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Im Leben gibt es keine Zufälle!
Es gibt Männer, die glauben, dass ihnen die Welt gehört. Graham Morgan, CEO von Morgan Financial Holdings, gehört zu ihnen. Wenn er etwas will, bekommt er es - so einfach ist es für ihn. Bis er Soraya trifft! Sie ist ganz anders als er und die erste Frau, die sich nicht von ihm einschüchtern lässt. Und so unterschiedlich sie auch sind, kann er sich doch nicht dagegen wehren, dass Soraya ganz unbekannte Gefühle in ihm weckt. Doch gerade als Graham beginnt, an eine gemeinsame Zukunft zu glauben, holt ihn seine Vergangenheit ein und droht, alles zu zerstören ...
"Ich bin sofort in die Geschichte eingetaucht und empfehle jedem, dasselbe zu tun! Definitiv eines meiner Lieblingsbücher!" AESTAS BOOK BLOG
Band 2 der erfolgreichen NEW-YORK-TIMES-Bestsellerreihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Vi Keeland und Penelope Ward
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Seitenzahl: 399
VI KEELAND
PENELOPE WARD
One More Promise
Roman
Ins Deutsche übertragen von Janine Malz
Es gibt Männer, die glauben, dass ihnen die Welt gehört. Graham Morgan, CEO von Morgan Financial Holdings, ist einer davon. Wenn er etwas will, bekommt er es – ganz einfach! Bis er Soraya trifft. Die heißblütige Italienerin ist die erste Frau, die nicht auf die Knie sinkt, wenn sie ihn erblickt. Vielmehr schäumt sie vor Wut, weil er sie eiskalt abblitzen und vor der Tür zu seinem Büro stehen lässt, als sie ihm sein verloren geglaubtes Handy wiederbringen will. Diese Arroganz lässt bei Soraya alle Sicherungen durchbrennen, und sie tut etwas sehr Unüberlegtes: Sie schießt einige Fotos von sich und hinterlässt diese mit den entsprechenden Kommentaren auf seinem Telefon, um ihm zu zeigen, was sie von seinem Benehmen hält. Das weckt Grahams Interesse, und er versucht herauszufinden, wer die unwiderstehliche Fremde ist. Als er Soraya schließlich aufspürt, bringt ihn die temperamentvolle Frau völlig aus der Fassung. Sie geht ihm nicht mehr aus dem Kopf, er muss sie einfach für sich gewinnen. Graham zeigt Soraya, dass er weit mehr ist als ein arroganter Anzugträger und dass er zu echten Gefühlen fähig ist. Doch gerade, als sie lernen, sich zu vertrauen, holt ihn seine Vergangenheit ein und droht ihr Glück zu zerstören …
Dieses Buch ist allen kleinen Mädchen gewidmet, die lieber Neongrün als Pastellrosa zum Ballettunterricht tragen.
SORAYA
Ich setzte gerade den rechten Fuß in die U-Bahn, als ich ihn entdeckte und mitten in der Bewegung erstarrte. Mist! Er saß gegenüber von meinem Stammplatz. Ich machte einen Schritt zurück.
»Hey, passen Sie doch auf, wo Sie hintreten!« Dem Anzugträger wäre beinahe der Kaffeebecher aus der Hand gefallen, als ich rücklings gegen ihn stieß. »Was soll denn das?«
»Sorry!« Geduckt lief ich unter dem U-Bahn-Fenster entlang ein paar Wagen weiter den Bahnsteig hinunter. Neben mir begannen die Türen, rot zu blinken, und ein lauter Signalton zeigte an, dass die Bahn jeden Moment abfahren würde. Gerade als sich die Türen zu schließen begannen, sprang ich wieder hinein.
Es dauerte eine ganze Minute, bis ich nach meinem Sprint wieder zu Atem kam. Ich muss meinen Hintern dringend mal wieder ins Fitnessstudio bewegen. In einem Vierersitz mit zwei gegenüberliegenden Bänken setzte ich mich neben einen Mann, der daraufhin die Zeitung sinken ließ. »Tut mir leid«, erklärte ich, »ich kann nicht rückwärtsfahren.« Da die zwei Sitze ihm gegenüber frei waren, hätte ich gemäß dem U-Bahn-Knigge dort Platz nehmen müssen, aber ich nahm an, dass ihm Kuscheln lieber war als ein Schoß voller Kotze.
Er lächelte. »Geht mir genauso.«
Mit einem erleichterten Seufzer stöpselte ich mir meine Ohrhörer ein und schloss die Augen, während sich der Zug in Bewegung setzte. Eine Minute später spürte ich ein leichtes Klopfen auf der Schulter. Der Fahrgast neben mir deutete auf einen Mann im Gang.
Widerwillig zog ich einen Ohrstöpsel heraus.
»Soraya. Hab ich mir doch gedacht, dass du das bist.«
Diese Stimme.
»Ähm … hi.« Verdammt, wie hieß er gleich noch mal? Ach genau … wie konnte ich das nur vergessen? Pete. Piepsstimme Pete. Wegen dieses Reinfalls sprach ich noch immer kein Wort mit meiner Schwester. Schlimmstes. Blind. Date. Aller. Zeiten. »Wie geht’s dir, Pete?«
»Gut. Sehr gut sogar, nun da ich dich endlich mal treffe. Ich habe ein paar Mal versucht, dich zu erreichen, aber offenbar habe ich die falsche Nummer eingespeichert, denn du hast auf keine meiner Nachrichten reagiert.«
Ja, genau. Das wird es sein.
Er kratzte sich im Schritt. Stimmt, diese Schokoseite an ihm hatte ich ganz vergessen. Wahrscheinlich war das nur ein nervöser Tic, aber jedes Mal wanderte mein Auge unweigerlich mit, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Piepsstimme Pete mit dem juckenden Piepmatz. Schönen Dank auch, Schwesterherz.
Er räusperte sich. »Vielleicht könnten wir ja jetzt einen Kaffee zusammen trinken?«
Der Anzugträger neben mir senkte erneut die Zeitung, um erst einen Blick auf Pete und dann auf mich zu werfen. Ich brachte es einfach nicht über mich, fies zu dem armen Kerl zu sein, der ja eigentlich ganz nett war.
»Ähm.« Ich legte dem Typen neben mir eine Hand auf die Schulter. »Geht leider nicht. Das ist mein Freund Danny. Wir sind vor einer Woche wieder zusammengekommen. Stimmt’s, Schatz?«
Fake-Danny spielte mit. Seine Hand legte sich auf mein Knie. »Ich teile nicht, Kumpel. Also mach dich vom Acker.«
»Deshalb musst du nicht gleich so unhöflich sein, Danny.« Ich warf dem Anzugträger einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Das war gar nicht unhöflich, Liebling. Das hier wäre unhöflich.« Ehe ich ihn aufhalten konnte, drückte er mir einen Kuss auf die Lippen. Und es war nicht nur ein flüchtiges Bussi. Seine Zunge hatte es eilig, sich in meinen Mund zu schieben. Ich schubste ihn kräftig von mir weg und wischte mir mit dem Handrücken über den Mund. »Sorry, Pete.«
»Schon okay. Tja, äh … dann will ich nicht weiter stören. Mach’s gut, Soraya.«
»Du auch, Pete.«
Sobald Pete außer Hörweite war, blaffte ich Fake-Danny an. »Was fällt dir eigentlich ein, Arschloch?«
»Arschloch? Vor zwei Minuten war ich noch Schatz. Entscheide dich mal, Süße.«
»Wie kann man nur so dreist sein?«
Er ignorierte mich und griff in die Innentasche seiner Anzugjacke, um sein brummendes Handy herauszuziehen. »Das ist meine Frau. Kannst du mal kurz die Luft anhalten?«
»Deine Frau? Du bist verheiratet?« Ich stand auf. »Gott, du bist wirklich ein Arschloch.«
Er machte keine Anstalten, seine ausgestreckten Beine zurückzuziehen, also machte ich einen Schritt darüber hinweg. Als er das Handy zum Ohr führte, entriss ich es ihm und plärrte hinein: »Ihr Mann ist ein Arschloch.«
Dann schleuderte ich es ihm in den Schoß und verließ das Abteil in die entgegengesetzte Richtung, in die Pete verschwunden war.
