Oma packt aus - Brigitte Kanitz - E-Book

Oma packt aus E-Book

Brigitte Kanitz

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Beschreibung

Was ist schlimmer als eine verrückte Familie? Zwei!

Seit die perfekt gestylte Großstadtpflanze Nele in die Lüneburger Heide und in den Schoß ihrer Familie zurückgekehrt ist, überschlagen sich die Ereignisse. Kaum wird ein Geheimnis gelüftet, schon sitzt Nele samt Oma, Großtante und der riesigen Dogge Rüdiger im VW-Bus auf dem Weg nach Süditalien. Einzig ihr Liebster Paul glänzt durch Abwesenheit. Doch zum Glück ist sie bald viel zu beschäftigt, um sich darüber Gedanken zu machen: Während sie versucht, eine verzwickte Geschichte aufzuklären, überfrisst sich Rüdiger an Tiramisu, und Oma zwingt den Dorfarzt mit dem Küchenmesser zur Notbehandlung …

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Seitenzahl: 320

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Brigitte Kanitz

Oma packt aus

Roman

Buch

Opa Hermann ist unter der Erde, Nele hat in den Schoß der Familie zurückgefunden, und die Störche sind auch wieder dort, wo sie hingehören: auf dem Dachfirst.

Bei den Lüttjens’ könnte also endlich mal Ruhe einkehren. Doch dann quartiert sich die elegante Hamburger Geschäftsfrau Irene Wedekind mit Rüdiger, ihrem übergroßen Vierbeiner, auf dem Ferienhof ein. Nicht nur Oma Grete und Großtante Marie ist sie suspekt, doch noch bevor sie sie mit alter Mettwurst, Heino-Schlagern und kratziger Bettwäsche vertreiben können, verrät Irene ein Geheimnis. Woraufhin der gesamte Lüttjens-Clan sich in Windeseile in einem VW-Bus auf den Weg nach Apulien macht …

Autorin

Brigitte Kanitz, Jahrgang 1957, hat nach ihrem Abitur in Hamburg viele Jahre in Uelzen und Lüneburg als Lokalredakteurin gearbeitet. Die Heide und ihre Menschen hat sie dabei von Grund auf kennen- und lieben gelernt. Sie tanzte auf Schützenfesten, interviewte Heideköniginnen, begleitete einen Schäfer mit seinen Heidschnucken über die lila-rote Landschaft und trabte mit der berittenen Polizei durch den Naturschutzpark rund um Wilsede. Inzwischen lebt und schreibt sie in Italien.

Weitere Informationen finden Sie unter

www.brigittekanitz.de

Außerdem von Brigitte Kanitz bei Blanvalet lieferbar:

Immer Ärger mit Opa (37869)

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

1. Auflage

Taschenbuchausgabe Juli 2013 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © 2013 by Blanvalet Verlag, in der

Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: bürosüd°, München

Umschlagillustration: Oliver Wetter

Redaktion: Rainer Schöttle

ES · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-09443-0

www.blanvalet.de

Für meine Mutter Christa Kanitz. Wir hatten eine tolle Zeit in der Lüneburger Heide – zusammen mit den Pferden, die uns im Laufe der Jahre trugen: Sico, hässlich, aber zuverlässig, Carina, ein tolles Jagdpferd, das sich auch von einer angedüdelten Reiterin nicht irritieren ließ, Chianti, im Weinrausch gekauft, Lana mit dem schönsten Fohlen der Welt und Titus, ein temperamentvoller römischer Kaiser.

Ich hoffe, ihr findet immer saftiges Gras im Pferdehimmel!

1. Erstens kommt es anders

Es reicht!, dachte ich, lief über den Hof ins Haus und knallte die massive Eichentür so laut zu, dass die roten Backsteine knirschten und das alte Fachwerk knackte. Bildete ich mir jedenfalls ein. Vielleicht erzeugte ich die Geräusche auch selbst, indem ich die zusammengebissenen Zähne aneinanderrieb und die Fingerknöchel dehnte.

