Operativer Vorgang: Seetrift - Jo Hilmsen - E-Book

Operativer Vorgang: Seetrift E-Book

Jo Hilmsen

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Beschreibung

Philipp Grossmann führt mit seinem Geschäftspartner eine kleine Werbefirma, die ein bisschen ins Straucheln gerät. Um einerseits auszuspannen und anderseits die Rettung seiner Firma zu planen, reist er mit seiner Freundin für ein paar Tage an die Ostsee. Nach einem langen Strandspaziergang allein, bei dem der Protagonist das Gefühl hatte, aus der Zeit zu fallen, findet sich Philipp plötzlich an einer Stelle wieder, wo er schon einmal gestanden hatte. Das ist inzwischen mehr als 25 Jahre her. Genau an dieser Stelle der Ostsee ist sein Vater im letzten gemeinsamen Urlaub vermutlich ertrunken, obwohl seine Leiche nie gefunden wurde. Aber der Ort steht nicht nur für eine Tragödie. Der fünfzehnjährige Philipp lernte hier auch seine große Jugendliebe kennen, die ebenfalls in einer furchtbaren Tragödie mündete. Schließlich findet er sogar das kleine Bungalowdorf, in dem er damals mit seinen Eltern wohnte. Überwältigt von den Erinnerungen beschließt Philipp eine Nacht in dem Bungalow zu verbringen. Als er erwacht, steht sein tot geglaubter Vater neben ihm. Und plötzlich beginnt eine Reise, an deren Ende er sich einer bitteren Wahrheit stellen muss. Operativer Vorgang Seetrift behandelt das Thema, wie es der Staatssicherheit der DDR gelang, ganze Familien zu zerstören und beschreibt das menschenverachtende System in DDR-Jugendgefängnissen – den sogenannten Jugendhäusern.

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Jo Hilmsen

Operativer Vorgang: Seetrift

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Impressum neobooks

Kapitel 1

Das Telefon spielte seine Melodie. Ich saß gerade im Dunkeln und hörte das Mozart- Requiem. Eine Aufnahme von 1982 mit dem Rundfunkchor Leipzig und der Staatskapelle Dresden. Peter Schreier dirigierte und Theo Adam sang den Bass. Das Ganze auf Vinyl. Auf dem Cover war Casper David Friedrichs Mondnacht über der Ruine abgebildet.

Ich ließ es dreimal klingeln, bevor ich den Hörer abnahm. Es war Hannah, meine Freundin.

„Hallo Schatz“, sagte sie, und ich meinte für einen kurzen Moment irgendwo einen Hund bellen zu hören, „ich habe eine Überraschung für dich.“

Manche Überraschungen waren gut, andere weniger. Ich wackelte mit dem Kopf, aber das konnte Hannah nicht sehen.

„Ich habe uns für vier Tage ein Hotelzimmer gebucht. An der Ostsee. In Zinnowitz. Wellness und so. Sauna und ein Thermalbad mit 32 Grad gibt es auch. Kannst du dir ein paar Tage frei nehmen?“

Das konnte ich. Unsere kleine Werbefirma lief gerade nicht besonders gut, und Konrad, mein Partner, schluckte seit Wochen Antidepressiva. Die Aufträge waren mehr als dürftig und unsere derzeitige Geschäftssituation deutet darauf hin, entweder radikal umzustrukturieren oder Konkurs anzumelden. Aber wir trugen Verantwortung für fünf Mitarbeiter und mussten uns dringend etwas einfallen lassen. Einen Moment lang überlegte ich, was Hannah tun würde, wenn ich mir nicht frei nehmen könnte. Würde sie dann mit Felix nach Zinnowitz fahren?

„Toll“, antwortete ich, „ich habe große Lust, mal wieder aus der Stadt herauszukommen.“

Ich versuchte die dramatische Szenerie der fünf Biographien, die durch unseren möglichen Konkurs in Bedrängnis gerieten, zu verdrängen, und atmete tief durch.

„Danke für deine Überraschung…“

Hannah liebte diese Art von Überraschungen. Meistens hatte sie alles perfekt vorbereitet. Ich musste nur noch zustimmen. Wie konnte ich ihr diese Liebenswürdigkeiten übel nehmen? Ich überlegte kurz, ob Felix einen Hund besaß, wusste darauf aber keine Antwort.

„Für wann hast du gebucht?“

„Für morgen. Holst du mich ab?“

Wir verabredeten uns um Elf. Ich sagte ihr noch eine kleine Zärtlichkeit und legte auf. Der Rundfunkchor Leipzig sang gerade 1982 die letzten Takte vom Confutatis.

Ich sprang hoch, fingerte nach dem Lichtschalter, knipste das Licht an und eilte zum Plattenspieler.

Der Plattenspieler war eigentlich Schrott.

Irgendetwas mit der Mechanik war nicht in Ordnung. Ich vermute, dass eines der Plastikstäbchen abgebrochen war oder eines der kleinen Plastikzahnräder nicht mehr ordnungsgemäß mit den anderen ineinander griff. Jedenfalls funktionierte die Automatik nicht mehr, die dafür verantwortlich war, den Schwenkarm mit der Nadel auf die Platte zu legen. Manuell klappte es auch nicht. Sowie der Plattenteller seine Rotation begonnen hatte, und ich die Nadel auf dem Vinyl ablegte, blieb das Scheißding stehen.

Das Einzige was dann half, war den Plattenteller abnehmen, einen Metallhebel nach innen drücken, das Gummibändchen um Teller und Antriebsrädchen zu postieren, alles wieder draufsetzen und einschalten. Eine unglaubliche Fummelei.

Um mir diese Fummelei zu ersparen, blieb mir nichts anderes übrig, als kurz bevor sich der Arm hob, die Stromzufuhr zu unterbrechen, die LP umzudrehen, den Arm in die Ausgangsposition am Rillenrand zu schwenken und einzuschalten. Es klappte. Beim Einschalten setzte sich die Scheibe in Bewegung und die ersten Töne vom Offertorium erklangen. Ich atmete auf.

Ab dieser Stelle hatte wahrscheinlich Franz-Xaver Süßmayer das Werk seines Meisters vollendet, weil Mozart gestorben war. Und Süßmayer hatte ganze Arbeit geleistet, wie ich fand. Das Offertorium war ebenso ergreifend wie das Confutatis... und das Agnus Dei war noch besser.

Es war November.

