »Der Herr segne ihr gutes Herzchen; wenn sie erst so alt geworden ist wie ich und dreizehn Kinder gehabt hat und alle sind tot bis auf zwei, die zusammen mit mir im Armenhause sind, so wird sie schon auf andere und vernünftigere Gedanken kommen; der Herr segne ihr gutes Herzchen. Bedenken Sie nur, Frauchen, was es heißt, Mutter eines so süßen kleinen Lämmchens zu sein.«
Diese tröstlichen Worte schienen ihre Wirkung zu verfehlen. Die Wöchnerin schüttelte den Kopf und streckte die Arme nach dem Kinde aus. Der Wundarzt reichte es ihr, sie küßte es, heftig erregt, mit den kalten weißen Lippen auf die Stirn, fuhr mit den Händen über ihr Gesicht, blickte wild umher, schauderte, sank zurück – und starb.
»’s ist aus mit ihr,« sagte der Wundarzt nach einigen vergeblichen Bemühungen, sie wieder zum Leben zurückzubringen.
»Das arme Kind!« sagte die Wärterin, indem sie den Pfropfen der grünen Flasche aufhob, der auf das Kissen gefallen war, als sie sich niederbeugte, um das Kind aufzunehmen. »Armes Kind!«
»Sie brauchen nicht zu mir zu schicken, wenn das Kind schreit,« fuhr der Wundarzt fort, während er kaltblütig seine Handschuhe anzog. »Es wird wahrscheinlich sehr unruhig sein; geben Sie ihm dann ein wenig Hafergrütze.«
Er setzte den Hut auf, trat aber noch einmal an das Bett und sagte: »Die Mutter sah gut aus; woher kam sie?«
»Sie wurde gestern abend gebracht,« erwiderte die Wärterin, »auf Befehl des Direktors. Man hatte sie auf der Straße liegend gefunden, und sie muß ziemlich weit hergewandert sein, denn ihre Schuhe waren ganz zerrissen; aber woher sie kam, oder wohin sie wollte, das weiß niemand.«
Der Wundarzt beugte sich über die Verblichene, hob die rechte Hand derselben empor und bemerkte kopfschüttelnd: »Die alte Geschichte; kein Trauring, wie ich sehe. Hm! gute Nacht!«
Er ging zu seinem Abendessen, und die Wärterin setzte sich, nachdem sie sich noch einmal an der grünen Flasche erlabt hatte, auf einen Stuhl in der Nähe des Feuers und begann das Kind anzukleiden. Bis zu diesem Augenblicke hätte man nicht sagen können, ob es das Kind eines Edelmanns oder eines Bettlers sei; das dürftige, verwaschene Kinderzeug des Armenhauses bezeichnet indes sogleich seine gegenwärtige und zukünftige Stellung in der Welt, sein ganzes Schicksal, als Kirchspielkind – Waise des Armenhauses, halb verhungert und unter Mühe und Plackerei, verachtet von allen, bemitleidet von niemand, durch die Welt geknufft und gestoßen zu werden.
Oliver schrie mit kräftiger Stimme; hätte er wissen können, daß er eine Waise war, überliefert der zärtlichen Fürsorge von Kirchenältesten und Kirchenvorstehern, so würde er vielleicht noch lauter geschrien haben.
Während der nächsten acht bis zehn Monate war Oliver das Opfer einer systematischen Gaunerei und Betrügerei. Er wurde aufgepäppelt. Die elende und verlassene Lage der kleinen Waise wurde von der Behörde des Armenhauses pflichtschuldigst der des Kirchspiels gemeldet. Die letztere forderte von der ersteren würdevoll einen Bericht darüber ab, ob sich nicht in »dem Hause« eine Frauensperson befände, die dem Kinde seine natürliche Nahrung reichen könnte. Die Behörde des Armenhauses beantwortete die Anfrage untertänigst mit nein, und daraufhin faßte die Kirchspielbehörde den hochherzigen Entschluß, Oliver in ein etwa drei Meilen entferntes Filialarmenhaus bringen zu lassen, wo zwanzig bis dreißig andere kleine Übertreter der Armengesetze unter der mütterlichen Aufsicht einer ältlichen Frau, welche für jeden derselben wöchentlich sieben und einen halben Penny erhielt, aufwuchsen, ohne zu gut genährt oder zu warm gekleidet und verzärtelt zu werden. Mit sieben und einem halben Penny läßt sich nicht viel beschaffen, und die Matrone war klug und erfahren. Sie wußte, wie leicht sich Kinder den Magen überladen können und was ihnen dient, ebenso genau aber auch, was ihr selbst gut war; sie verwendete daher einen beträchtlichen Teil des für die Kinder Bestimmten in ihrem eignen Nutzen, fand demnach in der tiefsten noch eine tiefere Tiefe und bewies somit, daß sie es in der Experimentalphilosophie wirklich weit gebracht hatte.