»Lass das nach«, befahl Oma Grete und hob drohend einen knorrigen Zeigefinger. Für die frühe Morgenstunde sah sie schon erschreckend munter aus. Fast wie ein junges Mädchen kam sie die steile Treppe heruntergeglitten und baute sich vor mir auf. Der Zeigefinger wedelte jetzt vor meinem Gesicht hin und her.

»In meinem Haus werden keine Türen geknallt, ist das klar?«

Ich verzichtete auf den Hinweis, dass sich die Besitzverhältnisse in der Familie Lüttjens vor Kurzem dramatisch geändert hatten, und klappte den Mund auf, damit meine Zähne nichts mehr zu reiben hatten.

Grete, die trotz ihrer achtundachtzig Jahre über ein feines Gehör verfügte, war noch nicht fertig mit ihrer Standpauke. »Fingerknöchelknacken ist ungezogen!«, sagte sie stotterfrei.

Mannomann! Die sprach mit mir wie mit einer Fünfjährigen! Zorn wallte in mir auf.

Gut so. Er lenkte mich wenigstens von dem anderen Gefühl ab. Es hatte ein bisschen was mit Angst zu tun. Nein, nicht nur ein bisschen; sogar ein bisschen mehr. Deswegen war ich ja eben ins Haus geflüchtet.

Geflüchtet?

Hm. Konnte man wohl nicht anders nennen.

»Und Zähneknirschen gehört sich auch nicht!«

Ist ja gut!

»Du hast dich angehört wie damals unsere beste Milchkuh Lotte beim Wiederkäuen.«

Ich klappte den Mund wieder zu und zwang meine Kiefermuskeln in eine vorübergehende Lähmung.

Es reicht!, dachte ich zum zweiten Mal innerhalb von zwei Minuten.

Hätte ich aber besser sein lassen. Musste gleich wieder an meine Flucht ins Haus denken.

Prompt kroch die blöde Angst unaufhaltsam an meiner Wirbelsäule hoch.

Eben gerade, als ich aus dem Stall gekommen war, hatte ich ihn wieder entdeckt.

Den Schatten.

Unsere beiden Ponys Ernie und Bert hatten mir noch hinterhergewiehert, so als wollten sie sich für den morgendlichen Hafer bedanken, da war mein Blick zum Hoftor gehuscht, und ich hatte genau gesehen, wie etwas Dunkles auf dem Boden schnell zurückgezuckt war. Eindeutig ein Schatten in der noch schräg stehenden Herbstsonne.

Hätte mir ja nichts weiter dabei gedacht, wenn es das erste Mal gewesen wäre.

War es aber nicht. Das ging schon seit mindestens einer Woche so.

Ich hatte mir auch einige Erklärungen zurechtgelegt: Das Storchenpaar vom Dachfirst flog ein paar Ehrenrunden, eine Heidschnucke war aus ihrer Herde ausgebüxt und schaute mal vorbei, Karl Küpper, meine Jugendliebe von nebenan, stellte mir wieder nach, Papa schlich zu einem heimlichen Rendezvous.

Alles Quatsch.

Papa hatte Wichtigeres zu tun, zum Beispiel Mama feurige Blicke zuwerfen, was sämtliche Mitglieder der Familie Lüttjens ausgesprochen peinlich fanden, nur die beiden nicht. Mein Bruder Jan vielleicht auch nicht, aber der war von Natur aus besonders tolerant.

Karl und ich wiederum waren beste Freunde und pflegten die wunderschöne Erinnerung an die Jugendliebe, die uns über Jahre miteinander verbunden hatte.

Der Schatten gehörte sowieso weder zu einem Tier noch zu einem ausgewachsenen Mann. Da war ich mir sicher, obwohl ich ihn immer nur ganz kurz sah.

Es war der Schatten einer Frau.

Definitiv.

Gruselig.

Oder bildete ich mir alles nur ein? Hatte ich in meiner Zeit in München mit meiner besten Freundin Sissi zu viele Horror-Abende veranstaltet?

