Open Your Eyes - James Carol - E-Book

Open Your Eyes E-Book

James Carol

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Beschreibung

Nur im E-Book: Die Jefferson-Winter-Chroniken über die Anfänge des genialen Profilers beim FBI. Die dritte Jefferson-Winter-Chronik.   Jefferson Winter steht am Beginn seiner Karriere beim FBI. Er ist jung und unberechenbar, doch er hat eine Gabe – er kann sich in Mörder hineinversetzen wie niemand sonst. Die Agentin Yoko Tanaka hat die undankbare Aufgabe, als Jeffersons Lehrmeisterin und Mentorin zu fungieren. In Las Vegas, wo man die verstümmelten Leichen von drei jungen Frauen gefunden hat,  muss Jefferson seine Bewährungsprobe bestehen. Dabei werden die FBI-Richtlinien mehr als einmal missachtet. Und es stellt sich sehr bald heraus: Der Killer, mit dem sie es tun haben, macht keine Fehler …

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James Carol

Open Your Eyes

Die Jefferson-Winter-Chroniken 3

Thriller

Deutsch von Wolfram Ströle

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

1

»Wo ist Winter?«, fragte Hendry.

Das war eine gute Frage. Yoko hatte Winter dreißig Minuten gegeben, und nach ihrer Uhr blieb ihm noch genau eine Minute. Wie sie ihn kannte, würde er die Zeit bis zur allerletzten Sekunde ausreizen, nur um ihr zu zeigen, dass er sich nicht von ihr herumkommandieren ließ. Angesichts der ungeduldig gerunzelten Stirn ihres Abteilungschefs fühlte sich die Kabine der Gulfstream plötzlich klaustrophobisch eng an. Scott Hendry war zweiundsechzig und übergewichtig, was die Sache nicht besser machte. Positiv hervorzuheben war sein gewiefter Umgang mit der Behörde, weshalb sie auch im Privatjet des FBI saßen und nicht in einem Linienflug ab Dulles. Jetzt klopfte er mit seinem Siegelring auf den Tisch und Yoko folgte dem Geräusch mit dem Blick. Die Kante des Rings war über die Jahre glatt und glänzend geworden.

»Also?«, fügte er hinzu.

Bevor Yoko antworten konnte, polterte es auf der Gangway und eine Stimme rief: »So was muss ich mir unbedingt auch mal zulegen!« Im nächsten Moment erschien Winter in der Kabine. Er grinste von einem Ohr zum anderen. Yoko hätte ihn fast nicht erkannt. Sein schwarzer Anzug saß viel zu gut, um von der Stange zu kommen, seine Schuhe waren lederbesohlt, die rote Krawatte aus Seide. Auch sein Hemd war aus Seide. Ein Auszubildender konnte sich unmöglich ein solches Outfit leisten. Bei jedem anderen hätte sie sofort an Bestechung und Korruption gedacht. Bei Winter dachte sie nur: Was zum Teufel soll das? Seine Haare waren noch feucht vom Duschen. Die grauen Strähnen, die Yoko bei ihrem letzten Treffen bemerkt hatte, waren auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Ihr fiel außerdem auf, dass er keine Reisetasche dabeihatte. Er bemerkte ihren Blick und das Grinsen verschwand.

»Was ist los?«, fragte er. »Ist jemand gestorben?«

»Ja«, antwortete Hendry mit ausdruckslosem Gesicht. »Es ist jemand gestorben. Deshalb sind wir hier.«

»Setzen Sie sich«, sagte Yoko. »Wir müssen los.«

Winter setzte sich neben sie und griff nach dem Sicherheitsgurt. Yoko beugte sich zu ihm hinüber.

»Sie können ihn anlegen, wenn Sie wollen, aber Sie müssen nicht«, flüsterte sie.

Er sah sie fragend an.

»Das ist einer der Vorteile eines Privatjets. Und Sie glauben doch nicht im Ernst, dass dieser kleine Gurt Ihnen das Leben rettet, wenn wir abstürzen?«

»Wohl kaum«, flüsterte er zurück.