Dabei ist gerade einmal Montag, verdammt.
Das war ja mal wieder typisch. Furchtbare Dates, denen ich direkt in die Arme laufe. Männer, die sich als verheiratet herausstellen.
Zu meiner großen Freude war der nächste Wagen nicht so voll, und es gab einen freien Platz in Fahrtrichtung. Mein Blutdruck sank augenblicklich, als ich in den Ledersitz sank. Mit geschlossenen Augen ließ ich mich vom Ruckeln der Bahn beruhigen.
Die ruppige Stimme eines Mannes riss mich aus meiner Seligkeit. »Mach einfach deinen scheiß Job, Alan. Mach deinen Job. Ist das zu viel verlangt? Wieso bezahl ich dich überhaupt, wenn ich dir alles bis ins kleinste Detail erklären muss? Deine Fragen sind totaler Quatsch. Erst nachdenken, dann den Mund aufmachen. Ich habe keine Zeit für schwachsinnige Fragen. Mein Hund hätte wahrscheinlich Intelligenteres dazu beizutragen als das, was du da eben von dir gegeben hast.«
Was für ein Arsch.
Als ich zur Seite schaute, um herauszufinden, wem die Stimme gehörte, musste ich in mich hineinlachen. Natürlich. Natürlich! Kein Wunder, dass der glaubte, er könne alles und jeden anscheißen. Bei dem Aussehen gingen wahrscheinlich alle Leute vor ihm auf die Knie, im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. Er sah umwerfend aus. Und stank darüber hinaus nach Macht und Geld. Ich verdrehte die Augen … konnte aber nicht wegschauen.
Der Mann trug ein eng anliegendes Nadelstreifenhemd, unter dem seine muskulöse Gestalt leicht zu erahnen war. Sein teuer aussehendes marineblaues Jackett lag über seinem Schoß. Die schwarzen, spitzen Herrenschuhe an seinen großen Füßen sahen aus, als seien sie eben poliert worden. Ganz klar einer der Typen, die sich am Flughafen die Schuhe polieren lassen und dabei jeglichen Augenkontakt mit dem Schuhputzer meiden. Er hatte inzwischen aufgelegt und machte ein Gesicht, als hätte man ihm in die Suppe gespuckt. An seinem Hals trat eine Vene hervor. Offenbar frustriert fuhr er sich mit der Hand durch sein dunkles Haar. Jupp. In diesen Wagen zu wechseln hatte sich schon allein schon für diesen Augenschmaus gelohnt. Die Tatsache, dass er völlig blind für alle Anwesenden ringsum war, machte es umso leichter, ihn zu beäugen. Eins musste man ihm lassen, er war verdammt heiß, wenn er sauer war. Irgendetwas sagte mir, dass er immer sauer war. Er war wie ein Löwe, den man am besten aus der Ferne bewunderte, weil jeder direkte Kontakt lebensgefährlich werden konnte.
Seine Ärmel waren hochgekrempelt, und an seinem rechten Handgelenk trug er eine teure, fette Armbanduhr zur Schau. Mit griesgrämiger Miene starrte er aus dem Fenster, während er seine Uhr vor und zurück drehte. Offenbar eine nervöse Angewohnheit, was ironisch war, denn vermutlich machte er seinerseits jede Menge Leute nervös.
Sein Handy klingelte erneut.
Er nahm ab. »Was?«
Seine Stimmlage war jener kratzige Bariton, der mir immer direkt zwischen die Beine fuhr. Ich hatte eine Schwäche für tiefe, sexy Männerstimmen. Leider passten die Stimmen nur oft nicht zum Rest.
Das Handy in der rechten Hand, fuhr er mit der anderen Hand damit fort, am Metallarmband seiner Uhr herumzufummeln.
Klick-klick.
»Dann wird er sich eben gedulden müssen«, knurrte er.
»Die Antwort lautet: Wenn ich da bin, bin ich da.«
»Was genau gibt es daran nicht zu verstehen, Laura?«
»Ihr Name ist nicht Laura? Wie heißen Sie denn dann?«
»Dann also … Linda … sagen Sie ihm, er soll den Termin verschieben, wenn er nicht warten kann.«
Nachdem er aufgelegt hatte, murmelte er etwas in seinen nicht vorhandenen Bart.
Menschen wie er faszinierten mich. Menschen, die glaubten, ihnen gehöre die Welt, nur weil sie mit guten Genen gesegnet waren oder sich ihnen Chancen eröffnet hatten, durch die sie in höhere Kreise aufgestiegen waren. Er trug keinen Ehering. Ich wette, der war den ganzen Tag nur mit sich selbst beschäftigt. Teurer Espresso, Arbeit, in Nobelrestaurants essen, vögeln ohne Gefühle … und am nächsten Tag dasselbe in Grün. Und irgendwo dazwischen Schuheputzen und Racquetball.
Ich wette, dem ging es auch im Bett nur um sich selbst. Nicht, dass ich ihn von der Bettkante stoßen würde – aber trotzdem. Ich könnte nicht behaupten, dass ich je mit einem Typen dieser Liga zusammen gewesen wäre, daher habe ich keine Erfahrungswerte, inwiefern sich das Äußere auf sein Sexleben übertragen lässt. Die meisten Männer, mit denen ich bisher etwas hatte, waren am Hungertuch nagende Künstler, Hipster oder Ökos gewesen. Mein Leben war alles andere als Sex and the City. Eher die traurige Version Sex and the Pity. Oder die Scheißversion Sex and the Shitty. Obwohl ich nichts dagegen hätte, einen Tag lang die Carrie für seinen Mr Big zu spielen.
Der einzige Haken an meiner Fantasie: Ich war definitiv nicht sein Typ. Bestimmt stand er auf unterwürfige spindeldürre High-Society-Blondinen und nicht auf kurvige, freche Italienerinnen aus Benshonhurst, dem »Little Italy« Brooklyns. Meine langen schwarzen Haare gingen mir bis zum Hintern, und ich sah aus wie eine Mischung aus Elvira, der Herrscherin der Dunkelheit, und Pocahontas mit fettem Hintern. Meine Spitzen ließ ich mir alle paar Wochen je nach aktueller Stimmungslage färben. Diese Woche war Königsblau dran, was hieß, dass es mir ziemlich gut ging. Rot bedeutete, dass man mir besser aus dem Weg ging.
Meine umherschweifenden Gedanken wurden jäh vom Kreischen des bremsenden Zugs unterbrochen. Plötzlich stand der Mann auf, wobei er eine Wolke eines teuren Eau de Cologne hinter sich herzog. Selbst sein Duft war ungemein sexy, wenngleich aufdringlich. Schon eilte er durch die Türen, die sich hinter ihm schlossen.
Und weg war er. Show zu Ende. Tja, war schön gewesen.
Meine Haltestelle war die nächste, also ging ich zu derselben Tür, durch die er gerade im wahrsten Sinne des Wortes verduftet war, als ich mit dem Fuß gegen etwas stieß, das sich wie ein Hockey-Puck anfühlte.
Ich blickte hinunter, und mein Herz begann, schneller zu schlagen. Mister Sahneschnitte hatte sein Handy verloren!