Jedes Jahr im November hörte ich wenigstens einmal das Requiem von Mozart. Meistens natürlich bei einer der hiesigen Konzertaufführungen. Letztes Jahr war ich mit Hannah in der Marienkirche am Alexanderplatz gewesen. Eine großartige Aufführung.

Hannah hatte sich die Augen ausgeweint und dabei alle meine Taschentücher verbraucht. Der Dirigent, der Kantor des Berliner Doms, hatte es tatsächlich gewagt, nach dem Requiem noch eine Motette – das Ave verum von Mozart – singen zu lassen. Das Requiem ist zu kurz für einen Konzertabend, deshalb ließen die meisten Dirigenten etwas davor spielen. Aber danach?

Ich war äußerst skeptisch, aber dieses Ave verum setzte dem Ganzen sozusagen noch das Sahnehäubchen auf. Es war unglaublich. Wirklich! Ein unvergesslicher Abend.

Dieses Jahr hatten wir es irgendwie versäumt, uns rechtzeitig Karten zu besorgen. So war ich gezwungen, den alten Plattenspieler anzuwerfen. Aber Peter Schreier und der Rundfunkchor Leipzig entschädigte. Absolut. Und das gute alte Vinyl klang irgendwie auch besser als eine CD. Weicher, wie ich fand. In Gedanken beschloss ich, mir alsbald einen neuen Plattenspieler zu kaufen. Mittlerweile waren Plattenspieler ja wieder voll im Trend, es gab etliche neue Alben auf Vinyl, und die neuen Plattenspieler waren unbestritten tolle Geräte.

Nachdem der letzte Ton aus dem Raum geschwebt war, stand ich auf und ging in die Küche.

Dort wärmte ich mir meinen gestrigen Gemüseeintopf auf und öffnete eine Flasche Weißwein. Ich setzte mich an den Küchentisch, aß zwei Teller Eintopf und trank dazu zwei Gläser Wein. Nachdem ich das Geschirr in den Geschirrspüler eingeräumt hatte, schlenderte ich ins Schlafzimmer und machte mich ans Packen. Für vier Tage nahm ich in der Regel mehr mit, als ich wirklich brauchte. Ich packte drei Hosen, zwei große Badehandtücher, vier T-Shirts und zwei dicke Wollpullover in den Koffer, warf Badelatschen, eine Badehose, ein halbes Dutzend Socken, Unterwäsche und eine warme Daunenweste dazu. Obendrauf legte ich Waschzeug mit Duschbad, Haarwäsche, Körperlotion, mein Lieblingsparfüm Chrome von Azzaro und ein zweites Paar Schuhe. Im Bad rasierte ich mich noch einmal und steckte den Rasierer zu den anderen Dingen für die Hygiene. Das sparte morgen früh Zeit.

Ich überlegte abermals, ob Felix einen Hund besaß. Aber diese Überlegung führte zu nichts. Wenn dem so wäre, dachte ich, hätte es Hannah bestimmt irgendwann erwähnt.

Ich nahm mir ein Buch aus meinem Bücherregal. Schiffbruch mit Tiger von Yann Martel, las ein bisschen, trank dazu noch ein Glas Weißwein und ging zwei Stunden später zu Bett.

Kapitel 2

Pünktlich um Elf stand ich vor Hannahs Haustür. Sie wohnte wie ich im Berliner Prenzlauer Berg. Ich wohnte in der Sredzkistraße, sie in der Metzerstraße. Bei ihr fand man so gut wie immer einen Parkplatz, bei mir so gut wie nie.

Das Wetter war absurd. Der Himmel war wolkenlos und die Sonne wärmte wie an einem Altweibersommertag. Am Abend in der Tagesschau würde man wahrscheinlich wieder einen neuen Wärmerekord für diesen Novembertag melden. Schon wieder. Der Oktober war bereits mit einem Wärmerekord in die Statistik eingegangen, ebenso der September und der Juli. Jedes Jahr neue Rekorde.

Seit ich Al Gores Eine unbequeme Wahrheit im Kino gesehen hatte, war mein Stromverbrauch um über die Hälfte gesunken. Ich schaltete nur einmal am Tag meinen Computer an, um meine E-Mails zu checken, den Fernseher so gut wie nie mehr, überall gab es jetzt Energiesparlampen, die Waschmaschine lief höchstens zweimal im Monat und im Wohnzimmer brannten abends Kerzen. Privat und in der Firma hatten Konrad und ich beschlossen, den Stromanbieter zu wechseln und wurden nun mit Ökostrom beliefert. Beide schimpften wir wie die Rohrspatzen, wenn jemand vergaß, das Licht im Klo auszuschalten. Aber irgendwie war das alles nicht befriedigend. Aufs Autofahren hätte ich am liebsten auch verzichtet, aber nun war ich doch ein bisschen froh, mich anders entschieden zu haben.

Mein schwarzer Saab 9-3 war keine zwei Jahre alt, bequem und ausgestattet mit Sitzheizung und einer Klimaanlage. Der Benzinverbrauch hielt sich im Rahmen und der Wagen besaß den EU II-Kat. Mit Hannahs kleinem Daihatsu wäre die Fahrt bis Zinnowitz bestimmt eine Quälerei geworden.

Aber wer brauchte bei diesen Temperaturen schon eine Sitzheizung?

Zwischen der Sredzki und der Metzerstraße standen bei sämtlichen Cafe´s und Kneipen Tische und Stühle vor den Türen. Die meisten davon waren vollbesetzt und die Leute hielten ihre Gesichter in die Sonne.

Wenn der Golfstrom zum Erliegen kam, würden wir uns alle warm anziehen müssen.

Ich drückte den Klingelknopf und Hannahs Stimme erschall aus der Sprechanlage. Selbst durch die Sprechanlage klang ihre Stimme wie die von Hansi Jochmann, der Synchronstimme von Jodie Foster.

„In zwei Minuten bin ich unten, okay?“

Okay. Da konnte ich mir das Treppen steigen sparen. Hannah wohnte im Dachgeschoss, und die Hausbesitzer hatten auf einen Fahrstuhl bei der Sanierung verzichtet. Die Miete war dennoch bei ihrem Einzug exorbitant gestiegen. Bis zum Kollwitzplatz brauchte man nur zehn Minuten zu Fuß. Und diese Gegend Berlins wurde langsam aber sicher mietmäßig zu Klein-Paris.

Ich ließ das Schiebedach bis zur Hälfte zurück fahren. Ein bisschen Sonne auf dem Kopf konnte nicht schaden.