Das war eines unserer liebsten Hobbys gewesen – nur die Suche nach Mr. Right und Sissis peinliche Leidenschaft für Bollywoodfilme standen noch höher im Kurs. Eng aneinandergekuschelt auf meiner Designercouch, die Augen starr auf den Fernseher gerichtet, die Hände voller Chips. Und dabei hofften wir auf ziemlich unsinnige Wunder. In Bates’ Motel wollte niemand duschen, Freddy Krueger ließ ein Gesichtspeeling machen, und am Telefon sagte eine freundliche Computerstimme: »In sieben Tagen wirst du reich sein.«

Na ja. Klappte nicht so.

Trotzdem. Man konnte nie wissen, was so alles auch in der beschaulichen Lüneburger Heide passieren mochte.

Jetzt überlegte ich fieberhaft. Hatte ich vielleicht irgendwo auch eine Blutspur entdeckt? Dort, wo vorher der Schatten entlanggehuscht war?

Nee. Eigentlich nicht.

Ein mürrisches Räuspern brachte mich ins Hier und Jetzt zurück. »Sag mal, Deern, hast du ein Gespenst gesehen?«

Könnte sein.

»Nein, wieso denn?«

»Du starrst mal wieder Löcher in die Luft.«

Ich schaute Oma Grete direkt an. Eigentlich war sie ja gar nicht meine Großmutter, aber aus alter Gewohnheit nannte ich sie weiter so. Ihr Mann, also Opa Hermann, war nämlich vor vielen Jahren ihrer Schwester Marie in Liebe verfallen. Sein einziger Sohn entsprang dieser Verbindung, und um einen Skandal zu vermeiden, gab Grete ihn als ihr eigenes Kind aus, nachdem Marie ihn im fernen Bayern zur Welt gebracht hatte. Womit alles geklärt sein dürfte. Wenn Papa dann wenigstens mein Vater und Mama meine Mutter geworden wäre, und … Stopp!

Auch knapp zwei Monate nachdem bei uns Lüttjens’ die großen Familiengeheimnisse gelüftet worden waren, hatte ich noch Schwierigkeiten mit den neuen Verhältnissen.

»Vielleicht ist dir ja mein Hermann erschienen«, fuhr Grete fort und ging flotten Schrittes in die Küche. »Der sucht dich jetzt heim, weil du ihn im Zug liegen gelassen hast.«

Ich folgte ihr schwerfällig und überlegte, ob ich erst frühstücken und ihr dann den Hals umdrehen sollte oder umgekehrt.

Seit mir dieses kleine Missgeschick mit der Tupperdose passiert war, verging kein Tag, an dem sie es mir nicht aufs Butterbrot schmierte.

Butterbrot?

Na gut, erst frühstücken.

Während Grete leise vor sich hinschimpfte, deckte ich den Tisch und kochte Kaffee.

In der Tupperdose hatte sich die Asche des Familienpatriarchen Hermann Lüttjens befunden, der in seinem Heimatort Nordergellersen aufgebrochen war, um mich, die abtrünnige Nele, in München zu besuchen. Wobei er mir gleich eine ungeheure Wahrheit um die Ohren hauen wollte. Dazu kam er jedoch nicht mehr, weil er in meinem Treppenhaus starb.

Ich brachte ihn dann heim in die Heide – nicht ganz gesetzestreu und auch nicht sonderlich pietätvoll, aber dafür hundertprozentig sicher in der Tupperdose.

Hatte ich jedenfalls gedacht, bis ich in Lüneburg so schnell aussteigen musste, dass Opa sozusagen nicht mehr mitkam.

Aber er fand nach ein paar Tagen doch noch heim, dank einer mitreisenden älteren Dame namens Hertha Kowalski, die in der Tupperdose außer Opas Asche auch einen Prospekt unseres Ferienhofes gefunden hatte.

Alles gut also.

