Strandtrift - Jo Hilmsen - E-Book

Strandtrift E-Book

Jo Hilmsen

0,0

Beschreibung

Jeder der in den Spiegel schaut, wird sich nicht unbedingt selbst darin erkennen. Realitäten scheinen manchmal banal und manchmal unheimlich. Die Vergangenheit ist ein Buch, welches niemals zu Ende gelesen werden kann. Dinge, die passiert sind, lassen sich nicht ändern.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 258

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jo Hilmsen

Strandtrift

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Dienstag, 8. Januar 2002 15:08

Montag, 5. August 2002 12:00

„Was schreiben Sie da eigentlich die ganze Zeit, Doktor?“

Impressum neobooks

Dienstag, 8. Januar 2002 15:08

Jo Hilmsen

Strandtrift

sieben Geschichten

Inhalt

Horst im Glück 6

Die Geschichte vom traurigen Sonntag 24

Strandtrift 51

Helen 85

Das Turnier 110

Wunder geschehen 126

Whiterabbit 175

Horst im Glück

An einem freundlichen Sommernachmittag beschloss Horst W., getreu seiner Gewohnheit, noch einen Spaziergang zu machen.

Da er seine Gesellschaft weder mit einer Frau, einem Hund oder sonst jemandem teilte, bestand das Ritual seines Gehens lediglich darin, den Schlüssel nicht zu vergessen. So kniff Horst die Augen zusammen und schielte zur Schlüsselleiste. Die war leer. Also wanderte sein Blick weiter. Zunächst über einen Stapel klebrigen Geschirrs, einer Menge Unrat und dann über einen maroden Schrank, beladen mit Papierkram. Schließlich entdeckte er den Schlüssel dort, wo er ihn zuletzt abgelegt hatte – zwischen einer Hose, einem sich langsam auflösenden Hemd und einigen vor sich hin muffelnden Socken. Horst nahm mit gespreizten Fingern eine der Socken zur Hand und verzog angewidert das Gesicht. Dann wackelte er mit dem Kopf und stolperte, den kleinen Metallbund in die Hosentasche stopfend, nach draußen.

Horst W. war ein Sammler. Er sammelte Dinge, die andere wegwarfen. In seiner kleinen Wohnung fanden sich bereits derart viele solcher Dinge, dass er seit einiger Zeit ernsthaft in Erwägung zog, die leer stehende Wohnung über ihm aufzubrechen, um dort seine verrosteten Fahrradrahmen, Blechschüsseln, Nähmaschinengestelle, Kerzenständer, bauchige Flaschen und was sich sonst inzwischen alles so angesammelt hatte, unterzubringen. Leider mangelte es Horst ein bisschen an Konsequenz. Und diese Charaktereigenschaft bewirkte wiederum, dass er bei all seinen Vorhaben meist nie über den Vorsatz hinauskam. Seine Neigung zu Müßiggang und kreativer Beschaulichkeit, wie er es selbst nannte, war ein Klotz. Und der war so dick, dass Horst sich immer wieder selbst im Wege stand. Nichtsdestotrotz ist ein Sammler ein Sammler. Und Leidenschaft, Leidenschaft. Also marschierte Horst W. los. Und wie es sich für einen Sammler seines Schlages gehörte, bewegte er sich von Mülltonne zu Mülltonne, äugte dort hinein, stöberte hier ein wenig oder ließ seinen Blick über verwahrloste Höfe, einsturzgefährdete Häuser oder andere Stellen öffentlichen Ärgernisses schweifen. Zu seinem Verdruss hatten es sich allerdings die Stadtväter seit kurzem in den Kopf gesetzt, Ordnung in der Stadt zu schaffen. Seine Paradiese wurden rarer und Horst W.´s Blicke von Woche zu Woche finsterer. Mannshohe Bretterverschläge verhinderten in der Frauengasse auch nur eine Ahnung von Sperrmüll, die meisten Mülltonnen waren mit Metallgittern gesichert und all die einstigen Ecken seiner Stöbereien brillierten nur noch mit einer Grasnarbe.

„Diese Hohlköpfe verderben einem den ganzen Spaß“, fluchte er laut vor sich hin. „Sollen die doch ihr Rathaus begrünen.“

Horst hatte inzwischen den Park erreicht. Aber der Park interessierte ihn eigentlich nicht mehr. Seit selbst der kleine Teich darin von seinen Algen befreit worden war, empfand er für dieses grüne Kleinod nur noch Verachtung. Kieswege hatte man angelegt, das Gras auf fünf Zentimeter gestutzt und selbst die Bäume wirkten, als wäre eine Putzkolonne über sie hergefallen. Ordnung ist Zweckmäßigkeit, dachte er und Zweckmäßigkeit der Anfang von Diktatur. Idylle zum Einlullen. Und irgendwann folgt der Todesstoß.

Enten zogen kleine Wellenstriche, ein Schwanenpaar gründelte am Ufer. Und im Pavillon, unweit einer Gruppe Rotbuchen, vertrieb sich ein junges Liebespaar die Zeit mit Zärtlichkeiten. Etliche Spaziergänger flanierten die Kieswege entlang. Die Hitze lud zum Müßiggang ein. Sogar die Spatzen in den Wipfeln der Kastanien, Buchen und Eichen lärmten nur gedämpft.