Ich überlegte kurz und schob mich dann auf den Beifahrersitz. Hannah fuhr den Saab gerne, und ich hatte heute keine Lust zum Fahren.

Als Hannah kam, steuerte sie zielstrebig zur Fahrerseite, als hätten wir es so verabredet. Sie trug einen hellbraunen Blazer und eine schwarze Hose mit einem ziemlichen Schlag.

Mit einer raschen Armbewegung beförderte sie ihre Reisetasche aus weichem Leder auf die Rückbank, lächelte und küsste mich. Irgendwie hatte ich während des Küssens das Gefühl, dass sie immer noch lächelte. Vielleicht war es auch ein inneres Grinsen.

„Ich habe große Lust auf die Ostsee“, sagte sie und fingerte gleichzeitig am Lenkradblock herum. Sie suchte das Zündschloss. Wie die meisten, die einen Saab nicht regelmäßig fuhren, suchte sie das Zündschloss, dort wo es sich bei allen anderen Autos befand. Ich tippte ihr leicht auf die Schulter und zeigte zur Konsole vor der Handbremse.

„Jedes Mal“, lachte sie. Ich streckte mich behaglich im Sitz aus und lächelte zurück.

„Jedes Mal... Übrigens, eine Bitte habe ich noch.“

Hannah machte große Augen. Vielleicht hatte sie mich nicht richtig verstanden oder war plötzlich über etwas erschrocken. Beispielsweise darüber, dass ich merkwürdige Fragen stellen könnte. Beispielsweise die Frage: Ob Felix einen Hund besaß. Ich hatte keine Fragen und große Augen machen, stand ihr wirklich gut.

„Lass uns Landstraße fahren. Die B 96, ja.“, sagte ich.

„Aber da brauchen wir bestimmt eine Stunde länger. Wenn das reicht.“

„Bitte!“

„Gut, aber nörgele dann nicht herum, wenn’s langweilig wird.“

„Wird es nicht. Mit dir nie!“ Das war wohl ein bisschen geflunkert.

Stadtauswärts hörten wir Radio Eins. Ein Bekannter von mir wurde gerade interviewt. Daniel war Redakteur beim Tagesspiegel und hatte vor ein paar Monaten ein Buch mit gesammelten Nachrufen herausgegeben. Die Nachrufe erschienen immer freitags im Tagesspiegel.

Es war ein bisschen beeindruckend, jemanden im Radio ein Interview geben zu hören, den man kannte. Ich drehte lauter und lauschte gebannt. Ich weiß nicht, ob ich auch lauter gedreht hätte, wenn ich den Interviewten nicht gekannt hätte. Daniel klang sehr professionell, wie ich fand, so als würde er den lieben langen Tag nichts anderes machen, als Radiointerviews geben. Es war ein Telefoninterview und Daniels Stimme klang, als würde ich gerade mit ihm telefonieren. Unser letztes gemeinsames Telefonat war schon eine Weile her, und ich beschloss, ihn anzurufen, sowie wir zurück waren und ihm zu dem Interview zu gratulieren.

In Oranienburg hielten wir bei McDonalds und bestellten per McDrive zwei Chickenburger, Chicken McNuggetts, dazu süß-saure Soße und Cola.

Eigentlich verachtete ich Fastfood wie den bei McDonalds und die ganze Imageaufpoliererei von wegen Bio und so, war lächerlich, wie ich fand. Aber bei solchen Fahrten überkam es mich manchmal.

Ich aß die beiden Chickenburger und fütterte Hannah mit den Nuggetts.

Es war unglaublich warm. Ein Wetter zum Flanieren. Das Außenthermometer zeigte jetzt schon satte 17 Grad Celsius, dabei war es noch nicht einmal zwölf Uhr. Die Sonne auf meinem Kopf brannte regelrecht. Eigentlich müsste ich mir eine Mütze auf meine Fast-Glatze schieben, dachte ich, sonst lief ich noch Gefahr, mir einen Sonnenbrand oder einen Sonnenstich zu holen. Genauso gut könnte ich natürlich das Dach schließen, aber dazu hatte ich auch keine Lust.

Solche Temperaturen Mitte November oder besser Ende Mitte November waren beängstigend. Ich bekam große Lust mit Hannah über die Klimaerwärmung zu sprechen und einer möglichen Eiszeit, aber ich wollte ihr den Spaß am Autofahren nicht verderben.

Ich sah kurz zu ihr hinüber, stopfte ihr ein Nuggett in den Mund und stellte fest, dass sie jetzt schon ausgesprochen entspannt wirkte.

Kurz hinter Oranienburg hörten wir Music for Egon Schiele von Rachel´s. Hannah mochte Rachel´s, und ich die Bilder von Egon Schiele. Besonders seine magersüchtigen Akte. Hannah hatte die Kassette ausgewählt.

„Wollen wir Rachel´s hören?“ Das war mehr eine Feststellung, als eine Frage. Ich hatte jede Menge CDs im Auto. Aber Rachel´s war in Ordnung. Sehr ruhig.

Seit 2000 stellte ich jedes Jahr eine CD für das Musikhören im Auto zusammen. Alle hießen: Mixed.Mixed 2000, Mixed 2001, Mixed 2002 und so weiter. Viele der Kassetten waren mit Songs von den Rolling Stones oder Pink Floyd bespielt, sehr häufig fanden sich darauf Radiohead oder Tom Waits oder Nirvana, aber auch Sometimes you can von U2 oder The Long Road von Eddie Vedder und Nusrat Fateh Ali Khan. Bisweilen versteckte sich sogar ein klassisches Stück zwischen den Titeln. So zum Beispiel Die Mondscheinsonate von Beethoven oder Bachs Suite D-Moll – Air.

Hannah mochte meine Mixed-CDs nicht besonders. Sie meinte, meine Zusammenstellungen machten depressiv. Ich erwiderte, dass diese Ansicht typisch für eine Frau wäre, die als Psychologin in der Psychiatrie arbeitete, aber meinen Einwand ließ Hannah nicht gelten. Ich fand, dass Wild Horses von den Stones überhaupt nicht depressiv machte. Im Gegenteil. Meine Mixed 2006 war sogar ausgesprochen fröhlich. Grounding von Langoth war genauso aufmunternd wie Kids with guns von The Gorillas oder Mandy von The Spinto Band. Trotzdem mochte Hannah sie nicht besonders. Also hörten wir Rachel´s: Music for Egon Schiele und weil noch genügend Platz auf der selbstgebrannten CD war: Rachel´s Handwriting Ip. Ich fand ehrlich gesagt Rachel´s auch nicht gerade einen Schenkelklopfer.

