Opfernationalismus - Jie-Hyun Lim - E-Book

Opfernationalismus E-Book

Jie-Hyun Lim

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Beschreibung

Während der Nationalismus seine Begründung früher in Heldengeschichten des unbesiegbaren Volkes fand, schöpfen heute weltweit immer mehr Staaten und Nationen ihr Selbstbewusstsein aus einer Opfergeschichte – und leiten daraus einen Status ab, der sogar vererbt werden soll. Mit vergleichendem Blick auf Polen, Deutschland, Israel, Japan und Südkorea zeigt Jie-Hyun Lim scharfsinnig, welche Probleme ein solcher Opfernationalismus mit sich bringt, wenn er sich als Machtpolitik formiert: Vergangenheit wird verfälscht, die Opfer selbst werden mitunter unsichtbar gemacht und Herrschaft legitimiert. Indem er dabei konsequent die Perspektive vom europäischen Zentrum löst und in den Globalen Osten verlagert, wird deutlich, wie die historischen Katastrophen im Gedenken weltweit in Beziehung gesetzt und abgeglichen werden, sich erklären und in Konkurrenz zueinander geraten. In seinen wegweisenden Überlegungen entwirft Lim die Grundzüge für einen globalen Erinnerungsraum, der auf Anteilnahme und Diversität beruht und zugleich historisch trennscharf bleibt. Ein unverzichtbarer Beitrag für die Debatten um eine Geschichtspolitik der Zukunft in der postkolonialen Welt.

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Lassen sich Holocaust, Stalinismus und Kolonialismus miteinander vergleichen? Wie soll in einer globalisierten Welt erinnert werden? Ein nuanciertes Plädoyer für eine Öffnung der geschichtspolitischen Debatte ohne Opferkonkurrenz.

»Ein spannender Einblick in den globalen Erinnerungsdiskurs und eine gewichtige Anregung für die kontroverse deutsche Debatte.«Sebastian Conrad

Jie-Hyun Lim

Opfernationalismus

Erinnerung und Herrschaft in der postkolonialen Welt

Aus dem Englischen von Utku Mogultay

Verlag Klaus Wagenbach Berlin

Jenseits des mnemonischen Eurozentrismus Vorwort zur deutschen Ausgabe

Opfernationalismus Nationale Trauer und globale Verantwortlichkeit

Postkoloniale Reflexionen über das mnemonische Zusammentreffen von Holocaust, stalinistischen Verbrechen und Kolonialismus

Kartierung der Massendiktatur Ansätze zu einer transnationalen Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts

Anmerkungen

Jenseits des mnemonischen Eurozentrismus Vorwort zur deutschen Ausgabe

Für ein deutschsprachiges Publikum bin ich ein Osthistoriker im doppelten Sinne. Ich komme aus Ostasien und forsche zur Rolle Polens als Deutschlands Osten. Ich bin in Seoul geboren und begann mein Geschichtsstudium im Jahr 1977, als die antikommunistische Entwicklungsdiktatur in Südkorea ihren Höhepunkt erreichte. Ich neigte damals intuitiv zum Sozialismus, den ich als humanistische Alternative zur brutalen Realität des Marktstalinismus in Südkorea verstand. Als autodidaktisch geschulter Osteuropaforscher untersuchte ich die polemischen Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern des Sozialpatriotismus der PPS (Polnische Sozialistische Partei) und jenen des proletarischen Internationalismus der SDKPiL (Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen). Trotz unterschiedlicher historischer Rahmenbedingungen erinnerten die Diskursgefechte in Polen an die linken Grabenkämpfe in Südkorea, die in den Achtzigerjahren zwischen den Befürwortern der nationalen Befreiung und jenen der Volksdemokratie ausgetragen wurden. Dass sich linke Kräfte wie jene im aufgeteilten Polen und im geteilten Korea genuin mit der nationalen Frage befassten, ist ein seltenes Phänomen in der Geschichte des westlichen Marxismus. Viel öfter wurde sie verdrängt und instrumentalisiert. Aus diesem Grund zog mich die Geschichte des polnischen Marxismus stärker an als der westliche Marxismus. Die linke Sensibilität für die nationale Frage geht in Polen wie in Südkorea darauf zurück, dass diese beiden Länder eine Position innerhalb der ›Globalen Osten‹ teilen – innerhalb eines vielgestaltigen, relationalen und darum im Plural zu benennenden Ostens in der globalen Moderne.

