Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich - Jo Hilmsen - E-Book

Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich E-Book

Jo Hilmsen

0,0

Beschreibung

Als Karl Munkelt, der Inhaber eines kleinen Trödelladens im Berliner Prenzlauer Berg, einen verschlossenen Lederkoffer bei einer Sperrmüllaktion findet, ahnt er noch nicht, dass er kurze Zeit später gleich mehrfach um sein Leben bangen wird. Ebenso wenig ahnt Benjamin Krause, Erzieher in einem Heim für geistig behinderte Männer in der Oberlausitz, nach der Annahme eines Kurierdienstes, dass er nicht nur für die Polizei spitzeln, sondern mit zwei ihm zur Betreuung anvertrauten Männer aus der Behinderteneinrichtung in der Mongolei landen wird. Am wenigsten von alldem ahnen Herr Urban und Herr Blumentritt – die beiden geistig behinderten Männer aus dem Heim – in dem Benjamin Krause als Erzieher arbeitet. Denn ihnen macht eigentlich nur eines Spaß – sich gegenseitig zu beschimpfen. Am meisten glaubt Freiherr Graf von Wiltberg zu ahnen. Der betuchte Wirtschaftsförderer und Mäzen mit einer speziellen Vorliebe für die brandenburgische Uckermark glaubt sogar, zu wissen. Er weiß, dass sich eines Tages die Erde öffnen wird und die Nachkommen der hellhäutigen Riesen des sagenumwobenen Subkontinents Hyperborea die Welt von der jüdisch-christlichen Weltverschwörung befreien werden, um die Menschheit in das Zeitalter des Wissens und des Lichtes zu führen. Was er nicht ahnt, ist, dass der Journalist Daniel Winterstein gegen eine neonazistische Gruppierung recherchiert, die sich Neuschwabenländer nennt und ihn damit in Verbindung bringt – und dass am Ende ausgerechnet Herr Blumentritt und Herr Urban seine Pläne durchkreuzen, obwohl sie gar nichts ahnen. Alles beginnt mit einem Video. In dem Koffer, den Karl Munkelt bei einer Sperrmüllaktion findet, wird auf einem Video ein satanisch-heidnisches Ritual dokumentiert, bei dem eine Frau ermordet wird. Das Ritual ist Wotan-Luzifer geweiht. Schnell wird klar, dass es eine Verbindung zwischen dem blutigen Ritual und der neonazistischen Gruppierung der Neuschwabenländer gibt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 488

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jo Hilmsen

Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Impressum neobooks

Kapitel 1

Stellen Sie sich zwei geistig behinderte Männer vor. Beide sind circa sechzig Jahre alt, ein bisschen schwerfällig auf den Beinen, aber gut genährt. Bei Herrn Blumentritt erkennt man leicht den Gendefekt Trisomie 21 – das Down-Syndrom. Herr Urban hat eine frühkindliche Hirnschädigung unklarer Genese.

Die beiden stapfen durch die mongolische Steppe, etwa 90 Kilometer südlich von Ulaanbaatar, beschimpfen sich und lachen dabei. Der eine trägt einen Aluminiumkoffer mit 1,5 Millionen Euro, der andere einen ähnlichen Koffer mit brisantem Material.

Das ist absurd, denken Sie.

Ist es!

Erstens haben zwei alte Männer mit derartigen Behinderungen nichts in einer einsamen Steppe zu suchen, und zweitens würden sie wohl niemals freiwillig dorthin reisen.

Richtig!

Wären sie auch nicht, gäbe es da nicht den Blinden. Oder besser gesagt: den Geblendeten. Das ist Benjamin Krause, ihr einstiger Betreuer.

Die Augen von Krause sind hinter einem blutverschmierten Lappen verborgen und sein Interesse gilt eigentlich beidem – dem Koffer mit dem Geld und dem Koffer mit dem brisanten Material.

Im Moment allerdings schlägt er der Länge nach im groben Sand hin, rappelt sich wieder hoch und ruft: „Herr Urban…? Herr Blumentritt…?“

Er ist ebenso hilflos, wie sich beispielsweise Herr Blumentritt oder Herr Urban fühlen, wenn sie einen Supermarkt betreten. Streng genommen sollte er schleunigst die beiden Aluminiumkoffer vergessen und sich lieber an die Hand nehmen lassen.

Hinter den Dreien läuft der kastrierte Kamelbulle Tuya-Khan her – was so viel heißt wie: Strahlender Fürst. Tuya-Khan macht ab und an Töne, die Kamele von sich geben, wenn sie mit etwas unzufrieden sind. Dabei ist Tuya-Khan ein ziemlich kluger und sanfter Kamelbulle, der an die Nähe von Menschen gewöhnt ist, Futter und Befehle von ihnen erwartet. Vielleicht brüllt er deshalb so unzufrieden, weil beides auf sich warten lässt. Möglicherweise ist es sogar ein wohlwollendes Brüllen, denn beides klingt ganz ähnlich.

Nein, das ist kein Werbespot der Aktion Mensch. Das ist die Realität. Keine schöne. Aber so ist es nun einmal. Wenn man das Ganze als ein Foto betrachten würde, besäße dieses durchaus seinen eigenen Reiz, wäre da nicht diese vermaledeite Situation, bei der es schlicht ums nackte Überleben geht!

Doch dazu später...

Kapitel 2

Die Zufahrt zum Eingang des Landsitzes war nur über eine sehr schmale Allee von dickstämmigen Linden zu erreichen. Die meisten Bäume waren über 40 Jahre alt und ihre Kronen miteinander so verwachsen, dass man wie durch einen Tunnel fuhr.

Daniel Winterstein, Redakteur der Berliner Zeitung, schaltete das Licht ein und drosselte die Geschwindigkeit. Die Uckermark hatte noch einige Kopfsteinpflasterwege zu bieten und wahrscheinlich waren auf der Straße, auf der er gerade fuhr, schon die Zweispänner der von Arnims gerumpelt.

Die Allee mündete an einer gestutzten Wiese, die von einem Schotterweg zerteilt wurde. Nach zwanzig Metern stand er vor einem riesigen gusseisernen Tor. Es war verschlossen.

Wintersteinöffnete die Tür seines roten Fiat Bravos und stieg aus. Den Motor ließ er laufen.

Rechts neben dem Tor befand sich ein kleiner Klingelknopf, der in einer Stahlplatte eingelassen war. Darüber prangte eine bullaugenartige Überwachungskamera.

Winterstein drückte den Klingelknopf. Nichts passierte. Er versuchte es ein zweites Mal. Keine Antwort. Daniel wühlte, nervös geworden, mit den Fingern durch sein Haar und griff nach seinem Handy, um seinen Interviewpartner telefonisch mitzuteilen, dass er vor dessen Grundstück wartete.

Da tönte es aus der Sprechanlage: „Sie haben sich um zehn Minuten verspätet!“

Daniel öffnete verblüfft den Mund. „Entschuldigung. Es war gar nicht so einfach, Ihr Anwesen zu finden“, sagte er und bemühte ein Lächeln.

„Meine Zeit ist knapp. Ich weiß nicht, ob ich unter diesen Umständen noch bereit bin, Ihnen ein Interview zu gewähren, Herr Winterstein!“

Was für ein aufgeblasener Typ, dachte Daniel. Aber wenn er jetzt mit leeren Händen zurückkam, konnte er seinen Artikel glatt vergessen. In der Redaktion begannen sie nämlich schon langsam zu trampeln. Es wäre absurd, jetzt zu scheitern, wegen lächerlicher zehn Minuten.

„Herr Graf, es tut mir leid.“ Winterstein gab sich möglichst jovial und schaute schuldbewusst in Richtung der Halbkugel über dem Klingelknopf. „… wären Sie trotzdem bereit für dieses Interview?“

„Nun gut“, sagte die Stimme, offenbar besänftigt und zufrieden. „Sie haben eine halbe Stunde und keine Minute länger.“

Das Tor schwenkte wie von Geisterhand auf. Winterstein eilte zurück zum Wagen und gab Gas.

„Blödmann!“, fluchte er laut vor sich hin. Der Kies unter den Reifen kam in Bewegung und kleine Steine wurden von den durchdrehenden Rädern gegen den Unterboden der Karosserie geschleudert.

Nach ungefähr zweihundert Metern, am Ende des Kiesweges, tauchte ein Gebäude auf.

Das Landhaus von Freiherr Graf Götz von Wiltberg war detailverliebt komplett saniert worden. Bevor von Wiltberg das Anwesen erworben hatte, war das Haus nicht viel mehr als eine Ruine gewesen. Jetzt erstrahlte es in unaufdringlichem Glanz, die Wege waren akkurat und der kleine Park gepflegt. Daniel Winterstein musste sich eingestehen, dass er beeindruckt war. Er stellte seinen roten Fiat Bravo auf dem Parkplatz ab – auf dem gut und gerne 20 Autos bequem nebeneinander hätten stehen können – und kramte schnell sein Equipment zusammen, das wild durcheinander mit anderen Dingen auf der Rückbank verteilt lag: Laptop, Diktiergerät und einen großen Block Papier. Alles verschwand in seiner Neuerwerbung, einer alten Hebammentasche, die Winterstein vor ein paar Wochen im Ramsch & Plunder in der Schönhauser Allee für 25 Euro erworben hatte. Von der ersten Sekunde an hatte er sich in diese Tasche verliebt. Nun, voll konzentriert und fast ein bisschen fröhlich, ließ er die Schlösser zuschnappen und runzelte mit zusammengekniffenen Augen die Stirn.

Okay, dachte er beim Aussteigen, dann wollen wir mal. Die Villa lag im gleißenden Sonnenlicht. Winterstein musste blinzeln. Er schloss den Wagen und ging rasch zur Eingangstür.

Eine halbe Stunde. Nun gut, dachte er, mal sehen, wie sich diese dreißig Minuten mit diesem eitlen Gecken entwickelten. Dann zog er an der altertümlich anmutenden, eisernen Strippe und wartete. Die Tür schwang so automatisch auf wie die Toreinfahrt. Hightech und Nostalgie. Einfallsreich war er jedenfalls, der Herr Graf.

