Oliver Twist. Band Zwei - Charles Dickens - E-Book

Oliver Twist. Band Zwei E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Oliver Twist wird in einem Armenhaus geboren. Die Mutter stirbt kurz nach der Geburt und hinterlässt nur ein kleines, geheimnisvolles Medaillon, das ihr ein alter Armenhausarbeiter abnimmt. Der Junge wächst als Waisenkind auf, ohne zu wissen, woher er stammt. Mit neun Jahren muss er ins Armenhaus gehen, weil er zu alt für das Waisenhaus ist. Dort sieht er sich Gewalt und willkürlicher Strafe ausgesetzt. Oliver wird für fünf Pfund an den Bestatter Sowerberry verkauft, um bei ihm in die Lehre zu gehen. Auch hier meint es das Schicksal schlecht mit ihm, und er flieht nach London. Dort angekommen, gerät er in die Fänge von Fagin, einem alten jüdischen Hehler, der Waisenkinder zu Verbrechern ausbildet: Zusammen mit dem Baldowerer und seinem Kumpel soll Oliver das Handwerk des Taschendiebstahls erlernen, wird aber von der Polizei erwischt. Der Geschädigte, ein freundlicher Mann namens Brownlow, setzt sich für Oliver ein und kümmert sich um ihn. Zum ersten Mal wird der Junge gut behandelt, aber sein Glück währt nicht lange. Er wird erneut von Fagin erwischt und muss mit einem der größten Verbrecher Londons einen Einbruch begehen. Und schließlich kommt auch noch ein unheimlicher Mensch namens Monks ins Spiel... Mit "Oliver Twist" prangerte Dickens die sozialen Missstände der damaligen Zeit an. Der Roman schildert auf unromantische Weise das schmutzige Leben von Verbrechern und stellt die grausame Behandlung der vielen Waisenkinder im London der Mitte des 19. Jahrhunderts dar. Der Waisenjunge Oliver wird körperlich und seelisch misshandelt und erfährt nur von wenigen Menschen Freundlichkeit und Mitleid. Die Armen und Kranken erscheinen als Aussätzige in einer Welt der Stärkeren und sozial Überlegenen. Ungerechtigkeit, Hunger und Tod sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Charles Dickens schmückt seine Geschichte mit ironischen, oft zynischen Beschreibungen aus. In diesem frühen Beispiel des Gesellschaftsromans persifliert Dickens Kinderarbeit, häusliche Gewalt, die Rekrutierung von Kindern als Kriminelle und die Präsenz von Straßenkindern. Die Beschreibungen der Grausamkeiten gegenüber den Armen und Schwachen sind aus heutiger Sicht oft so absurd, dass man sie kaum glauben kann. Nach dem Erscheinen des Romans wurde zum ersten Mal das Armengesetz diskutiert und erfolgreich geändert. Dies ist der zweite von drei Bänden.

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Seitenzahl: 224

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CHARLES DICKENS

 

OLIVER TWIST

 

ROMAN IN DREI BÄNDEN

 

BAND ZWEI

 

 

Aus dem EnglischenvonJ u l i u s S e y b t

 

 

OLIVER TWIST wurde im englischen Original zuerst als Serie veröffentlicht in der Zeitschrift Bentely´s Miscellany, England 1837-39.

Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

1. Auflage 2021

V 1.0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 Band Zwei

ISBN 978-3-96130-427-1

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

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Inhaltsverzeichnis

OLIVER TWIST. Band Zwei

Impressum

ZWEITER BAND

Erstes Kapitel. In welchem ein verhängnisvoller Plan besprochen und beschlossen wird.

Zweites Kapitel. In welchem Oliver Sikes überliefert wird.

Drittes Kapitel. Der Aufbruch.

Viertes Kapitel. Der Einbruch.

Fünftes Kapitel. Welches das Wesentliche einer anmutigen Unterredung zwischen Mr. Bumble und einer Dame enthält, und zugleich dartut, daß sogar ein Kirchspieldiener in einigen Punkten empfänglich sein kann.

Sechstes Kapitel. Welches sehr kurz ist, aber doch für wichtig befunden werden könnte.

Siebentes Kapitel. Worin die Erzählung wieder zu Fagin und Konsorten zurückkehrt.