Die Parteigeschichtsschreibung in der Volksrepublik Polen und die kritische linke Historiografie in Südkorea weisen ähnliche historische Konturen und Merkmale auf: ein besetztes und kolonisiertes Land; die Abwesenheit eines souveränen Nationalstaats; eine ursprüngliche Vorstellung von der Nation; hartnäckig sich behauptende Überreste des Feudalismus; der unterentwickelte Kapitalismus; die gescheiterte bürgerliche Revolution; die Geringschätzung des Parlamentarismus; die illiberale und antipluralistische politische Kultur; die Unreife der modernen individuellen Subjektivität – die Liste ließe sich fortsetzen. Beide Länder stehen exemplarisch für den preußischen Weg der kapitalistischen Entwicklung. Die Betrachtung als Sonderweg beschränkt sich nicht auf eine deutsche Eigenheit, sondern verweist auf die Transversalität der historischen Imagination im globalen Rahmen oder zumindest im Hinblick auf Polen und Korea. Abgesehen von klassischen Köpfen des Marxismus wie Róża Luksemburg und Kazimierz Kelles-Krauz waren es vor allem die Arbeiten polnischer (Ex-)Marxisten der Nachkriegszeit – darunter etwa Oskar Lange, Julian Hochfeld, Witold Kula, Leszek Kołakowski, Zygmunt Bauman, Andrzej Walicki und Adam Schaff –, die mir ein Problemfeld eröffneten, das eng verbunden ist mit der modernen Geschichte Polens als einem Teil der ›Globalen Osten‹.

Als ich im Winter 1990 erstmals nach Polen reiste, sprühte das Land vor Begeisterung über die ersten demokratischen Präsidentschaftswahlen in der postkommunistischen Ära. Lech Wałęsa, Solidarność-Ikone und aussichtsreicher Kandidat, zog mit seiner Kampagne unter der Losung, aus Polen »ein zweites Japan« machen zu wollen, meine Aufmerksamkeit ganz auf sich. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie verwundert ich über dieses Versprechen war, denn für mich klang es so, als ob »der Westen zum Osten« oder »Europa zu Asien« gemacht werden sollte. Damals nahm ich den konventionellen geografischen Blickwinkel ein, wonach Polen im Westen und Japan im Osten zu verorten seien. Jahre später erkannte ich darin ein Abbild jenes Historizismus, der den fortgeschrittenen Westen und den rückständigen Osten auf einer einzigen welthistorischen Zeitachse anordnet. In diesem Modell wird Polen dem Osten zugeschrieben und Japan dem Westen. Im herkömmlichen geografischen Sinne mag Japan zwar im »Osten« liegen, dennoch gehört es – anders als Polen – ökonomisch und sozial betrachtet zum »Westen«. In Wałęsas Slogan von 1990 wurde Polen zu Japans Osten beziehungsweise Asien und Japan zu Polens Westen beziehungsweise Europa.

Ein Osthistoriker im doppelten Sinne zu sein prägte meine intellektuelle Reise nachhaltig. Als ich in Polen lebte, im ›Osten‹ des ›Westens‹, öffnete mir dies die Augen dafür, dass ›Ost‹ und ›West‹ beziehungsweise ›Europa‹ und ›Asien‹ eine imaginative Geografie bezeichnen, die politisch und historisch konstruiert ist. Während Polen in Deutschland als ›Osten‹ gilt und in den Bereich Ostforschung fiel, wird Deutschland in Polen in der Schriftenreihe Studia Zachodnie als ›Westen‹ untersucht. Polen seinerseits sieht sich als Westen, der dem ›asiatischen‹ Russland gegenübersteht. Dass auch Japan so weit ging, Russland zu orientalisieren, um sich nach seinem Sieg im Russisch-Japanischen Krieg als westlich zu positionieren, verwundert daher nicht. ›Westen‹ und ›Osten‹ sind keineswegs Bezeichnungen für fest umrissene, eindeutig verortete Räume, sondern veränderliche Kategorien. Als ich mich im transregionalen Raum zwischen Seoul und Warschau bewegte, begriff ich allmählich die dynamische Relationalität von Ost und West. »Ich komme aus einem Land, das im Westen des Ostens und im Osten des Westens liegt«, um es in den Worten von Sławomir Mrożek zu sagen.

