3,99 €
In einem Waldstück bei Ludvika werden die sterblichen Überreste mehrerer Neugeborener durch Zufall gefunden. Linda Sventon und ihr Kollege Jörgen Persson betreuen auch diesen Fall, der von Anfang an viele Fragen aufwirft. Nachdem ein Teenager verschwindet und dessen Familie durch einen mysteriösen Autounfall ums Leben kommt, häufen sich die Anzeichen, dass es sich beim Täter nicht um eine Einzelperson handeln kann. Obwohl Alex Berg, der Stockholmer Fallanalytiker, nicht offiziell in den Fall einbezogen wird, bietet er Linda seine Hilfe an und macht seine ganz eigenen Entdeckungen. Als ein weiterer Säugling tot aufgefunden wird, begreifen die Ermittler, welch menschliche Abgründe sich auftun. Werden sie die Mordserie rechtzeitig stoppen können?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2020
Widmung
Anmerkung
Protagonisten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Nachwort
Weitere Bücher der Autorin
Impressum
Für meine Leser, die sich darauf freuen, wieder ein neues Buch von mir lesen zu können. Die mich ungeduldig fragen, wie es mit Linnea und Erik weitergeht, die mir nette Mails schicken und Interesse zeigen und mich dadurch unglaublich motivieren. Lieben, lieben Dank dafür.
Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.
Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Leon und Mikkel hatten ihre Schaufeln geschultert und marschierten in Richtung Wald. Es war ein klarer Sommertag und eine leichte Brise trieb den so typischen Geruch von Heu und Sommerblumen in ihre Richtung.
„Bis zum Wochenende müssten wir fertig sein“, schnaufte Mikkel, der ein ordentliches Tempo vorlegte.
Leon nickte zustimmend. „Klar, dann kann es mit dem Bau der Hütte endlich losgehen. Wird bestimmt ein super Versteck.“
Inzwischen hatten die Jungen den Waldrand erreicht und tauchten in die grüne Wildnis ein. Ein Specht hämmerte sein monotones Stakkato und das Laub vom Vorjahr raschelte unter ihren Füßen. Sonnenstrahlen zwängten sich durch die tiefhängenden Zweige der Fichten und malten ein mystisches Spiel aus Licht und Schatten auf den moosbedeckten Boden.
Mikkel und Leon verließen den Trampelpfad und bahnten sich einen Weg durchs Dickicht. Hier roch es nach Pilzen und pralle Beeren hingen an den Sträuchern, die flächenweise den Boden bedeckten. Hellgrüne Farnwedel streiften die Beine der Jungen, die kurz darauf ihr Ziel erreicht hatten – eine kegelförmige Erhebung, die so aussah, als hätte ein Riese Steine auf einen Haufen geworfen.
„Auf geht’s“, sagte Mikkel und spuckte in seine Handflächen. Dann griff er zur Schaufel und erklomm den kleinen Hügel. Dort wollte er mit Leon den Boden ebnen, um eine Hütte aus Ästen zu bauen – ihre Festung.
Die stickige Luft an diesem Tag führte dazu, dass Mikkel und Leon innerhalb kürzester Zeit total durchgeschwitzt waren. Ihre Shirts klebten am Rücken und der Schweiß rann ihnen an den Schläfen herab.
„Ich brauche eine Pause“, keuchte Mikkel und ließ sich abseits ins weiche Moos fallen.
„So werden wir nie fertig“, maulte Leon.
„Jetzt sei schon ruhig, du kannst ja weitermachen.“
Mikkel streckte sich auf dem Moosbett aus, verschränkte die Arme am Hinterkopf und schaute in die Wipfel. Unterdessen kratzte Leon mit der Schaufel das lose Erdreich zur Seite und schabte über einen Stein.
„Blödes Mistding“, schimpfte er und begann, den Stein mit der Schaufel umständlich auszugraben. Sein Atem ging schwer und er wischte sich immer wieder mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
Mittlerweile hatte er den Stein so weit freigeschaufelt, dass er zur Hälfte aus dem Boden herausragte. Leon trat kräftig mit dem Fuß dagegen, um ihn zu lockern. Selbst Mikkel spürte die Erschütterungen und setzte sich auf.