Es musste ihm beim Hinauseilen aus der Hand gerutscht sein, während ich damit beschäftigt gewesen war, auf seinen Knackarsch in der engen Hose zu starren. Als ich das iPhone hochnahm, fühlte es sich heiß in meinen Händen an. Das Gehäuse roch nach ihm. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht daran zu schnuppern.
Die Hand vor den Mund geschlagen, sah ich mich um. Wenn mein Leben eine TV-Show wäre, würde ungefähr jetzt die Lachspur einsetzen. Niemand achtete auf mich. Niemanden schien es zu interessieren, dass ich Mr Schickimickis iPhone hatte.
Was soll ich jetzt damit machen?
Ich ließ das Handy in meine Leopardenprint-Handtasche gleiten und fühlte mich, als hätte ich eine Bombe dabei, während ich aus der U-Bahnstation nach oben auf den sonnigen Gehsteig in Manhattan hinaustrat. In der Tasche spürte ich die Vibrationen der eingehenden Nachrichten, und mindestens ein Mal klingelte es, aber bevor ich mich bereit fühlte, es erneut zu berühren, brauchte ich erst einmal eine Dosis Koffein.
Ich machte halt bei meinem Stammstraßenverkäufer und trank den Kaffee im Gehen. Da ich ohnehin schon zu spät war, entschied ich mich, erst nach der Mittagspause weitere Erkundungen über Mr Dicke Hose anzustellen.
Als ich im Büro ankam, zog ich das Handy heraus und musste feststellen, dass der Akkustand im roten Bereich war, also steckte ich es ans Ladegerät. Meine Stelle als Assistentin einer Ratgeber-Ikone war sicher nicht mein Traumjob, sicherte aber meinen Lebensunterhalt. Ida Goldman war die Inhaberin von Frag Ida, einer täglichen Kolumne, die es bereits seit Jahren gab. Seit Neuestem versuchte Ida, mich als Nachfolgerin aufzubauen, indem sie mich probehalber einige der Antworten schreiben ließ. Die Antworten auf die ausgewählten eingesendeten Fragen wurden in der Zeitung abgedruckt, der Rest auf Idas Website veröffentlicht. Mein Job war es unter anderem, die Einsendungen durchzusehen und zu entscheiden, welche es wert waren, an meine Chefin weitergeleitet zu werden.
Während Idas Ratschläge stets sensibel und politisch korrekt formuliert waren, war mein Stil pragmatischer, was im Wesentlichen hieß, dass ich all den einfühlsamen Quatsch wegließ. Infolgedessen wurde keine meiner Antworten je veröffentlicht. Hin und wieder konnte ich jedoch nicht widerstehen, mich einiger Fragen anzunehmen, die es nicht in die engere Auswahl schafften und im Müll gelandet wären. Einige dieser Leute brauchten dringend einen lebenspraktischen Tipp, und ich empfand es als meine humanistische Pflicht, ihren Hilferufen nachzukommen.
Ich habe kürzlich entdeckt, dass mein Ehemann einen Stapel Pornohefte hortet. Was soll ich jetzt tun?
– Trisha, Queens
Glückwunsch! Besorg dir einen guten Vibrator und räum hinterher alles wieder an Ort und Stelle, nachdem du dich vergnügt hast, während er bei der Arbeit war.
Bei einer Party habe ich betrunken den Freund meiner besten Freundin geküsst. Jetzt muss ich ständig an ihn denken. Ich fühle mich total mies, aber ich glaube, ich verliebe mich gerade in ihn. Haben Sie irgendwelche weisen Worte für mich parat?
– Dana, Long Island
Ja. Du bist eine Schlampe, Dana!
Mein Freund hat vor Kurzem um meine Hand angehalten, und ich habe Ja gesagt. Er ist der süßeste, liebste Mann der Welt. Das Problem ist nur: Der Diamantring, den er mir geschenkt hat, ist kleiner, als ich gehofft hatte. Ich möchte seine Gefühle nicht verletzen und weiß nicht, wie ich ihm schonend beibringen kann, dass ich enttäuscht bin.
– Lori, Manhattan
Gott steht bei dir vor demselben Dilemma, Schätzchen. P. S.: Wenn dein Verlobter dich selbstverliebtes Gör in den Wind schießt, gib ihm meine Nummer.
Nach ein paar ehrlichen und unverblümten Antworten auf Leser-E-Mails verspürte ich jedes Mal genug Energie, um in den Tag zu starten. Der Morgen verging wie im Flug. Zur Mittagspause war das Handy vollständig aufgeladen, sodass ich es mit in den Pausenraum nahm. Ich hatte für meine Chefin und mich Thai-Essen bestellt.
Nachdem wir gegessen hatten, verließ Ida den Raum, sodass mir ungefähr zehn Minuten Privatsphäre blieben, um mich mit dem Handy zu beschäftigen. Glücklicherweise war es nicht passwortgeschützt. Erster Check: Fotos. Es waren nicht viele, und wenn ich geglaubt hatte, mir anhand seiner Galerie ein Bild von ihm machen zu können, so wurde ich eines Besseren belehrt. Auf dem ersten Foto war ein kleiner, flauschiger weißer Hund zu sehen. Eine Art Terrier oder so. Das nächste zeigte die nackten weißen Brüste einer Frau, zwischen denen eine Champagnerflasche steckte. Perfekt runde, total künstliche Titten. Igitt. Dann wieder der kleine Hund, gefolgt einer Gruppe älterer Damen, die aussahen, als wären sie in einem Jazzercise-Kurs. Was zum Henker? Dann musste ich laut loslachen. Das letzte Foto war ein Selfie von ihm und einer alten Dame. Auf dem Bild war er deutlich legerer gekleidet, hatte leicht zerzaustes Haar und lächelte doch tatsächlich. Er sah so unfassbar gut aus, dass es schwer zu glauben war, dass es sich um denselben Schnösel aus der U-Bahn handelte, aber sein hübsches Gesicht ließ keinen Zweifel.
Noch fünf Minuten, bis ich wieder zu meinem Schreibtisch musste. Auf dem Handy war kein E-Mail-Konto verlinkt, sodass ich stattdessen seine Kontakte öffnete und den ersten Namen in der Liste anrief: Avery.
»Schau an, schau an. Graham Morgan. Lange ist’s her. Wie komme ich zu der Ehre? Bist du schon das gesamte Alphabet durch und fängst jetzt wieder von vorne an? Du erinnerst dich aber schon, dass ich keine deiner Gespielinnen bin, oder?« Im Hintergrund waren Gehupe und Verkehrslärm und kurz darauf das Zuschlagen einer Autotür zu hören, die die Stadtgeräusche dämpfte. »Zum Langston-Gebäude. Und fahren Sie nicht durch den Park. Momentan ist Kirschblüte, und ich will keine geschwollene Haut vor meinem Meeting«, blaffte sie ihren Fahrer an. »Also, was gibt’s, Graham?«
»Ähm. Hi. Ich bin gar nicht Graham. Mein Name ist Soraya.«
»So- was?«
»So-rah-jah. Das ist Persisch und heißt Prinzessin. Dabei bin ich gar nicht Perserin. Mein Vater fand einfach …«
»Mir egal, wie Sie heißen. Sagen Sie mir einfach, was Sie wollen und wieso Sie meine wertvolle Zeit stehlen. Und wieso rufen Sie mich überhaupt von Graham Morgans Telefon aus an?«
Graham Morgan. Selbst der Name war sexy. Wie passend.