Achtes Kapitel. In welchem eine geheimnisvolle Person auftritt und viel von der Erzählung Untrennbares geschieht.

Neuntes Kapitel. In dem die Unhöflichkeit eines früheren Kapitels bestmöglichst wieder gut gemacht wird.

Zehntes Kapitel. Was Oliver nach dem mißlungenen Einbruche begegnete.

Elftes Kapitel. Von den Bewohnern des Hauses, in welchem Oliver sich befand.

Zwölftes Kapitel. Was die beiden Damen Maylie und Doktor Losberne von Oliver denken.

Dreizehntes Kapitel. Eine kritische Situation.

Vierzehntes Kapitel. Von dem glücklichen Leben, das Oliver bei seinen gütigen Gönnerinnen zu führen anfing.

Fünfzehntes Kapitel. In dem Olivers und seiner Gönnerinnen Glück eine plötzliche Störung erleidet.

Sechzehntes Kapitel. In welchem ein junger Herr auftritt und Oliver ein neues Abenteuer erlebt.

Siebzehntes Kapitel. Das Endergebnis des Abenteuers, das Oliver begegnet war, und eine Unterredung von ziemlicher Wichtigkeit zwischen Harry Maylie und Rose.

Achtzehntes Kapitel. Abermals ein kurzes Kapitel, das an seiner Stelle als nicht eben sehr wichtig erscheinen mag, aber doch gelesen werden sollte, weil es das vorhergehende erörtert und einen Schlüssel zum nachfolgenden darbietet.

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Zu guter Letzt

ZWEITER BAND

Erstes Kapitel.In welchem ein verhängnisvoller Plan besprochen und beschlossen wird.

Es war ein kalter, feuchter und stürmischer Abend, als der Jude seinen eingeschrumpften Leib in einen Oberrock einhüllte, den Kragen über die Ohren zog, so daß von seinem Gesicht nur die Augen zu sehen waren, und sich aus seiner Höhle entfernte. Er blieb vor der Haustür stehen, bis sie inwendig verschlossen und verriegelt war, und eilte darauf mit leisen und flüchtigen Schritten die Straße hinunter.

Das Haus, in welches Oliver gebracht worden war, befand sich nahe bei Whitechapel; der Jude stand an der nächsten Ecke ein paar Augenblicke still, schaute forschend umher und schlug sodann die Richtung nach Spitalfields ein.

Auf dem Pflaster lag dicker Schlamm, und ein dichter Nebel machte die Dunkelheit noch dunkler. Für den Ausflug eines dämonischen Wesens, wie es der Jude war, konnten Zeit, Wetter und alle Umgebungen nicht passender sein. Der greuliche Alte glich, während er verstohlen durch Nacht und Nebel und Kot dahineilte, einem ekelhaften Gewürm, das in nächtlicher Finsternis aus seinem Verstecke herauskriecht, um wühlend im Schlamme ein leckeres Mahl nach seiner Art zu halten.

Er setzte seinen Weg durch viele enge und winklige Gassen fort, bis er Bethnal Green erreichte, wandte sich dann nach links und verschwand in einem wahrhaften Labyrinth schmutziger Winkel, Straßen und Gassen jenes zahlreich bevölkerten Stadtviertels, ohne jedoch ein einziges Mal zu irren oder fehl zu gehen, lenkte endlich in eine Sackgasse ein, klopfte an die Tür eines Hauses und wurde, nachdem er ein paar Worte durch das Schlüsselloch geflüstert, eingelassen und hinaufgeführt.

Als er auf den Griff einer Tür faßte, knurrte ein Hund, und eine grobe Mannsstimme fragte, wer da wäre.

»Ich bin’s, Bill, ich, mein Lieber,« antwortete der Jude hineinschauend.

»So bringt Eur’n Leichnam ’rein,« sagte Sikes. »Lieg’ still, dumme Bestie! Kennst den Teufel nicht, wenn er’n Überrock anhat?«

Der Hund schien in der Tat durch Fagins Verhüllung getäuscht zu sein; denn sobald der Jude den Oberrock aufknöpfte, legte er sich, mit dem Schweife wedelnd, wieder nieder.

»Nun?« sagte Sikes.