„Warte, ich helfe dir gleich“, sagte er.
Leon versetzte dem Stein einen weiteren Tritt, worauf ein merkwürdiges Knirschen ertönte. Steine polterten herab und die Stelle, an der Leon soeben noch gestanden hatte, war leer. Mikkel stand wie versteinert da, unfähig, sich zu rühren.
„Leon? Alles in Ordnung?“, rief Mikkel entsetzt. Um ihn herum herrschte eine Grabesstille, selbst der fröhliche Singsang der gefiederten Waldbewohner war verstummt.
„Leon?“, schrie Mikkel erneut.
„Au, mein Bein, das tut so verdammt weh …“, jammerte Leon, dessen Stimme seltsam dumpf klang.
„Oh Mann, du lebst“, stieß Mikkel erleichtert aus.
„Hey, jetzt hilf mir endlich! Ich halte diese Schmerzen nicht mehr aus …“, forderte Leo weinerlich.
Mit weichen Knien kletterte Mikkel den Hügel hinauf. Er wägte jeden Schritt genauestens ab aus Angst, dass sich der Boden ebenfalls unter ihm auftun könnte. Dann robbte er zu dem Loch, das Leon mit seiner Aktion hinterlassen hatte. Vorsichtig lugte er über den Rand.
„Leon?“
„Ja, Mann …“
„Was ist mit deinem Bein?“
Sein Freund hockte in einem Hohlraum oder einer Höhle, so genau konnte das Mikkel nicht erkennen.
„Ich glaube, mein Knöchel ist gebrochen. Er ist schon ganz dick angeschwollen und ich kann den Fuß nicht mehr bewegen.“
„Scheiße, was machen wir jetzt?“, fragte Mikkel ratlos.
„Mensch, du musst mich aus diesem Loch rausholen. Such einen großen Ast, an dem ich mich hochhangeln kann.“
„Wirst du das überhaupt schaffen mit deinem Bein?“, zweifelte Mikkel.
„Mann, jetzt mach einfach. Hier unten ist es richtig unheimlich, und überall liegt so ein komisches Zeug herum.“
„Was ist das?“
„Keine Ahnung, hole mich endlich hier raus“, drängte Leon ungeduldig.
„Ich gehe ja schon“, antwortete Mikkel und machte sich auf die Suche nach einem Ast. Er hatte sich erst wenige Meter von der Unglücksstelle entfernt, als ein durchdringender Schrei die Stille zerriss.
„Mikkel, komm sofort zurück! Du kannst mich hier nicht alleinlassen“, kreischte Leon in höchsten Tönen.
Mikkel hastete zurück und beugte sich wieder über den Rand.
„Da ist ein Schädel“, wimmerte Leon, „ein richtiger Schädel.“
„Du spinnst!“, platzte es aus Mikkel heraus. Doch dann sah er ihn auch – und es war nicht nur einer. Bräunliche Kugeln, die auch von Puppen hätten stammen können und drumherum verwobene Gebilde aus kleinen Knochen.
Mittendrin hockte Leon, der sich apathisch vor- und zurückwiegte.
„Leon, du musst jetzt ganz tapfer sein. Ich werde nach Hause rennen, um Hilfe zu holen, und verspreche dir, ordentlich Gas zu geben.“
„Nein, nein, nein, du kannst mich nicht allein in diesem Grab zurücklassen“, schniefte Leon und wischte sich mit einem Zipfel vom Shirt den Rotz von der Nase.
„Ohne Hilfe schaffe ich das nicht. Außerdem musst du zu einem Arzt.“
„Es ist so schrecklich hier unten“, jammerte Leon laut schluchzend.
„Jetzt sei ein Mann und keine Heulsuse. Ich bin doch gleich wieder zurück.“
„Mikkel, du kannst mich doch nicht einfach so zurücklassen“, brüllte Leon aus Leibeskräften.
Mikkel atmete tief durch, ballte seine zitternden Hände zu Fäusten und rannte los. Leons Schreie hallten durch den Wald und wurden mit jedem Meter, den Mikkel zurücklegte, leiser, bis sie nicht mehr zu hören waren.