»Ähm, ich habe sein Handy heute Morgen in der U-Bahn gefunden. So Ende zwanzig? Nach hinten gegeltes, etwas längeres schwarzes Haar mit leichtem Lockenansatz am Kragen. Er trug einen marineblauen Nadelstreifenanzug. Und eine große Armbanduhr.«
»War er gut aussehend, arrogant und schlecht gelaunt?«
Ich schmunzelte. »Ja, das trifft es.«
»Er heißt Graham Morgan, und zufälligerweise weiß ich genau, wohin Sie ihm das Handy bringen können.«
Ich fischte einen Stift aus der Tasche. »Okay.«
»Sind Sie in der Nähe der U-Bahn-Linie 1?«
»Nicht weit davon entfernt.«
»Okay, also dann fahren Sie mit der 1 in die Innenstadt, an der Rector Street vorbei und steigen Sie am South Ferry Terminal aus.«
»Okay, das kriege ich hin.«
»Wenn Sie ausgestiegen sind, biegen Sie rechts zur Whitehall ab und dann links auf die South Street.«
Ich kannte die Gegend und versuchte, mir das Ganze bildlich vorzustellen. Eine Geschäftsgegend. »Bin ich da nicht am East River?«
»Genau. Schmeißen Sie das Handy von dem Arschloch in den Fluss und vergessen Sie, dass Sie ihn je gesehen haben.«
Dann legte sie auf. Na, das war ja interessant.
SORAYA
Eigentlich hatte ich geplant, ihm das Handy noch heute Vormittag zurückzugeben.
Nein, ehrlich, hatte ich wirklich.
Andererseits hatte ich auch geplant, meinen Uniabschluss zu machen. Und die Welt zu bereisen. Doch weiter als bis Hoboken ist mein ungebildeter Hintern nie aus New York City hinausgekommen, und das auch nur, weil ich im letzten Jahr aus Versehen im PATH zwischen Manhattan und New Jersey eingeschlafen und erst dort wieder aufgewacht war.
Das iPhone sicher im Seitenfach meiner Handtasche verstaut, saß ich in Waggon sieben, eine Reihe schräg hinter Mr Dicke Hose, von wo aus ich ihm verstohlene Blicke von der Seite zuwarf, während er im Wall Street Journal las. Ich brauchte mehr Zeit, um den Löwen studieren zu können. Zootiere faszinierten mich seit jeher, vor allem im Zusammenspiel mit Menschen.
An der nächsten Haltestelle stieg eine Frau zu, die sich Graham gegenüber setzte. Sie war jung und ihre Rocklänge grenzwertig. Die bloßen gebräunten Beine waren so wohldefiniert und sexy, dass selbst ich die Augen nicht abwenden konnte. Und dennoch machte der Löwe keinerlei Anstalten, darauf anzuspringen. Er schien sie nicht einmal zu bemerken, während er abwechselnd las und gedankenverloren an seiner Uhr herumklickte.
Ich hätte ihn definitiv für einen größeren Schürzenjäger gehalten.
Als seine Haltestelle kam, beschloss ich, dass ich ihm sein Handy zurückgeben würde. Morgen. Ein Tag mehr oder weniger war jetzt auch egal. Den Rest der Fahrt über scrollte ich durch seine Fotos. Nur diesmal konzentrierte ich mich auf die Hintergrunddetails anstatt auf das vordergründige Motiv.
Das Foto von ihm und der alten Dame war vor einem Kamin aufgenommen. Das war mir zuvor gar nicht aufgefallen. Der Kaminsims war mit Dutzenden Bilderrahmen bestückt. Den am wenigsten verpixelten zoomte ich heran. Das Foto zeigte einen zirka acht- oder neunjährigen Jungen in Uniform und eine Frau. Die Frau – zumindest nahm ich an, dass es eine war – trug eine Art Bürstenhaarschnitt. Bei dem Jungen hätte es sich um Graham handeln können, aber da war ich mir nicht sicher. Ich verpasste beinahe meine Haltestelle, während ich einen Postmann heranzoomte, der im Hintergrund eines anderen Fotos abgebildet war. Was zum Teufel tat ich da eigentlich?
Unterwegs machte ich wie gewohnt bei meinem Straßenverkäufer halt. »Ich nehme einen Grande-Iced-Vanille-Latte ohne Zucker, mit Sojamilch.«
Anil schüttelte belustigt den Kopf. Ab und an, wenn Frauen in der Schlange standen, die aussahen, als hätten sie sich auf der Suche nach einem Starbucks zu ihm verirrt, bestellte ich irgendetwas Irrwitziges. Lautstark. Normalerweise gab es mindestens eine naive Tussi, die tatsächlich glaubte, Anils Halal-Fleischerei würde schicke Lifestyle-Drinks servieren. Im Grunde gab es vier Wahlmöglichkeiten: schwarz, mit Milch, mit Zucker oder Geh-halt-irgendwo-anders-hin-verdammt. Anil hatte nicht mal Süßstoff. Nachdem ich meinen Dollar in den Becher geworfen und meinen üblichen schwarzen Kaffee entgegengenommen hatte, ging ich lachend weiter, während ich hinter mir eine Frau fragen hörte, ob er auch Frappuccinos mache.
Als ich im Büro ankam, hatte Ida besonders stinkige Laune. Na wunderbar. Die ganze Welt hielt Frag Ida für eine beliebte Institution Amerikas, nur wenige Auserwählte kannten die Wahrheit. Die Frau, die haufenweise zuckersüße Ratschläge verteilte, machte sich einen Spaß daraus, andere zu verarschen und geizig zu sein.
»Such mir die Nummer vom Celestine Hotel raus«, begrüßte sie mich. Also schaltete ich den PC-Turm des alten Desktop-Computers ein, an dem sie mich arbeiten ließ. Das Internet auf meinem Handy war deutlich schneller, aber ich wollte nicht mein Datenvolumen aufbrauchen, nur weil sie sich weigerte, im 21. Jahrhundert anzukommen. Fünf Minuten später brachte ich ihr einen Zettel mit der Nummer in ihr Büro.
»Da ist sie. Möchten Sie, dass ich für Sie reserviere?«
»Nehmen Sie den Reise-Ordner aus dem Aktenschrank.«
Wortlos überreichte ich ihn ihr und wartete, da sie meine Frage nicht beantwortet hatte. Ida blätterte durch den prall gefüllten Ordner, bis sie eine kleine, gefaltete Karte fand, auf der das Hotel den Namen des Zimmermädchens hinterließ. Sie warf einen Blick darauf und überreichte sie mir. »Rufen Sie im Hotel an. Sagen Sie, Margaritte weiß nicht, wie man ein Zimmer putzt. Der Teppich war bei meinem letzten Besuch nicht richtig gesaugt, und in der Dusche an der Wand klebten schwarze Haare.«
»Okay …«
»Erwähnen Sie Margaritte namentlich und dass ich ein Zimmer möchte, dass von jemand anderem geputzt wurde. Dann fragen Sie nach einem Rabatt.«
»Was, wenn sie Ihnen keinen Rabatt gewähren wollen?«
»Dann buchen Sie trotzdem. Mein Zimmer war beim letzten Mal vollkommen sauber.«
»Sie meinen, der Teppich und die Dusche waren gar nicht schmutzig?«
Sie stieß einen entnervten Seufzer aus, als würde ich ihre Geduld überstrapazieren. »Die Zimmerpreise sind blanker Wucher. Ich zahle doch nicht vierhundert Dollar die Nacht.«
»Und stattdessen verlangen Sie, dass ich dazu beitrage, dass womöglich jemand gefeuert wird?«
Sie hob eine breite, aufgemalte Augenbraue. »Möchten Sie an ihrer Stelle gefeuert werden?«
Oh ja. Dieses Miststück ist genau die Richtige, um anderen Leuten moralische Ratschläge zu erteilen.
Zum Glück war es Mittwoch – der Tag der Woche, an dem Ida ihren Verleger traf. So musste ich sie nur den halben Tag ertragen, ehe sie mir eine seitenlange To-do-Liste hinterließ:
– Neue Visitenkarten bestellen. (Weniger bunt diesmal, ich betreibe schließlich eine Firma, keinen Zirkus.)
