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Die Menschheit, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. Vor etwa 300 Jahren hat eine Verkettung von Umweltkatastrophen und menschlichem Versagen fast das ganze humane Leben auf der Erde vernichtet. Nur wenige konnten sich rechtzeitig in semiautarke Refugien zurückziehen, ihre Nachkommen führen dort immer noch ein beschütztes Leben. Außerhalb der Refugien lauern Gefahren auf die Nachfahren der letzten Überlebenden der großen Katastrophen, das Erwachsenenalter erreicht kaum jemand. Die Refugien also Inseln des Glücks? Man zahlt einen hohen Preis: allgegenwärtiger Drogenkonsum, ein korrupter Ältestenrat und so viele Regeln, dass man von Leben kaum noch sprechen kann. Mikan, Ernährungsexperte im einzigen Refugium des ehemaligen Portugals, hat sich als konsequenter Misanthrop und Drogenhasser viele Feinde gemacht. Er landet durch Sabotage außerhalb des Schutzschirms des Refugiums, verunglückt dort sofort und befindet sich schwer verletzt in einer Welt, in der er trotz herausragender Intelligenz keine Chance aufs Überleben hat. Die Welten treffen nach Jahrhunderten erstmals wieder aufeinander. Er kann Vikor, den Lider der Gruppe nicht akzeptieren, wird von der Jägerin misstrauisch bewacht und von den drei Kleinen belacht und verspottet, denn er kann ja nicht einmal mit der Schleuder umgehen. Nur mit Lunaro, dem erfinderischen Geist der Gruppe, freundet er sich langsam an. Doch ausgerechnet dieser leidet an einer Krankheit, die selbst der medizinerfahrene Vikor nicht heilen kann und die immer weiter fortschreitet. In seiner Verzweiflung über das Sterben des Freundes findet Mikan sein Gedächtnis wieder und ihm ist vollkommen klar: Lunaro muss ins Refugium gebracht werden, in den Medirob, der alle Krankheiten heilen kann. Doch schaffen sie es noch rechtzeitig? Und wie kommen sie in das vollkommen abgeschottete Refugium? Hier startet der zweite Band der Trilogie "Refugium".
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Seitenzahl: 417
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Zusammenfassung Band 1
Kapitel 1: Mit offenen Augen
Kapitel 2: SensaZione
Kapitel 3: VVZ
Kapitel 4: Die Wulfe
Kapitel 5: Der Angriff
Kapitel 6: Die Erinnerungsnacht
Kapitel 7: Das Mädchen
Kapitel 8: Kleine Lehrmeister oder Lernen ist ein steiniger Weg
Kapitel 9: Bedrohte Zuflucht
Kapitel 10: Grünbrücken
Kapitel 11: Die Ziege und die Täuschung
Kapitel 12: Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
Kapitel 13: Marsch der Ausgemergelten
Kapitel 14: Grausam und böse
Kapitel 15: Menschenjagd
Kapitel 16: Aufruhr
Kapitel 17: Das erste Opfer
Kapitel 18: Kinder, lächerlich!
Kapitel 19: Im Zentrum
Kapitel 20: Das Tribunal
Kapitel 21: Tschechoff
Kapitel 22: Mockan
Kapitel 23: Das Lager an der Grünbrücke
Kapitel 24: Rauchzeichen
Kapitel 25: Hochsitz
Kapitel 26: Tod den Wulfen
Kapitel 27: Urteilsfeuer
Kapitel 28: Der Sturm
Danksagung
Zusammenfassung Band 1
Die Menschheit, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. Vor etwa 300 Jahren hat eine Verkettung von Umweltkatastrophen und menschlichem Versagen fast das gesamte humane Leben auf der Erde vernichtet. Nur wenige konnten sich rechtzeitig in semiautarke Refugien zurückziehen, ihre Nachkommen führen dort immer noch ein sicheres, beschütztes Leben. Außerhalb der Refugien lauern Gefahren auf die Nachfahren der letzten Überlebenden der großen Katastrophen, das Erwachsenenalter erreicht kaum jemand. Jeder Tag ist ein Kampf um Nahrung, gegen tödliche Krankheiten und wilde Tiermutationen. Ein Kontakt zwischen den beiden Welten findet nicht statt.
Die Refugien also Inseln des Glücks? Man zahlt einen hohen Preis: Sklaverei, allgegenwärtiger Drogenkonsum, ein korrupter Ältestenrat und so viele Regeln, dass man von Leben kaum noch sprechen kann.
Mikan, Ernährungsexperte im einzigen Refugium des ehemaligen Portugals, hat sich als konsequenter Misanthrop und Drogenhasser viele Feinde gemacht. Er landet durch Sabotage außerhalb des Schutzschirms des Refugiums, verunglückt dort sofort und befindet sich nun schwer verletzt in einer Welt, in der er trotz herausragender Intelligenz keine Chance aufs Überleben hat. Die Welten treffen nach Jahrhunderten erstmals wieder aufeinander: Er wird von einer kleinen Gruppe Jugendlicher gefunden und aufgenommen. Der weltfremde, durch Gedächtnisverlust verwirrte Mikan ist zunächst keine Bereicherung für die Gruppe, bringt sie durch seine unbedachten, egozentrischen Handlungen sogar in Gefahr. Er kann Vikor, den Lider der Gruppe nicht akzeptieren, kann sich nicht in die Gemeinschaft eingliedern. Er wird von der Jägerin, dem Mädchen ohne Namen, misstrauisch bewacht und von den drei Kleinen belacht und verspottet, denn er kann ja nicht einmal mit der Schleuder umgehen. Gut, Kilawa versorgt ihn mütterlich mit Nahrung, aber auch von ihr fühlt er sich nicht ernst genommen. Nur mit Lunaro, dem erfinderischen Geist der Gruppe, freundet er sich langsam an. Doch ausgerechnet dieser leidet an einer Krankheit, die selbst der medizinerfahrene Vikor nicht heilen kann und die immer weiter fortschreitet. In seiner Verzweiflung über den nahenden Tod des gewonnen Freundes findet Mikan sein Gedächtnis wieder und ihm ist vollkommen klar: Lunaro muss ins Refugium gebracht werden, in den Medirob, der alle Krankheiten heilen kann. Doch schaffen sie es noch rechtzeitig? Und wie kommen sie in das vollkommen abgeschottete Refugium?
Kapitel 1: Mit offenen Augen
„Schau nur, wie gut es Lunaro jetzt geht, allein die Pille hat schon Wunder gewirkt. So fit habe ich ihn noch nie gesehen, wobei die letzten Monate ihn wirklich an den Rand seiner Kräfte gebracht haben.”
Das Mädchen teilte Vikors Begeisterung durch ein seltenes Lächeln, auch wenn sie am Erfolg von Mikans geplantem Rettungsversuch mehr zweifelte als der junge Anführer ihrer Gruppe. Hinter dem ehemaligen Refugiumbewohner Mikan und ihrem todkranken Freund Lunaro schloss sich lautlos die Klappe des riesenhaften Ernteroboters. Vikor, die blonden Haare noch mit ein paar Dreckklumpen verklebt, und das Mädchen schauten dem abfahrenden gigantischen Metallklotz auf Rädern nach, wie er sich langsam, aber stetig den Weg durch bauchhohes Erntegut bahnte. Die zwei Gefährten waren auf dem Weg zu ihrer gefährlichen Mission. Maximal fünf Stunden würden das Mädchen und er jetzt auf das Gelingen warten, so hatten sie es ausgemacht. Kamen die beiden bis dahin nicht mit dem Ernteroboter zurück, würden sie schweren Herzens in die Zuflucht, die ihnen Heimat geworden war, zurückkehren. Vikor hatte den Rest der Gruppe ungern allein dort zurückgelassen, jede Verlängerung vergrößerte das Risiko, dem eine minimierte Gruppe ohne ihre besten Kämpfer, die Jägerin und ihn, ausgesetzt war.
Sie wollten sich schon abwenden, als ein lautes Tuten ertönte, lauter als sie je ein künstliches Geräusch gehört hatten. Beider Sinne waren sofort hellwach, das Mädchen nahm die drohende Gefahr als Erste wahr.
Mit ausgestrecktem Arm zeigte sie Vikor die Richtung. Wie gewohnt, ohne zu sprechen, doch dies kannte er nicht anders.