Jedermann kennt die Geschichte eines anderen Experimentalphilosophen, nach dessen ruhmwürdiger Theorie ein Pferd imstande war, ohne Nahrung zu leben, und der jene so vortrefflich demonstrierte, daß er sein eignes Pferd bis auf einen Strohhalm den Tag herunterbrachte, und ohne Frage ein äußerst mutiges, kräftiges und gar nicht fressendes Tier aus ihm gemacht haben würde, wenn es nicht vierundzwanzig Stunden vor seinem ersten komfortablen vollkommenen Hungertage gestorben wäre. Die mehrerwähnte Matrone wendete dasselbe System nicht selten mit gleichem Unglücke auf die Kirchspielkinder an, deren nicht wenige vor Kälte oder Hunger, oder weil sie einen Fall getan oder sich verbrannt hatten, starben und zu ihren Vätern in jener Welt, die sie in dieser nicht gekannt, versammelt wurden, wenn sie sie eben mit vieler Mühe so weit gebracht hatte, daß sie von der möglichst geringen Quantität möglichst schwacher Nahrungsmittel leben konnten.
Stellten die Direktoren unangenehme Untersuchungen über den Verbleib eines Kindes an oder taten die Geschworenen lästige Fragen, so schützten das Zeugnis und die Aussage des Wundarztes und des Kirchspieldieners gegen diese Zudringlichkeiten. Der erstere hatte stets die Leichen geöffnet und nichts darin gefunden (was sehr natürlich zuging), und der letztere beschwor stets, was dem Kirchspiel angenehm war, und gab damit einen großen Beweis von Selbstaufopferung und Hingebung. Das Armenkollegium besuchte von Zeit zu Zeit die Filialanstalt und schickte tags zuvor den Kirchspieldiener, um seine Ankunft zu verkünden. Und dann sahen die Kinder stets gut und reinlich aus, und was konnte man mehr verlangen?
Es war nicht zu verlangen, daß die in der Filiale herrschende Hausordnung ein allzu üppiges Gedeihen der Kinder beförderte, und so war auch Oliver Twist an seinem neunten Geburtstage ein blasses, schwächliches, im Wachstum zurückgebliebenes Kind, von sehr geringem Leibesumfange; doch wohnte in ihm ein gesunder, kräftiger Geist, der auch, dank der strengen Diät des Hauses, hinreichenden Raum hatte, sich auszudehnen. Oliver feierte seinen Geburtstag im Kohlenkeller in der erlesenen Gesellschaft zweier anderer junger Herren, die nach einer tüchtigen Tracht Schläge hier mit ihm eingesperrt worden waren, weil sie sich erkühnt hatten, hungrig zu sein, als Frau Mann, die gutherzige Pflegerin, durch die Erscheinung Mr. Bumbles, des Kirchspieldieners, der dem Gartenpförtchen zuschritt, in Schrecken gesetzt wurde.
»Du meine Güte, sind Sie es, Mr. Bumble?« rief sie ihm aus dem Fenster, anscheinend hoch erfreut, entgegen. – »Susanne, bring’ gleich den Oliver und die andern beiden Buben herauf und wasch’ sie. Ach, Mr. Bumble, wie lange haben Sie sich nicht sehen lassen!«
Mr. Bumble war ein wohlbeleibter und dazu cholerischer Mann, und so rüttelte er, anstatt auf diese freundliche Begrüßung in höflicher Weise zu antworten, wütend an der kleinen Pforte und gab ihr dann einen Stoß, wie ihn nur ein Kirchspieldiener versetzen konnte.
»Herr des Himmels!« rief Mrs. Mann, indem sie aus dem Zimmer stürzte – denn die drei Knaben waren inzwischen entfernt worden –, »daß ich es auch dieser lieben Kinder wegen vergessen mußte, daß die Tür von innen verriegelt ist. Treten Sie ein, Sir, bitte, treten Sie ein, Mr. Bumble! Haben Sie die Güte.«
Obgleich diese Einladung von einem freundlichen Lächeln begleitet war, das sogar das Herz eines Kirchenältesten erweicht haben würde, besänftigte es den Kirchspieldiener doch keineswegs.
»Nennen Sie das einen respektvollen oder schicklichen Empfang, Mrs. Mann,« fragte Bumble, indem er seinen Stab fester in die Hand nahm, »wenn Sie die Kirchspielbeamten an Ihrer Gartenpforte warten lassen, wenn sie in Parochialangelegenheiten in betreff der Parochialkinder hierher kommen?«
»Ich kann Sie versichern, Mr. Bumble, daß ich nur ein paar der lieben Kinder bei mir hatte, wegen deren Sie so freundlich sind, herzukommen,« erwiderte Mrs. Mann mit großer Unterwürfigkeit.