Die Flugzeugtür wurde geschlossen und verriegelt, die Gangway entfernt und der Jet setzte sich in Bewegung. Sie rollten zur Startbahn und der Pilot gab Gas. Yoko sah den Flugplatz vorbeirasen, dann kippten sie plötzlich in die Schräglage und die Maschine hob ab. Sekunden später waren sie in tief hängende graue Wolken eingetaucht, die den kleinen Jet hin und her warfen. Niemand sprach, bis die Reiseflughöhe erreicht war. Dann brach Winter das Schweigen. Er schlug mit den Handflächen einen kurzen Trommelwirbel auf den Tisch aus Walnussholz.

»Also, worum geht es?«

Yoko fing Hendrys Blick auf, und er nickte zum Zeichen, dass sie das Wort hatte. Der Anflug von Verärgerung in seinem Gesicht war ihr nicht entgangen, was hoffentlich kein Vorgeschmack war auf das, was kommen würde. Denn dann könnte es eine lange Reise werden.

»Bisher haben wir drei Opfer«, sagte sie. »Das letzte wurde heute Morgen im Müllcontainer eines Restaurants in Las Vegas gefunden, wie die beiden anderen auch. Wir haben die Leiche noch nicht identifiziert, aber aufgrund der Ähnlichkeit des Tathergangs können wir davon ausgehen, dass wir es mit einem Serienmörder zu tun haben.«

»Sie wurden alle im selben Container abgelegt?«, fragte Winter.

»Nein.«

»Wie sind die Opfer gestorben?«

»Sie wurden erwürgt.«

»Und?«

»Und was?«

Winter schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Niemand wird einfach so erwürgt. Das ist, als würde man von einem Roman nur den Schluss lesen. Da werden alle losen Enden miteinander verknüpft, aber von der Geschichte erfährt man nichts. Nein, mich interessiert, was davor geschah. Das ist doch das eigentlich Interessante.«

»Allen drei Opfern fehlten Gliedmaßen. Jedem ein Köperteil. Zweimal ein Arm, einmal ein Bein.«

Winter lächelte. »Cool.«

Yoko spürte einen Stich der Verärgerung. Er musste noch so viel lernen, und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob er überhaupt lernfähig war. Hendry saß nur da und schien damit zufrieden, ihr das Wort zu überlassen. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was er dachte. »Das ist überhaupt nicht cool, Jefferson.«

»Oh doch, das ist sogar supercool. Der Typ ist ein Sammler, und ein Sammler ist schon mal viel interessanter als ein Würger. Also, warum sammelt er Körperteile?«

»Das gehört zu den Fragen, auf die wir eine Antwort finden müssen.«

»Vielleicht ist er ein Kannibale?«

»Im Moment können wir nichts ausschließen.«

Winter strahlte wie ein Kind bei der Bescherung. »Das wäre hammermäßig. Glauben Sie, er ist ein Feinschmecker wie Lecter oder mehr der Neandertaler, der seinen Opfern das Fleisch von den Knochen reißt? Was wissen wir noch? Alter? Ethnische Zugehörigkeit?«

»Alle drei Opfer waren weiß und Anfang zwanzig.«

»Touristen oder Einheimische?«

»Sie wohnten alle in Las Vegas.«

»Prostituierte?«

»Diesmal nicht. Theresa Miller, das erste Opfer, war Barmädchen, Kelly Adams, das zweite, Croupier. Was das letzte Opfer gemacht hat, wissen wir noch nicht, aber ich vermute, sie hat entweder in einer Bar, in einem Kasino oder in einem Hotel gearbeitet.«

»Sie glauben, dass der Täter sie nach ihrem Beruf auswählt, nicht wahr? Er beobachtet sie bei der Arbeit.«

Yoko nickte. »Das liegt jedenfalls nahe. Der Mörder nimmt einen Drink zu sich oder spielt Karten und kann sich dabei nach Herzenslust umsehen. Er ist wohl eher kein Stammgast in diesen Bars oder Kasinos. Er will nicht auffallen, und das dürfte in Las Vegas auch kein Problem sein. Im Unterschied zu einer Kleinstadt fallen hier nur die Gesichter auf, die man mehr als einmal sieht.«

»Er scheint also auf einen bestimmten Frauentyp zu stehen.«

Hendry klopfte mit seinem Ring auf den Tisch und Yoko und Winter sahen ihn an.