Zugegeben, die Zusammenstellung meiner Musik war manchmal in der Tat ein bisschen merkwürdig. Aber manche Jahre waren auch merkwürdig gewesen.

Eine typische Hannah- Eigenschaft war, die Musik während der Autofahrt zu vergessen.

Rachel´s Musik for Egon Schiele und Rachel´s Handwriting Ip würde bis Zinnowitz endlos spielen. Soviel war sicher. Irgendwann hörte sie wahrscheinlich nicht mehr hin und die CD begann von vorn. Es machte keinen Unterschied, ob wir drei oder dreißig Stunden für die Fahrt benötigten. Wir würden bis der Tank leer gefahren war, Rachel´s hören.

Ich überließ mich meinen Gedanken und zählte die Kreuze am Fahrbahnrand.

Auf den meisten standen nur die Vornamen der Verunglückten. Stephan, Mandy, Klausi, Claudia, Thomas. Darunter verschiedene Daten. Einmal war an einer verbeulten Leitplanke vor einer von Miniermotten befallenen Kastanie nur ein Datum gesprüht: 28.08.06

Schwer zu sagen, ob da jemand tödlich verunglückt war, oder nur die Leitplanke zertrümmert hatte.

„Mittlerweile ist fast die ganze B 96 mit Leitplanken flankiert“, sagte ich zu Hannah. „Ich finde, die Straße wirkt dadurch enger. Und außerdem wird durch die Leitplanken irgendwie der Charakter einer Allee zerstört. Findest du nicht auch?“

Hannah war auf den Verkehr konzentriert. Seit zehn Minuten schlichen wir hinter einem Laster her, der für ALDI fuhr. Das Überholen war schwierig.

„Kannst du mir eine Zigarette anzünden, Schatz?“

Ich zündete Hannah eine Zigarette an und reichte sie ihr.

„Hm, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“

„Wenn jetzt jemand mit seinem Fahrzeug liegen bliebe, gäbe es sofort einen Stau. Man kommt ja nicht mehr von der Straße runter. Ich finde diese Leitplanken überflüssig.“

„Ich auch.“

Hannah schaltete in den vierten Gang runter und gab Gas. Der ALDI-Laster lag hinter uns, die Leitplanken-allee vor uns. Beim Überholen hatte ich ein Kreuz am Straßenrand nicht sehen können, ich sah nur einen Blumenkranz an einem Baum im Rückspiegel und zählte es trotzdem mit.

Je weiter wir nach Norden kamen, umso zahlreicher wurden die Windräder. Manchmal waren es sogar mehr Windräder als Bäume oder Kühe.

Hannah und ich hatten uns einmal unter einem solchen Windrad geliebt. Das war in der Nähe von Feldberg. Wir besuchten das Fallada-Haus in Carwitz und den Fallada- Friedhof und gingen dann im Hullerbusch spazieren. Hans Fallada hatte diesen Weg in mehreren Geschichten beschrieben.

Es war betörend. Über uns rauschte das Windrad und gab einen merkwürdigen Ton von sich. Eine Art Pfeifen, als würde gleich eine Lunge zerplatzen. Hannah fand es toll.

Danach schrieben wir unsere Namen wie Teenager mit einem schwarzen Edding auf eines der Rotorenblätter eines Windrades, was gerade zusammen montiert worden war, aber noch nicht aufgestellt.

Ein paar Monate später, als wir nach unserem Windrad sehen wollten, standen an der gleichen Stelle so viele davon, dass wir beide nicht mehr genau sagen konnten, welches Windrad unsere Namen im Wind drehte.

Überhaupt hatten wir uns am Anfang unserer Beziehung oft im Freien geliebt. Einmal an einem der Drei heiligen Pfuhle in Wandlitz oder auf einem Hügel in der Uckermark in der Nähe von Gerswalde – ich sehe noch die schottischen Kühe mit ihren langen braunem, zottigem Fell, ein paar Meter vor uns.

Wir hatten uns am Wutzsee geliebt bei Lindow oder am Oder-Havel Kanal. Einmal sogar auf einem Waldweg unweit von Borgsdorf – zum Glück kamen keine Spaziergänger.

Hannah öffnete einen Spalt breit das Fenster und warf ihre Kippe auf die Straße. Mein Wagen besaß keinen Aschenbecher. Ein Nichtraucherauto. Eigentlich eine Umweltsauerei, wozu Hannah da gezwungen war, dachte ich. Ich sollte einen Aschenbecher im Auto deponieren. Für Hannah.

Geschlechtsverkehr hatten wir immer noch regelmäßig. Zwar nicht mehr so oft im Freien, aber regelmäßig.

Hannahs und meine Interessen waren in vielen Punkten ähnlich. Hannah mochte Theater, ich mochte Theater. Am liebsten das BAT – die Probebühne der Schauspielschule Ernst Busch. Die Aufführungen waren gewissermaßen jungfräulich, die Schauspieler und Regisseure standen noch ganz am Anfang und waren bemüht alles zu geben, was sie geben konnten. Hannah mochte Kino, ich ebenfalls. Allerdings brauchte es immer eine Weile, bis wir uns auf einen Film einigen konnten. Zweimal im Jahr gingen wir zusammen in die Oper und ab und an in ein Konzert. Im November ins Mozart- Requiem, meistens. Ich las gern, sie ebenfalls. Bei mir war die literarische Palette ziemlich willkürlich. Ich liebte Nabokov, las aber auch Tom Robbins, John Irving, Dan Brown, Carl Hiassen oder Helmut Krausser. Hannah bevorzugte Krimis. Ganz oben auf ihrer Krimiliste standen Krimis von Henning Mankell.

Kinder hatten wir beide keine. Ich hatte irgendwann beschlossen, dass die Menschheit besser aussterben sollte und einen Nicht-Fortpflanzungs-Eid geschworen. Und Hannah ging derart in ihrer Arbeit auf, dass sie möglicherweise gar keine Zeit fand, sich mit dieser Frage zu beschäftigen.

Im Grunde waren wir das perfekte Paar. Allerdings unterschied uns etwas grundsätzlich. Hannah ging auf jeden Menschen zu, und war dieser auch der größte Depp. Ich war wohl eher so etwas wie ein Misanthrop – ich war viel für mich, brauchte lange, bis ich Vertrauen fasste und mied Gespräche, wenn sie nicht unbedingt sein mussten.