»Ja – nun,« erwiderte der Jude. »Ah, Nancy.«

Er schien etwas verlegen und zweifelhaft zu sein, wie er von Miß Nancy empfangen werden würde, denn er hatte seine junge Freundin seit dem Abend noch nicht wiedergesehen, an welchem sie so leidenschaftlich für Oliver aufgetreten war. Das Benehmen der jungen Dame machte jedoch bald aller Ungewißheit ein Ende. Sie schob ihren Stuhl zur Seite und forderte Fagin auf, ohne Groll oder noch viel Worte sich mit an den Kamin zu setzen, denn es wäre ein kalter Abend.

»Ja, ’s ist bitter kalt, liebe Nancy,« sagte Fagin und begann seine knöchernen Hände über dem Feuer zu wärmen, »’s ist, als wenn der Wind einem wehte durch und durch bis ins Innerste.«

»Das muß wirklich scharf sein, was bis an dein Herz dringt,« bemerkte Sikes. »Gib ihm ’nen Tropfen zu trinken, Nancy. Alle Donnerwetter, mach’ geschwind! Man wird ganz übel davon, das alte Gerippe so schaudern zu sehn wie’n häßliches Gespenst, das eben aus’m Grabe gestiegen ist.«

Nancy holte schnell eine Flasche aus dem Schranke; Sikes schenkte ein Glas Branntwein ein und hieß den Juden es austrinken; Fagin berührte es jedoch nur mit den Lippen und setzte es wieder auf den Tisch.

»Ausgetrunken, Spitzbube!« rief Sikes.

»Habe schon genug, danke, Bill!«

»Wie – was? Fürchtest dich, daß wir dir ä Streich spielen?« fragte Sikes, seine Augen scharf auf den Juden richtend.

Mit einem heiseren, verächtlichen Brummen ergriff Mr. Sikes das Glas und goß den Inhalt in die Asche; dann füllte er es von neuem und stürzte es hinunter.

Fagin blickte im Zimmer umher, nicht aus Neugierde, denn es war ihm wohlbekannt, sondern unruhig, verstohlen, argwöhnisch, wie es ihm zur Gewohnheit geworden war. Das Gemach war sehr schlecht möbliert. Nur der Inhalt des Schrankes schien anzudeuten, daß es von einem gewöhnlichen Arbeiter bewohnt würde; auch sah man nichts Verdächtiges, mit Ausnahme einiger schwerer Knittel, die in einem Winkel standen, und eines »Lebensretters«, der über dem Kaminsimse hing.

»Was hast du zu sagen, verdammter Jude?« fragte Sikes. »Weshalb bist du hergeschlichen?«

»Wegen des Hauses in Chertsey, Bill,« erwiderte der Jude, dicht zu ihm rückend und flüsternd.

»Nun – und was weiter?«

»Ah – Ihr wißt ja recht gut, was ich meine, Bill. Nicht wahr, Nancy, er weiß es recht gut?«

»Nein, er weiß es nicht,« fiel Sikes höhnisch ein, »oder will es nicht wissen, was dasselbe ist. Sprich rein ’raus, nenn’ die Dinge beim rechten Namen und stell’ dich nicht an, als wenn du nicht der erste gewesen wärst, der an den Einbruch gedacht hat.«

»Pst, Bill, pst!« sagte Fagin, der sich vergebens bemüht hatte, Sikes zum Stillschweigen zu bringen; »es wird uns jemand hören, mein Lieber, es wird uns jemand hören!«

»Laß hören, wer will!« tobte Sikes; »’is ist mir alles gleich.«

Er sprach jedoch die letzten Worte schon weniger laut und heftig, da ihm der Gedanke kam, daß es doch nicht gleich wäre oder sein könnte.

»Seid doch ruhig, Bill,« sagte der Jude besänftigend. »Es war ja nur meine Vorsicht – weiter nichts. Also wegen des Bayes in Chertsey, mein Lieber. Wann soll’s sein, Bill – wann soll’s sein? Solch Silberzeug, Bill, solch Silberzeug!« setzte er händereibend und mit leuchtenden Augen hinzu.

»Gar nicht,« erwiderte Sikes trocken.

»Gar nicht?« wiederholte der Jude und lehnte sich erstaunt auf seinem Stuhle zurück.