„Verflucht, ein Wulf! Nein! Drei!”
Nach dem Verebben des Regenschauers war langsam die künstliche Sonne wieder zum Vorschein gekommen. Tiefstehend, um den Abend zu simulieren, schien sie auf das schwarze Fell der drei Tiere, sodass dieses schimmerte wie Obsidian.
Das Mädchen legte sofort einen Pfeil auf das größte der Biester an, Vikor hielt sein langes Messer mit beiden Händen gezückt. Vergessen war der Ernteroboter und die Rettungsaktion, der Moment der Gefahr bannte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Sie waren zu erfahren, um die Situation zu unterschätzen. Ein ausgewachsener, etwa 200 Pfund schwerer Wulf konnte schnell lebensgefährlich werden; ein Muttertier mit ihren Welpen aber stand ganz am oberen Ende der Gefahrenskala. Die Wulfin befand sich noch gut zwei Dutzend Meter von ihnen entfernt, doch mit ihren langen Beinen konnte sie diese Distanz mit wenigen rasend schnellen Sprüngen überwinden. Sie duckte sich bereits in Lauerstellung; in wenigen Augenblicken würde sie auf sie zustürmen, eine tödliche Waffe, der sie zuvorkommen mussten.
Vikor zögerte dennoch, die Situation war schwer einzuschätzen. Die Wulfmutter schien abgelenkt zu sein durch ihre Jungen, das spürte er. Er wunderte sich vor allem darüber, dass die Jungen überhaupt bei ihr waren. Tierjunge begleiteten selten eine Jagd.
Als die Wulfin ihre Lauerstellung kurz aufgab, wild nach den Welpen schnappte und ein wütendes Knurren hören ließ, bekam er die Antwort auf diese Frage. Sie hatte anscheinend den Angriff ohne ihre Jungen geplant, diese waren ihr wohl dennoch gefolgt. Die kleinen Wulfe erinnerten ihn an die Zwillinge Tonn und Kar, die ebenfalls nicht leicht unter Kontrolle zu halten waren. Die Aufforderung der Wulfin blieb erfolglos: Eines der Jungen duckte sich zwar demütig und kroch ein paar Meter zurück, das andere jedoch wich nur dem Biss und einem folgenden Pfotenhieb seiner Mutter aus. Es blieb in ihrer Nähe, jetzt allerdings knapp außerhalb der Reichweite ihrer Schnauze und Pfoten. Seine Schnauze war halb geöffnet, es sah aus, als ob es lächelte.
Das Mädchen stand regungslos da, einen Pfeil in die Sehne ihres Bogens gespannt. Sie wartete auf den Befehl Vikors anzugreifen.
Die Wulfin wandte ihnen gerade wieder die volle Aufmerksamkeit zu und duckte sich erneut, als Vikor das Signal gab, welches nach Ansicht des Mädchens lange überfällig war, wenngleich die gesamte Aktion der Wulfmutter nur wenige Sekunden gedauert hatte. Sofort schoss der erste Pfeil vom Bogen des Mädchens surrend auf sein Ziel zu und traf – während sie bereits den zweiten Pfeil anlegte – in das rechte Auge der Wulfin. Kurz wankte sie, doch dann erhob sie sich aus ihrer Lauerstellung und schien trotz alledem auf Vikor und das Mädchen zu springen zu wollen … Mitten im Absprung verließen sie jedoch die Kräfte, sie sackte schwer zusammen und krachte mit einem dumpfen Schlag auf den Boden.
Die Spannung fiel sofort von Vikor ab, er atmete auf. Es war ein ungewöhnlich leichter Kampf gewesen, kein Vergleich mit der letzten dramatischen Auseinandersetzung mit einem dieser Raubtiere, bei der er schwer verletzt worden war. Mit diesem leichten Ausgang hatte er nicht gerechnet.
„Gut gemacht, Mädchen. Beim ersten Schuss ins Schwarze getroffen und das bei einem bewegten Ziel auf diese Entfernung. Das nenne ich perfekt. Du wirst immer sicherer mit dem Bogen.”
Das Mädchen nahm das Lob lächelnd entgegen und entspannte den zweiten Pfeil. Dieser war nicht mehr nötig, die Wulfin stand nicht wieder auf, sie rührte sich nicht mehr. Sie war tot.
Die Welpen liefen zu ihr hin, schnupperten, stupsten sie an und reckten schließlich ihre kleinen schwarzen Schnauzen in die Luft und fingen an zu heulen. Es klang schaurig und hallte weit.
Vikor seufzte. Ein Problem war gelöst, das nächste kam mit Sicherheit sofort hinterdrein. Er kannte es nicht anders. Eine Gruppe anzuführen, schien ihm manchmal wie eine endlose Reihe von Aufgaben und Problemen, die alle darauf warteten, dass er sich ihrer annahm, nur um dann von neuen abgelöst zu werden.
„Wir müssen sie stoppen. Mikan meinte zwar, dass niemand außer ihm in den Grüngürtel kommt, aber solch ein Heulen ist weit zu hören.”
Das Mädchen legte den Pfeil erneut an und zielte bereits auf einen der Welpen, da legte Vikor ihr eine Hand auf den Arm. „Sie sind zu klein, als dass sie eine Gefahr darstellen, ich will nur ihr Heulen stoppen. Können wir das nicht anders erreichen?”
Verständnislos sah das Mädchen ihn an. Warum sollte man die Biester verschonen? Wäre es nicht besser, sie jetzt sofort zu vernichten, solange sie noch jung und leicht zu besiegen waren? Doch all diese Fragen sprach sie nicht aus, wie sie überhaupt so gut wie nie sprach. Das Wort Vikors war für sie nahezu immer Gebot, und so zog sie nach kurzer Bedenkzeit einen Beutel aus ihrem Rucksack. Sie ging auf die Welpen zu und hieb dem einen mit der Breitseite ihres Bogens über den Kopf, sodass er bewusstlos zu Boden sank. Der andere unterbrach sein Heulen und wollte fortlaufen, da erwischte sie auch ihn mit dem Bogen.
Sie packte die beiden schlaffen Welpen im Nacken und steckte sie in den Beutel, wickelte oben ein Seil darum und brachte das Bündel zu Vikor. Sie warf es ihm vor die Füße.
Vikor hatte die Arme vor der Brust verschränkt und grinste. „In den Märchen, die du erzählst, kommen immer so nette, zarte Prinzessinnen vor. Ich frage mich, ob es nicht auch ein Märchen gibt, in dem ein Mädchen vorkommt, das so ist wie du.”
Das Mädchen sprach nicht, sie tat es nie außer beim Märchenerzählen, aber ihre Mimik war ausdrucksstark. Sie starrte Vikor aus schwarzen Augen und mit gerunzelter Stirn an. Ihre Lippen waren zusammen gepresst, so dass sie ihre rote Farbe fast verloren hatten. Vikor lenkte sofort ein. „So toll wie du natürlich. So kräftig, so ...”
Sie boxte ihn gegen den Arm und er lachte laut auf. „… zielsicher, charmant, kräftig und direkt und ...”
Er ging einen Schritt zur Seite, bevor ihn der nächste Boxhieb treffen konnte.
„Scherz beiseite, Mädchen, wir müssen handeln. Wir sollten den Wulf durch den Tunnel nach draußen ziehen. Wenn die Glasbaubewohner den Kadaver finden, werden sie sonst vielleicht misstrauisch. Mikan beschreibt sie immer als dumm und einfältig, aber ich bin mir da nicht ganz so sicher. So dumm kann keiner sein, dass er aus einem getöteten Wulf nicht ein paar schlaue Schlüsse zieht.”
Gemeinsam zerrten sie das schwere Tier zu dem Tunnel, der unter dem Schutzschirm des Grüngürtels in die Außenwelt führte und dann durch ihn hindurch. Draußen schleppten sie den Kadaver mit viel Mühe mehrere Hundert Meter weit fort vom Tunneleingang, damit der Blutgeruch keine weiteren Räuber in ihre Richtung locken würde.
Als sie zurückkamen, zappelte der Beutel mit den kleinen Wulfen wild und es kamen zornige, jaulende Geräusche aus ihm, die allerdings keine Ähnlichkeit mehr mit dem lautstarken Heulen von vorhin hatten. Das Mädchen schnappte sich den Beutel, deutete zum Tunnel und Vikor nickte. „Ja, bring sie auch nach draußen. Binde den Beutel an einen hohen Busch, dann sind sie erst mal sicher vor Fressfeinden.”