– Blog updaten. (Im gelben Ordner sind die täglichen Briefe und Antworten. Bitte nicht wieder beim Texten improvisieren. Frag Ida empfiehlt ganz bestimmt nicht die Hündchenstellung, um einen Partner aufzumuntern, dessen geliebter Jack Russell Terrier verstorben ist.)
– Rechnungen aus dem blauen Ordner in QuickBooks eingeben. (Alle Rabatte in Anspruch nehmen, selbst wenn die Fristen abgelaufen sind.)
– Verträge zur Prüfung an Lawrence schicken.
Dazu hatte sie keine weiteren Anweisungen vermerkt. Kurz darauf wurde mir klar, weshalb. Sie hatte quer über jede Seite des Vertrags mit orangefarbenem Marker geschrieben: Lächerlich. Inakzeptabel.
– Kleidung aus der Reinigung abholen. (Abholmarke liegt auf meinem Schreibtisch. Verweigere die Zahlung, falls der Fleck auf dem linken Ärmel meiner Mohair-Jacke nicht rausgegangen ist.) Was zum Teufel ist das überhaupt, Mohair?
– Lieferung von Speedy Printing entgegennehmen. (Kein Trinkgeld. Letzte Woche war er zehn Minuten zu spät.)
Die Liste setzte sich unendlich fort. Ich konnte mich gerade noch bremsen, das Blatt nicht einfach zu scannen und auf ihrem Blog unter die letzte Antwort zu posten, die sie einer Angestellten gegeben hatte, die Ärger mit ihrem Chef hatte. Stattdessen drehte ich die Mucke auf (Ida erlaubte keine Musik am Arbeitsplatz), gab dem Druckerei-Lieferanten zwanzig Dollar Trinkgeld aus der Portokasse, legte meine nackten Füße auf den Schreibtisch und machte eine Stunde Pause, um noch ein bisschen mit dem fremden Handy herumzuspielen. Als ich nach unten auf meine wackelnden Zehen schaute, bewunderte ich Tigs neuestes Meisterwerk – das Tattoo eines Lederbands um meine Fessel, an dem zwei Federn baumelten. Sehr Pocahontas-mäßig. Ich musste unbedingt noch mal in seinem Tätowierstudio vorbeischauen, damit er ein Foto für den Laden knipsen konnte, nun da die Schwellung zurückgegangen war.
Da ich mein Datenvolumen für diesen Monat beinahe ausgeschöpft hatte, gab ich Graham Morgan auf seinem Handy bei Google ein und war überrascht, als Google mehr als eintausend Ergebnisse ausspuckte. Der erste Treffer war die Website seiner Firma – Morgan Financial Holdings. Ich klickte auf den Link. Ein typischer Firmenauftritt, ziemlich steril und geschäftsmäßig. Die Liste der Holdings war lang und umfasste alles von Immobilien- bis hin zu Investmentfirmen. Die Seite stank nach altem Geld. Ich hätte wetten können, Daddy hatte in seiner Firma nach wie vor ein großes Eckbüro und schaute jeden Freitag nach dem Golfen vorbei. Beim Blättern durch die Seiten wurde das Geschäftsmodell schnell offensichtlich: Vermögensverwaltung. Die Reichen werden immer reicher. Wer verwaltete gleich noch mal meine Anlagen? Ach, richtig! Ich hatte ja gar keine. Außer man zählte meinen üppigen Vorbau dazu. Und momentan wurde selbst der von niemandem verwaltet.
Als ich den Über-mich-Reiter anklickte, fiel mir die Kinnlade herunter. Das erste Foto zeigte den Adonis höchstselbst, Graham J. Morgan. Der Mann war einfach göttlich. Markante Nase, kantiger Kiefer und Augen von der Farbe schmelzender Milchschokolade. Irgendetwas sagte mir, dass er griechische Wurzeln hatte. Ich leckte mir über die Lippen. Verdammt. Darunter las ich seine Biografie. Neunundzwanzig, summa cum laude an der führenden Business School Wharton, ledig, bla, bla, bla. Das einzig Überraschende war der letzte Satz: Obwohl Morgan die Morgan Financial Holdings erst vor acht Jahren gegründet hatte, zählen zu seinem vielseitigen Kundenportfolio einige der ältesten und prestigeträchtigsten Investmentfirmen New Yorks. Tja, da hab ich mich wohl getäuscht, was Daddy angeht.
Nachdem ich den Sabber von der Tastatur gewischt hatte, klickte ich auf Team. Darunter waren dreißig Berater- und Vermögensberater sowie Manager aufgeführt. Auch hier gab es ein Leitmotiv. Überqualifiziert und mürrisch blickend. Mit Ausnahme eines einsamen Rebells, der es wagte, in die Kamera zu lächeln. Ben Schilling, offenbar ein Marketingmanager. Gelangweilt von dem ganzen Business-Quatsch, aber noch immer nicht gewillt, zu meiner To-do-Liste zurückzukehren, ging ich erneut Grahams Kontaktliste durch. Als ich an Averys Namen vorbeiscrollte, fragte ich mich, ob es noch andere Frauen gab, die Mr Dicke Hose derart gegen sich aufgebracht hatte. Ein paar Namen weiter unten landete ich beim ersten männlichen Namen: Ben. Hmmm. Ohne allzu lang darüber nachzudenken, tippte ich:
Graham: Was gibt’s Neues?
Mein Herz begann, wild zu pochen, als drei Pünktchen zu hüpfen begannen, die anzeigten, dass eine Antwort getippt wurde.
Ben: Ich arbeite an der Präsentation. Sie wird wie geplant bis morgen fertig sein.
Graham: Super. Sag Linda, sie soll einen Termin mit dir in meinem Kalender eintragen.
Zumindest ich brachte ihren Namen nicht durcheinander. Ich beobachtete, wie die drei Pünktchen hüpften und dann aufhörten. Und dann erneut zu hüpfen begannen.
Ben: Ich dachte, Linda würde nicht mehr kommen. Nach dem, was gestern im Meeting passiert ist.
Nun kamen wir der Sache doch schon näher. Ich richtete mich in meinem Stuhl auf.
Graham: Gestern ist einiges passiert. Was genau meinst du?
Ben: Ähm … Ich meine, als du sie gefeuert hast. Und ihr gesagt hast, sie soll machen, dass sie wegkommt.
Der Typ war echt ein Arsch. Irgendjemand musste ihm die Leviten lesen. Ich öffnete Safari und die zuletzt von mir aufgerufene Seite. Etwas weiter unten fand ich, wonach ich suchte: Meredith Kline, Human Resources Manager.
Graham: Vielleicht war das etwas hart von mir. Ich bin den ganzen Nachmittag in Meetings. Könntest du rübergehen und Meredith von HR bitten, Linda ein Monatsgehalt Abfindung zu zahlen?
Ben: Klar. Das wird sie bestimmt zu schätzen wissen.
Wenn ich zu nett war, würde er womöglich Lunte riechen.
Graham: Ich weiß es zu schätzen, wenn ich nicht verklagt werde. Was sie schätzt oder nicht schätzt, ist mir gleich.
Ich fand, ich war weit genug gegangen, deshalb warf ich das Handy in meine Handtasche, ehe ich noch mehr Schaden anrichten konnte. Morgen würde ich es zurückgeben. Und freute mich schon darauf, diesem Arschloch persönlich zu begegnen.
SORAYA
Die Morgan Financial Holdings erstreckte sich laut dem Schild in der Lobby über die gesamte zwanzigste Etage. Mein Magen knurrte, als ich vor dem Aufzug wartete. Da ich gerade erst gefrühstückt hatte, wusste ich, dass es die Anspannung war, was mich ärgerte.
Wieso machte mich der Gedanke, diesem Blödmann von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, derart nervös?
Sein Aussehen.