»Hilft uns das weiter?«, fragte er Winter.

»Vielleicht ja. Vielleicht auch nicht.«

»Okay, nehmen wir einmal an, vielleicht ja.«

»Serienmörder suchen sich ihre Opfer meist in ihrer eigenen ethnischen Gruppe«, sagte Winter. »Die Tatsache, dass der Täter in allen drei Fällen eine weiße Frau ausgewählt hat, lässt darauf schließen, dass er vermutlich selbst weiß ist. Hatten die Opfer ähnliche Körpermerkmale?«

Hendry schüttelte den Kopf. »Das erste Opfer war blond, hatte blaue Augen und war eins achtundfünfzig groß. Das zweite hatte braune Haare und braune Augen und war eins dreiundsiebzig groß. Vom dritten Opfer weiß ich es noch nicht, aber ich würde sagen, die Antwort auf Ihre Frage lautet nein.«

»Der Mörder betrachtet seine Opfern also nicht als Ersatz für seine Frau oder Mutter.«

»Zu diesem Schluss bin ich auch gekommen.«

»Aber es muss etwas geben, das ihn an diesen Frauen angesprochen hat.«

»Auf jeden Fall, aber was?«

»Das ist die große Preisfrage«, sagte Winter. »Okay, wie entführt er sie?«

Hendry erteilte Yoko mit einem Nicken erneut das Wort.

»Die ersten beiden Opfer wurden zuletzt bei der Arbeit gesehen«, sagte sie. »Beide sind nicht nach Hause gekommen und bei beiden hat man Spuren von Heroin und Ketamin im Blut gefunden, obwohl sie nicht drogensüchtig waren.«

»Haben sie allein gelebt?«

Yoko schüttelte den Kopf. »Theresa wohnte mit ihrem Verlobten zusammen, Kelly teilte sich eine Wohnung mit einer anderen Frau.«

Winter schloss ohne ein weiteres Wort die Augen und zog sich in sich zurück. Yoko kannte das bereits. Entweder er liebte solche theatralischen Gesten oder es half ihm, sich zu konzentrieren. So oder so gehörte dieses Verhalten zu seiner Arbeitsweise, und der Erfolg sprach für ihn. Die Fähigkeit, sich in einen Albtraum hineinzuversetzen, war eine besondere Gabe, eine Gabe, um die sie ihn nicht beneidete. Auch sie hatte über die Jahre gelernt, sich in die Monster hineinzuversetzen, die sie jagte, aber bei Winter hatte das eine ganz andere Dimension. Er lebte förmlich in ihnen. Hendry beobachtete ihn aufmerksam, als handelte es sich hier um ein wissenschaftliches Experiment, das er persönlich durchführte.

Winters Augen öffneten sich. »Er fährt einen Lieferwagen, vermutlich weiß, denn er will so wenig wie möglich auffallen, und Weiß ist die Farbe der Lieferanten.«

»Und wie kommen Sie zu diesem Schluss?«, fragte Hendry.

»Weil er einen Platz braucht, an dem er ungestört arbeiten kann. Einen Arm oder ein Bein vom Rumpf abzutrennen ist eine ziemliche Sauerei. Je nachdem, welche Werkzeuge man dabei verwendet, könnte es auch laut werden. Das ist unserem Täter zu riskant. Außerdem hätte er dann überall die DNA des Opfers bei sich zu Hause. Und es gibt noch das kleine Problem der Entsorgung der Leichen. Ein weißer Lieferwagen, der in eine Gasse fährt, erweckt kein Misstrauen. Jeder denkt, dass hier etwas angeliefert wird.« Winter lächelte. »Und genau das scheint er auf eine schräge Weise ja auch zu tun.«

»Und wie kriegt er die Opfer in den Wagen?«

»Er folgt ihnen an einen ruhigen Ort, betäubt sie mit Drogen und zieht sie in den Laderaum. Ich an seiner Stelle würde eine Betäubungspistole verwenden. Dann bräuchte ich ihnen gar nicht nahe zu kommen.«