»Nein, gar nicht,« sagte Sikes; »zum wenigsten kann’s nicht so ausgeführt werden, wie wir meinten.«

»Dann ist’s nicht geschickt und ordentlich angegriffen,« versetzte der Jude, vor Verdruß erblassend. »Aber Ihr spaßt nur, Bill.«

»Ich lasse mich lieber hängen, als daß ich mit dir spaße, altes Gerippe. Toby Crackit hat sich seit vierzehn Tagen die erdenklichste Mühe gegeben, aber keinen von der Dienerschaft –«

»Ihr wollt doch nicht sagen, Bill,« unterbrach ihn der Jude ungeduldig, doch aber ruhiger in dem Maße, als Sikes wieder heftig zu werden anfing; »Ihr wollt doch nicht sagen, daß keiner von den beiden Bedienten könnte werden gewonnen, zu machen Kippe?«

»Das will ich allerdings sagen,« antwortete Sikes. »Sie sind seit zwanzig Jahren bei der alten Frau im Dienst gewesen und würden’s nicht tun für fünfhundert Pfund.«

»Aber die weibliche Dienerschaft, mein Lieber – läßt sich die auch nicht beschwatzen?«

»Nein!«

»Wie – auch nicht vom schmucken geriebenen Toby Crackit?« entgegnete der Jude ungläubig. »Bedenkt doch nur, wie die Weibsen sind, Bill!«

»Nein, auch nicht von Toby Crackit,« erwiderte Sikes. »Er hat die ganze Zeit, daß er’s Bayes umschlichen, falsche Knebelbärte und ’ne gelbe Weste getragen; hat aber alles nicht helfen wollen.«

»Er hätt’s versuchen sollen mit ’nem Schnurrbart und Soldatenhosen, mein Lieber,« sagte der Jude nach einigem Besinnen.

»Das hat er auch schon getan, und ’s ist ebenso vergeblich gewesen.«

Der Jude machte eine verdrießliche und verlegene Miene dazu, versank auf ein paar Minuten in tiefes Nachsinnen und sagte endlich mit einem schweren Seufzer, wenn man sich auf Toby Crackits Berichte verlassen könnte, so fürchte er, daß der Plan aufgegeben werden müsse, »’s ist aber sehr betrübend, Bill,« setzte er, die Hände auf die Knie stützend, hinzu, »so viel zu verlieren, wenn man einmal den Sinn hat gesetzt darauf.«

»Freilich,« sagte Sikes, »’s ist ganz verdammt ärgerlich!«

Es folgte ein langes Stillschweigen. Der Jude war in tiefe Gedanken verloren, und sein Gesicht nahm einen Ausdruck wahrhaft satanischer Spitzbüberei an. Sikes blickte ihn von Zeit zu Zeit verstohlen von der Seite an, und Nancy heftete, aus Furcht, den Wohnungsinhaber zu erzürnen, die Augen auf das Feuer, als wenn sie bei allem, was gesprochen worden, taub gewesen wäre.

»Fagin,« unterbrach Sikes endlich die allgemeine Stille, »schafft’s fünfzig Füchse extra, wenn’s durch Einbruch vollbracht wird?«

»Ja!« rief der Jude, wie aus einem Traume erwachend.

»Abgemacht?« fragte Sikes.

»Ja, mein Lieber,« erwiderte der Jude, indem er ihm die Hand reichte; und jeder Muskel seines Gesichts gab Zeugnis, wie freudig und lebhaft er durch diese Frage überrascht worden war.

Sikes schob die Hand des Juden verächtlich zurück und fuhr fort: »Dann mag’s geschehen, sobald du willst, Alter. Toby und ich sind vorgestern über die Gartenmauer g’wesen und haben die Türen und Fensterläden untersucht. Das Haus ist nachts verrammelt wie’n Gefängnis; wir haben aber ’ne Stelle gefunden, wo wir leise und mit Sicherheit einsteigen können.«

»Wo ist denn die Stelle, Sikes?« fragte der Jude sehr gespannt.

»Man geht über den Rasenplatz,« flüsterte Sikes, »und dann –«

»Nun und dann?« unterbrach ihn der Jude, sich ungeduldig vorbeugend.