Als ich sechzehn Kreuze gezählt hatte, schlief ich ein.

Ich erwachte, als der Wagen auf den Parkplatz des Baltic rollte. Inzwischen war es dunkel geworden. Ich fühlte mich ein bisschen benommen und Hannah war vom Landstraße fahren erschöpft.

Kapitel 3

Das Baltic war ein riesiger Klotz aus Beton und Glas. Ein aufpolierter ehemaliger Plattenbau.

Das Foyer mit der Rezeption war allerdings geschmackvoll. Eine überdimensionale Theke aus polierter Buche schwang sich im Halbkreis um eine freundlich blickende junge Frau. Eine Reihe großer Palmen vermittelte einen Hauch südlichen Flairs und eine in Orange gehaltene Lichtkomposition strahlte Wärme und Gemütlichkeit aus.

Ich war angenehm überrascht.

Hannah hatte ein Zimmer mit Meerblick via Internet gebucht. Ich hatte bei diesen Transaktionen einige Vorbehalte, unter anderem wegen der möglichen darauffolgenden Spam-Flut, deshalb telefonierte ich lieber oder erschien persönlich in einem Reisebüro. Außerdem war ich mir nie sicher, ob das alles auch funktionierte. Hannahs Buchung war perfekt. Die junge Frau lächelte, nannte unsere Namen und hieß uns willkommen. Wir nahmen den Zimmerschlüssel in Empfang, gingen zum Fahrstuhl und fuhren in die fünfte Etage.

Im Zimmer stand ein Doppelbett, ein kleiner Schreibtisch mit Minifernseher, darunter die Minibar und zwei große kompakte Schalensessel. Auf dem Schreibtisch lagen Broschüren von den Angeboten des Hotels, einigen Ausflugsmöglichkeiten per Schiff oder Bus und die Preisliste der Getränke aus der Minibar. Ich fand 3 Euro Zwanzig für eine 0,33 Liter Flasche Bier übertrieben und verzichtete. Neben dem Eingang zum Bad war ein Kleiderschrank in die Wand eingelassen. Als Willkommensgruß lag je eine kleine Tüte Goldbären von Haribo auf den Kopfkissen.

Hinter den aufgeklappten großen Fenstern konnte man tatsächlich das Meer hören. Um es sehen zu können, war es draußen schon zu dunkel.

Hannah warf ihre Reisetasche mit der gleichen Bewegung neben das rechte Bett, wie sie die Tasche Stunden zuvor auf die Rückbank meines Autos geworfen hatte. Dann verkündete sie:

„Ich habe Hunger.“

Wir fuhren mit dem Fahrstuhl wieder nach unten und gingen ins Hotelrestaurant. Ein Mann Mitte Dreißig saß an einem Tisch am Fenster, trank Rotwein und las einen Artikel im SPIEGEL. Ansonsten war das Restaurant von Gästen verschont. Die Köchin, die hinter einer Art Tresen mit allerlei Küchengerätschaften vor aller Augen ihre Speisen zubereitete, putzte die zuletzt benötigten Utensilien und überreichte dann die Verantwortung für die Küche ihrer Gehilfin. Offensichtlich hatte sie Feierabend.

Bedient wurden wir von einem jungen polnischen Kellner, mit dem Hannah, wie nicht anders zu erwarten war, sofort ins Gespräch kam.

Der Kellner besaß eine äußerst gepflegte Erscheinung, sprach ein wortgewandtes Deutsch und schien der geborene Gentleman zu sein. Während Hannah mit dem Kellner über seine Heimatstadt Swinemünde schwärmte, wählte ich mein Essen. Dorschfilet mit grünem Kartoffelpüree und süßen Erbsen und ließ mir dann von ihm einen Wein dazu empfehlen.

Hannah überlegte eine lange Weile, was sie essen sollte und entschied sich ebenfalls für Fisch. Seezunge mit einer raffinierten Soße, wie der polnische Kellner versicherte und gesalzenen Kartoffeln.

Das Essen und der Wein waren in der Tat vorzüglich.

Nach dem Essen gingen wir kurz an den Strand, küssten uns, während die Ostsee leise vor sich hin plätscherte und beschlossen noch in der Therme zu baden. Es war zwar deutlich kühler geworden, aber für einen späten Novemberabend nach wie vor viel zu warm.

Das Thermalbad besaß ein hübsches Ambiente. Das Wasser leuchtete smaragdgrün und an der Decke waren überall kleine Lichter installiert. Der Raum war farbig gefliest, aber nicht kitschig und das Außenbecken dezent beleuchtet, so dass man auf dem Rücken treibend die Sterne sehen konnte. Das Personal war aufmerksam und geduldig.

Ich betrachtete eine Weile die Sterne. Das Wasser hatte einen hohen Salzgehalt, so dass der Körper mühelos Auftrieb bekam und man sich tatsächlich von der künstlichen Strömung problemlos herumtreiben lassen konnte. Mit mir planschte ein junges Pärchen. Auf den Liegen im Inneren des Thermalbades dösten oder schwatzen sechs andere Gäste. Eine etwa fünfzigjährige Frau fiel mir auf, die so dick war, dass ihre Knie beim Laufen zusammenstießen. Auf ihrem Rücken wölbten sich mehrere Schichten Fettpolster, die übereinander schlappten. Ihr Badeanzug wirkte wie ein Korsett, der die Körpermasse daran hinderte, sich im ganzen Becken auszubreiten. Kein schöner Anblick.

Hannah war in der Sauna verschwunden und stieg nach zwei Stunden zu mir ins Außenbecken. Wir trieben drei Runden zusammen herum. Das junge Pärchen hatte sich wahrscheinlich inzwischen auf ihr Hotelzimmer verkrümelt.

„Eine wirklich schöne Überraschung“, betonte ich noch einmal und Hannahs Augen leuchteten. Ein bezauberndes Leuchten.

Eine angenehme Lautsprecherstimme bat uns und die anderen Gäste das Thermalbad langsam zu verlassen, da um 22.00 Uhr geschlossen werden würde und wünschte allen höflich einen guten Abend.

Wir trockneten uns ab, zogen uns um und genehmigten uns noch je einen doppelten Tullamore Dew im Edvard´s, dem Hotelpub. Mit uns saßen ein Mann und eine Frau um die Dreißig an der Bar, die sich die ganze Zeit über einen Versicherungsabschluss stritten, den er aus einer Laune heraus unterschrieben hatte.