Der weiche Waldboden federte Mikkels Schritte ab, als er mit einem Affenzahn in Richtung Dorf spurtete. Er schwitzte und keuchte und hatte das Gefühl, sich auf der Stelle fortzubewegen. Als endlich die ersten Häuser am Horizont auftauchten, zog Mikkel das Tempo noch einmal an.
„Hilfe! Ich brauche sofort Hilfe!“, schrie er, als er auf die Hauptstraße bog. Von hier aus waren es nur noch wenige Meter bis zu seinem Zuhause.
Seine Mutter hörte ihn schon von Weitem und stürzte aus dem Haus.
„Junge, was ist passiert?“, rief sie bestürzt. Sie umfasste seine Schultern und musterte ihn eindringlich.
„Leon … er ist … in eine Höhle … oder so gefallen. Dort sind … überall Knochen … und ich glaube, du musst … die Polizei rufen“, stammelte er völlig außer Atem.
„Wo ist er jetzt?“, fragte seine Mutter nach.
„Wir müssen … zum Waldrand“, keuchte Mikkel.
„Ich fahre mit dem Wagen und du rufst Leons Mutter an.“
Sie warf ihm das Smartphone zu, schnappte sich die Autoschlüssel und startete den Motor. Mit durchdrehenden Reifen fuhr sie vom Hof und raste mit überhöhter Geschwindigkeit die Straße entlang, während Mikkel stockend die Informationen an Leons Mutter weiterleitete.
Das Heck des Wagens brach aus, als Mikkels Mutter auf dem Feldweg stark abbremste.
„Wo müssen wir hin?“, fragte sie und Mikkel deutete auf den schmalen Trampelpfad.
Sie stiegen aus und hetzten durch den Wald, während Mikkel immer wieder stehenblieb und über heftiges Seitenstechen klagte. Seine Mutter griff nach seiner Hand und zog ihn ungeduldig mit sich. Leons Stimme war mittlerweile heiser, aber er rief immer noch verzweifelt nach seinem Freund.
Nach einigen Minuten hatten sie die Stelle erreicht und Mikkels Mutter beugte sich über den Rand.
„Leon, wir sind jetzt bei dir. Alles wird gut“, redete sie beruhigend auf ihn ein. „Mikkel, gib mir bitte das Handy“, forderte sie ihren Sohn auf und lenkte den Lichtstrahl hinunter. „Oh mein Gott, oh mein Gott …“, schrie sie entsetzt. „Wir müssen sofort die Polizei verständigen!“
Linda Sventon nippte an ihrer dritten Tasse Kaffee. Die Sommerferien standen kurz bevor und die ersten Kollegen hatten sich in den Urlaub verabschiedet. Momentan arbeiteten sie nur an einem Fall und dem Team war dadurch eine kleine Atempause vergönnt. Linda saß entspannt am Schreibtisch, um die Abschlussberichte zu verfassen, als der Anruf einging.
„Alles klar, wir machen uns sofort auf den Weg“, sagte sie und gab die Info an ihren Kollegen Jörgen Persson weiter. Dieser stand nur Sekunden später in ihrem Büro.
„Könnte es sein, dass du dich bei dem Anruf verhört hast?“
„Was soll die Frage?“
„Ein Kind soll in einen Hohlraum unter der Erde gestürzt und direkt auf einem Haufen menschlicher Knochen gelandet sein. Ist das nicht ein wenig zu verrückt für Ludvika?“
„Ich finde diesen Gedanken eher beängstigend“, erwiderte Linda. „Aber ich gehe davon aus, dass die Mutter des Jungen in ihrer Panik übertrieben hat, wer könnte es ihr verdenken. Es könnte sich durchaus um Tierknochen handeln, die Forensiker sind schon auf dem Weg.“
„Na dann, worauf warten wir? Schauen wir uns den Fuchsbau einmal aus der Nähe an.“ Jörgen öffnete die Tür und wartete, bis Linda hindurchgeschritten war.
Die Stelle im Wald war weiträumig mit Absperrband gekennzeichnet worden, das verloren im Wind flatterte.