Horst begann zu keuchen. Schleppenden Schrittes überwand er den Drang umzukehren und erreichte schließlich schwitzend den Bahnhof. In seinem knallroten Kopf wirbelten Begriffe wie Bahnhofsmission, Bahnhofskiosk, Bahnsteiglümmler oder Bahnbullenwichser.

Kaum mehr frequentiert, ist er, der Bahnhof, dachte Horst. Fahren seit langem alle lieber mit ihren Autos, die Leute. Zugreisen, Reisezug. Zugereist. Wer reist hier noch zu? Abreisen ist angesagt. Davonrennen, weil´s hier nichts mehr zu holen gibt. Provinznest – schick aber öde. Wen wundert´s? Alles abgewickelt: die Nähmaschinenbude, die Staubsauger-fabrik, das Walzwerk. Kohle wird seit Jahren nicht mehr abgebaut und die meisten Felder sind blühende Biotope. Brachland, Ödland. Abgewickelt, ausgewickelt. Neue Hotels. Für was? Tourismus für Nekrophile? Kultur wird hochgelobt. Und Feste über Feste. Jeden Monat ein anderes. Eine Stadt feiert ihr Ausbluten. Ein Rentnerparadies. Die Jungen sehen, dass sie Land gewinnen oder lümmeln an den Bushaltestellen herum und klopfen markige Sprüche. Weg mit dem! Weg mit diesem! Sauber soll´s sein. Sauber und ordentlich.

Horst blieb stehen. Er klopfte sich den Staub von der Hose und betrachtete seine Schuhe.

„Auch nicht mehr das Wahre“, murmelte er und stieß den linken großen Zeh gegen das bereits an mehreren Stellen poröse Leder. Dann ging er weiter. Eine nagelneue Brücke überspannte die Bahngleise. Sogar einen Aufzug gab es seit kurzem. Horst entschied sich für die Treppe. Von der Brücke aus hatte man einen schönen Blick auf die Stadt. Der massige Kirchturm von St. Bartholomäi, der schlanke Backsteinturm der Brüderkirche, Rathausturm und Wasserkunst. Und natürlich das Schloss. Allesamt mit einem frischen Anstrich. Auf der anderen Seite der Bahnbrücke gab es eine Abkürzung zur Mülldeponie. Sie führte durch Laubenkolonien, vorbei an einem Spiel- und einem Sportplatz. Es folgte eine stillgelegte Fabrik zur Rechten und eine ehemalige Kaserne zur Linken. Ein schmaler Trampelpfad schlängelte sich zwischen den letzten Häusern der Stadt, dann kam ein kleines Feld, mit Mohnblumen rot besprenkelt und schließlich der Müllplatz: halb Deponie, halb Schrottplatz. Obwohl Horst im Grunde ziellos gelaufen war, folgte er doch seinem inneren Kompass. Und dessen Nadel zeigte unmissverständlich in eine Richtung.

Als er die Mülldeponie erreicht hatte, wunderte er sich ein wenig über sich selbst. Denn er hätte schwören können, dass er bislang nicht ein einziges Mal an dieses, für ihn fast letztes Paradies gedacht hatte. Stattdessen dachte er an Skorpione. Fast tausendvierhundert Arten gab es von dieser Spezies. Ihr Stachel enthielt am Schwanzende ein Neurotoxin, welches selbst Menschen gefährlich werden konnte. Sie waren absolute Einzelgänger. Aber das war es nicht, worüber Horst grübelte. Horst W. grübelte über den Tanz der Skorpione während der Paarung. Die Tiere packten sich bei den Scheren und führten einen Reigen auf wie Tangotänzer. Bedacht darauf, den Partner auf Abstand zu halten und doch nicht loszulassen. So wie sie normalerweise ihre Beute hielten, um sie dann mit ihrem Stachel zu töten, bereiteten sie nun den Geschlechtsakt vor. Er konnte Stunden dauern, der Skorpionentanz. Und so kam Horst gedanklich vom Tanz der Skorpione zu seinem letzten eigenen Geschlechtsakt vor ungefähr neun Jahren. Dabei geriet er ins Stocken.

Horst lief den Zaun auf der Suche nach einem Loch ab, um sich die Kletterei zu ersparen. Es gab noch immer genügend Leute, die hier nach Brauchbarem suchten oder ihren Müll heimlich herbrachten. Musste man ja neuerdings alles bezahlen, dachte Horst. Und richtig! Nach wenigen Metern fand Horst eine aufgerissene Stelle im Zaun, durch die er bequem hindurch schlüpfen konnte.

„Ja, ja“, kicherte Horst, „Ordnung hat seinen Preis!“

Obwohl er ziemlich außer Atem war, machte er sich sogleich an die Arbeit. Normalerweise ging er bei solchen Gelegenheiten planlos vor. Überließ sein Glück dem Zufall. Doch angesichts des erbärmlichen Anblicks seiner Schuhe, hoffte er insgeheim, ein paar Neue zu finden. Er griff sich einen Knüppel und begann zu stochern. Ein alter Lederkoffer, der zunächst seine Hoffnung hegte, enttäuschte. Er enthielt nichts als verrottete Bettwäsche und Handtücher.