Der leicht genervte Blick des Mädchens zeigte, dass die Sicherheit der kleinen Wulfe ihr nicht im Mindesten am Herzen lag, sie aber den Befehl Vikors ausführen würde. Wie immer beugte sie sich dem Urteil des erfahrenen Liders, wenngleich es ihr in letzter Zeit schwer fiel, vor allem seit Mikans Erscheinen.
Nachdem das Mädchen ihren Auftrag ausgeführt hatte, setzten sie sich zusammen und aßen etwas, die Aufregung hatte sie hungrig gemacht. Ihre Vorräte waren auf weniger als die Hälfte geschrumpft, doch um sie herum standen Nutzpflanzen in Hülle und Fülle, es würde ihnen an nichts mangeln.
Obwohl die Wulfin tot war, ließen sie in ihrer Wachsamkeit nicht nach. Weiterhin standen sie abwechselnd Wache, und als es endgültig dunkel geworden war, lösten sie sich beim Schlafen ab. Niemand sah ihnen an, wie groß ihre innere Anspannung im Laufe der Wartezeit wurde. Ob Mikan und Lunaro ihre Rettungsaktion erfolgreich bestehen konnten? Ob sie wieder unbemerkt aus dem Kern des Refugiums herauskamen? Aber Vikor bereitete noch etwas Sorgen. Er hatte Kilawa, der ältesten und gewissenhaftesten der fünf Zurückgebliebenen, die Verantwortung übergeben und sie ohne weiteren Schutz in der Zuflucht zurücklassen müssen. Die Gruppe war als Einheit stark, doch nun waren sie getrennt. Vikor atmete gegen seine innere Unruhe an und akzeptierte, was nicht zu ändern war.
Kapitel 2: SensaZione
Mikan und Lunaro entfernten sich mittlerweile schnell in ihrem Ernteroboter von der Stelle, an der sie Vikor und das Mädchen zurückgelassen hatten. Während sich ihre Gedanken noch mit den Freunden und deren gefährlicher Situation beschäftigten, kamen sie bereits bei der Entladestation an.
Die Tür des Roboters öffnete sich langsam und Lunaro stieg nach Mikan staunend die kleine Treppe hinunter, die sich wie aus dem Nichts gebildet hatte. „Noch mehr Metall! So viele Scharniere, so viel Technik, so viele Knöpfe und ...”
Mikan zog seinen Freund weiter. „Später, dafür ist jetzt keine Zeit. Wir müssen zuerst in den Freizeitbereich, wo ich auch die Aufputschmittel für dich besorgt habe. Er ist direkt neben der Schleuse und nicht weit von hier entfernt. Komm mit!”
„Warum hast du die Sachen, die wir jetzt von dort noch brauchen, nicht gleich mitgebracht?”, wunderte sich Lunaro.
„Wenn man mich bei einer der seltenen nächtlichen Kontrollen erwischt hätte: Die Aufputschmittel hätte ich irgendwie erklären können, aber die Mittelchen, die wir uns noch besorgen müssen, hätten auf weitere Beteiligte hingewiesen. Das Risiko wollte ich nicht gleich eingehen. Jetzt, wo du sowieso bei mir bist, wir es beide in den inneren Gürtel geschafft haben, ist diese Gefahr nebensächlich. Wir müssen das so oder so durchziehen.”
Sie betraten nach wenigen Minuten den Freizeitbereich, der in früheren Zeiten gut besucht gewesen war. Bis vor ein paar Jahren gab es hier noch einen Bouleplatz und eine Schmetterlingsvoliere. Sogar Bänke zum Verweilen, die jedoch jedes Jahrzehnt weniger genutzt wurden. Nur wenige Menschen aus dem Refugium verirrten sich heutzutage noch hierher. Niemand hatte noch Interesse an sportlichen Aktivitäten, der Natur oder auch nur einem freundlichen Gespräch mit seinen Mitmenschen. Die Böden waren mit unterschiedlichem Grünzeug bedeckt. Hier und da schlängelte sich Efeu an den Bänken entlang und verdeckte dezent die nicht mehr behandelten Roststellen. Im Unterschied zum Grüngürtel gab es jedoch keine freilaufenden Tiere, nicht einmal Kaninchen oder eine Katze waren zu sehen. Selbst vor einer Heuschrecke wären die meisten Refugiumbewohner zurückgeschreckt, erklärte Mikan seinem ungläubig dreinschauenden Freund die großen vergitterten Gehege, hinter denen Schmetterlinge an der Wand schliefen. Mikans Dongel verschaffte ihnen Zutritt zu dem Freizeitbereich und nach ein paar Schritten standen sie vor dem Drogomaten. Es war ein eher unscheinbarer Metallkasten, hüfthoch, mit einer Tastatur versehen. Ein seitlich angebrachter Schlitz diente der Entnahme der angeforderten Drogen.
Lunaro bekam große Augen.
„Ein Drogomat! So nennst du ihn, nicht wahr? Was für ein Wunder, der Drogomat, die Medizin. Ich fühle mich schon nach dieser einen Tablette so stark und gesund wie noch nie. Kann ich nicht einfach dieses Wundermittel weiter nehmen, Mikan, du lässt ein paar Hundert davon aus dem Automaten purzeln und wir sparen uns die ganze gefährliche Aktion!”
„Nein, diese Tabletten wirken nur vierundzwanzig Stunden und du müsstest jeden Tag hierher kommen, denn für das Anlegen von Vorräten sind diese Dinger nicht gedacht. Wir würden sofort einen Verdachtsfall auslösen und innerhalb weniger Minuten wäre die Refugiumpolizei hier.”
„Aha, der Automat hier spuckt keine hundert auf einmal aus.” Lunaro ließ die Schultern hängen. „Na ja, hundert Tage reichen auch nicht sehr weit. Und allzu oft möchte ich wirklich nicht hierher in den riesigen Glaskasten kommen.”
„Und glaub nur nicht, dass die außerhalb des Refugiums ganz allein für dich so einen Automaten aufstellen”, witzelte Mikan, um Lunaros Anspannung ein bisschen zu vermindern. Als er sah, dass sich über Lunaros Gesicht ein Lächeln zog, freute er sich zuerst, aber dann verschränkte er die Arme vor dem Körper und sandte eine Belehrung hinterher. „Drogen sind sowieso nichts, was man länger nehmen sollte. Sie schädigen auf Dauer deinen Körper und meistens auch den Verstand. Diese Aufputschmittel sind nicht dazu gedacht, eine Krankheit wirklich zu kurieren.”
Lunaro nickte, das leuchtete ihm alles sofort ein.
„Alles klar. Wie geht's jetzt also weiter?”
„Wir müssen zum Medirob, denn diese Maschine macht Menschen tatsächlich gesund. Sie hat nur einen Nachteil, sie befindet sich leider im Inneren des Refugiums. Hier draußen im Grüngürtel sind so gut wie nie Menschen anzutreffen, da lohnt sich so ein Ding nicht.”
Lunaro zuckte mit den Schultern. „Okay, du bist derjenige, der sich hier drin auskennt. Ich mache alles mit, ich möchte nur so gerne das Gefühl länger spüren, das ich gerade habe. Es ist, als ob ich aufgewacht wäre und mein Körper fliegen könnte.”
„Wart es bloß ab, nach der Behandlung im Medirob wirst du dich noch besser fühlen, das verspreche ich dir.”
Während der letzten Worte tippte Mikan wild auf dem Drogomaten herum, Lunaro sah seine Finger kaum, so schnell flogen sie über die Tasten. Mikan erklärte Lunaro währenddessen das weitere Vorgehen.
„Punkt eins auf dem Weg zum Medirob: Wir müssen jetzt an den Wächtern vorbeikommen, ohne dass wir auf einer Bioaufzeichnung landen. Sie dürfen uns also zu keinem Zeitpunkt sehen.” Aus dem Schlitz fielen zwei kleine Päckchen.
„Diese Drogen hier, Somafelix und Hal-U-SensaZione, werden uns dabei helfen.”
Er nahm das längliche Päckchen in die Hand. „Das ist Somafelix. Damit schicken wir sie erst mal in den Schlaf.”