Mr. Bumble hegte eine hohe Meinung von seiner oratorischen Begabung und seiner Wichtigkeit. Er hatte die eine bewiesen und die andere gewahrt. Er war in milderer Stimmung.
»Nun, nun, Mrs. Mann,« sagte er, »es mag sein, wie Sie sagen, es mag sein. Lassen Sie mich hinein, Mrs. Mann; ich komme in Geschäften und habe Ihnen etwas zu sagen.«
Mrs. Mann nötigte den Kirchspieldiener in ein kleines Sprechzimmer, bot ihm einen Stuhl an und legte dienstbeflissen seinen dreieckigen Hut und seinen Stab auf den Tisch vor ihm. Mr. Bumble wischte sich den Schweiß von der Stirn, blickte freundlich auf den dreieckigen Hut und lächelte. Ja, er lächelte. Kirchspieldiener sind auch nur Menschen, und Mr. Bumble lächelte.
»Nehmen Sie es mir nicht übel, was ich Ihnen sagen will,« bemerkte Mrs. Mann mit bezaubernder Liebenswürdigkeit. »Sie wissen, Sie haben einen weiten Weg hinter sich; wollen Sie nicht ein Gläschen nehmen?«
»Nicht einen Tropfen, nicht einen Tropfen,« versetzte Mr. Bumble, indem er mit seiner rechten Hand in würdevoller, aber freundlicher Weise abwinkte.
»Ich denke, Sie werden mir schon den Gefallen tun,« sagte Mrs. Mann, die den Ton der Weigerung und die diese begleitende Gebärde bemerkt hatte. »Nur ein ganz kleines Gläschen mit einem Schluck kalten Wassers und einem Stück Zucker.«
Mr. Bumble hustete.
»Nur ein ganz kleines Gläschen,« wiederholte Mrs. Mann in dringendem Tone.
»Was ist es denn?« fragte der Kirchspieldiener.
»Nun, es ist das, von dem ich etwas im Hause zu halten verpflichtet bin, um es den lieben Kindern in den Kaffee gießen zu können, wenn sie nicht wohl sind, Mr. Bumble,« entgegnete Mrs. Mann, während sie ein Eckschränkchen öffnete und eine Flasche und ein Glas herausnahm. »Es ist Genever, ich will Sie nicht hintergehen, Mr. Bumble. Es ist Genever.«
»Geben Sie den Kindern Kaffee, Mrs. Mann?« fragte Bumble, der mit seinen Augen den interessanten Vorgang der Mischung verfolgte.
»Ach, gesegne es ihnen Gott, ich tue es, so kostspielig es auch sein mag,« versetzte die Wärterin. »Ich könnte sie vor meinen leiblichen Augen nicht leiden sehen, Sir, Sie wissen es ja.«
»Nein,« sagte Mr. Bumble beistimmend; »nein, Sie könnten es nicht. Sie sind eine menschlich denkende Frau, Mrs. Mann.« (Hier setzte sie das Glas vor ihn hin.) »Ich werde sobald wie möglich Gelegenheit nehmen, es dem Kollegium gegenüber zu erwähnen, Mrs. Mann.« (Er zog das Glas näher zu sich heran.) »Sie empfinden wie eine Mutter.« (Er ergriff das Glas.) »Ich – ich trinke mit Vergnügen auf Ihre Gesundheit, Mrs. Mann«; und er trank es zur Hälfte aus.
»Und nun zu den Geschäften!« rief der Kirchspieldiener, indem er eine lederne Brieftasche hervorzog. »Der Knabe, der halb auf den Namen Oliver Twist getauft wurde, ist heut neun Jahre alt.«
»Des Himmels Segen über das liebe Herzchen!« rief Mrs. Mann aus und mußte die Augen mit der Schürze abtrocknen.
Mr. Bumble fuhr fort: »Trotz ausgebotener Belohnung von zehn Pfund, ja nachher von zwanzig Pfund – trotz der übernatürlichen Anstrengungen des Kirchspiels, sind wir nicht imstande gewesen, seinen Vater ausfindig zu machen oder seiner Mutter Wohnung, Namen oder Stand in Erfahrung zu bringen.«
»Wie geht es denn aber zu, daß er einen Namen hat?« fragte die Waisenmutter.