Ein gelber Sessel hatte so große Löcher, dass er bequem eine Hand hindurch stecken konnte. Horst fand ein Paar durchaus brauchbare Lederschuhe, aber die waren mehrere Nummern zu klein. Händeringend stolperte er über allerlei Dinge, denen er zunächst wenig Beachtung schenkte: ein Brotkasten, einen roten Wäschekorb, eine Tüte voller Kompressen und Papier und eine halb verrottete Holzkiste. Er wühlte sich den Müllberg hinauf, nur weil er etwas Glitzerndes erblickt hatte, das sich beim näheren Hinsehen als zerborstenes Spiegelglas entpuppte. Dann fand er Gefallen an einem Karton voller Plüschtiere und verbrachte einige Zeit damit, die Teddybären, Puppen, Hunde und eine Giraffe zu inspizieren. Einst geliebt und nun verstoßen, dachte er. Er nahm einen Teddy mit ockerfarbenem Fell und hielt ihn in die Höhe.

„Du hast bestimmt schon so manches Kinderherz getröstet, was.“, sagte er zu dem Bären und tätschelte ihm zärtlich den Kopf.

„Und jetzt will niemand mehr etwas von dir wissen, soso.“ Horst verschob die Lippen und steckte das Plüschtier in seine Tasche. Über ihm kreisten Möwen und Krähen.

„Nix für euch zu holen, ihr Mistviecher, was“, schimpfte er. „Macht euch dorthin, wo ihr hingehört.“ Er griff nach einem Stein und schleuderte ihn in die Luft. Dann ließ sich Horst, um ein wenig zu verschnaufen, auf einer Holzkiste nieder. Er zündete sich eine Zigarette an, ließ die Beine baumeln und begann zu grübeln. Es war nichts Bestimmtes, worüber er grübelte. Mal dachte er daran, was eine Möwe dazu bewegen mochte, das Meer zu verlassen, um sich ausgerechnet den Müllplatz einer Kleinstadt als Nahrungsquelle zu suchen, mal dachte er an seine Schuhe, mal an das Plüschtier in seiner Tasche und an die Sache von vor ungefähr neun Jahren und dass das Ganze eigentlich auch nicht mehr so richtig funktioniert hatte – dass seit seiner Scheidung vor zehn Jahren eigentlich gar nichts mehr richtig funktionierte und dann, wie er es wohl am Klügsten anstellen sollte, sein umfangreiches Lager zu strukturieren. Letzteres brachte ihn so in Verwirrung, dass er gedanklich zurück zu dem Plüschbären floh und schließlich beschloss, mit der ganzen Strukturiererei erst einmal zu warten. Horst stand auf und trat als Geste der Entschlossenheit kräftig gegen die Kiste, auf der er gesessen hatte. Der Klang war seinen Ohren ähnlich vertraut wie die ersten Takte von Beethovens Ode an die Freude. Es war das unvergleichliche Klimpern voller Flaschen. Horst vergaß die Möwen, den Teddybären in seiner Tasche und selbst die Vision, ein Paar neuer Schuhe zu ergattern. Blitzschnell war er auf den Beinen. Und ebenso blitzschnell hatte er die Holzkiste geöffnet.

Zwölf Flaschen Erdbeerwein! Horst bekam feuchte Hände vor Aufregung. Zwölf Flaschen! Was für ein Segen! Nur, wie sollte er sie transportieren? Die Kiste war zu marode. Sie würde auseinanderbrechen. Also musste etwas Anderes her. Horst verschwendete keine Zeit mehr. Auch wenn noch hunderte andere Dinge zu finden waren, hatte er nur einen Gedanken. Er brauchte ein geeignetes Behältnis zum Transport von zwölf Flaschen Wein.

Nach einer halben Stunde Stöbern, Graben und Wühlen kehrte er erfolglos zu der morschen Kiste und deren wertvollem Inhalt zurück.

Es war wie verhext. Auf der gesamten Müllhalde gab es nicht einen einzigen Gegenstand, mit dem er die Flaschen hätte transportieren können. Und wie es Horsts Art war, wenn er mit einer Sache auf der Stelle trat, versank er eine Weile in Trübsinn.

„Verfluchter Sommer!“ schimpfte er und wischte sich mit dem Hemdsärmel die Schweißtropfen von der Stirn. Horst W. hasste den Sommer und vor allem das Gefühl, verdursten zu müssen. Hilfesuchend blickte er sich um und kniff seine Stirn angestrengt in Falten. Und weil er hier ganz bestimmt keine Hilfe erwarten konnte, kam ihm nach einer Weile die Erkenntnis, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als zurück zu seiner Wohnung zu gehen. Dort fand sich mit Sicherheit ein geeignetes Transportmittel.