Wieso regte sich Oma Grete immer noch auf? Opa hatte ein prima Urnengrab bekommen und einen schlichten Findling als Grabstein. Von seinem Begräbnis und dem anschließenden Leichenschmaus im Heidekrug wurde bis heute voller Lob im Dorf gesprochen, und nur hinter vorgehaltenen Händen blubberte es eifrig in der Gerüchteküche um die Lüttjens’. Aber Genaues wusste man nicht.

Besser so. Sonst war alles friedlich.

Kein Grund für Grete, mir immer noch böse zu sein.

»Hast du die Brötchen geholt?«, fragte sie jetzt.

»Bin noch nicht dazu gekommen«, murmelte ich. Bis vor Kurzem hatte unser Dorfbäcker noch einen Lieferservice betrieben – in Gestalt seines einzigen Sohnes. Aber der studierte jetzt BWL in Hamburg und hatte vermutlich vor, eines Tages eine Großbäckerei zu gründen. Mit tiefgekühlten Teigklumpen zum Aufbacken. Igitt.

Auch in einem idyllischen Heidedorf wie Nordergellersen gingen die guten alten Zeiten irgendwann gnadenlos den Bach runter.

»Dann kannst du jetzt fahren«, sagte Grete. »Nimm Opas altes Fahrrad.«

Lieber nicht. Draußen lauerte ein Schatten.

Meine Kiefermuskeln wollten wieder loslegen.

Ich tat, als müsste ich die Kaffeemaschine hypnotisieren.

»Wir sind hier nicht im Luxushotel.« Gretes Stimme bekam einen keifenden Unterton. »Bei uns wird das Frühstück nicht aufs Zimmer geliefert.«

Als ob ich das nicht gewusst hätte. Aber sie hielt es für nötig, mich ungefähr alle drei Minuten daran zu erinnern.

Der Ferienhof Lüttjens war mit meiner alten Arbeitsstelle, dem Münchener Luxushotel Kiefers am Maximilianplatz, nicht zu vergleichen. Im Hotel jedoch war ich eine Angestellte gewesen, hier gehörte mir seit Kurzem die Hälfte von allem. Wobei – das allein hätte vermutlich nicht gereicht, um mich heimzuholen. Opas Anwalt hatte auch seinen Teil dazu beigetragen.

Mein Herz galoppierte an, wie immer, wenn ich an Paul dachte. Paul Liebling, der für seinen Nachnamen echt nichts konnte, der aber jetzt mein Liebling war.

Sein Schatten war das übrigens auch nicht. Den kannte ich, und der duftete auch supergut. Nach Zedern und kanadischem Himmel.

Ja, sogar sein Schatten.

Wer behauptet eigentlich, dass Liebe nur blind macht? Ich finde, sie macht auch blöd im Kopf.

Aber schön blöd.

»Brötchen holen!«, schrie Oma Grete.

Mein Herzensgalopp brach abrupt ab. Ich schaute aus dem Fenster. Weit und breit war kein flüchtender Schatten zu sehen. Na gut.

»Ich fahre ja schon.«

»Das will ich aber auch hoffen. Und sieh zu, dass du schnell wieder hier bist. Deine Eltern stehen in zehn Minuten auf.«

Eltern? Für Grete gab es da keine Zweifel.

»Und deine nichtsnutzige Großtante poltert oben schon rum. Also mach hin!«

Ich dachte an die zarte leise Marie, Gretes um zwei Jahre jüngere Schwester. Marie polterte nicht, Marie war sanft und ruhig. Schon wollte ich etwas zu ihrem Schutz sagen, als ich es mir anders überlegte.

Sollten Grete und Marie doch weiter zanken.

Nach Opas Begräbnis hatte es für kurze Zeit so ausgesehen, als würden sich die Schwestern endlich versöhnen – sozusagen zum Ausklang eines langen Lebens, in dem sie denselben Mann geliebt hatten. Wäre ihnen ja zu wünschen gewesen, nachdem der zu Asche verfallene Zankapfel unter dem Findling lag. Aber siebzig Jahre Zoff legte man vermutlich nicht so leicht ab.