Er öffnete die Packung und zog etliche Kapseln heraus, die mit einer blassblauen Flüssigkeit gefüllt waren.
„Woher weißt du, wie dieses Mittel funktioniert?”, wollte Lunaro wissen.
„Weil ich den Wirkstoff kenne. Ich habe ihn oft bei Tierversuchen benutzt. Beschert den Karnickeln einen tiefen Schlaf. Und was bei Karnickeln funktioniert, wird es zumindest kurzfristig bei Menschen auch tun.” Er verzog das Gesicht. „Aber eben nicht lange genug. Deshalb brauchen wir noch zusätzliche Drogen. Du musst auf jeden Fall ordentlich mit deinem Blasrohr zielen, damit Somafelix auch an Ort und Stelle ankommt.” Mikan grinste Lunaro an.
Der nickte. „Ich kann ganz gut zielen. Kommt zwar auf die Entfernung an und ob sich das Ziel bewegt, aber das wird schon klappen. Ich bin kein Meisterschütze mit dem Blasrohr, doch ich treffe auch nicht schlecht. Das Mädchen hat es mir beigebracht.”
Lunaro grinste Mikan an, da dieser die Augen verdrehte. „Du streitest das immer ab, aber das Mädchen ist eine gute Lehrmeisterin.”
Mikan ignorierte das Lob des Mädchens. Seine Abneigung gegen sie konnte er selbst nach den vielen gemeinsamen Erlebnissen nicht restlos ablegen. Zwar war es sie gewesen, die ihn verletzt und hilflos im Wald gefunden, die ihn letztlich vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Doch dass er keine wirkliche Ahnung vom Leben und Überleben außerhalb des Refugiums besaß, ließ sie ihn immer wieder spüren, und damit konnte er schlecht umgehen. Immerhin lernte er täglich dazu und fiel der Gemeinschaft immer weniger zur Last. Ja, er fühlte sich mittlerweile als wichtiger Bestandteil der Gruppe, seine Aufgaben waren ein wesentlicher Beitrag zu ihrem Überleben. Er erklärte weiter: „Es reicht, wenn du die beiden irgendwo am Körper erwischst, das setzt sie mindestens einige Minuten außer Gefecht. Zeit genug für mich zum Handeln. Die nächsten Drogen werde ich ihnen nämlich selbst verabreichen, die werden ihnen gleich für einige Stunden süße Träume bescheren.” Mikan grinste breit. „Süßer als süß. Das wird uns die Zeit verschaffen, die wir für den Medirob brauchen.”
Er öffnete die Kapsel der Droge auf einer Seite, tauchte einen der mitgebrachten Pfeile in die Flüssigkeit und gab ihn Lunaro.
„Jetzt pass nur auf, dass du dich nicht selbst damit ritzt! Sonst triffst du nicht mal mehr ein Haus”, frotzelte er. So gut gelaunt war er schon lange nicht mehr gewesen. Das war ein Abenteuer ganz nach seinem Geschmack. Den verdummten Refugiumbewohnern eins auszuwischen, das zählte bereits früher zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.
Lunaro nahm den Pfeil vorsichtig mit spitzen Fingern entgegen. „Wir brauchen zwei Pfeile, es gibt zwei Wächter, hast du gesagt. Pass du lieber mit der offenen Kapsel auf, Mikan, wenn das Mittel so stark wirkt.”
Mikan winkte ab.
„Wir nehmen für den zweiten Wächter eine andere Kapsel, die hier werfen wir gleich mal in den Müllschlucker. In der Packung sind genug davon.”
Fasziniert sah Lunaro zu, wie ein großes schwarzes Maul neben dem Drogomaten die geöffnete Kapsel schluckte.
„Und wie stellen wir sicher, dass der zweite Wächter nicht Alarm schlägt, wenn der erste aus den Schuhen kippt?”, wollte Lunaro wissen.
„Wir müssen warten, bis einer der beiden Wächter seinen Rundgang macht. Der dauert etwa zehn Minuten und laut Vorschrift muss so ein Rundgang in jeder Stunde durchgeführt werden. Sobald der eine weg ist, schicken wir den anderen in den Schlaf.”
„Gut, dann haben wir ausreichend Zeit nachzuladen.”
„Genau. Während Nummer zwei fort ist, erledigen wir Nummer eins, und sobald Nummer zwei zurückkommt, erwischen wir den auch.”
Ein immer noch selig vor sich hin grinsender Mikan machte sich auf den Weg und Lunaro schlich hinter ihm her. Nach wenigen Hundert Metern durch kurzgeschorenes, saftiggrünes Gras und entlang von wie mit dem Lineal gezogenen Blumenrabatten bewegten sie sich auf ein niedriges Gebäude zu.
„Das ist das Wachhaus. Hier müssen wir durch, an den Wächtern vorbei, um ins Innere des Refugiums zu gelangen. Das Haus bildet eine Schleuse. Und pass auf, sie dürfen uns nicht sehen oder hören, zu keinem Zeitpunkt!”, beschwor Mikan den hinter ihm gehenden Lunaro.
Auch Lunaro senkte seine Stimme. „Wie weit wird die Entfernung für den Schuss sein?”
„Wir werden nur bis auf etwa zehn Meter heran können. Sonst wäre das Risiko zu groß, entdeckt zu werden.”
„In Ordnung, aber wie sollen wir es anstellen, dass sie uns nicht sehen?”
„Wir schleichen uns von hinten an. Ich kenne die Örtlichkeit wie meine Insektensammlung. Glaub mir, das klappt.”
Lunaro war noch nicht restlos überzeugt von dem Plan.
„Was, wenn sie uns doch sehen? Ziehen wir die Aktion dann trotzdem durch?”
„Die Aktion werden wir auf jeden Fall beenden!” Mikan unterstrich mit einer deutlichen Geste seiner zur Faust geballten Hand Entschlossenheit. „Falls sie uns bemerken, müssen wir aber sehr schnell handeln und sie ausschalten, bevor sie Alarm schlagen können.”
„Okay.”
Mikan zog Lunaro zu einem Eingang, dessen Tür weit offen stand.
„Es ist ein Witz”, sagte Mikan, „aber diese Tür steht immer offen. Und lies mal, was da auf dem Schild steht!”
„Diese Tür immer geschlossen halten”, entzifferte Lunaro im Halbdunkel und musste nun ebenfalls grinsen.
„Die Wächter sind so überflüssig wie dumm. Hier können wir jedenfalls hinein. Bleib dicht hinter mir und ab jetzt kein Wort mehr!”
Die beiden schlichen einen langen, von kleinen Lichtern erhellten Gang hinunter und bogen dann links ab. Mit dem Zeigefinger auf dem Mund bedeutete Mikan, dass nun besondere Vorsicht geboten war. Man hörte bereits ein entferntes Gespräch, dessen Worte allerdings noch nicht zu verstehen waren. Je näher sie jedoch dem Ende des Ganges kamen, desto deutlicher konnte man die Unterhaltung der beiden Wächter mitverfolgen, bei der es sich allerdings nur um Nichtigkeiten drehte.
Mikan bedeutete Lunaro, auf ein Signal von ihm zu warten. Vorsichtig lugte er um die Ecke und atmete auf, denn beide Wächter saßen auf bequemen Sesseln und drehten ihnen den Rücken zu.
Lunaro zog behutsam ein langes dünnes Rohr aus seinem Beutel. Es glitzerte metallen. Still warteten sie einige Minuten, dann begab sich einer der beiden Wächter auf den vorgeschriebenen stündlichen Rundgang und verließ den Raum durch eine Tür auf der schräg gegenüberliegenden Seite.
Sie hörten die Schritte verhallen.
Nun warf auch Lunaro einen Blick um die Ecke, um sich zu orientieren. Er sah eine Wand mit mehreren leuchtenden Bildern, auf denen Landschaften zu erkennen waren. Davor standen zwei bequem aussehende gepolsterte Stühle. Auf dem nähergelegenen saß ein Mann, die Beine hatte er lässig auf dem Tisch vor sich abgelegt. Ein Tisch mit vielen Knöpfen und Hebeln, wie faszinierend … Lunaro wies sich zurecht, so sehr ihn die Technik reizte, dafür war jetzt keine Zeit.