Horst hatte weder einen Blick für den Bahnhof, den kleinen Park noch für sonst etwas. Seine Gedanken kreisten einzig und allein um die zwölf schmutzigen Flaschen und deren Inhalt. Anfangs noch beschwingt und voller Optimismus, wurden seine Schritte von Meter zu Meter schleppender und schwerer.

Als er seine dunkle, einigermaßen kühle Wohnung aufschloss, war er so erschöpft, dass er auf den nächstbesten Stuhl niedersank und eine ganze Weile dumpf vor sich hinstarrte. Am liebsten hätte er sich seiner Lieblingsbeschäftigung hingegeben:

Dinge betrachten und sie, wenn es ihm danach gelüstete, von A nach B zu legen. Doch der Gedanke an eine Kiste Wein bohrte sich wie ein Stachel in sein Hirn. Wie eine Fata Morgana sah er sie deutlich vor sich und die Möglichkeit, dass dieser Schatz einem Anderen in die Hände fallen könnte, missfiel Horst derart, dass er laut aufstöhnte. Mit dem Willen eines Besessenen, eines Eroberers raffte Horst W. sich auf, ergriff eine ziemlich zerschundene Ledertasche mit stabilen Trageriemen und machte sich ein zweites Mal auf den Weg zur Müllhalde.

Am Teich warf Horst mit Steinen nach den Enten, in der Nähe des Bahnhofes pöbelte er einen Obdachlosen an, der ihn um etwas Geld bat und schließlich geriet er mit einem Polizisten in einen hanebüchenen Streit, der ihn freundlich darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Horst auf dem Radweg dahin stapfte.

Als er endlich durch das Loch im Zaun geschlüpft war, sah Horst Sterne. Er spürte ein Brausen in den Ohren, sein Herz raste, als wollte es aus seinem Brustkorb hüpfen und überall in seinem Blickfeld tanzten kleine Pünktchen. Sein Kreislauf, der diese Art von Anstrengung nicht mehr gewohnt war, fuhr Achterbahn. Aber Horst W. konnte nicht mehr anders. Längst hatte sich in seinem Kopf ein Bild eingebrannt.

Horst sah sich selbst. Er hatte es sich auf der Fensterbank seines kleinen Zimmers bequem gemacht und blickte entspannt auf die Gasse. Vor seinen Füßen stand eine Kiste voller Wein. Er nahm eine Flasche heraus, zog den Korken und probierte. Er spürte, wie die Flüssigkeit seine Kehle herablief und die Wirkung des Erdbeerweines sich langsam in seinem Kopf ausbreitete. Ein bisschen Schläfrigkeit würde sich breitmachen – dort auf seiner Fensterbank. Aber das störte nicht. Still war es um ihn herum. Still und behaglich. Und mit jedem Schluck versank Horst W. tiefer in den Zustand vollkommener Harmonie mit sich und der Welt. Das war Horsts Traum. Und deshalb ignorierte er sowohl die kleinen, flackernden Pünktchen vor seinen Augen als auch das warnende Zittern seiner Knie. Sein Magen randalierte und in seiner Brust lösten sich heftige Stiche ab, als ob sein Herz um Gnade bettelte. Es ist ein Jammer, dachte Horst, wenn das innere Universum dem Äußeren weichen muss, weil die äußeren Zwänge auf das Innere einen größeren Eindruck machen.

Mit dieser Erkenntnis schob er den Deckel der Weinkiste beiseite und klatschte vor Entzücken in die Hände. Alles war so, wie er es verlassen hatte.

Zwölf Flaschen Erdbeerwein warteten darauf, einen Platz in seinem Universum einzunehmen. Dieser Kosmos der Fragezeichen. Horst betrachtete kurz das Geschenk des Himmels und lächelte. Dann begann er zärtlich eine Flasche nach der anderen in seine alte Ledertasche zu legen. Still vor Genugtuung stapelte er seine Beute neben- und übereinander, verweilte kurz mit seinen Händen auf dem Glas und leckte sich in freudiger Erwartung die Lippen.

Die Tasche erwies sich als zu klein. Horst W. machte ein schmollendes Gesicht und einen Moment huschte Verdruss in seine Gedanken. Doch sofort blitzte eine erlösende Idee in ihm auf. Eine einzige Flasche war übriggeblieben. Und zum Glück empfand Horst gerade in diesem Moment einen solchen Durst, dass er gar nicht darüber nachzudenken brauchte, was er tun würde.

Er entfernte mit seinem Schweizer Taschenmesser den Korken und schnüffelte an der weißen Flüssigkeit. Horst der Sammler war vertraut mit Moder und Staub. Er berührte mit seinen Lippen den Flaschenhals und kostete. Der Geschmack des Weines war eine Mischung aus Essig mit Apfelaroma, abgestandenes Zuckerwasser und Erde. Horst schloss die Augen und trank. Wenngleich selbst Horst W. in seiner Abgebrühtheit das Gesicht verzog, ließ die Wirkung an nichts fehlen. Ein Hauch Dämmerung zog über sein Bewusstsein, gefolgt von watteweichen Wolken fröhlicher Leere.