„Bis wohin dürfen wir?“, fragte Linda einen Kriminaltechniker, der seine Kamera verstaute.
„Sie können einen Blick über den Rand werfen, aber mehr nicht.“
„Danke.“
Mit forschen Schritten eroberte Linda die Erhebung und schaute nach unten. Die Männer in ihren weißen Schutzanzügen wirkten wie Fremdkörper. Science-Fiction lässt grüßen, dachte sie.
„Tier- oder Menschenknochen?“, rief sie nach unten.
„Du wirst das sicher nicht hören wollen, aber es handelt sich auf den ersten Blick ausschließlich um die sterblichen Überreste von Kleinkindern und Säuglingen“, sagte Hilmar, der die Leitung der Kriminaltechnik innehatte.
„Du willst mich auf den Arm nehmen?“
„Dafür bist du mir eindeutig zu schwer, liebe Linda.“
„Wie viele Jahre liegen die Skelette schon dort unten?“
„Auch dieser Punkt wird dir nicht gefallen, einige der menschlichen Überreste scheinen jüngeren Datums zu sein.“
„Das darf doch wohl nicht wahr sein“, rief Jörgen überrascht, der am Fuß des Hügels stand und das Gespräch verfolgt hatte.
„Und wie sind sie dort hingekommen, wenn ich fragen darf? Gibt es einen Eingang oder Ähnliches?“ Linda runzelte die Stirn.
„Bis jetzt haben wir noch keinen Zugang gefunden, hier unten ist es zappenduster.“
„Wie viele Leichen sind es ungefähr?“
„Um die zwanzig. Aber es liegen auch Knochenfragmente herum, die teilweise schon verrottet sind. Wird ein Haufen Arbeit, die einzelnen Skelette zusammenzufügen.“
„Was schätzt du, wie lange wird das dauern?“
„Wochen, wenn nicht gar Monate.“
Linda stöhnte leise. Da rollte etwas Gewaltiges auf sie zu.
„Weisen die Knochen Gewalteinwirkungen auf? Sind die Schädel intakt?“
„Soweit wir das auf den ersten Blick erkennen konnten, wurde keine Gewalt angewendet“, beantwortete Hilmar Lindas Frage.
„Anderweitige Todesursachen? Waren die Kinder nicht lebensfähig?“
„Linda, du kannst vielleicht Fragen stellen. Ich bin doch kein Rechtsmediziner.“
„Schon klar, aber dieser Fund sprengt meinen Horizont. So ein Massengrab von Kinderleichen hätte ich in unserer Gegend nie vermutet.“
„Auch mir ist die Spucke weggeblieben.“
„Wer hat diese Kinder geboren? Ich glaube nicht, dass nur eine einzige Frau daran beteiligt gewesen ist.“
„Guter Punkt, wenn auch ein wenig voreilig“, sagte Hilmar. „Bei einigen der Schädel habe ich den Verdacht, dass es sich um Frühgeburten handeln könnte.“
„Himmel, das wird ja immer schlimmer.“
Linda konnte nicht leugnen, dass ihr dieser Fund schon jetzt Magenschmerzen bereitete. Allein der Gedanke, was mit den Kindern passiert sein könnte, trieb ihr die Tränen in die Augen. Die Jahre als Kommissarin hatten sie auf eine gewisse Weise abgehärtet, aber dieser Anblick …
„Schon einen Plan?“, schaltete sich Jörgen dazwischen.
„Gib mir erst einmal ein paar Minuten, um die Sache zu verdauen“, erwiderte sie.
„Wir sollten die Jungen vernehmen, solange die Erinnerungen noch frisch sind.“
„Das weiß ich doch auch.“ Sie stand auf und klopfte sich Staub und Tannennadeln von den Hosenbeinen. „Hilmar, hast du noch weitere Infos für mich?“
„Momentan nicht. Ich rufe dich aber sofort an, falls sich Neuigkeiten ergeben.“
„Danke.“ Sie wandte sich Jörgen zu. „Wir fangen gleich mit Mikkel und seiner Mutter an, liegt ja direkt auf dem Weg.“
„In Ordnung, die Adresse habe ich mir geben lassen.“
Schweigend legten sie die Strecke zum Wagen zurück. Jörgens Kiefer mahlten während der kurzen Fahrt.