Tief im Innersten wusste ich, dass es an seinem Aussehen lag. Wie albern. Ich war bestimmt nicht oberflächlich, aber irgendwie kam ich bei diesem Typen immer wieder ins Schwärmen. Das musste aufhören, aber sofort.
Der Aufzug öffnete sich mit einem Pling, woraufhin ein älterer Geschäftsmann und ich ihn betraten. Die Türen schlossen sich, und wir waren allein. Als der Mann sich an den Eiern kratzte, schaute ich schnell weg, hinunter auf mein Feder-Tattoo. Wieso eigentlich zog ich immer wieder Kerle an, die sich den Sack kratzten? Glücklicherweise hielt der Aufzug schon bald auf der zwanzigsten Etage. Ich stieg aus und ließ den Mann mit seinem besten Stück allein, damit er entspannt weitermachen konnte.
Über zwei durchsichtigen Glastüren hing ein schwarzes Schild mit der goldenen Aufschrift Morgan Financial Holdings. Noch einmal tief Luft holend, rückte ich mein kleines Rotes zurecht und durchquerte die Eingangstür. Ja, ich hatte mich aufgebrezelt. Bitte keine Kommentare.
Eine junge, rothaarige Empfangsdame lächelte mich an. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ja, ich möchte mit Graham Morgan sprechen.«
Sie sah aus, als wollte sie mich auslachen. »Haben Sie einen Termin mit ihm?«
»Nein.«
»Mr Morgan trifft niemanden ohne Termin.«
»Na ja, ich habe etwas Wichtiges von ihm, deshalb muss ich ihn dringend sprechen.«
»Wie ist Ihr Name?«
»Soraya Venedetta.«
»Könnten Sie mir Ihren Nachnamen buchstabieren? Vendetta wie Blutrache?«
»Nein, mein Name ist Ven-E-detta. Mit einem E in der Mitte. V-e-n-e-d-e-t-t-a.« Wenn ich jedes Mal, wenn jemand meinen Namen missverstand, fünfzig Cent verlangen würde … tja, dann wäre ich jetzt reicher als Graham J. Morgan.
»In Ordnung, Ms Venedetta. Wenn Sie möchten, können Sie Platz nehmen. Sobald Mr Morgan eintrifft, werde ich ihn fragen, ob er Zeit für Sie hat.«
»Danke.«
Nachdem ich mein Kleid glatt gestrichen hatte, nahm ich auf der eleganten Mikrofasercouch schräg gegenüber vom Empfang Platz. Es hätte mich eigentlich nicht überraschen sollen, dass Mr Dicke Hose noch nicht da war, schließlich war er heute Morgen nicht um die gewohnte Zeit in der U-Bahn gewesen. Ich fragte mich, wie lange ich wohl warten müsste; ich hatte nur den halben Tag freigenommen und musste nach dem Mittag zurück sein.
Während ich geistesabwesend durch irgendwelche Finanzzeitschriften blätterte, verpasste ich es beinahe hochzuschauen, als sich die Türen öffneten. Mein Herz begann, zu pochen, als ich Graham entdeckte, der wie immer wütend aussah. Er war mit einer schwarzen Hose und einem blütenweißen Hemd bekleidet, das an den Ärmeln hochgerollt war. An seinem Handgelenk prunkte die funkelnde Armbanduhr. In der einen Hand hielt er eine burgunderfarbene Krawatte und in der anderen einen Laptop. Als er vorbeiging, traf mich eine Duftwolke seines berauschenden Aftershaves wie ein Schlag auf die Nase. Er blickte stur geradeaus und nahm weder mich noch irgendetwas um ihn herum wahr.
Als er vorüberging, leuchtete das Gesicht der Empfangsdame auf. »Guten Morgen, Mr Morgan.«
Statt zu antworten stieß Graham ein kaum hörbares Knurren aus, als er zügig an uns vorübereilte und den Gang hinunter verschwand.
Also, so was!
Ich sah sie an. »Wieso haben Sie ihm nicht Bescheid gesagt, dass ich mit ihm sprechen möchte?«
Sie lachte. »Mr Morgan braucht morgens Zeit, um herunterzukommen. Ich kann ihn nicht einfach mit einem unangekündigten Besucher überfallen.«
»Ähm, und wie lange muss ich noch warten?«
»Ich werde in zirka dreißig Minuten mal bei seiner Sekretärin anfragen.«
»Machen Sie Witze?«
»Durchaus nicht.«
»Das ist doch lächerlich. Ich brauche nur zwei Minuten seiner Zeit. Ich kann nicht den ganzen Vormittag warten, sonst komme ich zu spät zur Arbeit.«
»Ms Vendetta …«
»Ven-E-detta.«
»Venedetta, tut mir leid. Es gibt hier gewisse Regeln. Regel Nummer eins lautet, Mr Morgan darf direkt nach seinem Eintreffen nicht gestört werden, außer es steht ein wichtiges Meeting am Morgen an.«
»Was genau passiert, wenn Sie sich nicht daran halten?«
»Das möchte ich lieber nicht herausfinden.«
»Tja, ich schon.« Ich sprang vom Stuhl auf und stürmte den Flur hinunter, während der Rotschopf hinter mir herhastete.
»Ms Venedetta. Sie wissen nicht, was Sie da tun. Kommen Sie sofort zurück! Ich meine es ernst!«
Vor einer dunklen Kirschholztür mit einer Plakette, in die Graham J. Morgan eingraviert war, hielt ich an. Die Rollos an den Fensterwänden rings um die Tür waren komplett heruntergezogen.
»Wo ist seine Sekretärin?«
Sie deutete auf einen leeren Schreibtisch gegenüber. »Normalerweise sitzt sie dort, aber offenbar ist sie noch nicht da. Ein Grund mehr, ihn jetzt nicht zu stören, da er sonst bestimmt wütend wird.«
Sie sah zu einer anderen Mitarbeiterin hinüber, die in einer nahe gelegenen Arbeitsnische saß. »Weißt du, weshalb Rebecca noch nicht da ist?«
»Rebecca hat gekündigt. Die Agentur sucht schon nach Ersatz.«
»Na toll«, schnaubte die Empfangsdame. »Und sie hat es immerhin wie lange ausgehalten … zwei Tage?«
Die Frau lachte. »Nicht schlecht, wenn man bedenkt …«
Was ist dieser Graham Morgan eigentlich für ein Mensch?
Was glaubt er, wer er ist?
Plötzlich durchfuhr mich ein Adrenalinstoß. Ich ging hinüber zu dem unbesetzten Schreibtisch und drückte auf den Knopf der Telefonanlage mit der Aufschrift GJM.
»Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind … der Zauberer von Oz? Es ist bestimmt leichter, eine Audienz bei der Queen zu bekommen als bei Ihnen.«
Die Angst in den Augen der Empfangsdame war nicht zu übersehen, aber sie wusste, es war zu spät, also blieb sie einfach am Rand stehen und beobachtete das Geschehen.
Eine ganze Minute lang kam keine Antwort. Dann ertönte seine tiefe, durchdringende Stimme. »Wer ist da?«
»Ich heiße Soraya Venedetta.«
»Venedetta«, wiederholte er meinen Namen korrekt. Es war mir nicht entgangen, dass er anders als jedermann sonst meinen Namen richtig aussprach.
Als er nichts mehr sagte, drückte ich erneut auf den Knopf. »Ich habe geduldig gewartet, um kurz mit Ihnen sprechen zu können. Aber offenbar holen Sie sich da drinnen einen runter oder so was. Alle hier machen sich ins Hemd wegen Ihnen, deshalb wollte Ihnen niemand Bescheid geben, dass ich hier bin. Ich habe etwas, wonach Sie bestimmt gesucht haben.«
Seine Stimme ertönte erneut. »Ach, wirklich?«
»Ja. Und ich werde es Ihnen nicht geben, wenn Sie die Tür nicht öffnen.«
»Darf ich Sie etwas fragen, Ms Venedetta?«
»Klar …«
»Diese Sache, von der Sie behaupten, ich hätte danach gesucht. Ist es ein Heilmittel gegen Krebs?«
»Nein.«
»Ein original Shelby Cobra?«
Ein was?