Ich werde diese Perlen der Natur hier nicht vergammeln lassen, dachte Horst und nahm einen zweiten, großen Schluck. Der Erdbeerwein schmeckte bereits besser. Plötzlich geschah etwas für ihn Unerwartetes. Eine dunkle Welle Schwermut erfasste ihn, und er empfand plötzlich einen Stich Angst. Eine leichte Brise Sommerluft schob die langen Strähnen seiner Haare ein wenig durcheinander. Horst schnüffelte in die Luft und dachte: Was ist das?

Von irgendwoher meinte er, Musik herüber wehen zu hören, aber der einzige Lärm hier war das Geschrei der Möwen über seinem Kopf. Trotzdem hielt Horst inne und blickte lauschend in die Ferne. Ein seltsames Gefühl überkam ihn. Horst kniff kritisch die Augen zusammen und spülte mit einem noch kräftigeren Schluck nach. Abermals folgte dem abgestandenen Geschmack beruhigende Dämmerung.

Warum, dachte er, ist diese Zeit der liebevollen Unschuld nur so verdammt kurz? Die Musik, die er vorhin zu hören geglaubt hatte, war an diesen sentimentalen Gedanken schuld, redete er sich ein. Wir waren damals wirklich noch voller Optimismus und Vorfreude, weil wir naiv glaubten, die Welt läge uns zu Füßen. Und trotzdem, dachte Horst in seiner Schwermut, ist es nicht gerade dieser Zustand, der allein das Wort des Menschseins verdient?

Und von diesem seiner Gedanken gerührt, dachte Horst, noch mehr gerührt: Wann habe ich eigentlich das letzte Mal Wir gedacht?

Er wusste es nicht mehr.

„Wir!“ flüsterte er deshalb gedehnt und griff nach dem essighaltigen Weingetränk. Und dann wiederholte er noch einmal:

„Wir!“

Unterdessen bereitete sich die Sonne langsam auf ihre Abendtoilette vor. Der gesamte Horizont stand wie in Flammen.

Wir! kam ihm normalerweise wie ein Eindringling vor, der danach trachtet, ihm seiner Freiheit zu berauben. Außerdem war Wir, seiner Meinung nach, genauso verlogen, wie der Unsinn der Stadtväter ihre Stadt säubern zu wollen. Und obwohl das alles gar keinen rechten Sinn ergab, erinnerte er sich ausgerechnet jetzt an seinen Schulanfang.

Das Erste, was ihm dazu einfiel, war jenes Gefühl, das den Großteil seiner Kindheit bestimmte: Herzklopfen verursachende Angst. Da war zum einen die Angst, das warme, wenn auch enge, und oftmals bedrückende Elternhaus verlassen zu müssen, und zum anderen gab es die noch größere Angst, vor den vielen, vielen ihm unbekannten Gesichtern, die fortan die nächsten Jahre seines Alltags bestimmen sollten. Außerdem erinnerte er sich daran, dass er zwei große und eine kleine Zuckertüte mit jeder Menge Leckereien bekommen und diese in allerhöchstens zwei Wochen leergefressen hatte. Horst erinnerte sich an eine Schlüsselbeinfraktur, die ihn einige Wochen vor dem besagten wichtigen Tag ereilte und dann zu einer wunderbaren Ausrede wurde, als er plötzlich in der ersten Schulstunde in Tränen ausbrach. Offiziell weinte er, weil er behauptete, ein Mitschüler wäre an seiner lädierten Schulter gestoßen. Die Wahrheit war: Horst weinte über die Verzweiflung, die ihn einen Augenblick lang befiel, nun nicht mehr zurück zu können.

Da stand er nun mit seinen tränengewässerten Augen, blickte voller Bangen zu der großen schwarzen Tafel und hoffte insgeheim, dass seine erste Lehrerin besser zu ihm nach Hause käme anstatt er zu ihr.

Die Einschulungsfeier war bescheiden. Er erinnerte sich an viel Sonne und daran, dass sein Lieblingsonkel nicht gekommen war. Die Familiengespräche waren vermutlich so, wie sie immer waren: tropfend. Und als Horst weiter nachdachte, war da noch etwas: dieses starke Gefühl, dieses fast unbeschreibliche Gefühl, was man eigentlich nur als Kind empfinden kann: ungetrübtes Glück. Das empfand er, als er dann abends in seinem Bett lag und seine ausgebreiteten neuen Schätze betrachtete.

Aber Schmerz und gleichzeitig Glück, dachte Horst jetzt, das geht nicht. Vielleicht war auch die Erinnerung an das Glück verlogen. Horst spürte ein wenig Unruhe aufkommen und trank hastig einen nächsten Schluck. Die Flasche war bereits zur Hälfte geleert. Ich habe Durst! beschloss Horst W. in einem Gedankenausflug. Und damit war für ihn die Sache auch schon auf den Punkt gebracht.

Horst wurde es ein wenig schwindlig vor lauter Melancholie. Seine Gedanken wirbelten in ungewohnter Betriebsamkeit durch seinen Kopf und er begann sich unbehaglich zu fühlen.