Lunaro legte an, konzentrierte sich, holte tief Luft und schoss. Jedoch verlor er im entscheidenden Moment durch seine gebückte Haltung leicht das Gleichgewicht… der Pfeil prallte mit einem Klick von der Stuhllehne ab und landete direkt neben dem zweiten leeren Stuhl. Mikan und Lunaro hielten erschrocken den Atem an. Hatte der Mann etwas bemerkt oder gehört? Es schien erstaunlicherweise nicht so, doch wenn er den Blick nur leicht seitwärts richtete, musste er den abgeprallten Pfeil auf dem Boden neben sich entdecken.
In fieberhafter Eile präparierte Lunaro mit Mikans Hilfe den zweiten Pfeil. Das dauerte eine ganze Weile, da dieser erst eine neue Kapsel öffnen musste. Wie sträflich ungeschickt, dass sie dafür nicht vorgesorgt hatten! Mikan beruhigte sich selbst: Sie sollten eigentlich hinreichend Zeit dafür haben, bevor der andere Wächter von seinem Rundgang zurückkam. Lunaro legte erneut an, stabilisierte dieses Mal seinen Stand durch einen leichten Ausfallschritt. Gerade als er das Geschoss auf den Weg bringen wollte, entdeckte der Mann tatsächlich den auf dem Boden liegenden Pfeil, nahm seine Beine vom Schaltpult und bückte sich danach. Gedankenschnell korrigierte Lunaro die Richtung und pustete erneut ins Rohr. Das Herz schlug beiden Jägern bis zum Hals. Was, wenn auch dieser zweite Versuch missglücken sollte? Doch sie hatten es geschafft: Innerhalb einer Sekunde fiel der Getroffene nach vorne, stützte sich noch kurz mit einer Hand auf dem Boden ab und sackte schließlich fast lautlos in sich zusammen.
„Uff!”, atmete Mikan erleichtert aus und klopfte Lunaro anerkennend auf die Schulter.
Das Mittel hatte umgehend gewirkt und dem Mann keine Zeit für eine alarmierende Reaktion gelassen. Sie waren wieder einen Schritt weiter.
Es blieb keine lange Verschnaufpause, sie mussten nun zügig agieren. Mikan flüsterte aufgeregt: „Jetzt präparieren wir schnell den dritten Pfeil, dann platzierst du dich hier neben der Tür. Und solange wir warten, verabreiche ich dem hier schon mal eine ordentliche Portion Hal-U-SensaZione.”
Mikan zog den bewusstlosen Wächter in die Ecke neben der Tür, damit er vom zurückkommenden Kollegen nicht gleich gesehen wurde, und injizierte ihm die mitgebrachten Drogen. Dann wandte er sich wieder an Lunaro.
„Ich werde zurück in den Gang gehen. Sobald ich höre, dass der andere Wächter zurückkommt, werde ich einen ordentlichen Lärm veranstalten, sodass der Mann in meine Richtung schaut und direkt auf diese Tür zukommt. Wenn ich es schaffe, sieht er sich nicht um und so kannst du ihn aus nächster Nähe von hinten erwischen. Triff ihn bitte möglichst, bevor er um die Ecke kommt und mich sehen kann.”
Lunaro nickte. Der erste Erfolg hatte ihm Sicherheit gegeben, er fühlte sich siegesgewiss.
Und es klappte tatsächlich wie am Schnürchen: Fünf Minuten später lagen beide Wächter am Boden und träumten sich ins Paradies. Mühsam schleppten sie die beiden wieder zu den Sesseln zurück, hievten sie hinein und platzierten den Kopf auf dem Schaltpult vor ihnen. Die Packung des Hal-U-SensaZione legten sie direkt daneben.
„Die werden sich später an nichts erinnern. Wenn sie die Packung finden, die wir hier liegen lassen, werden sie denken, sich selbst bedient zu haben. Ich kenne die beiden, genau dieses Mittel habe ich schon bei ihnen gesehen. Und da Drogenkonsum während der Arbeitszeit nicht erlaubt ist, werden sie niemandem etwas davon erzählen, selbst wenn sie sich an Bruchstücke der Realität erinnern. Also los jetzt, das Refugium steht uns für einige Stunden frei zur Verfügung, wir wollen keine Zeit verlieren.”
Und schon schoss Mikan davon, Lunaro dicht hinter ihm drein.
„Wo müssen wir jetzt hin?”, fragte er schnaufend im Laufen.
„Das nächste Medirob-Gebäude ist ganz in der Nähe, das schaffen wir zu Fuß in wenigen Minuten.” Er grinste. „So fit, wie wir zwei gerade sind.”
Das stete Training draußen hat sich tatsächlich gelohnt, dachte Mikan, noch vor einem halben Jahr hätte ich bei dem Tempo im Nullkommanichts den Atem verloren ...
In Lunaros Bauch machte sich allerdings ein seltsames Gefühl breit. Bisher war alles glatt gelaufen, zu glatt. Nach seiner Erfahrung hielt so eine Glückssträhne selten lange an ...
Wachsam blickte er in jede Richtung. Es war dunkel im Refugium, nur ein paar Lichtleisten, die an den Hauswänden angebracht waren, schenkten eine nebulöse Helligkeit. Sein Leben außerhalb der geschützten Glaskuppel, draußen in permanenter Gefahr, hatte ihn stetige Wachsamkeit gelehrt. Fasziniert nahm trotzdem der Forscher in ihm die Andersartigkeit der Umgebung wahr. So viele Häuser, keine Pflanzen, nur Straßen und Technik. Sein Herz schlug noch höher, nun auch vor Neugier. Wie gerne hätte er hier alles erkundet, erforscht. Den Geruch von draußen, nach Wald und Wiese, nach Feuchtigkeit und Blüten, vermisste er allerdings. Er prüfte die Luft, die schnell in ihn ein- und ausströmte: Tatsächlich, hier roch es nach nichts; so einfach nach gar nichts. Er schnupperte noch einmal gründlich: Da war ein Hauch von etwas, das er jedoch nicht zuordnen konnte ... Aber jetzt gab es Wichtigeres als Geruchsfragen.
Kapitel 3: VVZ Nord
Mikan teilte Lunaros Sorgen über eine mögliche Entdeckung kaum. Er kannte seine Mitmenschen im Refugium. Zu dieser Zeit lagen annähernd hundert Prozent friedlich im Bett, stillgelegt durch Trauminsel99, das beliebteste Schlafmittel der letzten Jahre. Ohne jegliche Nebenwirkungen, aber dafür mit den wunderbarsten Träumen; das behauptete zumindest das Drogenministerium.
Sie näherten sich einem Gebäude, höher und größer als alle anderen, an denen sie vorbeigekommen waren. Obwohl es unbeleuchtet war, erkannte man in dem diffusen Licht seine riesenhaften Ausmaße.
„Was ist das für ein gigantisches Haus?”, wollte Lunaro mit weit aufgerissenen Augen wissen, „Da würde ja unser gesamtes Lager zehn Mal reinpassen. Oder sogar zwanzig Mal. Und zudem ist es auch noch so hoch! Viele Häuser übereinander!”
„Das ist das VVZNord, das Verwaltungs- und Versorgungszentrum für diesen Quadranten. Darin befinden sich die Datenbanken für die Bioaufzeichnungen und eine Lebensmittelerzeugungsfabrik. Und alles, was man sonst so braucht, um ein solch komplexes Gebilde wie ein Refugium am Laufen zu halten. Für uns ist aber nur wichtig: Der Medirob dieses Quadranten befindet sich hier drin und nachts hat man ihn ganz für sich allein. Ich habe ihn immer nur nachts benutzt, da hat man seine Ruhe. Kein einziges Mal bin ich jemandem begegnet.”
„Wir müssen also in dieses riesige Haus hinein?”, staunte Lunaro und schöpfte tief Atem.
„Ja, komm, dort ist der Eingang. Ab zum Medirob.”
Mikan strebte zielsicher zu einer der vielen Türen des Gebäudes, öffnete sie mit dem Autodongel und zog Lunaro in einen schwarzen Raum hinein. Sofort ging das Licht an und Mikan schloss schnell die Tür hinter ihnen. Sobald der Raum besetzt war, konnte man ihn von außen nicht mehr öffnen, damit man bei der Behandlung nicht gestört wurde.