»Dann –« sagte der Schränker, brach jedoch kurz ab, denn Nancy gab ihm, kaum den Kopf bewegend, einen Wink, nach des Juden Gesicht zu sehen, »’s ist ganz gleich, wo die Stelle ist,« fuhr er fort. »Ich weiß, daß du’s nicht kannst ohne mich; aber man tut wohl daran, sich auf Nummer Sicher zu setzen, wenn man mit dir zu tun hat.«

»Nach Eurem Belieben, Bill, nach Eurem Belieben,« erwiderte der Jude, sich auf die Lippen beißend. »Könnt Ihr’s mit Toby allein, und braucht Ihr weiter keinen Beistand?«

»Nein; bloß ein Dreheisen und ’nen Knaben. Das Eisen haben wir, den Buben mußt du uns schaffen.«

»’nen Knaben!« rief der Jude aus. »Ah, dann ist’s ein Paneel – wie?«

»Es kann dir gleichviel sein, was es ist,« erwiderte Sikes. »Ich brauche ’nen Buben, und er darf nicht groß sein. Wenn mir nur nicht der von Ned, dem Schornsteinfeger, durch die Lappen ’gangen wäre! Er hielt ihn mit Absicht klein und schmächtig und lieh ihn aus für’n Billiges. Aber so geht’s, der Vater wird deportiert, und wie der Blitz ist der Verein für verlassene Kinder da und nimmt den Jungen aus ’nem Geschäft, darin er Geld hätte verdienen können, lehrt ihn Lesen und Schreiben, und der Bube wird dann Lehrling, Gesell, endlich Meister,« sagte Sikes mit steigendem Zorn über einen so unrechtmäßigen Verlauf, »und so geht’s mit den meisten; und hätten sie immer Geld genug, was sie Gott Lob und Dank nicht haben, so würden wir nach ein paar Jahren keinen einzigen Jungen mehr im Geschäft halten.«

»Ja, ja,« stimmte der Jude ein, der unterdes überlegt und nur die letzten Worte gehört hatte. »Bill!«

»Was gibt’s?«

Der Jude deutete verstohlen auf Nancy hin, die noch immer in das Feuer schaute, und gab Sikes durch Zeichen seinen Wunsch zu erkennen, mit ihm allein gelassen zu werden. Sikes zuckte ungeduldig die Achseln, als wenn er die Vorsicht für überflüssig hielte, forderte indes Nancy auf, ihm einen Krug Bier zu holen.

»Ihr seid nicht durstig, Bill,« sagte Nancy mit der vollkommensten Ruhe und schlug die Arme übereinander.

»Ich sage dir, ich bin durstig!« entgegnete Sikes.

»Dummes Zeug! Fahrt fort, Fagin. Ich weiß, was er sagen will, Bill; ich kann’s auch hören.«

Der Jude zögerte, und Sikes sah etwas verwundert bald ihn, bald das Mädchen an.

»Brauchst dich vor dem alten Mädchen nicht zu scheuen, Fagin,« sagte er endlich. »Hast sie lange genug gekannt und kannst ihr trauen, oder der Teufel müßte drin sitzen. Sie wird nicht mosern; nicht wahr, Nancy?«

»Ihr sollt’s wohl meinen,« erwiderte sie, ihren Stuhl an den Tisch schiebend und den Kopf auf die Ellbogen stützend.

»Nein, nein, liebes Kind,« fiel der Jude ein; »ich weiß das sehr wohl; nur –« Er hielt wieder inne.

»Nun, was denn nur?« fragte Sikes.

»Ich weiß nur nicht, ob sie nicht vielleicht wieder werden würde unwirsch, mein Lieber, wie vor einigen Abenden,« erwiderte Fagin.

Bei diesem Geständnisse brach Nancy in ein lautes Gelächter aus, stürzte ein Glas Branntwein hinunter, erklärte unter mehrfachen kräftigen Beteuerungen, daß sie alles hören könne, wolle und werde und so standhaft, mutvoll und treu sei wie eine oder einer. – »Fagin,« sagte sie lachend, »sprecht nur ohne Umschweife zu Bill von Oliver!«

»Ah! Du bist ein so gewitztes Mädchen, wie ich je eins gesehen,« versicherte der Jude und klopfte sie auf die Wange. »Ja, ich wollte wirklich sprechen von Oliver; ha, ha, ha!«

»Was ist mit ihm los?« fragte Sikes.

»Daß er der Knabe ist, den Ihr braucht, mein Lieber,« erwiderte der Jude in einem heisern Flüstern, den Finger an die Nase legend und mit einem fürchterlichen Grinsen.