Die Nähe von anderen Menschen verursachte bei ihm in der Regel ein unangenehmes Hautjucken. Seit Jahren floh er deren Gegenwart. Und so war aus Horst mit der Zeit ein kauziger, übellauniger Misanthrop geworden. Und wie er jetzt an seinem vergorenen Erdbeerwein nippte, kam es ihm mit einem Mal so vor, als hätte er einen Gedanken nicht zu Ende gedacht, eine wichtige Sache einfach liegengelassen oder besser: einen großen, kaum wiedergutzumachenden Fehler begangen. Der Sprung in seiner Gedankenwelt war mächtig. Der Anlass dafür rührte aus seinem nostalgischen Erinnern an ferne, unschuldige Zeiten.

Und jetzt musste Horst sich beschämt eingestehen, dass er einfach vergessen hatte, wonach er einst suchte.

„Und seitdem“, sagte er leise, „stöbere ich im Müll.“

Er zog die Stirn kraus und zuckte ratlos die Schultern. Auch die Freude über seinen Fund war ihm plötzlich vergällt.

Um sich abzulenken, ließ er seine Augen über den Müllberg wandern. Selbst dieser Blick war verändert. Horst blickte nicht mehr gezielt wie ein Greif aus großer Höhe auf der Suche nach Nahrung. Seine Augen schauten nur flüchtig, wie man eine ferne Landschaft streift, ohne Einzelheiten erfassen zu können. Sein Blick war schief, wie er es ausgedrückt hätte. Er schlenderte einfach nur so über all die Dinge, die er normalerweise auf der Stelle in brauchbares oder nutzloses Zeug katalogisiert hätte. Es bereitete ihm kein Vergnügen mehr. Es war, als ob ein Maler vor einer unfertigen Leinwand stand und feststellen musste, dass es für ihn nichts mehr zum Malen gab. Horst W. ergriff Panik. Nur die Flasche austrinken, dachte er, und dann rasch nach Hause.

Gepeinigt und getrieben von seiner Melancholie rang Horst mit den letzten Tropfen Erdbeerwein. Er nahm die leere Flasche und schleuderte sie in weitem Bogen über die Halde. Dann packte er die mitgebrachte Tasche und machte sich daran, aufzubrechen. Und plötzlich hatte er die klare Gewissheit, dass er niemals wieder hierher zurückkehren würde. Seine einstige Leidenschaft, die dabei empfundene Ekstase, war verflogen, als hätte es sie nie gegeben. Zum zweiten Mal an diesem Tag spürte Horst einen kurzen, besorgniserregenden Stich in seiner Brust. Doch Horst W. schob das körperliche Veto abermals beiseite. Zwar hielt er kurz inne und griff sich irritiert an die Brust. Doch nach einem kleinen Augenblick des Zweifels, schwang er die schwere Last auf seine Schulter, schüttelte sich und schlüpfte durch das einzige verbliebene Loch im Zaun.

Bereits nach wenigen Metern begriff Horst, dass es unmöglich für ihn werden würde, den Wein auf diese Weise bis nach Hause zu schleppen. Die Flaschen waren einfach zu schwer. Einen Moment lang erwog er, eine zweite Flasche zu leeren. Da er aber bereits die Wirkung der ersten Flasche in seinen Knien spürte, verwarf er diesen Gedanken, versuchte die Last ein wenig zurecht zu rücken und stolperte tapfer weiter.

Nach kurzer Zeit begann Horst W. verzweifelt seine Schritte zu zählen. Abwechselnd trug er die Tasche mit dem linken oder rechten Arm. Und beide wurden zu Blei. Hätte ich wenigstens einen Handwagen! dachte er und schielte neidisch zu den Autos, die an ihm vorbeirauschten oder ihm entgegenkamen.

Für die Besitzer der Blechkarossen empfand Horst Verachtung. Manchmal, wenn er allein am Fenster hockte, bewarf er heimlich die parkenden Autos in seiner Gasse mit Dingen. Zum Beispiel mit Leberwurst oder Eiern.

Horst dachte darüber nach, ein Taxi anzuhalten, aber der kurze Griff in seine Hosentaschen machte ihm unmissverständlich klar, dass sein Geld für diesen Luxus nicht reichen würde. Nach zweihundert Schritten blieb er stehen. Seine Arme schmerzten, als hätte er den ganzen Tag Kohlen geschleppt. Mit verzerrtem Gesicht hockte er sich neben seine Tasche, um ein wenig Atem zu schöpfen. Beseelt von der Vorstellung, etwas Großes zu vollbringen, betrachtete er die gut verschlossenen Flaschen. Stolz und Glück. Er hielt seinen Kopf schräg. Fixierte. Begutachtete. Im Grunde ging es ihm gut, wäre da nicht dieses lähmende Gefühl, der aufgebürdeten Verantwortung nicht gewachsen zu sein. Zu seiner Rettung entdeckte Horst unweit seiner Raststelle eine abgebrochene, aber solide Holzlatte. Die Idee war so naheliegend, dass sich Horst W. augenreibend fragte, warum er nicht gleich darauf gekommen war.