Eigentlich hatte er einen Butler oder zumindest einen persönlichen Sekretär oder eine Haushälterin erwartet. Aber da sich ihm niemand in den Weg stellte, trat er ein.

Vor ihm erstreckte sich eine lichtdurchflutete Halle mit weinrotem Marmorfußboden. Kleine, antik anmutende Statuen standen auf weißen Sockeln, Ledersessel waren zu Sitzgruppen zusammengestellt und das Ganze erinnerte ein bisschen an das Foyer eines Hotels der gehobenen Klasse. Eine breite Holztreppe führte zum oberen Stockwerk. Am Fuße der Treppe stand in hellgrüner Trachtenjacke und weißer Hose der Hausherr. Freiherr Graf Götz von Wiltberg.

Sein Haar war schlohweiß und streng nach hinten gekämmt. Seine Miene steinern. Er trug keine Krawatte, sondern ein dunkles seidenes Tuch in einer ähnlichen Farbe wie der des Marmorfußbodens. Ein großer Siegelring beschwerte seine rechte Hand, die auf dem Geländer ruhte. Nach einem kurzen, intensiven Mustern seines Gastes hob der Graf die Hand und signalisierte Winterstein, ihm zu folgen. Ohne ein Wort der Begrüßung drehte er sich um und stieg die Stufen nach oben. Winterstein ging hinterher. Die Treppe mündete in einem Flur, der links und rechts von mehreren Zimmern flankiert war. Ein dicker Läufer dämpfte die Schritte. An den Wänden hingen Ölgemälde von Landschaften. Auf einem der Bilder erkannte Winterstein das Matterhorn in den Alpen, auf einem anderen die Externsteine bei Detmold und auf einem Dritten die Bastei in der Sächsischen Schweiz. Zwischen den Bildern hingen kandelaberartige Leuchter aus hoch poliertem Messing.

Freiherr von Wiltberg öffnete eine Tür.

„Kommen Sie herein, mein Arbeitszimmer sollte Ihren Zwecken genügen.“

Das Arbeitszimmer war, im Gegensatz zur Halle, ein eher nüchterner Raum, wenngleich sehr geräumig. Ein lederner, bequemer Schreibtischstuhl war unter eine große, schwere Glasplatte geschoben, die Teil des Schreibtisches war. Auf der Glasplatte türmten sich neben dem 21 Zoll Flachbildmonitor mehrere Stapel Papiere.

Im Raum gab es verschieden große Regale gefüllt mit Aktenordnern, und vor dem breiten Fenster befand sich ein Tisch mit einer Couch und mehreren Sesseln, flankiert von riesigen Grünpflanzen. An den Wänden hing nur ein einziges Bild: eine große Karte von der Antarktis.

Freiherr Graf von Wiltberg wies Winterstein an in einem Sessel Platz zu nehmen und setzte sich ihm gegenüber.

„Nun, Sie wünschen ein Interview über mein finanzielles Engagement in der hiesigen Jugendarbeit?“

„Ja.“

Winterstein öffnete seine neue Lieblingstasche und fingerte das Diktiergerät und den Schreibblock heraus. „Sie gestatten?“

Freiherr Graf von Wiltberg nickte. Winterstein stellte das Diktiergerät auf die Glasplatte und schaltete es ein. Sein Blick ruhte kurz auf der Karte der Antarktis.

„Also“, sagte von Wiltberg, „fragen Sie!“

Daniel hüstelte und sah von Wiltberg in die Augen. „Bevor wir das Interview beginnen, wollte ich noch Ihre Meinung zu den bedauerlichen Ereignissen in der Ruine von Gerswalde hören.“

Der Graf hob eine Augenbraue. Abermaliges Nicken. „Meinetwegen.“

„Der Tod einer Achtzehnjährigen.“

„Siebzehneinhalb. Außerdem…“

Winterstein machte sich rasch eine Notiz. „Der Tod einer Siebzehneinhalbjährigen. Kannten Sie das Mädchen?“

„Nein, so würde ich es nicht ausdrücken. Wenn ich mich recht entsinne, befand sie sich letztes Jahr unter den Gästen meines alljährlich stattfindenden Sommerfestes. Immer ganz in Schwarz gekleidet, das Mädchen. Möglicherweise bin ich ihr auch ab und an im Supermarkt begegnet. Diese Welt hier ist recht überschaubar.“

„Sie gehen im Supermarkt einkaufen?“

Der Graf antwortete nicht, sondern hob nun beide Augenbrauen, und Winterstein wechselte schnell das Thema.

„Diese Sommerfeste sind ja eine Art Wohltätigkeitsveranstaltung, von deren Erlösen Sie kleinere und mittlere Unternehmen und soziale Projekte in der Region fördern.“

„Richtig. Das diesjährige Fest war das Achte dieser Art. Mittlerweile kommen die Leute aus Berlin, Hamburg und München hierher. Neulich hat der RBB darüber berichtet. Ich denke, wir haben damit schon eine ganze Menge positiver Impulse setzen können.“

„Die Bevölkerung hier liegt Ihnen bestimmt zu Füßen?“

„Ich leiste nur meinen bescheidenen Anteil zur Stärkung einer bezaubernden Region. Nicht umsonst nennt man die Uckermark die brandenburgische Toscana. Ich hoffe, Sie hatten Gelegenheit sich auf der Fahrt hierher ein wenig umzusehen.“

Winterstein nickte.

„Dann werden Sie mir sicherlich zustimmen.“

„Ja, ausgesprochen beschaulich, diese Landschaft. Trotzdem ziehen viele Menschen weg. Besonders die jungen Leute.“

„Leider. Außer einigen wenigen Jobs in der Landwirtschaft gibt es hier nicht allzu viele Arbeitsmöglichkeiten. Und seit die EU sich in Richtung Osten erweitert hat, wird es in dieser Branche auch immer schwieriger. Mein Engagement zielt darauf ab, die Leute dazu zu bewegen, hier zu bleiben. Bedauerlicherweise muss man allerdings auch eingestehen, dass es hier nicht gerade von Visionären wimmelt. Leider. Die Uckermärker waren diesbezüglich schon immer… sagen wir mal ausgesprochen bodenständig.“ Graf von Wiltberg lächelte nachsichtig.

„Immerhin stammt die Bundeskanzlerin aus Templin.“

Der Graf lächelte ein zweites Mal nachsichtig.

„Was ist mit dem neuen Industriezweig der erneuerbaren Energien? Wäre dies nicht eine große Chance, gerade für eine Region wie diese? In Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt ist man diesbezüglich wesentlich innovativer.“

„Hören Sie, Herr Winterstein, sollte hier auch nur ein Windrad die Landschaft verschandeln, werde ich es persönlich sprengen. Dieser Teil der Uckermark ist quasi ein einziges Naturschutzgebiet.“

Daniel Winterstein beließ es dabei und sagte stattdessen: „Ich würde gern noch einmal auf das tote Mädchen zurückkommen. Die Kripo tappt da wohl noch ziemlich im Dunklen. Was denken Sie darüber? Glauben Sie, dass es Mord war?“

„Schlimm, schlimm. Erst diese unselige Geschichte in Potzlow und jetzt das. Es ist eine Katastrophe. Eine ganze Region in Verruf. Und dieser plötzliche Medienrummel. Im Grunde wurde das alles doch extrem hochgepuscht. Was sollen diese Leute denn machen? Die meisten Menschen hier sind einfache Menschen. Heimatverbundene Kleinbauern, die ein bescheidenes Leben führen. Niemand von ihnen ist es gewohnt, plötzlich ein Mikrofon unter die Nase gehalten zu bekommen, ganz zu schweigen, in eine Kamera zu blicken. Das sind Menschen, die jeden Morgen ihre Hühner füttern und sich über die Kraniche freuen, die im Frühjahr kommen und im Herbst wieder ziehen und vielleicht über den einen oder anderen Touristen, der sich hierher verirrt.“ Freiherr Graf von Wiltberg räusperte sich.

„Und dann dieses Gerede von einem möglichen zweiten Mord. Ich fürchte, da hat die Presse ein gefundenes Fressen. Warten Sie doch erst einmal die Ermittlungen ab. Dieses Mädchen galt bei den meisten Leuten hier als exzentrisch. Sie war nachweislich mehrmals in der Psychiatrie. Wenn Sie Ihre Hausaufgaben gemacht haben, müssten Sie wissen, dass das Mädchen zweimal zwangseingewiesen wurde, per richterlichen Beschluss. Akute Suizidalität. Es geht mich zwar nichts an, aber wenn Sie meine Meinung hören wollen, hat sie möglicherweise ihren Freitod ein bisschen inszeniert. Solche bedauerlichen Dinge kommen vor.“

„Schließen Sie die Möglichkeit aus, dass bei dem Tod des Mädchens irgendwelche rechte Gruppierungen ihre Finger im Spiel hatten? Wurde sie vielleicht bedroht? Immerhin wurden die beiden Täter, die Marinus in Potzlow auf so brutale Weise ermordeten, der rechten Szene zuordnen.“

„Rechte Gruppierungen? Wie meinen Sie das? Hören sie mir überhaupt zu? Das bedauerliche Ereignis in Potzlow hat hiermit absolut nichts gemein.“

„Sagt Ihnen der Begriff Esoterischer Hitlerismus etwas? Gibt es nicht gerade in dieser Gegend einige Anhänger dieser verfassungsfeindlichen Bewegung?“

„Wie bitte?“ Graf von Wiltberg machte seiner Entrüstung Luft, indem er böse mit den Augen funkelte und ruckartig die Beine übereinander warf. „Ich denke, da geht ein bisschen die Fantasie mit Ihnen durch, junger Mann.“

Winterstein warf einen schnellen Blick auf die Uhr und wusste, dass die Hälfte seiner Zeit bereits verstrichen war. Er musste zur Sache kommen, soviel stand fest.