Der Raum war zweckmäßig und nüchtern eingerichtet. In der Mitte befand sich eine große Bank, über der ein längliches, kastenähnliches Gebilde mit einer Klappe aufgebaut war, etwas über zwei Meter lang. An der linken Wand standen ein paar bequeme Sessel und eingefügt in die rückseitige war ein Bildschirm montiert. Das umfasste bereits die komplette Einrichtung.
Die Verwaltung und Betreuung der Automaten war schon lange aufgegeben worden. Die Bedienung war so einfach, dass wirklich jeder allein damit zurechtkam, und sogar die Reparaturen erfolgten automatisch.
„Hier, das Ding ist ein Medirob. Da musst du jetzt rein.” Mikans Stimme hallte gespenstisch in dem fast leeren Raum. Er zeigte auf die Klappe.
Am Medirob war unten eine Anleitung angebracht.
Ausziehen.
Reinlegen.
Warten auf den Piepston.
Nach dem Erwachen gleich aussteigen.
Anziehen.
Diagnose lesen nicht vergessen.
Fasziniert sah Lunaro die Maschine an und fragte sich nach dem technischen Innenleben. Von außen sah man nicht viel. Interessant schien ihm vor allem das leuchtende Bild mit den Worten, das aus der Wand dahinter leuchtete. Es sah aus wie diejenigen bei den Wächtern in der Schleuse.
„Du musst dich ausziehen, leg deine Kleidung hier auf den Sessel.”
Als Lunaro seine Lumpen ausgezogen hatte, sah Mikan zum ersten Mal in aller Deutlichkeit, wie schrecklich dünn Lunaro war. Die Rippen stachen aus dem Oberkörper und die Arme und Beine erinnerten an dürre Stecken. Das runde, aufgeschwemmte Gesicht und die unförmigen Lumpen hatten seinen wirklichen Zustand größtenteils verborgen.
Mikan verdrängte sein Entsetzen, öffnete mit dem Autodongel die Klappe des Medirobs und Lunaro stieg hinein.
„Keine Angst, du wirst nichts von der Diagnose und Behandlung merken. Als Erstes wirst du sediert. Dann macht sich der Medirob an die Arbeit und am Ende bekommst du einen kleinen Muntermacher.”
„Heißt sediert, dass ich schlafe?”
„So ungefähr. Na, der Automat wird bei dir ordentlich was zu tun haben. Der sollte dich auch gleich ein wenig aufpäppeln, das wäre praktisch …“
Lunaro war viel zu aufgeregt, um zu antworten. Als er dalag, zitterte er, es war ihm kalt ohne Kleider. Seine Augen stachen groß aus dem blassen Gesicht heraus.
„Warte, der Medirob heizt sich gleich auf normale Körpertemperatur auf”, tröstete ihn Mikan, als er das Zittern und die Gänsehaut bemerkte. „Entspann dich!”
Die Klappe schloss sich nach wenigen Sekunden automatisch und verbarg den Blick auf Lunaro.
Wie gut, dass er endlich behandelt wird! Lange hätte er nicht mehr durchgehalten, Aufputschmittel hin oder her, sinnierte Mikan, während er sich in einem der bequemen Sessel niederließ. Was hat er für ein verdammtes Glück gehabt, dass ich zu ihrer Gruppe gestoßen bin. Und dass ich ihn zum Medirob gebracht habe.
Beim Nachdenken über sein Heldentum wäre Mikan fast eingeschlafen. Er bemühte sich wach zu bleiben, aber immer wieder nickte er ein.
„Degradiert?! Was?”, schrie Mikan. „Du wirst degradiert?”
„Irgendjemand muss mich angezeigt haben.” Vor ihm stand Valea, ihre langen schwarzen Haare rebellisch offen getragen, in der Hand hielt sie einen Infometer, den sie ihm entgegen streckte. Mikan wurde es schwummerig vor Augen. Er dachte, er müsse sich setzen, doch dann dämmerte ihm: Er träumte, höchst wahrscheinlich träumte er. Mikan lehnte sich an die nächstgelegene Wand, schmiegte sich genau in die freie Ecke. Er brauchte Halt.
„Ich darf mich noch von dir verabschieden”. Valea war wie gewohnt ziemlich einsilbig.
Mikan sah die elektrische Fessel um Valeas Hals entsetzt an, er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Das war menschenunwürdig, eine Fessel, und dann auch noch um den Hals. Vor allem bei ihr, seiner Valea.
„Was hast du denn angestellt? Hat dich jemand angezeigt? Und dann gleich die Höchststrafe?! Es muss ein Irrtum vorliegen. Da muss doch was zu ändern sein! Das kann ich nicht akzeptieren.”
„Nein, da ist nichts zu machen, schau hier”, und sie hielt ihm den Infometer dieses Mal direkt unter die Augen. „Hier steht auch, was ich in deren Augen verbrochen habe.”
Valea wuchs vor seinen Augen. Aus der zierlichen jungen Frau wurde eine Riesin, es schien ihm, als wüchse sie bis zur Decke. Er kam sich schändlich klein vor, wollte sich am liebsten verkriechen, nahm jedoch den Infometer und las.
Beschluss der Degradierung zur Unter.
Valea Despedida wird hiermit gemäß ihrer Stellung als Ober ohne Regierungsverantwortung dem Urteil des Ältestenrates unterworfen. Der Vorwurf, sich mit einem Unter sexuell eingelassen zu haben, wurde von dritter Seite bestätigt. Der Beschluss ist unanfechtbar und mit einem Tag Verzögerung zu vollstrecken.
Das Urteil war kurz. Urteile waren im Laufe der Jahre immer kürzer geworden. Es gab keine Anwälte mehr, keine Gerichtsdokumente, ein einfacher Beschluss des Ältestenrates genügte in den allermeisten Fällen. Und in diesem Fall lag, wie es klang, eine anonyme Anzeige vor, sonst wäre ein Name genannt worden. Mikan wusste um diese Praxis, er war dennoch fassungslos. Mit drei Sätzen wurde über das Schicksal eines Menschen entschieden, sein Leben vernichtet. Valeas Leben vernichtet. Mikan starrte den Infometer an, konnte seine Augen nicht heben, um Valea anzusehen.
Doch woher kamen seine Schuldgefühle? Sie überfluteten ihn und raubten ihm den Atem. Ich habe doch damit nichts zu tun, sagte er sich wie ein inneres Mantra immer wieder. Ich habe sie nicht angezeigt, weiß der Henker, wer das war, ich bin vollkommen unschuldig.
„Ich habe nichts damit zu tun!” Er streckte ihr den Infometer wieder hin, hielt die Augen jedoch weiterhin gesenkt. Ihm war schlecht.
Er spürte, dass Valea ihn ansah. Ihr Blick durchdrang ihn, obwohl er ihn nicht sah. Er nahm ihm den Atem, bannte ihn, so dass er wie eingefroren vor ihr verharrte.
Sie sprach kein Wort. Stand einfach da. Wortlos nahm sie den Infometer wieder entgegen und ging zur Tür. Diensteifrig riss Septas diese auf, und wie eine Königin schritt Valea durch sie hindurch. Wuchs, als sie ging.
„Warte doch!”, rief ihr Mikan hinterher. Doch seine Worte erreichten sie nicht mehr. Sie war fort. Ein großes Loch klaffte an der Stelle, an der sie verschwunden war.
„Mach die Tür zu!”, schrie Mikan Septas wutentbrannt an. Dieser zuckte zusammen und beeilte sich gekrümmt, der Aufforderung schnellstmöglich nachzukommen.
„Ja, mein Herr! Entschuldigen Sie!”
Septas war ein typischer Unter, wie er in digitalen Bilderbüchern vorkam. Ein Unter! Valea war keine Unter! Sie war eine Königin!
„Eine Königin!” Der Schrei Mikans verhallte langsam und endlos.
Schweißgebadet wachte Mikan auf. Verwirrt blickte er um sich. Ah, er befand sich im Refugium, neben dem Medirob, in dem Lunaro geheilt wurde, er hatte nur geträumt. Der Hals tat ihm weh. Irgendetwas musste er im Schlaf geschrien haben.
Verdammt, er hatte von Valea geträumt. Wieder einmal. Die Teile des Traums verrannen haltlos wie Treibsand vor seinen Augen. Hatte er wieder geträumt, dass er sie verraten hatte? Dass er sie angefleht hatte? Mit ihr hatte er den einzigen Menschen verloren, den er je im Refugium geliebt hatte. Wahrhaftig geliebt hatte.