Hannah erzählte von einem manisch-depressiven Mann, der in seiner manischen Phase jede Nacht ein paar Mal die Feuerwehr anrief, um ihnen einen schönen Dienst zu wünschen, aber ich hörte irgendwie nur mit halbem Ohr zu. Die verschiedenen Whiskyflaschenformen im Regal hinter dem Tresen hatten es mir angetan. Fast jede Marke besaß eine eigene Flaschenform, und ich fragte mich gerade, ob es wohl Whiskyflaschenagenten gab, die die neueste Flaschenform der Konkurrenz ausspionierten, um sich damit dann mit der eigenen Produktion zu distanzieren. Außerdem suchte ich verzweifelt nach einer neuen Idee für unsere Firma. Aber mir fiel nichts ein.

Vorm Schlafen hatten wir Geschlechtsverkehr. Durch das geöffnete Fenster konnte man das Meer rauschen hören.

Es war fast wie vor drei Jahren am Wutzsee. Und es sollte das letzte Mal sein.

Das Frühstücks- Büffet war reichlich und berücksichtigte unterschiedliche Geschmäcker und Essgewohnheiten. Es gab verschiedene Wurstsorten, eine gute Auswahl Käse, frisch gebratene Speckstreifen, hart gekochte Eier, geräucherten Lachs und jede Menge Obst und Müsli. Mit uns frühstückten vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig Gäste. Die meisten waren um die Sechzig. Ich war überrascht, dass hier so viele Leute einquartiert waren. Waren die alle in der Nacht gekommen? Oder hatten die alle gestern Abend in ihren Zimmern Karten gespielt oder fern gesehen?

Das Essen war gut, nur der Kaffee schmeckte grauenhaft. Der Kaffee erinnerte mich an meine ehrenamtliche Tätigkeit vor ein paar Jahren in einem Obdachlosenheim. Ich hatte fast drei Jahre im Obdachlosenheim gearbeitet. Unangenehm bei dieser Arbeit war der schlechte Kaffee, den wir austeilten, und der Gestank am Morgen, wenn alle erwachten.

Hannah beschloss, sich nach dem Frühstück mit ein paar Massagen und einer neuartigen Geschichtscreme, die das Beautyland des Hotels anbot, zwei, drei Stunden verwöhnen zu lassen, und ich sagte, dass ich in dieser Zeit ein bisschen am Strand spazieren würde. Offengestanden überraschte es mich, dass Hannah nicht von Tisch zu Tisch zog, um mit jedem der Gäste einen kleinen Plausch zu halten.

Ich aß ein Ei, zwei Vollkornscheiben Brot mit Schinken und Lachs, eine Kiwi und eine halbe Birne, die allerdings ziemlich hart war. Hannah wählte ein Schälchen Joghurt und eine Scheibe Vollkornbrot, auf die sie Tollenser- Käse legte und etwas Erdbeermarmelade schmierte. Das Ganze garnierte sie dann mit grünem Salat und beträufelte es mit einer hellbraunen Vinaigrette. Ich trank zwei kleine Tassen Kaffee, sie ein Glas frisch gepressten Orangensaft.

Die Tische wurden von vier jungen Mädchen abgeräumt – Azubis.

Wir gingen zur Lobby. Hannah rauchte zwei Zigaretten, das war im Frühstückssaal untersagt, und ich las die wichtigsten Artikel der „Ostsee-Zeitung“.

Wie ich es vorausgeahnt hatte, sprachen die Meteorologen vom wärmsten 21. November seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Darunter befanden sich Fotos von Menschen in Biergärten und barfüßigen Strandspaziergängern. Kein Wort von der nahenden Klimakatastrophe.

In Gedanken malte ich mir aus, wie die Ostsee wohl bei einer Eiszeit aussehen würde. Vermutlich stapelten sich dann kleine Eisschollen bis zum Horizont. Ich hatte das einmal gesehen. Im Winter ´99. Damals fuhr ich mit einer Pferdekutsche von Kloster auf Hiddensee nach Schaprode auf Rügen auf der zugefrorenen Ostsee. Das war ein atemberaubendes Erlebnis und auch ein bisschen beängstigend. Vielleicht konnte man das ja bald wieder. Das ganze Jahr über.

Vom Hotel zum Strand führte ein schmaler Pfad, der mit Holzplatten ausgelegt war. Wie üblich, wenn ich irgendwo am Meer war, warf ich flache Steine ins Wasser und hoffte, dass sie ein paar Mal über die Oberfläche hopsten. Manchmal gelang es, doch die meisten klatschten einfach ins Wasser.

Das Wasser der Ostsee war nicht besonders klar, aber das war für November normal. Am Strand suchten dicke und kleine Möwen nach Futter. Krähen versuchten den Möwen das Futter abzujagen. Vielleicht jagten sie auch die Möwen.

Ich lief den Strand entlang und dachte eigentlich an nichts. Irgendwann vergaß ich alles um mich herum. Die anderen Spaziergänger, die Steine, die Möwen, die Krähen, Hannah, ...die Zeit.

Manche Leute versetzten sich mit autogenem Training oder Meditation in Trance, andere nahmen dafür Drogen oder Psychopharmaka. Bei mir reichte ein Strandspaziergang.

Möglicherweise lag es an der frischen Luft, dem Wind, dem ruhigen Plätschern des Meeres. Jedenfalls erlebe ich oft, wenn ich allein am Strand entlang laufe, dass ich irgendwann abtauche. Es ist, als ob ich aus der Zeit herausfalle. Meistens dauert dieser Zustand nicht sehr lange und nach ein paar hundert Metern tauche ich wieder auf. Die Zeit dazwischen ist allerdings verloren.

Diesmal mussten es Stunden gewesen sein. Keine Ahnung, wie das passierte. Ich lief und lief. Es war warm, soviel stand fest. Fast so warm, wie am Novemberwärmerekordtag am Tag davor.

Erst als ein kleines Schild in mein Blickfeld geriet, schlug ich hart und erschrocken wieder in der Realität auf.

Ostseebad Ückeritz stand darauf. Ückeritz lag wie Zinnowitz auf der Insel Usedom. Aber die beiden Orte waren 14 Kilometer voneinander entfernt. Ich war 14 Kilometer gelaufen, ohne etwas davon zu bemerken. Wo war ich die ganze Zeit gewesen?

Ostseebad Ückeritz. Und dann, als würde ich mit einem Eimer Wasser übergossen, strömten die Erinnerungen über mich.