„Nun, diese Bewegung glaubt an den Fortbestand des Dritten Reiches und sieht in Hitler ihren Messias.“ Daniel Winterstein hielt kurz inne und musterte den Grafen. Keine Reaktion. „Meines Wissens gibt es auch einige Leute hier in Gerswalde, die sich Reichsdeutsche nennen. Leute, die der bundesdeutschen Gerichtsbarkeit ihre Legitimation absprechen, weil es ihrer Meinung nach nie eine vollständige deutsche Kapitulation gegeben hat und die Bundesrepublik Deutschland seit der Wiedervereinigung aufgehört hat zu existieren. Sie berufen sich dabei auf den Artikel 146 des Grundgesetzes. Auch der Holocaust wird von diesen Leuten geleugnet.“

Graf von Wiltberg zuckte mit keiner Wimper, sondern fixierte Winterstein verächtlich.

„Neuschwabenland? Schon mal was davon gehört?“ Winterstein wies mit dem Kopf auf die große Karte der Antarktis.

„Ah, darauf wollen Sie also hinaus.“

Eine feindselige Stimmung lag plötzlich in der Luft. Aber Winterstein ahnte, dass er jetzt nicht zögern durfte.

„Ich war neulich Gast eines äußerst seltsamen Treffens. Und bei diesem Treffen fiel Ihr Name.“

„Neuschwabenland ist ein Mythos. Ebenso wie es den Mythos von Hyperborea gibt. Davon wird schon in der griechischen Mythologie berichtet. Sie können gerne bei Wikipedia nachschlagen. Ich interessiere mich gelegentlich für obskure Ideen. Eine Art Hobby. Welchen Hobbys gehen Sie in Ihrer Freizeit nach, Herr Winterstein?“

„Ich spiele Squash.“

„Oh, wie interessant.“

„Finden Sie die Ideologie, die dahinter steckt, nicht ein bisschen gefährlich, Herr Graf?“

„Als Sie mich um ein Interview baten, sagten Sie, es ginge um die Jugendprojekte, die ich in dieser Region finanziell unterstütze“, antwortete Freiherr Graf von Wiltberg frostig. „Sie haben mich nicht nur schamlos getäuscht, indem Sie meine Gutmütigkeit ausnutzten, um meine Meinung zu einem unaufgeklärten Kriminalfall zu hören. Das konnte ich noch akzeptieren, weil mich das Schicksal dieses Mädchens berührt. Mittlerweile strapazieren Sie meine Geduld allerdings ungebührlich. Sollten Sie irgendwelchen Hirngespinsten nachhängen, bin ich ganz gewiss nicht der richtige Ansprechpartner. Also stellen Sie jetzt gefälligst Ihre Fragen zu den Jugendprojekten!“

„Die brandenburgische NPD zeigt sich hocherfreut über diese Projekte. Sie lobte Ihre vernunftgezeichnete Weitsicht, wie sich ihr Vorsitzender ausdrückte. Wieso?“

„Warum fragen Sie nicht den Bürgermeister von Gerswalde. Der ist, glaube ich, in der SPD. Und jetzt verlassen Sie bitte mein Haus!“

„Sie nennen diese Jugendarbeit Redemokratisierung, Herr Graf. Ich nenne es Rekrutierung. Ihre Jugendlichen werden im Naturschutzgebiet der Uckermark geschliffen. Es gibt Fotos.“

Die gusseisernen Flügel des Tores öffneten sich automatisch und Winterstein gab Gas. Die Lindenallee dämpfte das Licht, aber es war wunderbar. Winterstein betastete sein Diktiergerät. Das Interview war im Grunde unbrauchbar. Graf von Wiltberg würde es niemals autorisieren. Egal. Den Artikel konnte er trotzdem schreiben. Und viel wichtiger war etwas anderes. Er hatte einen neuen Anhaltspunkt für seine Recherchen: Hyperborea.

Ob zufällig oder wegen seiner hartnäckigen Fragerei, Freiherr Graf von Wiltberg hatte ihm einen Hinweis geliefert. Was hatte es mit diesem Hyperborea auf sich?

In der rechten Szene wurde es zunehmend bedeutender, nicht nur rassistische, fremdenfeindliche oder sonst welche Parolen zu brüllen, sondern man war bemüht, sich eine gemeinsame Identität zu geben. Eine Identität, die nicht nur in der Gesinnung begründet lag, sondern in einer historisch verbrieften Mission. Sowie er zurück war, nahm sich Daniel vor, würde er sich sofort an die Arbeit machen.

Kapitel 3

„Du Sackwok!“, kicherte Herr Urban.

„Du Sojafurz!“, johlte Herr Blumentritt und schlug mit beiden Händen auf seine dicken, kurzen Oberschenkel.

„Du Matratze!“

„Du Nudelhals!“

Herr Urban und Herr Blumentritt wieherten im Chor. Dann stand Herr Urban auf, strich sich über den fast kahlen Schädel und schaute zum Fenster hinaus.

„Du Eckfahne!“

„Du Schiedsrichter!“, konterte Herr Blumentritt und das Gelächter begann von vorn.

Unten fuhr ein Wagen vor. Der Wagen hielt vor dem Eingang des Heims und eine Tür wurde geöffnet.

„Ah, der Herr Benjamin“, sagte Herr Urban und pochte mit dem Zeigefinger auf die Fensterscheibe, um sich bemerkbar zu machen. Keine Reaktion. Stattdessen hörte er hinter sich: „Du Tornetz.“

Werner Blumentritt, der älteste Mann mit Down-Syndrom im gesamten Landkreis, rutschte von seinem Stuhl, blinzelte mit den Augen, (eine Folge seines Grauen Stars) und schlurfte in Richtung seines Zimmers.

„Ah, der Herr Benjamin“, wiederholte Herr Urban. „Sie sind ein rechter Lümich, Sie!“, sagte er und machte eine Geste, als würde er jemandem eine Verwarnung aussprechen. Dann kicherte er laut und winkte in Richtung des jungen Mannes, der gerade dem Auto entstieg. Normalerweise grüßte der Herr Benjamin immer zurück, wenn er zum Dienst kam. Mal winkte er, mal lachte er oder rief irgendetwas nach oben. Nichts passierte. Und Herrn Urbans Winken konnte er nicht sehen, weil er stur in Richtung Eingangstür starrte.

Dennoch drehte Herr Urban gut gelaunt seinen massigen Körper vom Fenster weg und öffnete die Tür zu seinem kleinen Zimmer.

„Du Suppensepp!“, sagte er irgendwohin, aber Herr Blumentritt, der sofort reagiert hätte, war inzwischen außer Hörweite.

Benjamin Krause war sauer. Stinksauer. Er nahm die Stufen zur Eingangstür mit wenigen Sprüngen, riss die Tür auf und stürmte die Treppe hoch in Richtung Dienstzimmer, ein Blatt Papier vor sich her wedelnd.

Neben dem Eingang hockte Ralf vor dem Hauskater: „Na, Felix. Wie war Ihr Tag?“

Es war lächerlich. Selbst die Bullen in der Mastbullenanlage, bei denen die Jungs tagsüber schufteten, wurden von den Behinderten gesiezt. Ein Ärgernis, das sich Benjamin schon seit Langem vorgenommen hatte, anzusprechen.

Im Dienstzimmer saß Corinna Baumgart, die Teamleiterin, und überprüfte ihre Fingernägel. Die anderen Kollegen waren irgendwo beschäftigt. Umso besser!

„Was soll der Scheiß?“, fuhr Benjamin sie an und Corinna erschrocken herum. „Ich hatte mir für das nächste Wochenende ein frei eingetragen und jetzt das hier.“ Er warf ihr den Dienstplan vor die Nase und schniefte. Corinna zupfte irgendwo herum und mimte Trotz. Beide bedachten sich mit bösen Blicken. Dass sie sich nicht riechen konnten, wusste jeder.

„Herr Jungmann hat den Dienstplan geändert. Nicht ich! Lisa ist krank geworden. Du musst einspringen.“

„Wieso ich?“

Schulterzucken als Antwort.

„Warum pfuscht Jungmann ständig in unseren Angelegenheiten herum? Ich dachte, das wäre deine Aufgabe.“

Erst seit ein paar Wochen war Corinna zur Teamleiterin aufgestiegen. Ein Ergebnis der Umstrukturierung des Hauses. Jetzt gab es zwei Gruppen mit zwei Teamleiterinnen. Zwei Frauen! Etwas anderes hatte Benjamin nicht erwartet. Er selbst war natürlich chancenlos geblieben, obwohl er sich ganz offiziell beworben hatte.

„Ich kann nächstes Wochenende nicht arbeiten!“

Corinna seufzte hörbar.

„Du kannst nie arbeiten, wenn wir dich hier brauchen.“

„Also, das ist jetzt aber wirklich Quatsch!“ Jede Diskussion mit Corinna Baumgart endete meistens in einem Wust gegenseitiger Beschimpfungen. Es war sinnlos.

„Ich kann nächstes Wochenende nicht. Ich... ich habe wichtige Termine.“

„Du hast wichtige Termine? Das ist ja das Allerneueste.“ Corinna tat alles, damit Benjamin sie hasste, und er bekam große Lust, ihr ein Auge auszustechen.

„Was ist mit dir? Warum arbeitest du nicht?"

Das war ein Fehler, dachte er, normalerweise konnte man Corinna leicht um den Finger wickeln. Eine eitle Schnepfe mit Hang zur Selbstaufopferung. Aber diesen Moment hatte er vergeigt. Jetzt half nur noch die Brechstange.

„Mich hat Herr Jungmann gar nicht gefragt“, antwortete Corinna, fast als wäre sie darüber gekränkt. Kein Wunder, dass Jungmann sie nie in sein Büro zitierte. Die würde ihm am Ende noch den Schreibtisch aufräumen. Leute wie sie waren eine Plage und jeder wusste, dass sie in ihrer Freizeit klöppelte.

„Okay. Hättest du denn unter Umständen Zeit?“

„Ich? Nein!“

„Komm, Corinna. Ich arbeite auch das Wochenende darauf für dich. Wenn du willst auch die beiden nächsten.“

„Du weißt, Benjamin, was Herr Jungmann über die Diensttauscherei denkt.“ Ja, natürlich Herr Jungmann. Das weiß ich doch, Herr Jungmann. Genau, das habe ich auch eben gedacht, Herr Jungmann. So lief das mit allem.