»Der Oliver!« rief Sikes aus.

»Nimm ihn, Bill,« sagte Nancy. »Ich tät’s, wenn ich an deiner Stelle wäre. Mag sein, daß er nicht so gepfifft und dreist ist wie einer von den andern; aber das ist auch nicht nötig, wenn du ihn bloß dazu brauchen willst, daß er dir ’ne Tür aufmacht. Verlaß dich darauf, er ist zuverlässig, Bill.«

»Ich weiß, daß er’s ist,« fiel Fagin ein. »Er ist in den letzten Wochen geschult gut, und ’s ist Zeit, daß er anfängt für sein Brot zu arbeiten; außerdem sind die andern alle zu groß.«

»Ja, die rechte Größe hat er,« bemerkte Sikes nachdenklich.

»Und er wird alles tun, wozu Ihr ihn nötig habt, Bill,« sagte der Jude. »Er kann nicht anders – nämlich, wenn Ihr ihn nur genug haltet in Furcht und Schrecken.«

»Das könnte geschehen – und nicht bloß zum Spaß. Ist was nicht richtig mit ihm, wenn wir einmal erst am Werk sind – alle Teufel! – so siehst du ihn nicht lebendig wieder, Fagin. Bedenk’ das, eh’ du ihn schickst.«

Er hatte ein schweres Brecheisen unter dem Bette hervorgezogen und schüttelte es unter drohenden Gebärden.

»Ich habe alles bedacht,« erwiderte der Jude entschlossen. »Ich hab’ ihn beobachtet, meine Lieben, wie ein Falke die Augen auf ihn gehabt. Laßt ihn nur erst wissen, daß er einer der unsrigen ist; laßt ihn nur erst wissen, daß er gewesen ist ein Dieb, und er ist unser – unser auf sein Leben lang! Oho! Es hatte nicht besser können kommen!« Er kreuzte die Arme über der Brust, zog den Kopf zwischen die Schultern und umarmte sich gleichsam selbst vor Behagen und Freude.

»Unser!« höhnte Sikes. »Du willst sagen, dein.«

»Könnte vielleicht sein, mein Lieber,« sagte der Jude kichernd. »Wenn Ihr’s so wollt, Bill, mein.«

Sikes warf seinem angenehmen Freunde finstergrollende Blicke zu. »Und warum bemühst du dich denn so sehr um das Kreidegesicht,« sagte er, »da du doch weißt, daß jede Nacht fünfzig Buben im Covent Garden schlafen, unter denen du die Wahl hast?«

»Weil ich sie nicht gebrauchen kann, mein Lieber,« erwiderte der Jude ein wenig verwirrt. »Sie sind’s nicht wert, daß man’s versucht mit ihnen, denn wenn sie in Ungelegenheit geraten, steht ihnen geschrieben auf der Stirn, was sie sind und was sie haben getan, und sie gehen mir alle kapores. Aber mit diesem Knaben, wenn er nur gebraucht wird geschickt, kann ich ausrichten mehr als mit zwanzig von den anderen. Außerdem,« fügte er wieder in vollkommener Fassung hinzu, »außerdem haben wir ihn dann fest jetzt, wenn er uns wieder entwischen könnte, und er muß bleiben mit uns im selben Boot, gleichviel wie er gekommen ist hinein; ich habe Macht genug über ihn, wenn er nur ein einziges Mal ist gewesen bei ’nem Schränken – mehr brauch’ ich nicht. Und wieviel ist das besser, als wenn wir müßten den armen kleinen Knaben über die Seite schaffen, was würde gefährlich sein – und wodurch wir verlieren würden viel!«

Sikes schwebte eine starke Mißbilligung bei Fagins plötzlicher Anwandlung von Menschlichkeit auf den Lippen, Nancy kam ihm jedoch durch die Frage zuvor, wann der Einbruch geschehen sollte?

»Ja, Bill, ja – wann soll es sein?« fragte auch der Jude.

»Ich hab’s mit Toby auf übermorgen Nacht verabredet,« antwortete Sikes mürrisch, »wenn ich ihm keine anderweitige Nachricht zugehen lasse.«

»Gut,« jagte der Jude; »es wird doch kein Mondschein sein?«

»Nein,« erwiderte Sikes.