»Ähm … nein.«
»Dann täuschen Sie sich. Es gibt nichts, das Sie haben könnten, wofür es sich lohnen würde, diese Tür zu öffnen und mich mit Ihnen zu befassen. Bitte verlassen Sie jetzt die Büroräume, oder ich werde Sie vom Sicherheitsdienst nach draußen eskortieren lassen.«
Scheiß drauf. Ich hatte genug. Von allem und ganz besonders von ihm. Also beschloss ich, ihm das blöde Ding einfach dazulassen. Als ich danach tastete und meine Finger auf mein eigenes Handy stießen, hatte ich eine Idee. Eine Art Abschiedsgeschenk. Ich schoss drei Fotos von mir: eins von meinem Dekolleté mit ausgestrecktem Mittelfinger in der Mitte, eins von meinen Beinen und eins von meinem Hinterteil. Dann speicherte ich meine Nummer in seinem Handy unter dem Namen Gern geschehen, Arschloch ein. Mein Gesicht hatte ich absichtlich nicht fotografiert, damit er mich in der U-Bahn nicht erkannte.
Dann sendete ich ihm alle drei Bilder und schickte eine letzte Botschaft hinterher.
Deine Mutter sollte sich für dich schämen.
Ich überreichte der Empfangsdame das iPhone: »Sorgen Sie dafür, dass er es wiederbekommt.«
Mit hoch erhobenem Kopf stolzierte ich hinaus, ein wenig resigniert und ziemlich wütend. Auf dem Weg zur Arbeit bekam ich nur noch miesere Laune. Das einzig Gute war, dass Ida einen spontanen Auswärtstermin hatte, sodass ich mich nicht mit ihr herumärgern musste. Ich nutzte die Chance und machte eine Stunde früher Feierabend.
Nach der Arbeit stattete ich Tig und seiner Frau Delia einen Besuch ab. Er und ich waren seit unserer Kindheit beste Freunde und Tür an Tür miteinander aufgewachsen. Tig und Del gehörte das Tig’s Tattoo and Piercing an der Eighth Avenue.
In der Ecke konnte ich Tigs Nadel brummen hören; offenbar hatte er einen Kunden. Tig kümmerte sich um die Tätowierungen, während Delia für die Piercings zuständig war. Immer wenn ich mich so aufgewühlt wie jetzt fühlte, tendierte ich dazu, irgendetwas Impulsives zu tun. So hatte ich bereits beschlossen, heute Abend zu Hause meine Haarspitzen rot zu färben, aber das genügte nicht.
»Del, ich möchte ein Zungenpiercing.«
»Mach, dass du rauskommst«, winkte Delia ab, die meine Stimmungsschwankungen kannte.
»Ich meine es ernst.«
»Du hast immer gesagt, du würdest dich nie piercen lassen. Ich habe keine Lust, dass du mir Vorwürfe machst, wenn sich deine Stimmung wieder bessert.«
»Tja, ich habe eben meine Meinung geändert. Ich will eins.«
Tig, der unser Gespräch mitgehört hatte, wandte seine Konzentration kurz von seinem Kunden ab. »Ich kenne dich. Dir muss irgendeine Laus über die Leber gelaufen sein, dass du dir plötzlich deine Zunge piercen lassen willst.«
Ich stieß einen langen Seufzer aus: »Und was für eine Laus.«
Daraufhin erzählte ich ihnen die ganze Geschichte, angefangen damit, wie ich Grahams Handy fand, bis hin zu seiner barschen Reaktion auf meinen Besuch heute.
Tig sprach durch das Brummen der Nadel hindurch. »Sei doch froh, dass du nichts mehr mit dem Wichser zu tun hast. Du nimmst dir das viel zu sehr zu Herzen. Vergiss ihn einfach.«
Ich wusste, dass Tig recht hatte. Mir war selbst schleierhaft, weshalb Grahams Abfuhr mir so naheging, und sicher würde ich nicht noch heute Abend darüber nachgrübeln oder Parallelen zur Zurückweisung, die ich durch meinen Vater erfahren hatte, suchen. Vielleicht waren einfach meine Erwartungen enttäuscht worden. Aus irgendeinem Grund ließ mich die Sache nicht los. Wahrscheinlich weil es noch vieles gab, das ich über Graham herauszufinden gehofft hatte und das ich nun nie erfahren würde. Allerdings war mir nicht klar, weshalb mir das so wichtig war, und bis ich die Frage geklärt hatte, musste ich mich irgendwie ablenken.
»Ich will ein Zungenpiercing, basta.«
Sie verdrehte die Augen. »Soraya …«
Meine Zunge tat immer noch weh, als ich mit der U-Bahn nach Hause fuhr. Als ich mir die Liste der Nachsorgehinweise durchlas, musste ich schmunzeln.
Vermeiden Sie Küsse oder jegliche anderen oralen Aktivitäten, bis die Wunde vollständig abgeheilt ist.
Schon klar … das sollte kein Problem sein, da es niemanden gab, mit dem ich besagte Aktivitäten betreiben konnte. Alle Anweisungen waren leicht zu befolgen, bis auf die letzte.
Nehmen Sie keine säurehaltigen oder alkoholischen Getränke zu sich, solange die Wunde noch abheilt.
Mist. Mit der Nummer hatte ich mir selbst ins Knie geschossen. Wieso musste ich mir ausgerechnet heute die Zunge stechen lassen, da ich dringend meine Sorgen in Alk ertränken wollte?
In meiner Wohnung angelangt, zog ich mich aus und begann damit, meine Haarspitzen rot zu färben, als Zeichen, dass ich mich in schlechtmöglichster Verfassung befand. Gerade als ich dachte, ich wüsste genau, wie der Abend verlaufen würde, passierte etwas, womit ich am wenigsten gerechnet hätte.
GRAHAM
Na toll, ein Federtattoo und ein gesichtsloses Paar Brüste. Die zu allem Überfluss sogar sprechen konnten.
Warum hatte sie ausgerechnet das zu ihren Selfies schreiben müssen? Diese Worte, die mich kalt erwischten und mir den Tag versauten. Wenn nicht gar die ganze Woche.
Deine Mutter sollte sich für dich schämen.
Fick dich, Soraya Venedetta. Fick dich, denn du hast recht.
Diese fremde Frau hatte einen wunden Punkt getroffen.
Obwohl sie ihren Namen nur einmal übers Telefon genannt hatte, war er hängen geblieben. Normalerweise gingen Namen bei mir zum einen Ohr rein und zum anderen raus.
Soraya Venedetta.
Das heißt, streng genommen lautete ihr vollständiger Name Soraya Gern geschehen Arschloch Venedetta.
Wie ist sie an mein Handy gekommen?
Die Nachricht ging mir nicht mehr aus dem Kopf, während ich sie wieder und wieder las.
Deine Mutter sollte sich für dich schämen.
Mit jedem Mal wurde ich wütender, denn tief in mir drin wusste ich, dass es der Wahrheit entsprach. Meine Mutter würde sich für mich schämen, so wie ich tagtäglich Leute behandelte. Jeder geht mit persönlichen Tragödien anders um. Nachdem meine Mutter gestorben war, hatte ich mich völlig abgeschottet und all meine Energie auf meine Ausbildung und Karriere fokussiert. Ich wollte nicht mehr fühlen, wollte niemanden an mich heranlassen. Der einfachste Weg, das zu erreichen, war, die Leute wegzuekeln. Wenn ein Arschloch zu sein eine Kunstform wäre, wäre ich der Meister darin. Je erfolgreicher ich wurde, desto einfacher wurde es.