„Was ist das nur für ein kranker Mist? Ich komme einfach nicht darüber hinweg“, sagte er, als er vor dem Haus der Jensens hielt und ausstieg.
„Ja, das muss alles erst einmal sacken“, erwiderte Linda.
Ein gepflasterter Weg führte durch den gepflegten Vorgarten, wo sich die Stauden mit ihrer blühenden bunten Pracht regelrecht überboten. Mikkels Mutter schien ein Händchen dafür zu haben.
Linda drückte auf den Klingelknopf und hielt ihren Dienstausweis parat.
„Guten Tag, Frau Jensen. Das ist mein Kollege Jörgen Persson und ich bin Linda Sventon von der Kriminalpolizei.“
„Ich habe Sie schon erwartet. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“
Klara Jensen führte Linda und Jörgen in ein Wohnzimmer, das von einer wuchtigen Couch dominiert wurde.
„Einen Moment bitte, ich hole Mikkel.“
Der Junge lief verschüchtert hinter seiner Mutter her. Sein blondes Haar war zerzaust und eine schmutzige Tränenspur zeichnete sein Gesicht. Artig reichte er Jörgen und Linda die Hand und setzte sich in einen Sessel, der ihn fast verschluckte.
Linda beugte sich nach vorn und lächelte sanft.
„Hallo Mikkel, du brauchst nichts zu befürchten, wir haben nur ein paar Fragen an dich. Seit wann arbeitet ihr an eurem geheimen Projekt im Wald?“
„Seit zwei Wochen ungefähr.“ Er schniefte leise und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase.
„Danke. Warum habt ihr ausgerechnet diesen Platz gewählt?“
„Weiß nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wir fanden den kleinen Hügel cool und wollten dort unser Hauptquartier bauen.“
„Ist euch bei euren Aktivitäten etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Was denn?“, fragte Mikkel.
„Das kann ich nicht so genau sagen. Habt ihr euch manchmal beobachtet gefühlt? Oder ist über Nacht etwas verändert worden?“
Mikkel schüttelte den Kopf. „Nein, das war ja gerade das Tolle, dass uns niemand gestört hat. Die Stelle liegt versteckt im Wald und ist nicht leicht zu finden.“
„Kannst du uns noch erklären, wie es zu dem Unfall von Leon gekommen ist?“
„Da war ein Stein, der aus dem Boden herausragte, und Leon hat versucht, ihn auszugraben. Als er mit dem Fuß dagegengetreten ist, um ihn zu lockern, ist er eingebrochen.“
„Danke Mikkel, du hast uns sehr geholfen.“ Linda stand auf. „Ich denke, an dieser Stelle können wir einen Cut machen.“
„Ich bringe Sie zur Tür“, bot Mikkels Mutter an, sichtlich erleichtert über das Ende der kurzen Befragung.
Fliesen, Stahl und grelles Licht erwarteten Linda und Jörgen, als sie Karl Lund, den Rechtsmediziner, aufsuchten. Drei Mitarbeiter teilten sich die undankbare Aufgabe, die sterblichen Überreste zu einem Ganzen zusammenzufügen. Beim Anblick der winzigen Schädel wurde Linda schwer ums Herz. Wo kamen nur all diese Kinder her?
„Hallo Linda, hallo Jörgen“, grüßte Karl.
„Schon erste Erkenntnisse?“, fragte sie.
„Nun ja, wie man es nimmt. Die ältesten Knochenfragmente könnten durchaus ein Alter von über dreißig Jahren haben.“
„Das ist doch verrückt“, sagte Linda kopfschüttelnd. „Wer legt Neugeborene über so einen langen Zeitraum in diesem Hohlraum ab?“
„Illegale Abtreibungen vielleicht?“, merkte Jörgen an.
„Hier? In Ludvika?“ Linda hielt diesen Gedankengang für geradezu absurd.
„Die Kinder sind, soweit ich das beurteilen kann, auf natürlichem Wege auf die Welt gekommen. Der weiche Schädel verformt sich während des Geburtsvorganges.“
„Und warum liegen sie dort im Wald?“
„Das ist das Rätsel, das wir lösen müssen“, antwortete Karl.