»Ist das nicht riskant?«

»Doch. Aber in das Haus der Opfer einzubrechen ist noch riskanter. Man müsste auch alle anderen Menschen töten, die dort sind. Und dann gibt es die Nachbarn, die etwas bemerken könnten.«

Hendry schwieg für einen Moment. »Es könnte so gewesen sein«, räumte er schließlich ein. »Ted Bundy hat seine Opfer in einen Lieferwagen gelockt, indem er einen gebrochenen Arm vortäuschte.«

»Ganz genau. Und die gute Nachricht ist, wenn Sie den Lieferwagen finden, haben Sie alle Beweise, die Sie für eine Verurteilung brauchen. Egal wie gründlich der Typ putzt, es werden sich immer DNA-Spuren finden. Ganz bestimmt Blut, wahrscheinlich aber auch Haare und Hautzellen.«

»Nun gut. Welche Erkenntnisse haben Sie noch für uns?«

»Dass die Lösung des Falls darin besteht, herauszufinden, warum er einzelne Körperteile abtrennt. Ich meine, was steckt hinter der ganzen Sache?«

Hendry griff nach seinem Kaffeebecher und nahm einen Schluck. »Gute Frage. Was steckt dahinter?«

Winter überlegte kurz, dann wandte er sich an Yoko. »Bisher haben wir es mit zwei Armen und einem Bein zu tun. Die Arme wurden von den ersten beiden Opfern genommen, richtig? Jeweils einer?«

Yoko nickte.

»Wissen wir, ob es sich um linke oder rechte Arme handelt?«

Yoko nickte wieder. »Ein linker und ein rechter.«

»Vielleicht hält er sich für Frankenstein, Sie wissen schon, einer, der sich selbst eine Frau erschafft.«

Hendry verschluckte sich, stellte den Becher auf den Tisch und suchte in seinen Hosentaschen nach einem Taschentuch. Yoko sah Winter unverwandt an. Sollte das ein Scherz sein? Es sah zwar nicht so aus, aber man wusste ja nie. Sie wartete darauf, dass er grinste, wurde aber enttäuscht. Nicht einmal der Hauch eines Lächelns lag auf seinen Lippen.

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Hendry, als er mit Husten fertig war.

»Wir müssen abwarten, welchen Körperteil er sich als Nächstes holt. Wenn es das zweite Bein oder der Rumpf ist, könnte es durchaus möglich sein. Wenn er den Körper zusammengebaut hat, fängt er vielleicht an, Köpfe zu sammeln. Die könnte er dann wie Hüte wechseln.«

Yoko schüttelte den Kopf. »Ich glaube, da liegen Sie falsch, Jefferson. So etwas würde man von einem Täter erwarten, der vollkommen desorganisiert ist. Aber nach all dem, was wir bis jetzt wissen, haben wir es mit einem organisierten Täter zu tun.«

»Wenn er kein Frankenstein ist, was ist er dann?«

Yoko und Hendry schwiegen.

»Gut, da niemand eine bessere Idee hat, schlage ich vor, wir bleiben für alles offen. Wie Sie bereits sagten, Special Agent Tanaka, in diesem Stadium können wir nichts ausschließen.« Winter machte eine Pause und lächelte. »Wir suchen also einen weißen Mann in den Dreißigern oder Anfang vierzig, der einen weißen Lieferwagen fährt und sich in einer Stadt mit der weltweit höchsten Bevölkerungsfluktuation versteckt.« Das Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen. »Die Nadel im Heuhaufen, habe ich recht?«

2

Bereits zehn Minuten nach der Landung der Gulfstream in McCarran fuhren sie in einem Geländewagen der Polizei von Las Vegas in Richtung Norden. Den Flughafen hatten sie in einem atemberaubenden Tempo im Schnellverfahren durchlaufen wie Milliardäre, ein weiterer Vorteil, wenn man einen eigenen Jet hatte. Wenn sie mit einem Linienflug gekommen wären, würden sie jetzt noch im Gedränge der Touristen im Terminal feststecken.