Irritiert sah ich mich um. Außer mir waren hier wenige Leute unterwegs. Kleine, sich bewegende Silhouetten. Ich blickte zum Himmel. Die Sonne schickte sich bereits an, unterzugehen. Hier und da flammten die ersten Lichter der Strandcafes und Restaurants auf.

Im Ostseebad Ückeritz hatte ich meine Unschuld verloren und den Rest meiner Kindheit. In Ückeritz hatte alles seinen Anfang genommen.

Eine tiefe Beklommenheit kam von irgendwoher und ließ mich fast zu Eis erstarren.

Eine Weile taumelte ich weiter.

Und plötzlich war ich angekommen. Es bestand absolut kein Zweifel. Ich stand genau an der Stelle, wo ich schon einmal gestanden hatte.

Sommer 1980.

Die Beine wurden mir schwer und dann die Knie weich. Ich sackte auf den Boden und meine Hände wühlten im Sand. Und dann brach es aus mir heraus. Ein Tränenstrom wie die Niagarafälle.

Ich sah uns. Acht Jugendliche, sprühend vor Lebenslust und aufgeregt und neugierig wie Welpen.

Ramona, Andreas, Silvio, Markus, Johannes und seine Schwester Christiane. Wie bei einer zärtlichen Umarmung tauchte ein Gesicht nach dem anderen auf. Und schließlich das Wichtigste: Tanja.

Wir spielten Volleyball. Markus warf sich in den Sand, verfehlte aber den Ball. Wir hockten in zusammen geschobenen Strandkörben oder tanzten lächerliche Tänze zu Kate Bush´s Babuschka oder zu Kashmir von Led Zeppelin, lachten, bewarfen uns mit Ostseesandschlamm. Wir rollten über den Sand oder rannten alle in einer Reihe an den Händen haltend ins Meer...

Wir rollten über den Sand, wir küssten uns, wir rollten über den Sand. Wir rollten über den Sand und küssten uns... Tanja! T... A... N... J... A ...

Wie betäubt, fand ich den kleinen Trampelpfad durch die Düne. Man hätte mir die Augen verbinden können, ich hätte ihn trotzdem gefunden.

Da auf dem Hügel standest du oft, um aufs Meer zu schauen. Auf dem Sandhügel auf der anderen Seite hattest du mich in die Arme genommen, als es passierte... Als ich mich vor Schmerz übergeben musste.

Jeder Flecken barg eine Erinnerung und jeder Grashalm wirkte vertraut. Als wäre ich hier niemals fortgegangen.

Ich stolperte die Düne hinauf und musste immer wieder innehalten. Das Atmen fiel mir mit jedem Schritt schwerer. Und dann wieder raste mein Herz so schnell, als wollte es gleich explodieren. Die Erinnerungen lasteten wie getrockneter Zement.

Keine Ahnung wieso, aber ich war mir jetzt auch sicher, dass ich das kleine Bungalowdorf wiederfinden würde. Ich wusste, dass es die Zeit überlebt hatte. Die Ortschaften an der Ostseeküste hatten sich in den letzten Jahren fast komplett verändert. Es wurde renoviert, gebaut und planiert. Jeder, der auch nur über einen freien Schuppen verfügte, versuchte daraus Kapital zu schlagen. Wem konnte man das auch verübeln?

Trotzdem hatte ich nicht den leisesten Zweifel, dass das kleine Bungalowdorf noch existierte.

Der Trampelpfad durch die Düne war kurz. Rechts und links vertrocknetes Dünengras. Zwei Dohlen stritten um einen Kanten Brot. Lachmöwengeschrei wehte vom Meer herüber. Der Pfad führte an einem kleinen Sendemast vorbei. Wahrscheinlich von E-Plus oder Vodaphone. Der war natürlich neu. Dann kam eine Senke, rechts ein Kiefernwäldchen.

Ich behielt recht. Alles war wie damals. Fünfzehn, zwanzig wettergegerbte lindgrüne Bungalows standen so dicht beieinander, als wollten sie wegen eines drohenden Abrisses zusammenrücken. Vor jeder Hütte standen zwei weiße Plastikstühle, ein Tisch und ein Mini-Grill. Das alles gab es 1980 noch nicht.

Sogar die Wäscheleinen waren an den gleichen Stellen zwischen den Bäumen gespannt. Einen Moment sah ich, wie meine Mutter unsere Badesachen und Handtücher aufhängte. Dann verschwand das Bild – und mir schwindelte.

Ich lief zwischen den Bungalows umher, streichelte hier eine Wand und befühlte dort den Boden. Es roch vertraut. Kann Zeit riechen?

Heute Nacht musste ich hier bleiben, dass wusste ich. Hier, in diesem schäbigen Bungalow-Dorf. Hier, wo alles seinen Anfang nahm. Ich hatte keine andere Wahl.

In wenigen Minuten würde es dunkel werden. Um den langen Weg zurück zu laufen, hatte ich keine Kraft mehr.

Hannah!

Ich suchte in meinen Taschen nach meinem Handy, bis mir einfiel, dass es vermutlich im Hotelzimmer am Ladegerät vor sich hinblinkte.

Egal! Hannah würde sich sorgen, aber ich konnte hier jetzt nicht weg. Morgen würde ich ihr alles erklären. Vielleicht konnte ich es auch nicht erklären. Sie würde eine Weile schmollen, mir vielleicht Vorwürfe machen, vielleicht zu Felix mit seinem Hund fliehen.

Das war jetzt nicht wichtig. Wichtig war – jetzt hier zu sein.

Als hätte er mein Bedürfnis geahnt, tauchte ein älterer Mann am Tor auf. Der Besitzer oder Pächter des Bungalowdorfes, dass sah ich sofort.

Eigentlich war es gar kein richtiges Tor. Der Maschendrahtzaun rings um das Grundstück war unheilbar verrostet und an vielen Stellen so löchrig, dass man ohne Schwierigkeiten eine Schafherde hindurch treiben konnte. Das Tor war halb aus den Angeln gezerrt und nicht mehr verschließbar.

Der Mann blickte wortlos in meine Richtung, und ich näherte mich ihm langsam.

Es ist ein Klischee, aber die Norddeutschen reden wirklich wenig. Mir war ebenfalls nicht nach Sprechen zumute.

Ich nickte als Zeichen meines Anliegens und zeigte auf einen der Bungalows. Bungalow Nummer 20.