„Jedenfalls sind die Neugeborenen nicht durch stumpfe Gewalt gestorben. Es muss eine andere Todesursache vorliegen.“
„Wie geht es jetzt weiter?“ Linda schaute Karl fragend an.
„Wir werden das Alter der Knochen bestimmen und einzelne Gewebereste, die noch vorhanden sind, auf toxische Rückstände untersuchen.“
„Wann liegen erste Ergebnisse vor?“, fragte Linda.
„Das kann dauern.“ Karl machte eine ausladende Handbewegung.
„Schon klar. Aber wie sollen wir mit dieser geringen Datenmenge arbeiten? Mir schwirrt schon jetzt der Kopf, weil ich nicht weiß, wo wir ansetzen sollen.“
„Ich kann nicht zaubern“, brummte Karl.
„Schade eigentlich. Karl, wir fahren wieder zurück ins Büro und ich wünsche euch gutes Gelingen.“
Linda drehte sich um und lief nach draußen, Jörgen folgte ihr wortlos.
„Wir sollten zuerst die Hebammen in der Region anschreiben“, sagte er und legte den Gurt um. „Vielleicht gab es Auffälligkeiten, dass Frauen schwanger waren und später ohne Nachwuchs dastanden.“
„Gute Idee, denn die Hebammen sind auch für die Nachsorge verantwortlich. Wir werden uns gleich an die Arbeit machen.“
Schlaftrunken tastete Inga nach dem Wecker, um ihn auszustellen. Nur noch ein paar Minuten, dachte sie und drehte sich auf die andere Seite.
„Inga?“ Ihre Mutter stand in der Tür und schaute auf sie herab. „Warum stehst du nicht auf, wenn der Wecker klingelt? Musst du nicht zur Schule?“
„Doch“, erwiderte Inga matt.
„Ach, bevor ich es vergesse – zieh endlich das weite Shirt an, das ich dir vor drei Tagen gekauft habe.“
„Ja, werde ich …“, antwortete Inga mit einem gequälten Gesichtsausdruck. Genervt schlug sie die Bettdecke zurück und tappte ins Badezimmer. Ihre zwei Schwestern stritten sich lautstark im Nebenzimmer, während Mette, ihre Mutter, den Frühstückstisch deckte.
Inga beugte sich nach vorn und stützte sich mit den Händen auf dem Rand des Waschbeckens ab. Diese verflixten Rückenschmerzen quälten sie schon seit drei Wochen. Ihre Mutter hatte gesagt, dass sie sich daran gewöhnen solle, es wäre alles im grünen Bereich. Dabei hatte ihre Stimme so kühl und hart geklungen wie das scharfkantige Eis des Sees.
Den Blick in den Spiegel hätte sich Inga auch sparen können. Ihr Haar hing strähnig herab und das Gesicht wirkte aufgedunsen.
„Ich halte das nicht mehr lange durch“, murmelte sie. Als es an die Badezimmertür klopfte, zuckte sie zusammen.
„Inga? Bist du eingeschlafen?“
Sie verabscheute die schneidende Stimme ihrer Mutter und fragte sich nicht zum ersten Mal, warum diese Frau überhaupt Kinder in die Welt gesetzt hatte. Sie lebten gut, das Haus war neu und ihnen mangelte es an nichts – wenn man von fehlender Elternliebe und Nestwärme einmal absah.
Sie putzte rasch die Zähne, wusch sich das Gesicht und kleidete sich in ihrem Zimmer an. Das weite Shirt, das ihre Mutter extra gekauft hatte, konnte die Rundungen ihres Körpers kaum mehr verbergen. Inga fühlte sich unwohl und erneut glomm kurz der Gedanke auf, endlich Schluss zu machen.
Schon von Geburt an war ihr Weg vorbestimmt gewesen, sie kannte es nicht anders. Ständig bekam sie zu hören, dass sie etwas Besonderes wäre. Aber wenn sie ehrlich war, dann beneidete sie die anderen Mädchen. Sie wollte nicht besonders sein, sie wollte lachen, ins Kino gehen und sich mit Jungs treffen. All das, was man mit sechzehn eben so machte.