Er fühlte ein tiefes Loch in seinem Inneren.
„Es war nicht so!”, schrie er, um das Loch zu füllen. Es half nichts. Die Leere verschwamm, blieb aber bestehen.
„Es war nicht so!”
Wie erschlagen ließ Mikan seine Augen über den Medirob schweifen, da sah er plötzlich etwas, das ihm in all der Aufregung vorhin nicht aufgefallen war. Aus einer Spalte unterhalb der Anleitung ragte eine kaum sichtbare Spitze weiß heraus. Neugierig stand er auf und ging näher heran. Er zog vorsichtig an der kleinen Ecke. Zu seinem grenzenlosen Erstaunen hielt er schließlich ein schmales Stück Papier in der Hand, auf dem in mikroskopisch winziger Schrift ein Text zu erkennen war.
„Na so was”, stieß Mikan aus, „Papier habe ich außerhalb des Museums schon jahrelang nicht mehr gesehen.”
Er ließ sich erneut nieder, überschlug die Beine, hielt den Zettel nah vor seine Augen und studierte den Inhalt.
Infrage gestellt
Uns geht es besser als allen Generationen vor uns.
Schon beim ersten Satz stutzte er. Er kam ihm bekannt vor. Hatte nicht Drain exakt diesen Satz bei ihrem letzten Treffen im Aufzug als Frage an ihn gestellt? Drain, der er nie richtig zugehört hatte, wie ihm jetzt auffiel. Er wischte den Gedanken wieder beiseite. Da würde er ein andermal in Ruhe drüber nachdenken, jetzt war er neugierig auf den Rest des Textes. Er las weiter:
Der Ältestenrat ist durch seine lange Erfahrung unfehlbar.
Die Aufteilung in Ober und Unter ist unabänderlich und für Unter unumkehrbar.
Es gibt keine Verbrechen und auch keine Verbrecher in den Refugien.
Das Wissen der Menschheit vermehrt sich mit exponentiellem Wachstum.
Benesentis dienen dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft und bilden die Basis unserer Kultur.
Die Erziehung der Kinder im Hort ist der durch Eltern weit überlegen.
Wenn du diese und andere angebliche Wahrheiten noch nie angezweifelt hast, wirf dieses Papier weg und bleibe einer der vorbildlichen Dummköpfe, auf deren Ignoranz unsere Gesellschaft aufbaut und denen wir letztlich den Untergang unserer Welt zu verdanken haben werden.
Mikan hasste das Wort Benesentis, er nannte die Sache lieber beim Namen: Drogen! Nichts anderes waren diese verfluchten Substanzen. Er fühlte sich von den Sätzen angesprochen, wenngleich er noch nie so weitgehend und umfassend am System gezweifelt hatte wie die Autoren dieses Textes. Er wendete den Zettel und las auch die Rückseite.
Denn bereits jetzt haben wir:
Die ersten Ausfälle der Luftreinigungseinheiten im Quadranten Süd.
Die vermehrte Zunahme von Verunreinigungen im Trinkwasser.
Langzeitdrogenabhängige mit irreparablen Schäden, die in geheimen Kliniken untergebracht sind.
Untherapierbare Aggressoren, die man mittlerweile aus dem Refugium exiliert.
VORBOTEN EINER DEKADENZ, DIE
ZUM UNTERGANG DER REFUGIEN FÜHREN WIRD
Praktisch alle lebenserhaltenden Systeme sind infolge der Inkompetenz der letzten
einhundert Jahre durch einen Kollaps bedroht, der irreparable Schäden an unserem Lebensraum verursachen wird.
Wer soll dem entgegentreten, wenn nicht
DU!
Ernsthaft interessiert?
Wir finden dich! Denn du wirst nach dieser Lektüre nicht mehr derselbe sein wie vorher!
„Verfluchte Kakerlakenkacke!”
In das Wirrwarr seiner alten Erfahrungen und frisch wieder gewonnenen Erinnerungen fügte sich das Puzzlestück des Pamphlets ein wie ein heller Stern in sein Sternbild. Mikan war wie elektrisiert. Der Raum schien ihm jetzt doppelt so groß und hell erleuchtet.
„Warum, verflucht noch mal, habe ich das selber nie so deutlich gesehen? Das ist doch alles sonnenklar.” Mikan schlug sich die Hand vor die Stirn.
„Das wollte mir Drain sagen! Schade eigentlich, dass ich jetzt nicht mit ihr darüber sprechen kann”, murmelte er vor sich hin. Wieder las er das winzige Flugblatt durch und seine Gedanken kreisten um die Aussagen, vor allem die angeführten Tatsachen, die bereits eingetreten sein sollten. Ihm waren sie völlig unbekannt. Aber sie schienen ihm keineswegs abwegig. Im Gegenteil!
Als er die Zeilen ein drittes Mal lesen wollte, zerfiel das Papier in seinen Händen und zerbröselte zu winzigen Schnipseln mit unleserlichen Hieroglyphen. Womit das wohl präpariert worden war? Schlaue Technik!
Der Medirob arbeitete immer noch mit blinkenden Lichtsignalen und Mikan blieb Zeit, über Allerlei nachzudenken. An Einnicken war jetzt nicht mehr zu denken, er war hellwach.
Nach etwa einer weiteren Stunde war Mikans Geduld weitgehend erschöpft und er ging nervös im Raum auf und ab. Warum dauerte das so lange?! Endlich hörte er ein leises Klicken und die Klappe öffnete sich automatisch.
Neugierig näherte sich Mikan dem Medirob, in dem sich Lunaro gerade langsam aufrichtete. Er sah aus wie vorher. Spindeldürr, schmutzig, kalkweiß und mit Vollmondgesicht. Mikan war ein wenig enttäuscht, obwohl er wusste, dass der Medirob keine Wunder vollbringen konnte. Er wies sich sofort selbst zurecht: Auch wenn Lunaro genau wie vorher einem halbverhungerten, gleichzeitig teilweise aufgeblasenen Gespenst ähnelte, vielleicht war er jetzt dennoch gesund.
„Na, war gar nicht so schlimm, oder?”, begrüßte ihn Mikan.
„Ich fühle mich besser. Viel besser.” Lunaro sah an sich hinunter. „Aussehen ist nicht alles.”
„Prima”, strahlte Mikan erleichtert.
„Ich fühle mich noch besser als mit deinen Tabletten. Ich glaube, die brauche ich nicht mehr.”
In diesem Moment zeigte der Bildschirm die Diagnose an.
Neue Gesundheitsakte zu bisher unbekannter DNA-Sequenz wurde angelegt.
Diagnose: Es liegt ein bisher im Refugium Port19 nicht bekannter Gendefekt vor.
Heilung: Momentan nicht möglich. Forschung wird eingeleitet.
Therapie: Zur Behandlung der gravierenden Schilddrüsenfehlfunktion infolge des Gendefekts wurde ein Langzeitmedikament injiziert. Diese Applikation muss jedes halbe Jahr wiederholt werden.
„Oh verdammter Mistkäfer, damit habe ich nicht gerechnet. Normalerweise heißt es: Heilung erfolgreich.” Mikan sah verstört auf die Diagnose und versetzte dem Medirob gleich darauf einen leichten Tritt.
„Was bedeutet Langzeitmedikament?”, fragte ihn Lunaro.
Das ist eine Kapsel, die sich im Magen sternförmig entfaltet, und dadurch nicht weiter transportiert werden kann. So gibt sie ihren Wirkstoff gleichmäßig über Monate hinweg ab.”
„Monate ist doch prima.” Lunaro zog sich an. „Ich fühle mich genial. Und wäre es nur für ein halbes Jahr, das ist es wert.”
„Du denkst zu kurz, Lunaro. Wir müssen diese Aktion in einem halben Jahr wiederholen. Das ist ein enormes Risiko. Vielleicht ist bis dahin das Loch des Sindalons geschlossen, was dann?”
Lunaro sah Mikan ruhig an. „Ich habe mich nie so gut gefühlt. Ein halbes Jahr in diesem Zustand ist besser als die letzten drei Jahre zusammen. Und außerdem bin ich nach einem halben Jahr doch nicht gleich tot, ich müsste dann nur eine Auffrischung bekommen. Ich falle ja sicher nicht sofort tot um, mir geht’s bloß erst mal wieder schlechter.” Er legte Mikan die Hand auf den Arm. „Wir sind so weit gekommen, wir denken an den nächsten Schritt in einem halben Jahr. Oder kurz davor.”