Es war erstaunlich, was sich ein Mann in meiner Position und mit meinem Aussehen alles erlauben konnte. So gut wie niemand rückte mir den Kopf zurecht oder widersprach mir. Alle nahmen es einfach so hin. In all den Jahren hatte in meiner Firma niemand je mit mir so geredet wie Soraya Venedetta heute. Niemand.
Obwohl mich ihre freche Art über die Telefonanlage beeindruckt hatte, hatte ich sie beinahe wieder vergessen, als Ava, die Empfangsdame, an meine Tür klopfte und mir mein iPhone überreichte.
Und nun saß ich Stunden später immer noch hier, und meine Gedanken kreisten um die tiefe Erkenntnis, die Sorayas Worte bei mir ausgelöst hatten. Und um das hübsche Paar Titten, das aus einem Kleid in Teufelsrot herausquoll.
Wie überaus passend.
Soraya Venedetta war ein kleiner Teufel.
Dank ihr war ich unfähig zu arbeiten, sodass ich mein Nachmittagsmeeting absagte und das Büro verließ.
Wieder zu Hause setzte ich mich auf die Couch und nippte an einem Cognac, während ich weiter nachgrübelte. Mein kleiner West Highland Terrier ließ sich zu meinen Füßen nieder, ohne Anstalten zu machen, mich zum Spielen zu bewegen. Er nahm wohl wahr, dass etwas nicht stimmte.
Meine Wohnung an der Upper West Side blickte über die Skyline von Manhattan. Es war inzwischen dunkel, und die Stadtlichter erhellten den Abendhimmel. Je mehr ich nippte, desto heller erschienen mir die Lichter und desto mehr sank meine Hemmschwelle. Irgendwo da draußen in dieser riesigen Stadt saß Soraya und genoss ihren kleinen Auftritt, ohne sich bewusst zu sein, wie schwer sie mich getroffen hatte.
Während ich erneut auf das Federtattoo an ihrem Fuß starrte, fiel mir auf, dass sie bestimmt deshalb ihr Gesicht nicht zeigte, weil sie hässlich war wie die Nacht. Bei diesem Gedanken schallte mein Lachen durch das eiskalte, leere Wohnzimmer. Ich wünschte, ich wüsste, wie sie aussah. Ich wünschte, ich hätte die Bürotür geöffnet, nur um sie ihr vor der Nase zuschlagen zu können.
Mein Finger schwebte über ihrem Namen. Gern geschehen, Arschloch. Ich wollte, dass sie sich genauso mies fühlte wie ich. Und nein, ich war mir dafür nicht zu schade. Also beantwortete ich ihre Nachricht.
Meine Mutter ist tot. Aber ja, vermutlich würde sie sich schämen.
Keine fünf Minuten später ertönte mein Handy.
Soraya: Das tut mir leid.
Graham: Sollte es dir auch.
Ich hätte es dabei belassen sollen. Sie hätte sich mies gefühlt, und das wär’s gewesen. Aber ich war angetrunken. Und abgesehen davon verdammt geil. Das stundenlange Gestarre auf ihre Titten, Beine und ihren Arsch hatte mich ganz hibbelig gemacht.
Graham: Was trägst du, Soraya?
Soraya: Meinst du das ernst?
Graham: Du hast mir den Tag versaut. Du schuldest mir was.
Soraya: Ich habe überhaupt nichts gemacht, du Perversling.
Graham: Und das von der Frau, die mir ein Bild von ihrem Dekolleté schickt. Hübsche Titten, übrigens. Sie sind so groß, dass ich erst dachte, es sei ein Arsch.
Soraya: Du bist ein Arsch.
Graham: Zeig mir dein Gesicht.
Soraya: Wieso?
Graham: Weil ich wissen will, ob es deine Persönlichkeit widerspiegelt.
Soraya: Und das würde dann was genau bedeuten?
Graham: Tja, das würde nichts Gutes verheißen.
Soraya: Tja, leider wirst du mein Gesicht nie sehen.
Graham: Wahrscheinlich auch gut so. Also, gib mir einen Tipp. Was trägst du?
Soraya: Es ist rot.
Graham: Du trägst also immer noch dein Kleid?
Soraya: Nein, ich bin nackt, meine Haartönung tropft mir auf den Körper, und meine Zunge tut weh, dank dir.
Das war allerdings eine ungewöhnliche Antwort.
Graham: Eine interessante Vorstellung.
Soraya: Du bist echt gaga, Mann.
Graham: Ich BIN ein wenig gaga. Wahrscheinlich sollte ich mal meinen Kopf checken lassen, denn ich hatte den ganzen Tag Fantasien von einer kopflosen Fremden.
Soraya: Tja, das mit dem Nacktfoto wird nicht passieren.
Graham: Und was, wenn ich anfange?
Offenbar hatte ich sie geschockt, denn danach kam keine Antwort mehr. Mit dem Entschluss, ihr nicht mehr zu schreiben, warf ich mein Handy auf die Couch und hob Blackie an meine nackte Brust, wo er blieb, bis ich einschlief.
Am folgenden Tag schaffte ich es einigermaßen, Soraya aus meinen Gedanken zu verbannen, aber zwei Tage später schlug die Obsession mit voller Wucht wieder zu.
Morgens in der U-Bahn war es so voll, dass ich keinen Sitzplatz mehr bekam. Während ich mich an einer Haltestange festhielt, schaute ich mich um. Normalerweise achtete ich nicht auf die Leute in der U-Bahn, und jetzt wusste ich auch wieder, weshalb.
Gott, was für Freaks.
Irgendwann wanderten meine Augen zum Boden und zum Fuß einer Frau, die schräg gegenübersaß. Mein Herz schlug wie wild, als meine Augen dasselbe Federtattoo wie das von Soraya erblickten. Die Zehennägel waren zudem im gleichen Rotton lackiert.
Heilige Scheiße.
Das war sie.
Sie nahm dieselbe U-Bahn! So musste sie mein Handy gefunden haben. Ich konnte nicht hochsehen. Ich wollte nicht enttäuscht werden. Es wäre viel besser, einfach an der Fantasie festzuhalten, als der Realität ins Auge zu sehen.
Aber ich musste einfach. Ich musste wissen, wie sie aussah.
Nachdem ich bis zehn gezählt hatte, ließ ich den Blick langsam an ihren übereinandergeschlagenen Beinen höherwandern. Schwarzer Lederrock, Leopardenmuster-Handtasche, knalllila Shirt mit tiefem Ausschnitt, aus dem der üppige Vorbau hervorblitzte, von dem ich geträumt hatte. Dann landeten meine Augen oberhalb ihres Halses.
Fuck.
Fuck.
Fuck.
Sie sah stur geradeaus. Ihr seidiges glattes schwarzes Haar mit rot gefärbten Spitzen war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und gab den Blick auf ihren langen, anmutigen Hals frei. Leuchtend rote, perfekt geschwungene Lippen. Stupsnase. Große braune Augen wie ein Rehkitz. Wer hätte das gedacht, der Teufel hatte das Gesicht eines Engels. Tatsächlich war Soraya Venedetta eine echte Granate. Mein Schwanz zuckte aufgeregt. Eines stand fest: Nun würde ich sie erst recht nicht mehr aus dem Kopf bekommen können.
Als sie sich umdrehte und bemerkte, dass ich sie beobachtete, trafen sich unsere Blicke. Erkannte sie mich? Mein Herzschlag beschleunigte. Doch sie wendete unbeeindruckt das Gesicht wieder ab und sah zum Fenster hinaus.
Weiß sie nicht, wie ich aussehe?