Der Duft von warmen Toasts zog durch das Haus und lockte Inga in die Küche. Sie hatte Appetit und langte ordentlich zu, doch ihre Mutter klopfte ihr auf die Finger.
„Na, na, wie dick willst du denn noch werden“, mahnte sie.
Resigniert zog Inga ihre Hand zurück. Sie fühlte sich schwach, besonders an warmen Tagen so wie heute. Das ständige Hungergefühl war kaum zu ertragen.
„Ich habe gleich einen Kundentermin“, sagte ihre Mutter Mette. „Ihr müsst mit den Fahrrädern los.“
Sie war als Maklerin tätig und gut in ihrem Job genauso wie ihr Vater Birger, der als leitender Angestellter in der Bank arbeitete. Nach außen hin präsentierten sie die perfekte Familie.
Inga räumte den Tisch ab und stellte das Geschirr in die Spülmaschine. Alles hatte seinen angestammten Platz, die Regeln waren hart, selbst bei solch banalen Dingen wie schmutziges Geschirr.
„Luisa, Krista, zieht eure Sandalen an, wir müssen los“, rief sie in Richtung Flur.
Die Schwestern unterbrachen ihren Zwist, schnappten sich die Rucksäcke und folgten Inga nach draußen.
„Du siehst wie ein Nilpferd aus“, rief Krista, die Jüngste von ihnen, als Inga schwerfällig auf das Fahrrad stieg.
„Halt die Klappe“, zischte Inga und hätte Krista am liebsten eine schallende Ohrfeige verpasst. „Irgendwann wirst du an meiner Stelle sein und daran denken, was du zu mir gesagt hast.“
Krista verstummte augenblicklich und senkte ihren Blick. Inga bereute ihre Worte sofort, sie hatten alle an dieser Last schwer zu tragen. Ihre jüngste Schwester war erst fünf Jahre alt und besuchte die Vorschule. Sie hatte den steinigen Weg noch vor sich, war jetzt erst Schritt für Schritt an ihre neue Rolle herangeführt worden.
„Nun kommt schon, wir müssen uns beeilen“, drängte Inga und trat in die Pedale. Sie fuhr voraus, Krista in der Mitte und Luisa bildete das Schlusslicht. Nur wenige Meter vor der nächsten Kreuzung sprang Inga vom Rad und stützte sich an einem Laternenpfahl ab.
„Was ist mit dir?“, fragte Luisa besorgt.
„Mir ist gerade schwindelig geworden“, erwiderte Inga und schmeckte die bittere Galle. Schon seit den frühen Morgenstunden war die Luft stickig und Inga fühlte sich schlapp.
„Sollen wir umdrehen?“ Luisa musterte sie fragend.
„Nein, nein, es geht schon wieder.“ Inga stieg wieder aufs Rad. Zum Glück war die Schule nicht weit entfernt.
Nachdem sie Krista in der Kindertagesstätte abgeliefert hatten, stiegen Inga und Luisa von ihren Rädern. Gemeinsam betraten sie das Schulgebäude und suchten die jeweiligen Klassenzimmer auf. Inga sah ihrer Schwester hinterher, die allein den langen Flur durchquerte und ein wenig verloren wirkte.
Ihre Eltern hatten ihnen strengstens untersagt, Freundschaften zu knüpfen. Man dürfe sich nicht mit dem Pöbel abgeben, das würde nur den Charakter verderben. Aber die Schwestern litten unter der Situation, auch wenn sich Inga mittlerweile daran gewöhnt hatte. Manchmal beobachtete sie Luisa in den Pausen, wie sie vergeblich Anschluss suchte. Die anderen Schüler mieden Luisa und oft stand sie einsam in einer Ecke, um ihr Pausenbrot zu essen.
„Hej“, begrüßte Lillemor sie.
„Hej.“
„Du siehst krank aus.“
„Ja, ich weiß. Die Hitze macht mir zu schaffen.“
Inga ließ sich auf den Stuhl fallen und Lillemor nahm neben ihr Platz.