»Ist auch bedacht alles wegen Fortschaffens der Beute?« fragte Fagin.

Sikes nickte.

»Und wegen –«

»Ja, ja, ’s ist alles verabredet,« unterbrach ihn Sikes; »scher dich nur nicht weiter drum. Bring’ den Buben lieber morgen abend her. Ich werde ’ne Stunde nach Tagesanbruch auf und davon sein. Und dann halt’s Maul und stelle den Schmelztiegel bereit; das ist alles, was du zu tun hast.«

Nach einigem Hin- und Herreden, woran alle drei tätigen Anteil nahmen, wurde beschlossen, daß Nancy am folgenden Abend Oliver herbringen solle. Fagin hielt dafür, daß er Nancy am ersten folgen würde, wenn er etwa abgeneigt wäre. Ebenso wurde feierlich verabredet, daß der Knabe zum Zweck der beabsichtigten Unternehmung Sikes unbedingt übergeben werden solle, und zwar so, daß derselbe mit ihm nach Gutdünken verfahren dürfe, ohne dem Juden für irgendeinen Unfall, der ihn treffen könnte, oder irgendeine Züchtigung verantwortlich zu sein, die sein Beschützer etwa für notwendig erachten möchte; auch sollte der letztere alle seine Angaben nach seiner Rückkehr durch Toby Crackits Zeugnis bestätigen lassen. Sikes bekräftigte vorläufig den edlen Bund und die Aufrichtigkeit seiner Gesinnungen durch ein Glas Branntwein nach dem andern, was die Wirkung hatte, daß er zuerst lärmte und sodann einschlief. Der Jude hüllte sich darauf wieder in seinen Überrock, sagte Nancy gute Nacht und faßte sie scharf ins Auge, während sie ihm zur Erwiderung gleichfalls wohl zu schlafen wünschte und ihre Blicke den seinigen begegneten. Sie waren vollkommen fest und ruhig. Das Mädchen war so treu und verläßlich in der Sache, wie Toby Crackit nur selbst sein konnte. Er warf Sikes, unbemerkt von ihr, noch einen Blick des Hasses und der Verachtung zu und ging, durch die Zähne murmelnd: »So sind sie alle. Das Schlimmste an den Weibsbildern ist, daß die größte Kleinigkeit aufweckt in ihnen ein längst vergessenes Gefühl – und das Beste, daß es nicht währt lange. Hi, hi, hi! Ich wette ’nen Sack voll Gold auf den Mann gegen das Kind.«

Unter diesen angenehmen Gedanken ging Fagin seines Weges durch Schmutz und Kot hin bis zu seiner düsteren Wohnstätte. Der Baldowerer war aufgeblieben und erwartete ungeduldig die Rückkehr des Juden.

»Ist Oliver zu Bett? Ich wünsche ihn zu sprechen,« war die erste Frage, die er tat, als beide die Treppe hinunterstiegen.

»Schon seit mehreren Stunden,« versetzte der Baldowerer, indem er eine Tür aufstieß. »Hier ist er.«

Der Knabe lag fest schlafend auf einer harten Matratze auf dem Fußboden, so bleich vor Angst, Traurigkeit und Verlassenheit in seinem Gefängnis, daß er Ähnlichkeit mit einem Toten hatte – nicht mit einem Toten, wie er im Sarge und auf der Bahre liegt, sondern mit einem, aus dem das Leben soeben entwichen ist, wenn ein junger, edler Geist zum Himmel entflohen ist und die schwere Luft der Welt noch keine Zeit gefunden hat, den zarten Schimmer, von dem er umgeben war, zu verdrängen.

 

Zweites Kapitel.In welchem Oliver Sikes überliefert wird.

Als Oliver am folgenden Morgen erwachte, war er nicht wenig verwundert, ein Paar neue Schuhe mit starken dicken Sohlen an der Stelle seiner alten, sehr beschädigten zu erblicken. Anfangs freute er sich der Entdeckung, weil er sie als eine Vorläuferin seiner Befreiung ansah; allein er gab bald alle Gedanken dieser Art auf, als er sich allein mit dem Juden zum Frühstück setzte, der ihm, und zwar auf eine Weise, die ihn mit Unruhe erfüllte, sagte, daß er am Abend zu Bill Sikes gebracht werden solle.