Vielleicht hätte ich erst einen Kaffee trinken sollen, bevor ich schon wieder über meine Familie nachdachte. Oder einen Köm.

Von meinem Lieblingsprosecco Berlucchi war ich inzwischen abgekommen. Echter Doppelkorn war in der Lüneburger Heide auch leichter zu kriegen.

Das Gedankengeröll in meinem Kopf kullerte munter hin und her, stieß schmerzhaft gegen Nervenstränge und sammelte sich endlich zu zwei schlichten Aussagen.

Erstens: Mein jüngerer Bruder Jan war der Sohn von Papa und Mama.

Zweitens: Ich war niemandes Tochter, bloß ein Findelkind.

Jägermeister ginge auch.

Ein kräftiger Puff zwischen die Rippen brachte mich zur Vernunft. Gleichzeitig durchbohrte mich Gretes Blick. »Glaub ja nicht, du kannst dich hier auf die faule Haut legen, bloß weil du adoptiert bist. ’Ne Extrawurst brät dir keiner.«

Wieder durchzuckten mich Mordgelüste. Seit das große Familiengeheimnis aufgeklärt war, machte sie sich einen Spaß daraus, mich an meine mysteriöse Herkunft zu erinnern.

»Nein«, erwiderte ich langsam. »Das habe ich nicht vor. Aber als Eigentümerin und verantwortliche Geschäftsführerin des halben Hofes fahre ich Brötchen holen, wann ich will.«

»Pfft«, machte Grete und schaltete Maries alten Kassettenrekorder ein. Den hatte ich mal in die Speisekammer verbannt, aber er stand längst wieder auf der Fensterbank.

So viel zu meiner neuen Autorität.

Die andere Hälfte des Hofes war übrigens zu gleichen Teilen zwischen Papa und Jan aufgeteilt worden. Genau wie seiner Schwägerin Marie hatte Opa Hermann seiner Frau Grete bloß lebenslanges Wohnrecht zugestanden. Was ja nicht mehr lange sein konnte, wie sie selbst zu sagen pflegte, und das, nachdem sie sich ein Leben lang totgeschuftet hatte.

Ein echtes Grete-Drama.

Marie beklagte sich übrigens nicht. War nicht ihre Art. Sie schwieg lieber. Das konnte sie richtig gut.

Heino, Maries erklärter Lieblingssänger, war vermutlich Gretes Meinung und verkündete, er werde sich jetzt einen Whisky und einen Gin gönnen, und zwar mit Karamba und Karacho.

Der war mir jetzt auch sympathisch.

Ich sah zu, dass ich rauskam.

Flink huschte ich über den Hof und holte mir im Stall das alte Fahrrad.

Am Tor zögerte ich dann. Mein Blick schweifte erst hinüber zum Küpperhof, dann die Dorfstraße hinunter, dann rechts und links über die Felder.

Nirgends ein Schatten, der dort nicht hingehörte.

Also gut. War alles bloß Einbildung gewesen.

Ich strampelte los in Richtung Dorfzentrum und Bäcker.

Morgens um halb sieben war in Nordergellersen die Welt noch in Ordnung.

In der Familie Lüttjens herrschte ein bisschen Frieden, und ich hatte meine große Liebe gefunden.

Meinen Liebling.

Wir konnten nun alle mal zur Ruhe kommen. War ja auch dringend nötig nach der ganzen Aufregung, die uns mitten in der Heideblüte heimgesucht hatte. Die ganze Familie war einmal kräftig durchgeschüttelt und dann mehr oder weniger verwirrt im staubigen Hof liegen gelassen worden.

Während ich mich dem spitzen roten Turm unserer Dorfkirche St. Johannis näherte, dachte ich ganz fest an Paul.

Meine Füße traten in die Pedale, mein Herz setzte zu neuen Galoppsprüngen an.