„Was ist eigentlich los mit dir? Du hast dich in letzter Zeit verändert, nicht nur äußerlich.“
„Ich möchte nicht darüber reden“, erwiderte Inga knapp.
Lillemor und sie hatten sich seit dem letzten Schuljahr angenähert und ein zartes Band der Freundschaft geknüpft. Manchmal hatten sie sich am Nachmittag verabredet, um zusammen Eis zu essen oder zum See zu fahren. Natürlich ohne das Wissen von Ingas Eltern, die durften nichts davon erfahren.
„Ich will am Samstag mit einigen Freunden grillen. Falls du Lust hast, bist du herzlich eingeladen.“
Es war nicht das erste Mal, dass Inga eine Einladung ausschlagen musste. Sie hätte liebend gern den Abend mit Lillemor verbracht, aber das war einfach nicht möglich.
„Schade, meine Eltern haben schon einen Ausflug geplant“, sagte sie bedauernd.
„Na ja, ihr habt sicher viel Spaß.“
Inga hasste es, zu lügen. Es fanden weder Familienausflüge noch andere Unternehmungen statt. Kein Kino, keine Geburtstagsfeiern, nichts. In ein paar Tagen würden die Ferien beginnen und ihr großer Tag stand bald bevor. Dann würde sie in die Reihen der Oberen aufgenommen werden und ihr graute davor. Wie gern hätte sie sich Lillemor oder jemand anderem anvertraut, aber die Angst war viel zu groß.
„Ich habe dich noch nie lachen sehen, du wirkst immer so bekümmert“, sagte Lillemor unvermittelt. „Falls du reden möchtest, ich bin immer für dich da.“
„Danke für dein Angebot, aber ich komme schon zurecht.“
Die Lehrerin betrat das Klassenzimmer und Lillemor suchte ihren Platz auf, während Inga allein am Tisch zurückblieb.
Am Nachmittag erledigte Inga den Großteil der Hausarbeit, während ihre Schwestern im eingezäunten Garten spielten. Kameras im Haus, Kameras im Garten, alles wurde aufgezeichnet. Kein Wunder, dass sie sich wie Sklaven fühlten.
Sie schnappte sich den Wäschekorb und ging ebenfalls nach draußen, um die Wäsche aufzuhängen. Die Sonne strahlte von einem azurblauen Himmel, es hatte seit Tagen nicht mehr geregnet. Inga hängte die Laken über die Leine, steckte sie mit Klammern fest und drückte immer wieder den schmerzenden Rücken durch. Für einen kurzen Moment wurde ihr schwarz vor Augen und sie griff nach einem Laken, um sich daran festzuhalten. Es hielt ihrem Gewicht nicht stand und fiel zu Boden.
„Mama wird ausflippen, wenn sie die Flecken sieht“, sagte Luisa.
„Dann hilf mir bitte, die restliche Wäsche aufzuhängen.“
Inga raffte das Laken zusammen und trug es ins Haus, um es in der Badewanne auszuspülen. Der Zusammenhalt unter den Schwestern war eher mäßig, denn ihre Mutter trieb gewollt einen Keil dazwischen. Wann immer sich eine günstige Gelegenheit ergab, wurden sie gegeneinander ausgespielt. Keine gute Basis für das gemeinsame Zusammenleben.
Sie hörte den Wagen ihrer Mutter vorfahren, warf das Laken in den Wäschekorb und hetzte nach draußen, um es aufzuhängen. Bis auf zwei kleinere Flecken war nichts mehr zu sehen. Schwer atmend stützte sie sich am Pfeiler ab.
„Hej. Warum seid ihr noch nicht umgezogen? Wir müssen in einer halben Stunde los“ hörte sie ihre Mutter ungeduldig rufen. Kein nettes Wort zur Begrüßung, keine Umarmung, nichts.
„Jetzt schau mich nicht so vorwurfsvoll an“, zeterte Mette. „In ein paar Tagen bist du erlöst. So lange wirst du doch wohl noch durchhalten können.“
Stillschweigend verschwand Inga im Badezimmer und kühlte das erhitze Gesicht mit kaltem Leitungswasser.