Mikan schaute immer noch nicht glücklich drein.
„Außerdem frisst mich in dem halben Jahr vielleicht auch ein Sindalon”, lächelte ihn Lunaro an.
Mikan verdrehte die Augen.
„Lass das! Ich frage mich immer wieder, wie ihr Draußenmenschen so gelassen sein könnt, wenn euer Leben bedroht ist. Ich kann das nicht!”
Er stutzte. „Apropos Sindalon. Wir sollten schnell zurück. Wer weiß, wie es den anderen ergangen ist.”
Lunaro grinste. „Ist schon witzig, mit dir und der Zeit. Da hattest du bereits so viel davon und machst dir ständig Sorgen, alter Mann.”
„Nun werd nicht philosophisch, wir müssen schleunigst zurück. Das Mädchen und Vikor werden schon sehnlich auf uns warten.”
„Wenn das Sindalon sie nicht gefressen hat.” Lunaro grinste wieder, als er sah, wie Mikan zusammenzuckte. „Du wirst dich schon noch daran gewöhnen, Mikan, an unsere Witze über den Tod. Man darf ihn nicht ganz so ernst nehmen, wenn man überleben will.” Sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter.
In diesem Moment fiel Mikans Blick auf den kleineren Bildschirm, der an der Rückwand des Raumes unauffällig in der Wand eingelassen war. Seine Bedeutung wurde ihm erst jetzt wieder bewusst.
„Halt, Lunaro, das hatte ich ganz vergessen. An dieser Konsole kann man sich Notfallmedikamente ausgeben lassen, für den Fall, dass man von Refugium zu Refugium reist und unterwegs medizinische Hilfe braucht. Hier werden wir uns eine Apotheke zusammenstellen. Wir lassen raus, soviel wir mitnehmen können.”
Kurz danach hielt er eine Vielzahl von kleinen Medikamentenpäckchen in den Händen, die er in seinen Beutel stopfte. Ein paar größere Päckchen umwickelte er mit einem Seil, damit sie nicht auseinanderfielen. Auch drei Packen Ersatzkleider hatte er herausgelassen, die in praktischen Tragevorrichtungen herauspurzelten. Er öffnete eines davon.
„Endlich wieder anständige Kleider, diese abgetragenen Lumpen passen nicht zu mir. Auch wenn ich jetzt unter lauter Ignoranten hygienischer Grundbedingungen lebe.”
Mit einer unglaublichen Euphorie riss er sich unter Lunaros ungläubigen Augen die abgetragenen Kleider vom Leib und stopfte sie in die kaum wahrnehmbare Klappe des in der Wand eingelassenen Abfallvernichters. Dann fiel ihm etwas ein:
„Ich steige auch mal kurz in den Medirob. Ich bin so gesund, das dauert sicher nur wenige Minuten. Machs dir solange gemütlich.”
Tatsächlich verging nur kurze Zeit, bis sich die Klappe wieder öffnete und auf dem Display die Meldung erschien:
Du hast dich schwer vernachlässigt, drei Narben wurden ausgebessert, Enzyme hinzugefügt, ein Zahn repariert.
Die Hygienewerte haben den messbaren Bereich verlassen, deine ohnehin miesen Kommunikationswerte sind nach Auswertung deiner Gehirnströme ins Bodenlose gefallen, aber du bist wenigstens fitter geworden. 3,05 auf der Skala von 1 bis 10. Das sind 30 % Verbesserung zu den Vorwerten.
Wir bitten um Übertragung deiner Fitnessaktionen für die Auswertung.
Mikan ignorierte die Aussagen und löschte sie mit einer lässigen Handbewegung. Durch Computer ließ er sich schon lange nicht mehr provozieren. Wenn ihm das nur auch bei Menschen gelingen würde, doch das vermochte er selten. Er ging zum Sessel, strahlte die frisch ausgepackte Kleidung an und stieg in die gut duftende, elegante neue Robe.
„Ah, endlich bin ich wieder Mensch”, begründete er sein Verhalten dem staunenden Lunaro gegenüber. „Schmutzig, aber anständig gekleidet!”
„Du siehst aus wie ein balzender Pfau”, amüsierte sich der, doch da Mikan sich darunter nichts vorstellen konnte, war er nicht mal beleidigt.
„Jetzt aber schnell. Wir müssen los!”, drängte Mikan. „Was hast du denn alles bekommen?”, wollte Lunaro wissen, als sie losliefen.
„Das Übliche: Antibiotika der verschiedensten Art, Wundsalben, Verbandsmaterial, Pflaster und so Zeug.” Er deutete auf den mit dem Seil umwickelten Packen. „Und einen Berg Verbandstücher. Die kann ich als Windeln für Fida verwenden.”
„Prima”, keuchte Lunaro, den das schnelle Tempo ziemlich anstrengte. Muskeln konnte der Medirob offensichtlich nicht aufbauen, zumindest nicht in dieser kurzen Zeit.
Als sie bei der Schleuse eintrafen, schauten sie kurz nach den Wächtern, doch die schliefen immer noch sorglos und leise schnarchend. Bei dem Gedanken an ihr Erwachen konnte Mikan ein hämisches Grinsen nicht unterdrücken. Beide würden sich fragen, was mit ihnen passiert war, und dennoch würden sie nicht miteinander reden. Jeder im Refugium hatte seine kleinen schmutzigen Drogengeheimnisse. Um dem mysteriösen Geschehen der Nacht auf den Grund gehen zu können, würden sie darüber reden müssen. Doch er wusste, dass sie um jeden Preis schweigen würden, um diese Geheimnisse zu bewahren.
Mit dem nächsten verfügbaren Ernteroboter, den sie an der Entladestation abpassten, fuhren sie zurück zu der Stelle, an der sie Vikor und das Mädchen zuletzt gesehen hatten.
Hoffentlich waren sie unverletzt aus dem Kampf mit dem Sindalon hervorgegangen! Auf der Fahrt kamen die Sorgen wieder stärker ins Bewusstsein. Sie kannten die tödliche Gefahr, die von diesen Biestern ausging.
„Es geht ihnen gut, sie leben!”, rief Lunaro erfreut, als er die beiden endlich durch das Sichtfenster erblickte. Er strahlte und zappelte vor Aufregung auf seinem Sitz.
„Ein bisschen Angst hatte ich doch um sie”, gestand auch Mikan.
Sie stiegen aus dem Ernteroboter, der gleich weiter seine unermüdlichen Runden drehte. Lunaro rannte auf Vikor und das Mädchen zu.
„Es geht mir gut. Schaut her, ich kann sogar rennen”, rief er ihnen entgegen.
Er stolperte und beinahe wäre er gestürzt. „Nun, zumindest, sobald ich wieder Muskeln habe”, grinste er und fiel Vikor und dem Mädchen um den Hals.
„Jetzt kann ich euch wieder helfen. Jetzt bin ich wieder nützlich”, strahlte er über das ganze Mondgesicht.
„Ich hab's euch ja gesagt”, kommentierte Mikan selbstgefällig die allgemeine Freude, „Auf den Medirob ist Verlass.” Die Einschränkung mit dem halben Jahr ließ er erst einmal unter den Tisch fallen, dafür schien jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zu sein.
Vikor lächelte. Das Warten hatte ein Ende. „Jetzt schnell nach Hause. Mir ist nicht wohl, die anderen so lange alleine zu lassen. Außerdem will ich eine Entdeckung durch Refugiumbewohner in letzter Minute gerne vermeiden.”
Erst jetzt schien er das neue Outfit seines Gegenübers zu bemerken.
„Du glänzt über all dem Dreck, wie fein! Willst du bei uns den Clown spielen?”
„Zumindest sehe ich nun zivilisiert aus!”
„Was meinst du, wie lange das makellos Glänzende durchhält? Einmal Himbeeren oder Eier ernten im Busch?” Vikor brach in lautes Lachen aus, als er sich an Mikans Buscherlebnis erinnerte.
„Habt ihr das Sindalon erledigt?”, wollte Mikan noch das Offensichtliche wissen, bevor sie aufbrachen. „Wir haben es gesehen, als wir losfuhren. Zum Glück konnten wir euch mit der Hupe warnen.”