In diesem Bungalow hatte ich den letzten Urlaub mit meinen Eltern verbracht. Im Bungalow Nummer 20 in Ückeritz. Damals hieß der Bungalow Campingfreund – dieses Schild fehlte jetzt. Die Fahrt hierher hatte mit unserem papyrusweißen Trabant 601 über neun Stunden gedauert. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, dass der typische Zweitakt- Motor Gestank von irgendwoher die Luft verpestete.

Zum Glück verstand mich der Mann sofort. Er zog ein großes Schlüsselbund aus seiner Jackentasche und trottete in Richtung Bungalow Nummer 20.

Meine Füße waren bleischwer und es kostete mich große Mühe, ihm zu folgen. Sein Rücken war gebeugt, die Hände grob und schwielig. Das Gesicht war zusammengeschoben wie bei einem Mops, mit geplatzten Kapillaren.

Der Mann schloss die Tür auf, knipste einen Lichtschalter an. Dann sah er sich um, nickte über etwas, schüttelte über etwas den Kopf und wies auf das Bett. Es war erstaunlicherweise frisch bezogen.

Der gestrige Wärmerekord für Mitte November fiel mir ein. Vielleicht hatte er auf Scharen von Touristen gehofft. Ohne ein Wort zu vergeuden, drehte der Mann sich um und verschwand.

Ich war zu Tode erschöpft.

Kraftlos ließ ich mich auf das Bett sinken. Ich verspürte weder Hunger noch Durst. Nur Müdigkeit. Unendliche Müdigkeit.

Ich löschte das Licht und schlief auf der Stelle ein.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, saß er am Fußende meines Bettes und lächelte.

„Papa?“

„Ich habe auf dich gewartet“, sagte er so behutsam wie möglich, um mich nicht zu erschrecken. Ich rieb mir die Augen und richtete mich auf.

„Du warst die ganze Zeit hier?“

„Ja, Philipp. Die ganze Zeit. Nun ist es gut. Du bist gekommen.“

Das Licht, das durch die schmutzigen Fensterscheiben des Bungalows fiel, reichte aus, um meinen Vater gut zu erkennen. Sein Haar war schwarz, nach hinten gekämmt. Sein Gesicht mit einer gesunden Bräune überzogen. Er sah so aus, wie er damals ausgesehen hatte.

Ich überlegte kurz. 1980 war mein Vater neununddreißig Jahre alt. Also war er jetzt genau ein Jahr jünger als ich.

Kapitel 4

August 1980. Einmal im Jahr fuhren meine Eltern mit mir und meiner vier Jahre älteren Schwester Stephanie in den Urlaub. Mehr konnten wir uns nicht leisten.

Schon im Januar war klar gewesen, dass wir an die Ostsee reisen würden. Nach Ückeritz. Anfang des Jahres wurden die Urlaubsplätze im Betrieb meiner Mutter vergeben und wer nicht rechtzeitig einen Antrag gestellt hatte, sah in der Röhre.

Die meisten volkseigenen Betriebe, auch die meiner Eltern, bewirtschafteten irgendwo in der kleinen Republik Bungalows oder ein Ferienhotel. Manche waren attraktiv, andere weniger.

Die Ferienhotels trugen Namen wie: FDGB- Ferienhotel Werner Seelenbinder oder wie im Falle der kleinen Bungalowsiedlung in Ückeritz nur den Namen der Betriebe, die dort einen oder mehrere Bungalows an ihre Belegschaft vermieteten, wie beispielsweise: VEB Armaturenwerk Altenburg.

Ich hatte zwei Wochen meiner Ferien im Armaturenwerk, in dem meine Mutter halbtags als Sekretärin arbeitete, an einer Bohrmaschine geschuftet. Die Arbeit war nicht schwierig gewesen, nur eintönig. Meine Aufgabe bestand darin, sieben Löcher in eine Metallplatte zu bohren. Wozu diese Metallplatte mit den sieben Löchern verwendet wurde, wusste ich nicht. Ich bohrte in einer Stunde achtundzwanzig Löcher und gab mich währenddessen meinen Phantasien hin. Mädchen natürlich. Und in jeder Pause rannte ich zum Klo, um zu onanieren.

Ostsee. Ich konnte es kaum erwarten. Bislang waren wir zweimal an der Ostsee gewesen. Einmal in Ahlbeck und einmal in Binz. Da war ich sechs und zehn Jahre alt. Letztes Jahr waren meine Eltern mit uns nach Tatranska Kotlina in der Hohen Tatra gefahren. Das war das erste Mal, dass ich ein anderes Land innerhalb unserer kleinen Reisemöglichkeiten mit eigenen Augen sah. Aber in den Bergen herumlaufen, fand ich anstrengend.

Ich liebte die Ostsee. Ein anderes Meer kannte ich nicht.

Meine Mutter war seit Tagen mit Packen beschäftigt. Am Abend vor der Reise brutzelte sie kleine Hackbällchen, kochte Eier und beschmierte stapelweise Brote. Drei von den Broten bestrich sie mit Erdbeermarmelade. Die waren für mich. Obwohl die Brote nach wenigen Stunden zu Marmeladen-Brot-Brei matschten, liebte ich die Marmeladenbrote meiner Mutter. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mich ausschließlich von Erdbeermarmeladen-Broten ernährt.

Mein Vater saß am Abend vor der Abreise vor einer Landkarte und notierte sich die Fahrroute auf einen kleinen Zettel, mit dem meine Mutter ihn später navigieren sollte.

Altenburg, Leipzig, Transitstrecke bis Berlin – meine Gelegenheit, Westwagen zu zählen – Dreieck Michendorf, Berliner Ring Richtung Rostock. In Oranienburg auf die F 96, Fürstenberg, Neustrelitz, Neubrandenburg. Dann rüber nach Anklam. Wolgast, Ückeritz.

Mit seinem langen Zeigefinger auf der Landkarte fuhr mein Vater die Strecke entlang, und ich beobachtete ihn dabei.

„Wie viele Kilometer sind das?“, fragte ich.

Mein Vater nahm einen anderen Zettel und kritzelte Zahlen darauf. Zwischen den Städten stand die Entfernung in Kilometern auf der Karte.

„Ungefähr 560.“

Das war wie eine kleine Weltreise.

Das Aufregendste für mich war das frühe Aufstehen vor einer Reise.

Mein Vater pflegte gern mitten in der Nacht loszufahren, um den langen Konvois in Richtung Ostsee, dem Thüringer Wald oder zu den anderen Urlaubsgebieten, in die wir schon gefahren waren, zu entgehen. Einen Wecker brauchte ich nicht. Ich wusste, dass mich meine Mutter wecken würde.