Von neuem Ehrgeiz getrieben, sprang er auf, stülpte die beiden Henkel der Tasche über das Holz und warf die Last über die Schulter. Viel besser, dachte Horst und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Beflügelt von seiner Genialität, marschierte er erneut los.

Statt seiner Verachtung gegenüber neuen Dingen Ausdruck zu verleihen, benutzte er diesmal dankbar den Lift an der Bahnhofsbrücke. Der Bahnhofsplatz war, entgegen früheren Zeiten, geradezu ausgestorben. Ein Regionalzug entließ eine Handvoll Reisende, die sich rasch in alle Winde zerstreuten, ohne Horst auch nur eines Blickes zu würdigen.

Indes konzentrierte sich Horst auf seine Füße. Die Idee mit der Holzlatte hatte zwar für Erleichterung gesorgt, das Gewicht der Flaschen schien sich jedoch von Minute zu Minute zu vergrößern. Schon spürte er das Holz, das sich brennend in sein Fleisch bohrte. Gewiss war der Abdruck längst blutig.

Horst W. verscheuchte den Gedanken daran und lenkte all seine Konzentration auf seine Füße. Schmerzlich wurde ihm dabei erneut bewusst, dass er dringend neue Schuhe brauchte. Aber all diese Gedanken waren flüchtiger Natur. Vielmehr beschäftigte ihn nun die Frage, welche Anzahl von Generationen seines Geschlechts von Nöten gewesen waren, dass er, Horst W., jetzt und hier laufen und eine Kiste voll vergorenem Erdbeerwein nach Hause schleppen konnte. Wer war wohl in dieser langen Kette der Erste. Und wie wird er wohl geheißen haben?

Ein dumpfer Schmerz riss ihn aus seinen Gedanken. Seine Schulter war eingeschlafen. Horst fühlte hundert kleiner Nadelstiche. Zu seiner Erleichterung sah er den kleinen Teich. Und dieses Freudengefühl, bereits so weit gekommen zu sein, besänftigte Horst. Ja, es machte ihn fast übermütig.

Statt seiner Schulter eine kleine Pause zu gönnen, schürzte er verächtlich die Lippen und ging weiter. Schließlich waren es nur noch ein paar hundert Meter bis zum Ziel. Mit einem Blick voller Ehrfurcht und Staunen musterte er seine linke Hand und kam zu dem Schluss, dass er offensichtlich nicht nur über fast jugendliche Kräfte verfügte, sondern, dass wohl auch alles, was er tat, einen Sinn hatte. Denn als letztes Glied einer scheinbar unendlichen Kette von Generationen hatte man eine gewisse Verantwortung. Und seine Verantwortung bestand, nach Horst W.´s Überzeugung – in der Betrachtung.

Gut, da waren eine ganze Reihe eigentümlicher Gedanken, die er sich nur deshalb scheute, zu Ende zu denken, weil sie seiner Meinung nach zu prophetisch waren und damit für andere vernichtend. Es gab ein Manuskript in seinem vom Sperrmüll geretteten Schreibtisch, in dem er sich über mehrere Dutzende Seiten mit der Frage beschäftigte, ob der menschliche Daumen im Laufe der Evolution die Leistungen des Gehirns beeinflusste oder umgekehrt. Doch diese Dinge interessierten eigentlich niemanden. Auch seine eigenen Leistungen mithilfe des Daumens und seines Gehirns trugen meist alle die Tragik der Nichtvollendung. Sein Keller barst vor halbfertigen Figuren aus zusammengeschweißtem Metall – jedes kreativ und energiegeladen begonnen, doch irgendwann achtlos liegengelassen. Für Horst war es inzwischen zum Teil seiner Lebensphilosophie geworden, etwas zu beginnen und nicht zu vollenden. Mochte dies auch eine Ausrede sein, am Anfang bereitete dieses Phänomen ihm schlaflose Nächte, doch inzwischen sah Horst darin seine ganz spezielle Kunst.

Wenn etwas zu Ende gebracht wird, pflegte er sich selbst zu beruhigen, ist es, als wäre es bereits gestorben. Nur im Unvollendeten bleibt das Werden Bestand, erkennt man den Hauch von Unendlichkeit. Jeder Künstler könnte bezeugen, dass er nach der Fertigstellung eines Objektes, das Gefühl von Leere empfindet. Für Horst W. bestand gerade darin der Fehler. Wenn man den Kelch bis zur Neige trinkt, ist der Augenblick für immer verloren. So war er sich mit der Zeit sicher geworden, dass im Nichtvollenden die wahre Natur der Kunst zum Vorschein kam.

Bedauerlicherweise hatte er bislang noch niemanden gefunden, der diese Ansicht teilte.