Benjamin verdrehte die Augen und äffte sie hinter ihrem Rücken nach. Corinna hatte sich über einen Fetzen Papier gebeugt und konnte ihn gerade nicht sehen.

„Was ist mit Thomas oder Anja? Ich bin doch nicht der Einzige hier!“

„Die fahren zusammen auf ein Open-Air.“ Benjamin wurde schmerzlich bewusst, auf welches Open-Air die beiden fuhren. Auf die Fusion. Er war letztes Jahr dort gewesen und hatte insgeheim gehofft, dass Anja in diesem Jahr mit ihm vielleicht dorthin fahren würde. Dummerweise war er nicht dazu gekommen, sie zu fragen.

„Ach, ja? Zusammen?“

Dem allgemeinen Tratsch im Haus schenkte Benjamin normalerweise keine Beachtung. Diese Information versetzte ihm einen kleinen Stich.

„Sind die jetzt´n Paar?“

Corinna drehte den Schreibtischstuhl in seine Richtung und lächelte spöttisch. „Möglich. Wieso?“

Der kleine Stich wurde größer. Tapfer ignorierte Benjamin die innere Temperaturerhöhung. Dieses Thema musste jetzt warten. „Ach, Scheiße. Ich kann wirklich nicht am Wochenende arbeiten!“

„Beschwer dich beim Chef!“

„Das werde ich, kannst dich drauf verlassen!“

Ums Verrecken hätte Benjamin Krause diese Ankündigung wahr gemacht. Jungmann war das allergrößte Übel und sein persönlicher Albtraum.

In dem Moment dröhnte die ihm verhasste Stimme ganz nah. „Herr Krause! Kommen Sie doch bitte nachher noch mal in mein Büro!“ Jungmanns roter Schopf erschien kurz in der Tür des Dienstzimmers und verschwand so schnell wie er gekommen war.

Es war immer dasselbe. Wenn man es wagte, Jungmann irgendwo im Haus mit einer Frage zu belästigen, hieß es: Kommen Sie doch bitte nachher in mein Büro! Wenn Jungmann etwas gefunden hatte, was seinen Unmut regte, hieß es: Kommen Sie doch bitte nachher in mein Büro.

Corinna warf schnippisch ihren Kopf zurück und schwieg.

Die Tür zu Jungmanns Büro war geschlossen, und Benjamin gezwungen, anzuklopfen. Ein unumstößliches Gesetz!

„Herein!“

Jungmann thronte hinter seinem Schreibtisch. Telefon, Faxgerät, Monitor, Drucker. Der einzige Computer in der gesamten Einrichtung befand sich in diesem Raum. Der Abstand zwischen dem Stuhl vor Jungmanns Schreibtisch und ihm selbst war so groß, dass man mit Speer oder Lanze bewaffnet hätte sein müssen, um an ihn heranzukommen. Spucken ginge vielleicht noch, aber dazu müsste man die Spucke von weit unten holen.

„Haben Sie sich schon einmal beobachtet, Herr Krause?“

Benjamins Hände badeten sogleich im Schweiß. „Wieso?“

„Weil Sie bei Ihrer Arbeit eine ähnliche Geschwindigkeit an den Tag legen wie unser Herr Blumentritt.“ Jungmann fand diese Bemerkung offenbar witzig. Seine magere Gestalt straffte sich, er grinste. Seine abstehenden Ohren bekamen Farbe.

„Ich...“

„Ich“, wiederholte Herr Jungmann gedehnt. „Genau das ist der springende Punkt. In meiner Einrichtung geht es nicht um Sie, sondern um die Menschen, die hier leben. Haben Sie sich darüber schon einmal Gedanken gemacht?“

Töten, dachte Benjamin, eines Tages knall ich diese selbstgefällige Drecksau ab. Töten oder spucken.

„Was habe ich denn getan?“

„Sie sollten besser fragen, was Sie nicht getan haben.“

Benjamins Unterlippe bebte. Gleich würde sich das Beben über seinen ganzen Körper fortpflanzen. Das spürte er. Er biss sich auf die Lippen und schwieg. Jungmann wartete nicht auf eine Antwort.

„Zum einen schulden Sie mir noch einen Entwicklungsbericht.“

„Der ist...“

„Zum anderen“, unterbrach ihn Jungmann, „was haben Sie gestern Abend die ganze Zeit im Gemeinschaftsraum gemacht? Ferngesehen?“

„Ich habe mit Stephan Grube über ein Problem in seiner Werkstatt gesprochen. Es gab dort eine Unstimmigkeit wegen...“

„Dafür gibt es den Besprechungsraum oder das Dienstzimmer...“ Benjamin nahm seinen ganzen Mut zusammen.

„Herr Jungmann, im Dienstzimmer arbeitete Frau Baumgart am Gruppenkonzept und den Besprechungsraum halte ich für diese Dinge ein bisschen übertrieben. Ich meine, das war doch nur ein Gespräch.“

„Ein Gespräch? Aha. Was glauben Sie, was man in einem Besprechungsraum sonst macht. Kreuzworträtsel lösen?“

„Ich…“

„Wissen Sie, wenn Sie eines Tages eine Einrichtung wie diese leiten, können Sie gern alles anders machen, aber solange ich hier die Leitung habe, halten Sie sich bitte an die Regeln. Einen guten Tag!“

Das Gespräch war beendet. Benjamin war nicht einmal dazu gekommen, Jungmann auf das nächste Wochenende anzusprechen.

Raus hier, dachte er. Nichts wie weg! Dann lasse ich mich halt krankschreiben.

Am Eingang hockte Ralf immer noch neben dem schnurrenden Kater und kraulte ihm den Bauch.

„Das gefällt Ihnen, Felix. Jaja, das gefällt Ihnen!“

In der ersten Etage saßen sich Herr Blumentritt und Herr Urban am großen Fenster gegenüber, von wo man gut den Hof einsehen konnte.

„Du Nulpe“, krächzte Herr Urban und betrachtete kurz sein Gesicht, das sich in der Fensterscheibe spiegelte.

„Du…Teelöffel.“Herr Blumentritt hielt sich einen grellroten Papierschnipsel dicht an die Augen. Seine Unterlippe war vorgewölbt und reichte fast bis zur Nasenspitze.

„Du Milchkanne!“

„Du Wischmopp!“ Beide brüllten vor lauter Spaß. Karl-Heinz kam auf sie zu getorkelt. Sein Körper wurde gelegentlich wegen seiner Zerebral-Parese geschüttelt. Von zerebralen Paresen hatte Herr Urban zwar keine Ahnung, dennoch war er voller Mitgefühl. Außerdem mochte er den Spastiker. Und wenn Karl-Heinz sprach und die Erzieher mal wieder Bahnhof verstanden, übersetzte er geduldig.

Winfried Urban – der Dolmetscher.

Herr Urban berührte mit der Stirn das kühle Glas der Fensterscheibe.

„Ah, der Herr Benjamin fährt wieder.“

Benjamin Krause spürte wie die Tatsache, vollkommen umsonst hierher gefahren zu sein, langsam in seinen Eingeweiden zu wüten begann.

Entsprechend geladen startete er seinen Wagen und ließ die Reifen beim Anfahren durchdrehen. Damit lieferte er Jungmann einen Grund, ihn zum nächsten Büromeeting zu rufen. Er hörte schon seine Stimme.

Kennen Sie eigentlich die Straßenverkehrsordnung auf diesem Gelände?

Scheiß drauf, dachte Benjamin und brauste Richtung Hirschfelde davon, ohne einen Blick auf das Zittauer Gebirge zu werfen, das sich gerade majestätisch im Sonnenlicht präsentierte.

Kapitel 4

Alles, was Karl bislang an Beute gemacht hatte, ließ sich an einer Hand abzählen. Einen Vertiko aus den Zwanzigern – reparaturbedürftig, einen schmiedeeisernen Garderobenständer – an manchen Stellen angerostet, zwei ganz brauchbare Stühle und einen Plattenspieler aus den Sechzigern – dessen Funktionstüchtigkeit noch überprüft werden musste. Karls weißer geschlossener Peugeot Boxer mit der Aufschrift Ramsch & Plunder, Berlin war fast leer.

Karl Munkelt seufzte, dann ließ er seinen Blick über den nächsten Sperrmüllhaufen wandern. Nichts, was in irgendeiner Weise sein Interesse weckte. Er ging zurück zu seinem Transporter und startete den Motor.

Es war kurz nach Sechs. In den meisten Häusern dieses Viertels wurde noch geträumt, vielleicht gevögelt oder geschnarcht. Für die Besitzer dieser Vorstadtidylle mit ihren Reihenhäuschen und den kleinen dazugehörigen Gärten begann der Tag in der Regel später. Dem Mittelstand vor den Toren Berlins ging es wirtschaftlich nicht übel. Größtenteils wohnten hier Besitzer kleiner Firmen, Ärzte, Apotheker oder Lehrer mit ihrem Anhang. Fast alle Häuser waren neu oder entsprechend aufgepeppt.

Karl Munkelt hatte sich einiges erhofft, als er seinen Lieferwagen hierher gelenkt hatte. Seit einer Stunde jedoch kurvte er von Enttäuschung zu Enttäuschung.

Offensichtlich verramschten die Leute hier die besseren Sachen lieber selbst. Alles, was sich auf den Häufchen stapelte, stammte von Quelle, Neckermann oder bestenfalls von IKEA. Altlasten vermutlich, bevor es wirtschaftlich bergauf gegangen war. Unbrauchbarer Müll.

Neuerdings fuhren die Polen schon nachts die Viertel nach einer Sperrmüllaktion ab und nahmen alles mit, was sich irgendwie zu ein paar Zlotys ummünzen ließ. Seine schärfsten Konkurrenten mittlerweile, dabei waren sie absolute Mülldilettanten, dachte er, versauten einem das ganze Geschäft. Und damit nicht genug. Neuerdings fluteten die Ukrainer herein und postierten sich sogar vor den Eingängen zur BSR – der Berliner Stadtreinigung.

Schwierige Zeiten.