Die jüngste Leiche hatte man in der Innenstadt gefunden. Der Fahrer fuhr eine Strecke, die den Strip umging, verständlicherweise, denn es war Nachmittag und der Strip war um diese Zeit praktisch ein Parkplatz. Yoko betrachtete den Straßenzug durch das Autofenster. Die Hotels wirkten wie fantastische Gebirge aus Neonlicht. Das MGM Grand Hotel, das Bellagio und die Pyramide des Luxor. Winter, der neben ihr saß, beugte sich vor, um ebenfalls einen Blick zu erhaschen. Auf seinem Gesicht lag wieder der kindliche Bescherungsblick. Hendry hatte sich beim Einsteigen wie selbstverständlich den Beifahrersitz gesichert und diesen so weit es ging zurückgeschoben.

Das Zentrum von Las Vegas war so schäbig, wie Yoko es in Erinnerung hatte. Vielleicht bildete sie es sich ja nur ein, aber die Ampeln schienen hier weniger hell zu leuchten als auf dem Strip. Ihr Fahrer tauchte in ein Gewirr von Nebenstraßen ein und hielt schließlich an einem Bordstein. Yoko stieg aus und ordnete ihr Kostüm. Die Sonne war so hell, dass man eine Sonnenbrille gebrauchen konnte, doch das täuschte. Es war Anfang Dezember und das Thermometer kletterte nur mit Mühe auf zehn Grad. Yoko war froh über ihr Jackett. Wenn es noch kälter gewesen wäre, hätte sie einen Mantel gebraucht.

Sie überlegte, ob sie eine Zigarette rauchen sollte. Das Bedürfnis war übergroß. Die letzte hatte sie in Virginia geraucht, und das war vor fünf Stunden gewesen. Nur der Gedanke an Hendry hielt sie zurück, einen ehemaligen Raucher, wie man ihn sich schlimmer nicht vorstellen konnte. Zu jeder anderen Zeit hätte sie ihrer Sucht nachgegeben, aber auf dieser Reise war es wichtig, einen guten Eindruck zu machen.

Winter stieg ebenfalls aus und rückte seine Sonnenbrille zurecht. Wieder musste sie denken, wie perfekt ihm der Anzug stand. Es schien ihm überhaupt gut zu gehen. Zuletzt hatte sie ihn vor einem Vierteljahr gesehen. Damals hatte sie den Eindruck gehabt, dass ihm ein Ziel fehlte. Das war jetzt entschieden anders. Sie bemerkte eine Tatkraft an ihm, die ihr bisher nicht aufgefallen war. Er würde es wahrscheinlich bis zum letzten Atemzug bestreiten, aber die Ausbildung beim FBI schien ihm in jeder Beziehung gutzutun.

Yoko sah, wie er nach seinen Zigaretten griff, und hüstelte. Er wandte sich ihr zu und sie schüttelte den Kopf. Er ließ den Blick kurz auf ihr verweilen, dann schob er das Päckchen wieder in die Innentasche seines Jacketts. Auch das hatte sich geändert. Bei ihrer letzten Begegnung hatte er behauptet, nur gelegentlich zu rauchen.

Es war nicht weit bis zu der Gasse, in der die Leiche gefunden worden war. Der Fahrer ging voraus, dicht gefolgt von Hendry, danach kamen Winter und Yoko. Reporter waren nicht zu sehen, was nicht weiter überraschte. In Las Vegas wurde im Durchschnitt alle drei Tage jemand ermordet. Eine Leiche in einem Müllcontainer war da nichts Besonderes. Yoko war froh über die Abwesenheit der Presse, weil sie damit ein Problem weniger hatten. Zugleich deprimierte es sie. Denn Mord war doch immer etwas Besonderes, egal wer das Opfer war. Ein Barmädchen zählte nicht weniger als die First Lady. Leider sah das in der Wirklichkeit anders aus.

Zwei Streifenwagen standen als provisorische Absperrung Kühler an Kühler quer vor dem Eingang der Gasse. Es handelte sich um zwei Ford Crown Victorias mit dem Abzeichen der Polizei Las Vegas. Auf dem Gehweg davor standen fünf Schaulustige und versuchten, an den Autos vorbeizuspähen. An jedem anderen Ort wären es mehr gewesen. Das deprimierte Yoko fast genauso wie die Abwesenheit der Reporter.