»Soll – soll ich denn dort bleiben?« fragte Oliver angstvoll.

»Nein, nein, Kind, du sollst nicht dort bleiben,« antwortete der Jude. »Wir würden dich gar nicht gern missen. Sei ohne Furcht, Oliver; du sollst wieder zurückkehren zu uns. Ha, ha, ha! Wir werden nicht sein so grausam, dich fortzuschicken, mein Kind. Nein, beileibe nicht!« Der alte Mann, der sich über das Feuer gebückt hatte und eine Brotschnitte röstete, sah sich bei diesen spöttischen Worten um und kicherte, wie um zu zeigen, er wisse es, daß Oliver gern entfliehen würde, wenn er könnte.

»Ich glaube, Oliver,« fuhr er, die Blicke auf ihn heftend, fort, »du möchtest wissen, weshalb du sollst zu Bill – nicht wahr, mein Kind?«

Oliver verfärbte sich unwillkürlich, denn er gewahrte, daß der Jude in seinem Innern gelesen, erwiderte indes dreist, daß er es allerdings zu wissen wünsche.

»Nun, was meinst du wohl, weshalb?« fragte Fagin, der Antwort ausweichend.

»Ich kann es nicht erraten, Sir,« erwiderte Oliver.

»Pah? So warte, bis Bill dir’s sagt,« versetzte Fagin, sich mißvergnügt abwendend, denn er hatte in Olivers Mienen wider Verhoffen nichts entdeckt, nicht einmal Neugierde.

Die Wahrheit ist indessen, daß der Knabe allerdings sehr lebhaft zu wissen wünschte, zu welchem Zwecke er Sikes überliefert werden sollte, aber durch Fagins forschende Blicke und sein eigenes Nachsinnen zu sehr außer Fassung geraten war, um für den Augenblick noch weitere Fragen zu tun. Später fand sich keine Gelegenheit dazu, denn der Jude blieb bis gegen Abend, da er sich zum Ausgehen anschickte, sehr mürrisch und schweigsam.

»Du kannst brennen ein Licht,« sagte er und stellte eine Kerze auf den Tisch; »und da ist ein Buch, worin du kannst lesen, bis sie kommen dich abzuholen. Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Sir,« erwiderte Oliver schüchtern.

Der Jude ging nach der Tür und sah über die Schulter nach dem Knaben zurück; dann stand er plötzlich still und rief ihn beim Namen.

Oliver blickte auf, der Jude wies nach dem Lichte hin und bedeutete ihn, es anzuzünden. Oliver tat, wie ihm geheißen wurde und sah, daß Fagin mit gerunzelter Stirn aus dem dunkleren Teile des Gemachs forschend die Augen auf ihn heftete.

»Hüte dich, Oliver, hüte dich!« sagte der Alte, warnend die rechte Hand emporhebend. »Er ist ein brutaler Mann und achtet kein Blut, wenn seins ist heiß. Was sich auch zuträgt, sprich kein Wort und tu’, was er dir sagt. Nimm dich in acht! – wohl in acht!« – Er hatte die letzten Worte mit scharfer Betonung gesprochen, sein finsterer, drohender Blick verwandelte sich in ein greuliches Lächeln, er nickte und ging.

Oliver legte den Kopf auf die Hand, als er allein war, und sann mit pochendem Herzen den eben vernommenen Worten nach. Je länger er über die Warnung des Juden nachdachte, in eine desto größere Ungewißheit geriet er über ihren eigentlichen Sinn und Zweck. Er konnte sich nichts Böses oder Unrechtes bei seiner Sendung zu Sikes denken, das nicht ebensogut geschehen oder erreicht werden konnte, wenn er bei Fagin blieb. Nach langem Nachsinnen kam er zu dem Schlusse, daß er ausersehen sein möchte, Sikes als Aufwärter zu dienen, bis man einen besser dazu geeigneten Knaben gefunden hätte. Er war zu sehr an Leiden und Dulden gewöhnt und hatte zu viel gelitten in dem Hause, in welchem er sich befand, als daß ihn die Aussicht auf eine Veränderung des Schauplatzes seiner Widerwärtigkeiten sehr hätte betrüben können. Er blieb noch eine Weile in Gedanken verloren, putzte seufzend das Licht und fing an in dem Buche zu lesen, das ihm der Jude zurückgelassen.