Vielleicht sollte ich einfach nach Polen fahren, dachte Karl, wenn diese Heuschrecken hier über meine Ernte herfallen. Womöglich warteten im Nachbarland stapelweise Schätze darauf, von ihm ausgegraben zu werden. Aber in Polen gruben vermutlich die Russen oder die Ukrainer. Und das konnte durchaus gefährlich werden.

Ein paar Meter vor ihm türmte sich der nächste Berg. Karl stoppte, zog die Handbremse und kletterte aus dem Wagen.

In der Regel benötigte er wenige Sekunden, um so einen Haufen zu scannen und in brauchbar, vielleicht brauchbar oder unbrauchbar einzuteilen. Hier lohnte ein zweiter Blick, das sah er sofort.

Als Erstes förderte Karl ein altes Telefon mit Wählscheibe zutage, Baujahr 1940. Diese Dinger kamen wieder in Mode und zierten mittlerweile so manches Flur- oder Wohnzimmerschränkchen. Allein im letzten Monat hatte Karl fünf Stück davon verkauft. Der Gewinn betrug 125 Euro. Immerhin!

Karl stellte zufrieden fest, dass am Gerät sogar eins von den neuen Kabeln montiert war und die Wählscheibe problemlos funktionierte. Sein Blick setzte die Wanderung fort. Karl hatte das deutliche Gefühl, hier mehr zu finden.

Ein gutes Jahr war es her, als Karl den bislang besten Fund seiner Sperrmüll-Karriere gemacht hatte. So etwas wie einen Sechser im Lotto. Er kam sofort ins Schwärmen, wenn er nur daran dachte.

Fürstenberg an der Havel in Brandenburg. Es war, als würde das Ortsschild in Gedanken vor seinen Augen aufleuchten. Eine Sperrmüllaktion wie diese. Zuerst entdeckte er einen Kasten Silberbesteck, fein säuberlich geordnet in einem Bett aus roten Samt. Das Besteck war in einen derart perfekten Zustand, als hätte jemand noch einen Tag zuvor jeden Löffel einzeln poliert und damit eine Hühnersuppe gelöffelt. Sein Spürsinn war auf der Stelle in höchster Bereitschaft geschossen. Level 5, wie er es nannte, auf Karls persönlicher Aufmerksamkeitsskala.

Und was er dann aufgespürt hatte, passierte Leuten seines Schlages äußerst selten und den Polen hoffentlich niemals.

Das unscheinbare Schmuckstück erwies sich als eine josephinische Aufsatzkommode. Frühes 19. Jahrhundert. Die Kommode war kunstvoll aus Kirschbaum, Pflaume und Nussbaum gefertigt und hatte ihm satte 19.000 Euro eingebracht. Und von diesem Erlös zehrte er im Grunde noch immer.

Karl lenkte seufzend seine Aufmerksamkeit zurück auf den Haufen vor ihm. Außer dem Telefon lagen da in erster Linie Bretter. Ein zertrümmerter Kleiderschrank, zerlegte Regale aus Fichtenholz, lackierte Rundhölzer. Karl straffte die Schultern und kletterte über die Bretter zu einer Reihe übereinandergestapelter Lederkoffer. Zwei davon waren derart zerschlissen, dass Karl sie per Fußtritt beiseite beförderte. Bei dem Dritten war das anders.

Es war ein schwarzer Aktenkoffer von Delsey, ausgestattet mit einem Zahlenschloss.

Karl hob den Koffer in die Höhe und prüfte das Gewicht. Fest stand, er war nicht leer, dass belegte das verhaltene Klappern, als er ihn vorsichtig rüttelte. Bücher?

Nein, entschied Karl. Es klang eher nach Plastik. Vielleicht waren es Tupperdosen oder DVDs.

Die Rädchen des Zahlenschlosses standen alle auf „Null“. Karl zog an den beiden Messingverschlüssen. Sie waren verschlossen und Karls Neugier geweckt.

Dich krieg ich schon auf, dachte er und verstaute den Lederkoffer auf dem Beifahrersitz seines Transporters.

Als sich Karl erneut dem Sperrmüllhaufen näherte, zog unmittelbar vor ihm ein American Staffordshire Terrier seine Lefzen zurück. Er hatte keine Ahnung, woher der plötzlich gekommen war. Karl Munkelt warf einen entsetzten Blick auf das gewaltige Gebiss. Das Fell des Hundes war gesträubt und sein tiefes Knurren ganz bestimmt kein Willkommensgruß.

Karl blieb ruckartig stehen und sah sich Hilfe suchend nach einem möglichen Besitzer des Kampfhundes um.

Das Wellensittichgeplapper, was Karl zu hören meinte, bedeutete nicht wirklich Entspannung. Kein Spaziergänger. Kein Ruf, kein Pfiff.

Scheiße, durchfuhr es Karl. Seine Spraydose CS-Gigant – ein bewährtes Reizgas für solche Fälle – befand sich im Handschuhfach seines Transporters.

Erste Regel, dachte er, einem fremden Hund niemals unverschämt in die Augen sehen, sonst fühlt sich das Tier provoziert. Wahrscheinlich verteidigt die Töle nur sein Revier.

Aber wo beginnt und wo endet das? Das Knurren wurde deutlicher. Gefährlicher! Der Rüde machte einen Schritt auf Karl zu.

Sein Fell war weiß mit braunen Flecken – wie das bei einer Kuh, der Körper bullig und muskulös und der Kopf riesig. Der Schwanz des Staffords ragte wie ein Degen in die Höhe. Kein Wedeln, kein Anzeichen von Freude.

Karl schossen sofort Bilder von herausgerissenen Fleischstücken aus menschlichen Oberschenkeln und von verstümmelten Kindergesichtern in den Kopf.

Zweite Regel: Keine Angst zeigen. Hunde riechen das.

Super, dachte Karl. Wahrscheinlich würde mein Körpergeruch gerade sämtliche Hunde aus dem Lankwitzer Tierheim anlocken.

Sprich mit ihm, riet ihm eine innere Stimme. Karl Munkelt legte allen Mut in seine Stimme: „Na, du.“

Zwei Sekunden später hechtete er bäuchlings in den Lieferwagen und zerrte panisch und wild um sich strampelnd die Tür hinter sich zu. Gerade noch rechtzeitig ehe sich der Stafford in seiner Wade verbeißen konnte. Der Versuch, den Köter mit einem Fußtritt abzuwehren, endete damit, dass Karl nun neue Schuhe kaufen musste. Im Maul des Staffords steckte sein nagelneuer Enrico Coveri-Sportschuh.

Einen Moment erwog Karl dem Mistviech seinen Schuh mit dem CS-Gigant abzujagen. Aber dazu hätte er die Verfolgung aufnehmen müssen, denn der Kampfhund hatte sich mit seiner Beute davongestohlen.

Ungeachtet der vielen noch ungesehenen Sperrmüllhaufen, startete er den Wagen und lenkte ihn in Richtung Ortsausgang. Hier hatte er fürs Erste die Nase voll. Die Häuser im Rückspiegel strafte er mit Verachtung.

Karl warf einen kurzen Blick auf den Aktenkoffer neben ihm und steckte sich eine Zigarette zwischen die Zähne.

Erst jetzt bemerkte er, dass seine Hände zitterten und der Schreck gerade die Knie weich kochte. Sein Fuß mit der löchrigen Socke trat die Kupplung, und Karl legte den nächsthöheren Gang ein.

Noch mal Glück gehabt, dachte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Aber das war streng genommen, ein Irrtum.

Kapitel 5

Benjamin Krause betrachtete die gähnende Leere seines Kleiderschranks und schnappte nach Luft. In seinem Kopf wirbelten Sätze wie: Das kann nicht sein! Oder: So was gibt es nicht! Irgendwer hatte sich nicht nur seiner sämtlichen Jeans bemächtigt, auch die T-Shirts, Pullover und Hemden fehlten. Alles – sah man einmal von der gefüllten Aldi-Tüte Schmutzwäsche ab.

Der Vollständigkeit halber sollte noch erwähnt werden, dass im Wohnzimmer ebenfalls einige Lücken ins Auge stachen. Dort fehlten der Fernseher, nebst Videorekorder und DVD-Player auch die komplette Pioneer Stereoanlage und PC und Monitor. Der oder die Diebe hatten ungefähr so alles mitgehen lassen, was sich ihrer Meinung nach irgendwie zu Geld machen ließ.

Nur das Bücherregal und eine wenig ansehnliche Couchgarnitur waren unberührt geblieben.

In Benjamins Hose vibrierte das Handy, dann spielte die Melodie von „Guten Abend, gute Nacht...“. Auf dem Display erschien der Name seines Freundes Bernd. Bernd Wohlfahrt – mit Bernd hatte Benjamin den Ausflug geplant, der nun an Corinnas Sturheit zu scheitern drohte. Aber Benjamin Krause hatte längst beschlossen, dass es wichtigere Dinge als einen Dienstplan gab.

Gastritis war ihm eingefallen. Ich werde an einer plötzlichen Gastritis leiden!

„Grüß dich, Bernd! Stell´ dir vor, bei mir wurde eingebrochen.“ Benjamin rutschte während er telefonierte mit dem Rücken an der Wand gelehnt Richtung Boden. Die eine Hand schirmte die Stirn ab, die andere presste das Handy ans Ohr.

„Wie, eingebrochen?“, fragte Bernd verwundert, als hätte er das erste Mal in seinem Leben das Wort Einbruch gehört. Ein bisschen begriffsstutzig war Bernd schon gewesen, bevor er angefangen hatte methodisch zu kiffen. Seitdem schienen allerdings die Worte erst per E-Mail über einen überlasteten Server in das Verarbeitungszentrum seines Gehirns zu gelangen. Benjamin beschränkte sich auf überschaubare Botschaften.