Die Gasse war schmal und auf beiden Seiten von hohen Gebäuden gesäumt, die die Sonne verdeckten. Yoko nahm ihre Sonnenbrille ab und steckte sie in die Jackentasche. Winter und Hendry folgten ihrem Beispiel. In der Gasse standen drei große Müllcontainer, alle drei rostig und voller Schrammen und Beulen. Zwei waren gelb, einer rot. Ihrer war der rote. Er stand rund fünfzig Meter von der Straßensperre entfernt an der Mauer eines Restaurants. Neben ihm hatte man ein kleines Gerüst mit einer Plattform errichtet.

Vier Menschen befanden sich in der Gasse. Die zwei Männer in weißen Overalls gehörten offensichtlich zur Spurensicherung, die beiden Herren in Anzügen waren Ermittler der Mordkommission. Sie kamen ihnen entgegen und stellten sich als O’Connor und Robinson vor. O’Connor war um die fünfzig und schien nie etwas anderes als Polizist gewesen zu sein. Er war hier der Chef, ein stämmiger Mann mit einem Gesicht, das vom Leben gezeichnet war. Entweder hatte er zu viel Zeit draußen bei Wind und Wetter verbracht oder zu viele Abende auf einem Barhocker. Oder auch beides. Robinson war kleiner und jünger und klang, als sei er im Mittleren Westen aufgewachsen. Er hatte kurze braune Haare, trug eine Brille und wirkte mehr wie ein Buchhalter als wie ein Polizist.

»Freut mich, dass Sie so schnell kommen konnten«, sagte O’Connor. Die Bemerkung galt Yoko und Hendry. Winter stand hinter den beiden, hatte den Blick auf den Container gerichtet und tat gelangweilt.

»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte Yoko.

»Ein Küchenangestellter. Er hat versehentlich einen Abfalleimer in den Container fallen lassen und kletterte an der Seite hoch, um ihn herauszuholen. Dabei hat er die Frau entdeckt. Insofern hatten wir Glück. Die beiden Opfer davor wurden erst gefunden, als die Leichen anfingen zu stinken, die erste im Juni, die zweite im September. Beide Male lag die Temperatur deutlich über dreißig Grad, und bei einer solchen Hitze geht das schnell.«

»Irgendeine Vermutung, wann sie hier abgelegt wurde?«

»Laut Spurensicherung eher vor Stunden als vor Tagen. Dem Zustand der Leiche nach zu urteilen, würde ich dem zustimmen. Sicher können wir es erst nach der Obduktion sagen, aber ich denke, es war irgendwann vergangene Nacht.«

»Gibt es Zeugen?«

O’Connor ließ ein langes, tiefes Lachen hören. »Na, Sie sehen ja die lange Schlange, die eine Aussage machen will.«

»Das heißt also nein.«

»Im Ernst, Sie wissen doch, wie es ist. Die Menschen sind schon unter den günstigsten Umständen blind. Dass es in einer Seitengasse mitten in der Nacht einen Zeugen gibt, ist in etwa so wahrscheinlich wie, dass Elvis persönlich hier auftaucht und eine Aussage macht.«

Yoko hielt inne, um sich die nächste Frage zu überlegen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass Winter unruhig wurde. »Könnte es vielleicht weitere Opfer geben? Wenn der Täter sie in Müllcontainern ablegt, haben Sie vielleicht noch gar nicht alle entdeckt.«

»Das glaube ich nicht. Es war vielleicht ein Zufallstreffer, dass wir das jüngste Opfer so kurz nach der Tat gefunden haben, aber über den Zeitpunkt des Mordes an sich bin ich nicht überrascht. Der Täter scheint nach einem bestimmten Muster vorzugehen. Unserem Eindruck nach schlägt er alle drei Monate zu.«

»Ihnen ist aber schon klar, dass das mit Zufall nichts zu tun hat«, sagte Winter und zog sämtliche Blicke auf sich. Er hob die Hände in gespielter Abwehr. »Was denn? Ich meine ja nur. Von Zufall redet man, wenn man zu faul ist, nach einer Erklärung zu suchen, die zu den Fakten passt.«

»Was zum Teufel soll das heißen?«

O’Connor hatte die Frage an Winter gerichtet, ab es war Yoko, die ihm hastig antwortete, bevor Winter noch mehr Schaden anrichten konnte.