Früher haderte Horst deswegen mit sich, derweil scherte er sich nicht mehr darum. Nur jetzt, während er über die Zeit nachdachte und sich selbst in einem kritischen Licht betrachtete, hatte er das erste Mal seit langem wieder das Gefühl, versagt zu haben. Aber seine Gedanken scheuten davor, die Ursache seines Versagens in seiner Bequemlichkeit oder Halbherzigkeit zu suchen. Er meinte eher, dass das Prinzip der Nichtvollendung von ihm nicht mit der nötigen Selbstdisziplin getätigt worden war. Denn schließlich: Ist man von etwas überzeugt, ist man auch dazu verpflichtet, es bis zur letzten Konsequenz zu leben. Essen zum Beispiel. Sein Prinzip der Unvollkommenheit müsste ihn eigentlich dazu zwingen, niemals eine Mahlzeit vollständig einzunehmen. Dazu zählte: ein Brötchen nicht aufzuessen, ein Stück Fleisch nur anzuknabbern oder eine Flasche Wein niemals bis zum letzten Tropfen zu leeren. Horst erkannte darin die Ursache seines Unbehagens. Seine Philosophie, so gut und richtig sie auch sein mochte, erschöpfte sich in Wankelmut und wurde deshalb zur Halbherzigkeit.

Seine Schulter fühlte sich inzwischen an, als hätte jemand wild mit Sandpapier darauf herum gerieben. Der Fahrer eines Kleinbusses trat heftig auf die Bremsen und zeigte Horst anschließend seinen gestreckten Mittelfinger.

Keine zweihundert Meter trennten ihn jetzt von seiner Wohnung. Der Schmerz in seiner rechten Schulter wurde unerträglich.

Horst überquerte die Straße und sah bereits die gusseiserne Laterne, die ihm den Weg zu seiner Gasse zeigte. Von dort musste er nur einen kleinen Platz überwinden, und er war zu Hause. Aber es ging nicht mehr. Obwohl er sich schalt, die wenigen Meter auf diese Weise nicht mehr zu schaffen, obsiegte diesmal die Vernunft und Horst blieb stehen. Das Einzige, wofür er sich entscheiden musste, war, die süße Last auf die andere Schulter zu hieven. Mit zusammengepressten Lippen und hervorquellenden Augen umklammerte Horst mit beiden Händen die Holzlatte und stemmte sie über seinen Kopf auf die andere, noch unbeschadete Schulter.

Im selben Moment, als Horst schon Erleichterung in seiner rechten Schulter spürte und sich in der linken die Muskeln spannten, kam er ins Stolpern. Es war eigentlich kein halsbrecherisches Stolpern, eher ein banales Schwanken, was man leicht austarieren konnte, ohne sich ernsthaft zu gefährden. Dieses minimale Verändern einer vorher geplanten Richtung bewirkte jedoch, dass sich die Riemen von Horsts Trageutensil, die über die Holzlatte gespannt waren, fast unmerklich in Bewegung setzten und schließlich ins Rutschen kamen. Es gab einen ohrenbetäubenden Lärm.

Er versteinerte und starrte auf das Bündel zu seinen Füßen und verfolgte die wachsende rote Lache, als wäre es sein eigenes Blut. In seine Augen traten Tränen und seine Lippen begannen zu zittern. Und als Horst endgültig realisierte, was ihm da widerfahren war, fiel er auf die Knie und begann minutenlang zu schluchzen. Wie eine Welle breitete sich sein Weinen über seinen ganzen Körper aus und jeder, der Horst in diesem Zustand gesehen hätte, hätte innegehalten. Und vielleicht geholfen. Doch ausgerechnet jetzt waren die Straßen wie leergefegt. Außer den Wipfeln von zwei alten Eichen und einigen noch jugendlichen Ahornen bewegte sich weit und breit nichts.

Eine einzige Flasche war der Zerstörung entgangen. Ohne die Spuren seines Unglücks auch nur eines Blickes zu würdigen, ergriff Horst diese letzte Flasche Erdbeerwein und schlich nach Hause. Er spürte nichts als dumpfe Leere. Seine rot unterlaufenen Augen rannten hin und her und sein Gesicht wurde fahl. Selbst die Tasche, die Horst W. hin und hergeschleppt hatte, ließ er zurück.

Zu Tode erschöpft schloss er die Tür zu seiner Wohnung auf, schluckte seine Tränen herunter, trat ein und öffnete, ohne aufzublicken, ein Fenster zur Straße.

Ja, hier wollte er noch vor wenigen Stunden sitzen, den Abend genießen und sich seinen Gedanken überlassen. Jetzt stand die einzige Flasche Erdbeerwein, die er gerettet hatte vor ihm, seine Mühen rannen in die Kanalisation der Stadt und damit das letzte bisschen Hoffnung.

Horst überließ sich seinem Gefühl. Er war müde geworden. Und diese Müdigkeit steckte nun in allen Fasern seines Körpers, sodass ihm nur noch nach einem verlangte. Unendlich langer Schlaf. Er schlüpfte aus seinen schäbigen Schuhen und ließ sie achtlos liegen. Langsam dämmerte ihm die Tragweite seines Missgeschicks. Vergeblich versuchte er die Situation herunterzuspielen, sich damit zu trösten, dass seine Glücksseligkeit nicht von ein paar Flaschen gegorenen Erdbeergetränks abhinge. Es half nichts.

Ich bin der Letzte einer langen Kette, beschwor er sich. Ich trage eine Verantwortung!