„Klamotten, Fernseher, PC, alle CDs. Weg!“

Bernd brauchte ein bisschen. „Auch die mitgeschnittenen von der Fusion?“

„Auch die.“

„Scheiße!“

„Im wahrsten Sinne des Wortes... Hör mal, ich muss jetzt erst einmal alles durchchecken und sehen, ob unsere Probeaufnahmen ebenfalls geklaut worden sind. Möglicherweise müssen wir unsere Reise sogar verschieben. Du verstehst?“

„Die sind doch auf DVD. Und waren versteckt. Oder?“

„Ja, Bernd. Aber alle meine Schränke wurden durchwühlt. Vielleicht haben die einfach alles mitgehen lassen.“

„Verdammt!“

Seine Hand an der Stirn fasste fester zu. Die andere Hand am Handy erschlaffte. Benjamins Blick schweifte über das hinterlassene Chaos im Zimmer. Die Türen seines Sekretärs standen offen. Im Moment war es für ihn schwer zu beurteilen, ob dort etwas fehlte. Er wusste, dass seine wichtigsten Papiere im obersten Schubfach lagerten. Die DVD von den Probeaufnahmen hatte er sorgsam in einem Schuhkarton versteckt, in dem sich neben alten Liebesbriefen ein Pornoheft und ein Nacktkartenspiel befanden. Erst schoss ihm die Röte ins Gesicht, dann keimte ein bisschen Hoffnung. Er entdeckte den Schuhkarton. Der Schuhkarton war geschlossen.

Bernd schien die ganze Zeit über etwas zu grübeln. „Und wenn die Bullen...? Ich meine, wenn die Bullen da rumgewühlt haben?“

„Bernd! Was für ein Unsinn.“

„Ach ja?“

„Das ist Quatsch!“

Im Zimmer war es für Benjamins Geschmack gerade ein bisschen zu still. Gern hätte er jetzt einen seiner neuesten gebrannten Techno-Beats dröhnen lassen, nur fehlte dazu beides: Die CDs und der Player.

„Diese Mistkerle!“, entfuhr es ihm und Bernd schien am anderen Ende zu nicken.

Kapitel 6

Karl Munkelt hatte sich den Umweg zu seinem Lager gespart und war direkt zu seinem kleinen Laden in die Schönhauser Allee gefahren. Seine Wohnung befand sich zwei Stockwerke über den Verkaufsräumen und das war gleichermaßen Fluch und Segen.

Die Bilanz seines Ausfluges in dieser Herrgottsfrühe waren ein Telefon, ein Vertiko, ein Garderobenständer, zwei Stühle, ein Plattenspieler, ein Koffer unbekannten Inhalts, ein verloren gegangener nagelneuer Turnschuh und der grässliche Augenblick gespürter Todesangst.

Genug für einen Tag, dachte Karl, als er seine Wohnung auf Socken betrat. Unterm Arm trug er den Aktenkoffer. Den Rest, inklusive seines jetzt nutzlos gewordenen Turnschuhs, hatte er im Lieferwagen zurückgelassen.

Als Erstes brauchte er einen Kaffee und den möglichst stark. Karl bestückte die Kaffeemaschine und schaltete sie ein. Nebenher schob er eine Scheibe Körnertoastbrot in den Toaster und stellte Margarine und Nutella bereit. Sein zweites Frühstück. Inzwischen war es kurz nach Acht. Um Neun würde er runter in seinen Laden gehen müssen, spätestens halb Zehn. Um Zehn begann seine Geschäftszeit.

Der Kaffee war durchgelaufen, das Toastbrot goldbraun. Karl bestrich die Scheibe mit einer ein Zentimeter dicken Nutellaschicht und überlegte beim Hineinbeißen, ob er sich gleich des Koffers annehmen sollte oder erst am Abend.

Angesichts des morgendlichen Desasters brauchte er dringend ein Erfolgserlebnis, soviel stand fest. Um sich mit diesem grässlichen Morgen zu versöhnen, wäre es vielleicht hilfreich, dass der Inhalt dieses Koffers ein Erfolgserlebnis enthielt. Oder dass es ihm wenigstens gelang, ihn geschickt zu öffnen.

Karl nahm einen kräftigen Schluck Kaffee, schlang den restlichen Toast hinunter und legte den schwarzen Delsey auf den großen Esstisch, der vor dem Fenster stand.

Der lange, gelb-stählerne Wurm der U2 rauschte auf Augenhöhe hinter dem Fenster in Richtung Eberswalder Straße vorbei. Ein Schwarm Tauben machte sich auf den gleichen Weg.

Karl untersuchte die Kofferschlösser. Zunächst probierte er einfache Zahlenkombinationen. 1,2,3,4; 4,3,2,1; 2,3,4,5; 5,4,3,2, usw. Menschen waren in solchen Dingen meist fahrlässig einfallslos.

Fehlanzeige. Aber nicht unlösbar. Dann versuchte er es mit Daten. 01.01., 21.12.; 02.02.,30.11… etc. Der Koffer blieb verschlossen. Karl warf einen kritischen Blick auf den Koffer und versuchte andere Kombinationen. Vergeblich. Die Möglichkeit, seine Werkzeugtasche zu holen, blieb immer noch. Doch Karl entwickelte nun einen gewissen Ehrgeiz. Rätsel zu lösen, war eines seiner Hobbys. Es blieben ihm noch satte fünfzig Minuten Zeit, bevor er nach unten in den Laden musste.

Plötzlich hatte er eine bessere Idee. Karl ging zu seinem Küchenschrank und öffnete die oberste Schublade. Das, wonach er suchte, lag dort, wo er es vor ein paar Monaten achtlos abgelegt hatte: ein Stethoskop. Ein Fundstück wie die meisten Dinge in seiner Küche, abgesehen von dem Glaskeramik-Herd, den er nagelneu erworben hatte. Karl stopfte sich die beiden Ohrbügel des Stethoskops in die Ohren und legte die Membran des metallenen Schalltrichters ans Schloss des Koffers und drehte.

Drehen, lauschen, drehen. Drehen, lauschen, drehen. Klick, es war gar nicht so schwer. Er musste einfach nur die Ohren spitzen. Drehen, lauschen, drehen. Klick.

Nach fünf Minuten stand die Zahlenkombination für ihn fest. 1.2.1.2. Wie Karl vermutet hatte, waren die meisten Leute bei diesen Dingen fahrlässig einfallslos. Karl nahm die Stöpsel aus den Ohren und ließ die Schlösser klacken. Der Koffer ließ sich problemlos öffnen. Bingo!

Karl war nun derart im Entdeckungsfieber, dass er vor Aufregung blinzelte. Er öffnete so vorsichtig den Deckel des Delsey, als würden ihm gleich Fünfhundert-Euro Scheine entgegen purzeln, oder Diamanten… versteckt in Tupperdosen.

Doch statt in schallenden Jubel auszubrechen, brach ihm der kalte Schweiß aus. Sein erster Blick streifte einen Haufen Videokassetten. Was für eine Enttäuschung! Aber für dieses Gefühl blieb keine Zeit. Sein zweiter Blick blieb an einem Draht, einem Kurzzeitwecker und einem länglichen Stab hängen. Der Stab hatte verdammte Ähnlichkeit mit einer Stange Dynamit aus irgendeinem dämlichen Western.

Stab, Draht, Kurzzeitwecker…

Diese Stange war Dynamit und der Kurzzeitwecker würde genau eine Minute ticken und dann klingeln. Und wahrscheinlich samt Koffer und Küche explodieren.

Ein Schauder überlief ihn, weit schlimmer als der während des Kampfhundgeknurres am Morgen. Sein erster Impuls war, den Koffer aus dem Fenster zu werfen und schreiend das Weite zu suchen. Dem folgte Verantwortungsgefühl… und dann Panik.

Karls Augen weiteten sich und unter seinen Achseln wurde es feucht. Dann stürzte er zum Küchenschrank. Zum Glück brauchte er nicht lange zu wühlen. Die Kneifzange lag ganz oben. Inzwischen waren vielleicht zwanzig Sekunden vergangen. Zurück beim Koffer, hieß es jetzt eine Wahl treffen. Rot oder Blau? Jeder blöde James Bond Streifen bemühte wenigstens eine solche Szene. Rot oder Blau? In der Regel schafften es James oder jemand anderes in der letzten Sekunde. Nur, hier in der Schönhauser Allee wurde nicht gedreht! Es gab kein Set und keinen Catering-Wohnwagen, die einen Imbiss und heißen Tee anboten oder vielleicht Whiskey für den gestressten Regisseur. Rotes oder blaues Kabel – diese Entscheidung wurde jetzt zu seiner ganz persönlichen Hamlet-Frage. Sein oder nicht sein.

Rot, dachte Karl. Blau? Und schnitt mit zugekniffenen Augen beide Kabel gleichzeitig durch. Er hörte in Gedanken ausgerechnet eine Sektflasche knallen und dann das reale Geräusch eines Rettungswagens, der in Richtung Pankow eine Gasse auf der verstopften Schönhauser Allee einforderte. Nichts war passiert. Keine Explosion. Der Kurzzeitwecker war stehengeblieben.

Ebay, dachte Karl Munkelt vollkommen fertig. Verdammt, ich sollte in Zukunft besser bei Ebay stöbern.

Kapitel 7

Benjamin Krause hatte trotz anfänglichen Zögerns doch die Polizei gerufen und den Einbruch in seiner Wohnung zur Anzeige gebracht.

Nachdem Krüger die Beamten nach einigem Hin und Her davon überzeugt hatte, seine Wohnung in Augenschein zu nehmen, folgte eine ärgerliche Prozedur. Ein latexbehandschuhter Assistent fotografierte hier, pinselte dort ein wenig herum und rümpfte gelegentlich die Nase. Der untersuchende Kommissar stellte Fragen, betrachtete alle Zimmer, fingerte an einer Schublade herum, betastete die Fenster in Küche und Wohnzimmer, stellte abermals Fragen und machte sich Notizen. Zwischendurch wurde der eine oder andere Witz gerissen und diese oder jene Bemerkung über seine Wohnung gemacht. Ansonsten wirkten alle maßlos gelangweilt. Nach zwei Stunden war der Spuk vorüber. Zum Schluss erklärte der Kommissar, dass Krause sich am nächsten Tag noch einmal auf der Polizeidienstelle in Zittau einfinden müsste, um die Anzeige zu Protokoll zu geben und fügte dann achselzuckend hinzu, dass er persönlich nicht davon ausginge, dass die Täter jemals gefasst werden würden.