Blöd nur, dass mir dabei die ganze Zeit ein alter Spruch im Kopf herumspukte: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.

2. Frisch auf zur Jagd

Die Brötchentüte hing prall gefüllt in Oma Gretes Einkaufsnetz am Lenker und ließ bei jedem Schwenker einen köstlichen Duft entweichen. Gut gelaunt radelte ich durchs Dorf zurück zum Hof. An irgendwelche Schatten dachte ich einfach nicht mehr. Lieber an den vor mir liegenden Tag, der etwas Ruhe und Entspannung in mein neues Leben bringen sollte. Die vergangenen Wochen waren auf dem Lüttjenshof für uns alle ziemlich hektisch gewesen.

Es war einige Zeit ins Land gegangen, bis sich jeder in seiner neuen Rolle zurechtgefunden hatte.

Mehr oder weniger gut übrigens.

Grete und Marie waren noch am besten dran gewesen. Sie hatten einfach weitergemacht wie bisher, nicht ahnend, dass der Rest der Familie ihr uraltes Geheimnis um den einzigen Sohn kannte. So bereiteten sie wie gewohnt das Frühstück für die Feriengäste und kochten für die Familie. Wie sie es schon immer getan hatten. Abgesehen von ihrem beiderseits geliebten Hermann fehlte ihnen nicht viel, und sie gingen jeden Tag zum Friedhof – abwechselnd, versteht sich.

Jan war längst wieder in Hamburg und arbeitete im Friseursalon. Er kam aber öfter zu Besuch als früher. Das hatte weniger mit seiner brüderlichen Liebe zu mir als mit Hans-Dieter zu tun, der früher in unserer Clique noch Didi geheißen hatte.

Papa musste die Alleinherrschaft über den Hof abgeben und sich an seine Tochter als gleichberechtigte Partnerin gewöhnen – wobei ich mir oft auf die Zunge biss. Sonst hätte ich ihn dreimal am Tag daran erinnern müssen, dass ich die Haupterbin war. Nicht er.

Etwas unkorrekt also, die Sache mit der Gleichberechtigung.

Mama ihrerseits gab sich alle Mühe, die brave Landfrau zu spielen, und sie fuhr nur noch recht selten nach Hamburg in ihre Wohngemeinschaft voller Alt-Hippies, um dort mithilfe von Pendeln, magischen Kristallen und der einen oder anderen Haschpfeife sich selbst oder was auch immer zu finden.

In letzter Zeit wieder häufiger.

Obwohl meine Eltern sich so prächtig versöhnt hatten, schlich sich langsam der alte Trott zurück in ihr Leben.

Irgendwer würde Olaf Lüttjens mal daran erinnern müssen, dass er seiner Heidi eine Indienreise versprochen hatte. Und zwar bald.

Schien er vergessen zu haben.

Irgendjemand. Nicht ich, bitte. Hatte genug eigene Sorgen.

Ich bremste ab. Keine fünfzig Meter entfernt lagen schon der Lüttjens- und der Küpperhof einträchtig nebeneinander. Die Morgensonne war ein Stückchen höher geklettert und beschien jetzt das leere Storchennest auf unserem Reetdach.

Kam mir plötzlich wie ein böses Omen vor.

Was natürlich Quatsch war.

Das Storchenpaar, das vorübergehend dort pausiert hatte, war längst weiter nach Afrika geflogen. Die zwei waren im September mit ihrem Flug nach Süden recht früh dran gewesen. Doch jetzt, Anfang November, hatten Störche in Norddeutschland wirklich nichts mehr zu suchen.

Trotzdem.

Ich musste an Opa Hermanns Behauptung denken. Am Tag meiner Ankunft vor dreiunddreißig Jahren seien nach langen Jahren die Störche auf den Dachfirst zurückgekehrt.

So ging die Familienlegende.

Mit Ankunft war gemeint, dass mich jemand auf der Türschwelle der Lüttjens’ abgelegt hatte.