Der Kirchspieldiener warf sich in die Brust und erwiderte »Ich erfand ihn.«
»Sie, Mr. Bumble!«
»Ich, Mrs. Mann. Wir benennen unsere Findlinge nach dem Alphabet. Der letzte war ein S – Swubble: ich benannte ihn. Dieser war ein T – Twist: ich gab ihm abermals den Namen. Der nächste, der kommen wird, wird Unwin heißen, der nächstfolgende Vilkins. Ich habe Namen im Vorrat von A bis Z; und wenn ich beim Z angekommen bin, fang’ ich beim A wieder an.«
»Sie sind wirklich ein Gelehrter, Mr. Bumble!«
»Mag sein, mag sein, Mrs. Mann. Doch genug davon. Oliver ist jetzt zu alt geworden zum Hierbleiben, das Kollegium hat beschlossen, ihn zurückzunehmen, ich bin selbst gekommen, ihn abzuholen; – wo ist er?«
Mrs. Mann eilte hinaus und erschien gleich darauf mit Oliver wieder, der unterdes gewaschen und bestens gekleidet war.
»Mach ’nen Diener vor dem Herrn, Oliver,« sagte sie.
Oliver verbeugte sich tief vor dem Kirchspieldiener auf dem Stuhle und dem dreieckigen Hute auf dem Tische.
»Willst du mit mir gehen, Oliver?« redete ihn Mr. Bumble in feierlichem Tone an.
Oliver war im Begriff, zu antworten, daß er auf das bereitwilligste mit jedermann fortgehen würde, hob aber zufällig die Augen zu Mrs. Mann empor, die hinter des Kirchspieldieners Stuhl getreten war und mit grimmigen Mienen die Faust schüttelte. Er wußte nur zu gut, was das bedeutete.
»Geht sie auch mit?« fragte er.
»Das ist unmöglich; sie wird aber bisweilen kommen und dich besuchen,« erwiderte Bumble.
Das war kein großer Trost für Oliver; allein er hatte trotz seiner Jugend Verstand genug, sich anzustellen, als verließe er das Haus nur sehr ungern; ohnehin standen ihm die Tränen infolge des Hungers und soeben erfahrener harter Züchtigung nahe genug. Mrs. Mann umarmte ihn wiederholt und gab ihm, was er am meisten bedurfte, ein großes Stück Butterbrot, damit er im Armenhause nicht zu hungrig anlangte. Die Sache war natürlich abgemacht. Sein Butterbrot in der Hand, verließ er die Stätte, wo kein Strahl eines freundlichen Blickes das Dunkel seiner ersten Kinderjahre erhellt hatte. Und doch brach er in Tränen kindlichen Schmerzes aus, als das Gartentor sich hinter ihm schloß. Verließ er doch seine Leidensgefährten, die einzigen Freunde, die er in seinem Leben gekannt hatte; und zum erstenmal, seit dem Erwachen seines Bewußtseins, empfand er ein Gefühl seiner Verlassenheit in der großen weiten Welt. Mr. Bumble schritt kräftig vorwärts; der kleine Oliver trabte neben ihm her und fragte am Ende jeder Meile, ob sie nicht bald »da« sein würden. Auf diese Fragen gab Mr. Bumble sehr kurze und mürrische Antworten; denn die zeitweilige Milde, die der Genuß von Genever und Wasser in manchen Gemütern erzeugt, war längst verflogen, und er war wiederum Kirchspieldiener.
Oliver war noch nicht eine Viertelstunde innerhalb der Mauern des Armenhauses gewesen und hatte kaum ein zweites Stück Brot vertilgt, als Mr. Bumble, der ihn der Obhut einer alten Frau übergeben hatte, zurückkehrte. Er erklärte ihm, daß heut abend eine Sitzung des Armenkollegiums stattfände und daß er sofort vor diesem zu erscheinen habe.
Oliver, der keine allzu klare Vorstellung von dem hatte, was ein Armenkollegium zu bedeuten habe, war von dieser Mitteilung wie betäubt und wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er hatte jedoch keine Zeit, über diesen Punkt nachzudenken; denn Mr. Bumble versetzte ihm mit seinem Stabe einen Schlag auf den Kopf, um ihn aufzuwecken, und einen anderen über den Rücken, um ihn munter zu machen. Dann befahl er ihm, ihm zu folgen, und führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, in dem acht bis zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch herumsaßen. Oben am Tische saß in einem Armstuhl, der höher war als die übrigen, ein besonders wohlgenährter Herr mit einem sehr runden, roten Gesichte.
»Mache dem Kollegium eine Verbeugung,« sagte Bumble. Oliver zerdrückte zwei oder drei Tränen in seinen Augen, und da er kein Kollegium, sondern nur den Tisch sah, so machte er vor diesem eine wohlgelungene Verbeugung.
»Wie heißt du, Junge?« begann der Herr auf dem großen Stuhle.