Als Benjamin Krause die Tür hinter den Beamten geschlossen hatte, verfluchte er sich dafür, niemals eine Hausratsversicherung abgeschlossen zu haben.

„Ich brauche Geld!“, sagte er verzweifelt zu der Stelle, wo gestern noch sein Fernseher gestanden hatte. Kraft dieser unumstößlichen Einsicht und einer plötzlichen Eingebung folgend, griff er in seine Hosentasche und zog sein Handy hervor. Er scrollte eine Weile im Adressbuch des Handys und fand schließlich die Nummer, nach der er gesucht hatte.

Wenn du mal Geld brauchst, hatte ihm vor nicht allzu langer Zeit ein Bekannter seines Freundes Bernd geraten, dann wähle diese Nummer. Leichter Job, gut bezahlt. Damals hatte Krause lachend die Telefonnummer in sein Handy getippt, jetzt hätte er den Bekannten von Bernd, dessen Namen er vergessen hatte, knutschen können.

Benjamin starrte die Zahlen an, die seine Probleme lösen sollten, holte mehrmals tief Luft und drückte die Wähltaste. Nach dem ersten Läuten sprang eine Mailbox an.

Herzlich willkommen bei O2, Sie sind mit der Mailbox der Nummer… Benjamin legte auf.

Verdammt, dachte er. Bullshit.

Dann torkelte er durch sein geplündertes Wohnzimmer mit nun kleinen verstreuten Talkumflecken und ging wieder und wieder die Sätze durch, die er auf der fremden Mailbox hinterlassen wollte. Er verwarf die Idee, kratzte sich am Kopf und wälzte im nächsten Moment jeden möglichen Satz abermals in seinem Gehirn hin und her.

Sein Handy vibrierte. Die Nummer des Anrufers war unterdrückt.

„Ja? Hier ist Benjamin Krause.“

„Sie haben mich gerade versucht anzurufen. Haben Sie Interesse?“

„Ich? Wofür? Äh, ich meine natürlich. Ja.“

„Gut.“

Dann nannte der Anrufer Tag, Zeit, Ort und Honorar. „Haben Sie alles verstanden?“

Statt einer Antwort brachte Benjamin nur ein Glucksen zustande.

„Hallo! Haben Sie alles verstanden?

„Natürlich.“

Der unbekannte Anrufer legte auf, und Benjamin jubelte. Fünftausend Euro, wiederholte er immer wieder, als hielte er das Geld bereits in Händen. Fünftausend Euro. Das ist ja Wahnsinn. Das ist großartig! Und dann ging er sofort all die Dinge in Gedanken durch, die er sich von dem Geld kaufen würde.

Nichts davon sollte er jemals in seinen Händen halten. Aber von dieser Erkenntnis war Benjamin Krause natürlich weit entfernt. Stattdessen begutachtete er den Zettel mit den Notizen vor ihm.

25. Juni, 16.00 Uhr, Milmersdorf in Brandenburg, Ortseingangsschild. Das war in drei Tagen.

Corinna und ihr absurder Dienstplan wurden ebenso aus seinem geistigen Terminplaner gestrichen, wie der geplante Ausflug mit seinem Freund Bernd nach Zgorzelec, der Schwesternstadt von Görlitz am anderen Ufer der Neiße.

Die Probeaufnahmen, die er und sein Freund Bernd einem sehr speziellen Publikum präsentieren wollten, waren, Gott sei Dank, nicht gestohlen worden. Erst als Benjamin die DVD gefunden und an sich genommen hatte, hatte er den Einbruch bei der Polizei angezeigt.

Aber dieses Projekt musste jetzt warten.

Fünftausend Euro, dachte er noch einmal. Wow, wie leicht es doch manchmal war, in dieser verkackten Welt die schnelle Kohle zu machen, vorausgesetzt man kannte die richtigen Leute. Wenn er das Ganze dreimal durchzog, war seine Wohnung danach sozusagen komplett neu eingerichtet und mehr.

Viel früher hätte ich das machen sollen, überlegte Benjamin auf dem Weg in die Küche, wo er sich ein Glas Apfelschorle mixen wollte. Benjamin Krause prüfte vor dem Kühlschrank in Gedanken die ein, zwei moralischen Bedenken, die ihn bislang von jener Tour abgehalten hatten, und der eine Gedanke boxte den anderen erfolgreich nieder. Dann goss er in den Apfelsaft ein wenig Mineralwasser von Evian und nahm einen kräftigen Schluck.

Benjamin fühlte sich gut. Gut und frei. Das Einzige was ihm noch fehlte, war ein Krankenschein, um seinen Auftrag erledigen zu können. Sein Hausarzt, Doktor Garschke, hatte heute noch zwei Stunden Sprechzeit, wie ihm ein schneller Blick auf die Visitenkarte an der Pinnwand neben dem Kühlschrank verriet. Keine Gastritis, entschied Benjamin Krause, als er die Möglichkeiten einer längerfristigen Krankschreibung erwog.

Ich bin traumatisiert, dachte er. Das ist es. Ich bin traumatisiert wegen des Einbruchs. Ein Schock. Natürlich. Schlafstörung und ein permanentes Ziehen in der Magengegend. Plötzliches Herzrasen. Jawohl.

Vier Wochen müssten reichen. Vorerst. Und danach wäre er ausreichend gerüstet, endlich das Herz von Anja zu erobern. Die Fusion mit Thomas würde sie schnell vergessen. Er hatte viel mehr zu bieten. Und wenn sich die Sache mit den Probeaufnahmen auch noch zu Geld machen ließe, könnte er bald seinen Job in der Behinderteneinrichtung aufgeben. Er würde das Büro von Jungmann betreten, und ihm genussvoll die Kündigung vor die Füße werfen. Was für eine Genugtuung.

Benjamin blickte aus dem Küchenfenster, das Glas Apfelschorle in der Hand. Von seiner Wohnung aus hatte er einen unverstellten Blick auf die bewaldeten Hügel des Zittauer Gebirges. So sollte es werden. Mit Anja an seiner Seite würden er etwas schaffen, was Neidern wie Jungmann oder Corinna den Sabber tropfen ließen. Schön würde es werden, in Benjamin Krauses Wunschwelt, wunderbar.

Nichts dergleichen würde geschehen. Längst bewegte er sich in Richtung mongolischer Steppe. Und mit ihm, obwohl sie vollkommen anderes im Sinn hatten, Herr Urban und Herr Blumentritt.

Kapitel 8

Es war ein Ärgernis, dieser verstopfte Ausguss. Ärgerlich, vulgär, inakzeptabel. Freiherr Graf von Wiltberg war gezwungen, sofort zu reagieren. Ein wichtiger Kurier war verhindert, weil seine Toilette verstopft war. Und damit seine Existenzberechtigung. Das jedenfalls sagte sich der Graf und dachte dabei eigentlich an diesen jüdischen Journalisten.

Winterstein, natürlich, allein sein Name verriet seine wahre Gesinnung. Sie fanden sich immer aufs Neue, die verblendeten Jünger des Judengottes Jahwe.

Mit ausladenden Schritten durchflog Graf von Wiltberg sein Arbeitszimmer und warf einen beiläufigen Blick auf das Zitronenbäumchen.

Immer, wenn sich der Graf auf einer solchen Wanderung befand, war etwas schiefgelaufen, hatte sich etwas seiner Kontrolle entzogen. Das kam nicht oft vor, aber wenn es passierte, hatte Graf von Wiltberg das Gefühl, von einer nahenden Naturkatastrophe bedroht zu werden. Und dann hieß es: wandern, sortieren, neu ordnen, alle Sinne schärfen und notfalls jäten.

Ein schmerzlicher Prozess, wie er es jedes Mal empfand, aber letztlich klug, vorausschauend und effektiv.

Freiherr Graf von Wiltberg hatte ein Faible für jegliche Form der Ordnung. Dieser Schöpfergott musste ein Gott der Ordnung sein. Alles passte zueinander. Es gab feste Strukturen, klare überschaubare Positionen, exakt zugeschriebene Rollen, die Halt, Orientierung und damit Überleben und Wachstum sicherten. Alles in dieser Welt der Ordnung hatte seinen Platz, seine Aufgabe und wenn man so wollte – sein Schicksal. Das galt ebenso für die Fauna, Flora, einen Grippevirus oder für die Spezies Mensch.

Ah, der Mensch.

Graf von Wiltberg beschleunigte seine Schritte und sah hinter seiner Gedankenwelt nicht einmal mehr seine botanischen Lieblinge. Leicht waren die meisten Menschen zu bezähmen, wenn man sie nur ausreichend fütterte, und leicht zu manipulieren, wenn man nur genügend Geduld aufbrachte. Und dabei so überflüssig, jedenfalls viele von ihnen. Wie tief gefallen sie doch war, die Spezies Mensch. Verdorben im materialistischen Kollektivismus, gefangen in niederen Instinkten und frei von der Sehnsucht im Streben nach Höheren. Immer weiter entfernte der Mensch sich von der inneren Welt, mutierte vom Gottmenschen zum Tiermenschen mit all seinen Verfehlungen und Vermischungen. Aber eines Tages würden diejenigen zurückkehren, diejenigen, die es noch in sich spürten, die Erinnerung an das verloren gegangene göttliche Leben, wenn die Erde erst einmal umgestaltet war.

Denn es gab nur eine Wahrheit. Und die lautete: Wotan-Luzifer – der große Schöpfergott und Ordner dieser Welt.

Inzwischen war Graf von Wiltberg auf seiner Wanderung in der unteren Etage angekommen, im Foyer.

Der kühle Marmorboden tat gut, denn der Graf war barfuß durchs Haus gewandert. Demütig, wie er es bezeichnen würde. Ganz im Sinne eines Pilgers, dem eine große Last auferlegt worden war. In diesem Fall: die Last, eine Entscheidung treffen zu müssen.

In diesem Moment klingelte das ganz spezielle Handy. Die Nummer dieses Handys besaßen nur diejenigen, die für den Grafen Aufträge erledigten oder Vertraute, die Anwärter für seine Aufträge anwarben. Angeworbene, die man leicht für kleinere Dienste einsetzen konnte. Unbekannte, die für den schnellen Euro keinerlei Risiken scheuten und einen ganz bestimmten, äußerst wichtigen Pulk von niederem Fußvolk bildeten, über die er jederzeit verfügen konnte.