Nachdem ich Nordergellersen dann verlassen hatte, um nach München zu gehen, war auch das Nest wieder leer geblieben.

Bis ich vor zwei Monaten heimkehrte. Plötzlich war das Nest für kurze Zeit wieder bewohnt, vielleicht von den Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Enkeln meines Storchenpaares von damals.

Aber Cindy und Bert mussten bald darauf nach Afrika weiterfliegen. Das hatte nichts zu bedeuten. Ich war glücklich! Ich war daheim! Ich liebte Paul!

Äh, Cindy und Bert.

Marie hatte es nicht lassen können und auch dieses Storchenpärchen getauft. Meine Großtante, die in Wahrheit meine Oma gewesen wäre, wenn ich nicht als Findelkind Eingang in die Familie gefunden hätte, Marie also, liebte nicht nur Heino, sondern auch andere deutsche Schlagersänger, und zwar nicht die allerfrischesten. Für Marie musste eben alles beim Alten bleiben.

Inklusive Storchentaufe.

Bye, bye, Cindy und Bert. Kommt bald wieder. Dann kann ich vielleicht wirklich daran glauben, dass in meinem Leben alles so läuft, wie ich mir das ausgemalt habe. Dass Paul mich zum Beispiel genauso innig liebt wie ich ihn, obwohl er neuerdings ein bisschen kurz angebunden ist.

Mein Blick war immer noch auf das leere Storchennest gerichtet. Wie festgetackert. Meine Füße wollten in die Pedale treten. Alle Welt wartete auf die frischen Brötchen, die Urlaubsgäste …

Ach nein, die nicht. Gestern waren die Herbstferien zu Ende gegangen, und bis Dezember würde der Hof geschlossen bleiben. Einige Renovierungsarbeiten standen an, und zwei Ferienwohnungen sollten auch in Angriff genommen werden.

Ja, und dann war da noch das nette kleine Haus, das Paul und ich uns auf unserem Grundstück bauen wollten. Wir hatten schon sehr oft darüber geredet.

Nächtelang.

Wenn wir nicht gerade Besseres zu tun hatten. Ihm machte es nichts aus, nach Lüneburg in seine Anwaltskanzlei zu pendeln, und ich würde froh sein, mit ihm hier auf meinem Besitz zu leben, jedoch nicht unter demselben Dach wie der Rest der Lüttjens-Sippe. Ich liebte jeden einzelnen von ihnen, ehrlich. Aber seit ich wusste, was fast alle anderen schon immer gewusst hatten, behandelten sie mich wie ein rohes Ei. – Oder wie eine Handgranate, die jederzeit hochgehen konnte.

Nur Grete nicht. Die war wie immer. Gott sei Dank!

Ach ja, ein eigenes Häuschen, für Paul und mich. Und für unsere Kinder, über deren Zahl ich mir mit mir selbst noch nicht ganz einig war.

Einzelkind? Besser nicht.

Wolfram und Silke aus meiner alten Clique mit ihren sechs Kindern nacheifern?

Hilfe! Irgendwas dazwischen.

Wenn ich mit Paul über unsere Zukunft sprach, waren Kinder noch kein Thema. Man soll die Männer bekanntlich nicht überfordern. Über ein Haus zu reden war unverfänglicher. Zu dumm nur, dass ich nie die Zeit fand, mich mit den Bauplänen zu befassen. Irgendwas kam immer dazwischen. War ja auch ziemlich viel Arbeit, so einen Hof zu führen.

Paul sah das ein.

Ich hatte nicht sehr oft Zeit für ihn.

Paul verstand mich.

Wirklich?

Nachdenken, Nele!

Bisschen zackig.

Endlich löste ich den Blick vom Dachfirst und sah mich um.

Auf der einen Seite erstreckten sich Wiesen und Felder, auf der anderen lag der Weg in Richtung Baggersee und Kiefernwäldchen.

Nach Baggersee war mir nicht zumute. Gut möglich, dass sich ein paar Leute aus meiner alten Clique dort zum Frühschoppen trafen.

Oder mein Exfreund Karl Küpper saß auf dem umgestürzten Baumstamm und wartete voller Sehnsucht auf mich. Hatte er ja schon mal gemacht. Und das war ziemlich gefährlich gewesen. Zumindest für mein Seelenheil.

Blödsinn! Die Jungs und Mädels aus der Clique waren inzwischen genau wie ich keine sechzehn mehr und hatten an einem Montagmorgen anderes zu tun, als sich die Kante zu geben oder in einen alten Liebestaumel zurückzufallen.

Karl war mit dem Melken fertig und fütterte jetzt die Kälbchen mit der Flasche.

Ich kannte seinen Zeitplan noch sehr gut von früher. Und an mich verschwendete er sowieso keine Gefühle mehr.

Hans-Dieter dachte vermutlich an Jan, während er zu seinem Job als Landmaschinenverkäufer in Lüneburg unterwegs war.

Pamela und Anke schliefen wahrscheinlich noch und träumten vom Märchenprinzen, der gefälligst endlich mal auftauchen sollte.

Die anderen waren auch vollauf mit ihrem Erwachsenenleben beschäftigt.

Am Baggersee war keiner von denen.

Egal. Ich wollte da nicht hin.

Zu viele Erinnerungen dümpelten auf dem Wasser, krümelten im Ufersand rum und schwebten durch die Novemberluft. Ich musste jetzt mal über die Zukunft nachdenken. Lieber drum herumfahren, das Kiefernwäldchen hinter mir lassen und in den großen Laubwald eintauchen, der sich gleich danach in Richtung Süden erstreckte. Dorthin war ich auch früher gern verschwunden, wenn mir alles zu viel wurde.

Schon strampelte ich los. Opas altes Rad hüpfte wacker über den sandigen Weg, das Einkaufsnetz mit der Brötchentüte setzte zum Salto an, schaffte es aber nicht ganz.

Wenig später tauchte ich in das Zwielicht unter uralten Eichen ein, roch den Duft feuchten Laubes und lauschte den tiefen Klängen einiger Jagdhörner. Gedankenverloren sang ich mit. Opa Hermann hatte mir früher einige Texte beigebracht. Wer sonst?

»Frisch auf zur Jagd. Vorbei die Nacht, lasset uns jetzt jagen …«

Ich brach mitten im Text ab, sprang vom Rad und sah mich panisch um.

Shit! Im November war Jagdsaison. Schon vergessen, Nele? Da hatte niemand etwas im Wald zu suchen, der nicht Jäger, Treiber, Jagdhund oder Beute war.

Oder zur Jagdhornbläsergruppe von Nordergellersen gehörte. Wie Opa vor vielen Jahren.

Meine Augen durchbohrten das Dickicht, die Jagdhörner schwiegen.

Dann ein Knacken, ein Rascheln, aber nirgends ein Schuss.

»Was …«, brachte ich gerade noch hervor, bevor ich von einem Kalb umgerannt wurde.

Mit voller Wucht knallte meine Stirn gegen den Lenker, und im Wald wurde es schlagartig dunkel.

Seit wann werden in Nordergellersen Kälber gejagt?, dachte ich noch. Womöglich eines vom Küpperhof. Wenn Karl das wüsste!

Ach, und wenn Opa das wüsste!

Da hatte er sich so viel Mühe gegeben, die abtrünnige Enkelin heimzuholen, und nun erlag sie den Folgen eines Jagdunfalls.

Oder so ähnlich.

Das Kalb machte sich über die Brötchentüte her.

Ich wurde ohnmächtig. Glaube ich jedenfalls.

3. Ein Schatten nimmt Gestalt an

»Pfui Teufel!«

Etwas nasses langes Klebriges fuhr mir übers Gesicht.

»Paul, hör auf damit!«

Wisch!

»Lass mich schlafen.«

Ein heißer stinkender Atem blies mich an. Duftnote Kalkutta-Abwasserkanal.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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