Dieses System hatte bislang tadellos funktioniert. Die Unbekannten besaßen quasi keinerlei Informationen über das, was und wofür sie etwas taten, außer diese eine Handynummer, die nach jedem Auftrag ausgetauscht wurde. Auch für den Kauf der Prepaid Karten gab es andere Unbekannte, die nur ihren Namen unter den Kaufvertrag setzen mussten, sonst nichts. Damit war sichergestellt, sollte es je zu einem Missgeschick oder gar zu einem Problem kommen, dass der eigentliche Auftraggeber nicht zurück verfolgbar war. Eine Sicherheitsmaßnahme, die für Graf von Wiltberg lebenswichtig war. Schließlich ging es hierbei nicht um irgendetwas, sondern um eine Idee. Eine Neuordnung.

Der Graf ließ das Handy klingeln und betrachtete das Display, bis das Klingeln verstummte. Dann wählte er die Nummer, die auf dem Display erschienen war.

Nach wenigen Minuten war ein neuer Kurier rekrutiert. Eine Sache war gelöst, zwei Unbekannte ausgetauscht, der Zeitplan damit eingehalten. Etwas blieb: die Befehlsverweigerung des alten Kuriers und das Problem mit dem jüdischen Journalisten.

Für die Schande der Verweigerung kam ihm eine Idee.

Graf von Wiltberg ging nach oben zu seinem Schreibtisch, kramte eine Weile und wählte dann die Nummer, die auf einer nicht sonderlich ansprechenden Visitenkarte stand. Nach dreißig Minuten erschien der Klempnermeister persönlich.

„Guten Tag, Herr Graf“, begrüßte ihn Klempnermeister Schmidt. „Sie haben mir ausrichten lassen, dass Sie einen Auftrag für mich hätten. Und da ich gerade in der Gegend war, dachte ich, ich schaue gleich persönlich bei Ihnen vorbei. Was kann ich für Sie tun?“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr Schmidt“, antwortete von Wiltberg lächelnd. „Aber kommen Sie erst einmal herein. Darf ich Ihnen vielleicht eine Tasse Tee anbieten?“

„Gern.“

„Nehmen Sie Platz“, sagte von Wiltberg und wies auf einen Sessel im Foyer. Auf einem kleinen Tisch duftete bereits eine Kanne mit Earl Grey. Freiherr Graf von Wiltberg goss dem Klempnermeister und sich selbst eine Tasse ein und schlug die Beine übereinander.

„Wie geht es der Familie? Was macht Ihr Sohn? Hat er sich endlich dazu entschlossen, eine Lehre in Ihrer Firma anzufangen?“

Klempnermeister Schmidt nahm einen Schluck und lehnte sich bequem zurück. Dann winkte er ab. „Ach, wissen Sie, der Kevin hat so seine Flausen im Kopf. Will unbedingt Abitur machen und dann ein Jahr im Ausland verbringen wenn möglich. Sie wissen doch, wie die jungen Leute heutzutage sind.“ Freiherr Graf von Wiltberg nickte verständnisvoll. „Dabei sag ich immer: Junge, lerne erst einmal etwas Solides, wenn du schon bei mir keine Lehre machen willst. Zimmermann zum Beispiel. Geh auf die Walz, da lernst du ´ne Menge Leute kennen und weißt vielleicht danach das deutsche Handwerk zu schätzen. Man muss doch nicht gleich nach England oder gar nach Amerika gehen. Unser Land ist doch auch schön. Nicht wahr. Aber ich kann mir den Mund fusselig reden. Die Jungen haben ihren eigenen Kopf. So was gab es zu meiner Jugend nicht. Da war es selbstverständlich, dass man in die Fußstapfen des Vaters trat. Nun ja. Ansonsten will ich mich nicht beklagen.“ Freiherr Graf von Wiltberg hatte zugehört, den Kopf geschüttelt und Zustimmung signalisiert. Nun räusperte er sich.

„Herr Schmidt, ich habe ein Problem. Und es handelt sich um einen Notfall“,

„Für so was bin ich doch da, Herr Graf.“

„Das ist gut, Herr Schmidt.“ Klempnermeister Schmidt wippte ein wenig nervös mit den Knien. „Wissen Sie Herr Schmidt, die Angelegenheit ist mir ein bisschen peinlich.“ Freiherr Graf von Wiltberg räusperte sich abermals und warf seine Augenbrauen empor. Schmidt wartete gespannt.

„Also, da gibt es diesen jungen Mann, der gelegentlich ein paar Gartenarbeiten für mich erledigt. Und heute ruft er mich an, weinend, weil seine Toilette nicht mehr so funktioniert, wie eine Toilette eben zu funktionieren hat.“ Freiherr Graf von Wiltberg schaute irgendwohin und Klempnermeister Schmidt folgte seinem Blick. „Wie soll ich sagen“, fuhr er fort, hielt aber wieder inne.

„Ihm fliegt die Scheiße um die Ohren“, konstatierte der Klempnermeister.

„Richtig. Sehr treffend ausgedrückt, Herr Schmidt.“

Klempnermeister Schmidt verkniff sich ein Lachen.

„Nun ja, und deswegen konnte er heute nicht den Rasen mähen. Ich weiß, dass sich dieser Mann Ihre Dienste nicht leisten kann, und handwerklich ist er, sagen wir mal etwas unbegabt. Allerdings ein guter Gärtner, zweifellos.“

Klempnermeister Schmidt nickte. Diese Art von Problemen war ihm hinreichend vertraut.

„Also, ich dachte“, fuhr Graf von Wiltberg fort, „ dass Sie dort einfach hinfahren, das Ärgernis aus dem Weg räumen, und mir dann die Rechnung schicken. Könnten Sie das für mich erledigen?“

„Selbstverständlich“, Herr Schmidt nickte abermals.

„Allerdings möchte ich Sie bitten, dass Sie meinen Namen auf keinen Fall erwähnen. Dieser junge Mann würde niemals Hilfe von mir in Anspruch nehmen. Sagen Sie ihm einfach, die Gemeinde habe Sie geschickt und würde die Rechnung übernehmen.“

„Gern.“

„Heute?“

„Natürlich.“

„Wunderbar. Ich danke Ihnen, Herr Schmidt.“

Freiherr Graf von Wiltberg nannte den Namen und Anschrift seines ehemaligen Kuriers, und Schmidt machte sich sorgfältig Notizen.

Als Klempner Schmidt schon in der Tür stand, um sich auf den Weg zu machen, hielt von Wiltberg noch einmal wie in Gedanken inne. So, als hätte er gerade einen spontanen Einfall. In der Tat fasste sich der Graf kurz mit dem Zeigefinger an die rechte Schläfe und malte dann einen Kringel in die Luft.

„Warten Sie“, sagte er zu dem überraschten Klempner. „Würden Sie mir noch einen Gefallen tun, Herr Schmidt? Einen kleinen…“

„Selbstverständlich.“

„Gut! Warten Sie hier bitte einen Moment. Ich bin sofort zurück.“

„Lassen Sie sich ruhig Zeit“, antwortete Schmidt und widmete sich im Foyer der Betrachtung der Skulpturen.

Nach wenigen Minuten kam Freiherr Graf von Wiltberg mit einem in Geschenkpapier gewickelten Päckchen zurück.

„Diesem Herrn, den Sie den Ausguss reparieren, schulde ich noch eine Dankbarkeit. Allerdings müsste dies ebenso diskret behandelt werden. Wenn Sie verstehen?“

Der Klempner verstand und nickte gerührt.

„Also würden Sie für mich vielleicht diese kleine Aufmerksamkeit bei dem Herrn irgendwo hinterlegen, wo er sie nicht gleich findet. Natürlich erst, wenn Sie mit Ihrer Arbeit fertig sind. Es soll so etwas wie eine Überraschung werden.“

„Da fällt mir bestimmt etwas ein.“

„Vielen Dank!“ Graf von Wiltberg reichte Schmidt die Hand und lächelte. „Ich stehe in Ihrer Schuld!“

„Wenn hier jemand in einer Schuld steht, dann ich in Ihrer.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Schmidt.

Dieses Problem war erledigt. Das kleine Überraschungspaket würde seinen ehemaligen Kurier zwar nicht töten, aber ihn wohl sein Leben lang daran erinnern, dass es elementarere Dinge gab, als Toilettenverstopfungen.

Das war das eine Problem. Der neue Kurier würde dessen Platz einnehmen. Menschen waren austauschbar. Die andere Sache war komplexer.

Für das Problem mit dem jüdischen Journalisten benötigte es einer Strategie, die ein bisschen zeitaufwendiger war, soviel stand fest.

Graf von Wiltberg sank in seinem Sessel nieder und rieb sich mit beiden Händen die Schläfen. Er hätte seine Wanderung wieder aufnehmen können, zum Beispiel. Diese Art der Meditation, bei der die linke und die rechte Gehirnhälfte in Einklang kamen und damit eine effizientere Problemlösung ermöglichte, hatten inzwischen auch die verfluchten Amerikaner für sich entdeckt. Er wusste, dass sich mittlerweile in New York ganze Gruppen trafen, um durch kleine oder größere Labyrinthe zu laufen. Manche waren nicht größer als zehn Quadratmeter.

Aber Graf von Wiltberg hatte jetzt keine Lust zu wandern und Schuld daran hatten nicht einmal die Amerikaner. Schuld daran war noch etwas anderes.

Es war der Zweifel, der in ihm hochkam, dessen Ursprung Angst war.

Nicht die Angst, die das Gewissen belastet, etwas Falsches zu tun. Nicht einmal Angst, ertappt zu werden. Es war eine andere Angst. Eine existenziellere. Die Angst, vielleicht doch nicht zu den Auserwählten zu gehören. Zu denjenigen, die in der neuen Welt die Logenplätze beanspruchten.

Wotan-Luzifer, durchfuhr es ihn fast fröstelnd.