Rückblickend kann ich mich glücklich schätzen, den scheinbaren Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus unter der Entwicklungsdiktatur in Südkorea durchlebt und später den in umgekehrter Richtung verlaufenden Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus in Polen nach 1989 beobachtet zu haben. Für Südkorea war die »verdichtete« Modernisierung und die Entwicklungsdiktatur der Siebziger- und Achtzigerjahre eine nutzbringende, aber auch leidvolle Erfahrung, weshalb sich das Land für Historiker als anregendes Soziallabor darstellte. Ebenso bot die radikale Transformation des postkommunistischen Polens nach 1989 ein so interessantes wie reiches Untersuchungsfeld für die sozialwissenschaftliche Forschung. Diese zwei gegenläufigen, zeitlich nah beieinanderliegenden Transformationsprozesse zu reflektieren und an ihnen teilzuhaben, sie zu erfahren und mitzuerleben, bewog mich dazu, die Dämonologie des Kalten Kriegs in ihrer linken wie auch rechten Spielart infrage zu stellen. In Polen wurde der Kommunismus in die Nähe der politischen Rechten gerückt, während man das antikommunistische Lager als links bezeichnete. Viele Polen sahen im Kommunismus eine Ideologie, die Industrie- und Landarbeiter unterdrückte. In Südkorea war es umgekehrt. Die sozialistischen Dissidenten gehörten zur Linken, und die antikommunistischen Befürworter der Entwicklungsdiktatur wurden Rechte genannt.

Im Feld der Erinnerungskultur gestaltete sich die transnationale Umwälzung der politischen und ideologischen Links-Rechts-Konstellation noch unübersichtlicher. Fanatische Antikommunisten aus Südkorea und eiserne Kommunisten aus Polen näherten sich einander an, als sie die populäre Nostalgie für die Entwicklungsdiktatur beziehungsweise das kommunistische Regime instrumentalisierten und für sich ausnutzten. Südkoreanische Linke und polnische Antikommunisten wiederum bestritten, dass es eine solche Nostalgie überhaupt gäbe. Beide Gruppen waren nämlich unerschütterlich davon überzeugt, das unschuldige Volk in ihren Ländern hätte niemals eine Bande politischer Verbrecher unterstützen können. Angesichts dieser bizarren Erinnerungsgenossenschaft, die sich zwischen gegnerischen politischen Lagern in der globalen Konstellation herausbildete, löste ich mich von den Feindbestimmungen des Kalten Kriegs, ob sie nun in der rechten oder linken Variante daherkamen. Was beide nämlich gemeinsam haben, ist die Besessenheit von einem vereinfachenden Dualismus, der eine kleine Gruppe böswilliger Täter und eine Vielzahl unschuldiger Opfer einander gegenübergestellt. Sobald man diesen historischen Dualismus jedoch abstreift, tritt ein vielschichtiges Feld von Erinnerungen – an Krieg und Kolonialgräuel, Holocaust und Gulag, Diktatur und Demokratie, Opfer- und Täterschaft, Zeugenschaft und Kollaboration – in den Vordergrund einer nationalen und transnationalen Konfliktszenerie.

Nachdem ich mich enttäuscht vom Realsozialismus in der Volksrepublik Polen abgewandt hatte, schwand mein anfängliches Interesse an der Ideengeschichte des polnischen Marxismus. Zu Beginn der Nullerjahre kehrte ich mit anderen Fragen nach Polen zurück. Der Historikerstreit po polsku (polnischer Historikerstreit), ausgelöst durch die Veröffentlichung von Jan Gross’ Buch Nachbarn im Jahr 2000, weckte mein Interesse für das Bewusstsein von Opferschaft im globalen Erinnerungsraum. Inspiriert von Zygmunt Baumans Konzept des »ererbten Opferstatus« entwickelte ich die These vom »Opfernationalismus«, um die verflochtenen Erinnerungen an Krieg und Genozid in Polen, Deutschland, Israel, Japan und Korea begrifflich zu fassen. Ich verstehe den Opfernationalismus als eine Erzählschablone, die Nationen mit »ererbtem Opferstatus« – der eine Gruppe in der Gegenwart und die Opfer einer Vorfahrengeneration postum aneinander bindet – moralische Gerechtigkeit verschaffen und zu historischer Legitimation verhelfen kann. Indem sie das Vermächtnis der Opferschaft der Vorfahren weiterführt, erscheint die Nation mit ererbtem Opferstatus als moralisch rein. Im Zuge der Globalisierung der Erinnerung und der Entstehung von globaler Empathie mit Opfergruppen hat sich der Schwerpunkt in nationalistischen Erinnerungsdiskursen verschoben: Vom Heldentum verlagerte er sich zum Opferstatus.

Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ich ein Interesse an der globalen Geschichte und der Erinnerungspraxis des Opfernationalismus entwickelt hätte, wenn ich nicht zwischen Ostasien und Osteuropa hin und her gewandert wäre. Diese beiden Regionen waren während des Zweiten Weltkriegs zwar nicht unbedingt durch historische Ereignisse verknüpft, doch nach dem Krieg verwoben sich ihre Erinnerungsdiskurse allmählich miteinander. Bis dahin lokal begrenzte Erinnerungen – wie die an Hiroshima/Nagasaki und Auschwitz; den Holocaust und den Kolonialgenozid; Stalins Gulags und Hitlers Konzentrationslager; die Vertreibung Deutscher aus Osteuropa nach 1945 und die hikiage (die Repatriierung japanischer Siedler nach Japans Kriegsniederlage); die Zwangsprostitution der ›Trostfrauen‹ und die sexuelle Gewalt in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien; die Zwangsarbeit im Dritten Reich und die kyouseichouyoyu (Zwangsmobilisierung) im Japanischen Kaiserreich – sollten im globalen Erinnerungsraum mit der Zeit ineinandergreifen und umgeschichtet werden. Kürzlich heftete sich der israelische Botschafter bei der Sitzung der UN-Sicherheitsrats am 30. Oktober 2023 einen gelben ›Judenstern‹ an, um den terroristischen Angriff der Hamas auf Israel anzuprangern, während die diplomatische Vertretung der Palästinenser in Tokio gegen die Bombardierung Gazas protestierte, indem sie am 23. Oktober in den Sozialen Medien Israels Vorgehen mit dem Abwurf der als »Little Boy« bekannten Atombombe auf Hiroshima verglich.

Die Erinnerungslandschaft im dritten Jahrtausend hat infolge der Globalisierung einschneidende Veränderungen erfahren. Sie bietet dabei ein äußerst dynamisches Bild – der Holocaust ist zum Mahnmal für den transatlantischen Sklavenhandel und Kolonialgenozid geworden, während das Gedenken an die koloniale Gewalt auf reziproke Weise die Erinnerung an den Holocaust und andere Genozide evoziert. Die Globalisierung des Erinnerns regte eine Erinnerungsforschung jenseits von mnemonischem Eurozentrismus an, wobei vor allem postkolonialen Ansätzen eine herausfordernde Rolle zukommt. Indem diese Ansätze kritisch des westlichen Kolonialismus gedenken, stellen sie die eurozentrische Selbstreflexion des Holocaust infrage, die der westlichen Zivilisation als ein beständiger Rückbezugspunkt dient, um sich immer neu ihrer humanistischen Werte zu vergewissern. Ausgehend von Zygmunt Baumans Überlegungen zur Dialektik der Moderne erscheint die westliche Demokratie jedoch nicht als Gegenpol zum Holocaust, sondern birgt dessen Möglichkeit in sich. Eine postkoloniale Erinnerungskultur unterläuft somit den Diskurs der »ungerechtfertigten moralischen Selbstzufriedenheit« des Westens – und wird daher nicht selten abgewehrt. Sie erschütterte die voreingenommene Entgegensetzung von der westlichen Demokratie, die an Völkermord im Allgemeinen unschuldig ist, und der östlichen Diktatur, die voller völkermörderischer Verbrechen ist. Wenn man Holocaust und Kolonialgenozid als in der globalen Moderne angelegte Bedrohungen begreift, dann wird der Holocaust zu »unserem« Problem jenseits spezifischer ethnischer und nationaler Fragen. Der weit verbreitete Glaube, dass nur der »importierte Antisemitismus« aus muslimischen Ländern im heutigen Deutschland problematisch sei, zeigt die moralische, auf Selbstexkulpation abzielende Bequemlichkeit des Westens. Das posteurozentrische Gedächtnis in Deutschland kann die globale Moderne durch den kritischen Blick auf die westlichen genozidalen Verwicklungen problematisieren.

Die hier abgedruckten Essays sind Versuche, den mnemonischen Eurozentrismus in Bezug auf den Holocaust zu provinzialisieren. Verständlicherweise steht der Begriff »Relativierung« schon lange auf dem Index expurgatorius der deutschen Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur, vor allem seit dem Historikerstreit von 1986/87. Ernst Noltes mechanistische Nebeneinanderstellung der Verbrechen des Nationalsozialismus und der des Stalinismus war vor allem problematisch, weil damit die Gräueltäten der Nazis im Rahmen des Holocaust entschuldigt und heruntergespielt wurden. Vergleich und Relativierung sind Begriffe, die zu euphemistisch sind, als dass sie Noltes »Europäischen Bürgerkrieg« charakterisieren könnten; Nolte förderte das reduktionistische Denken, nach dem der Nationalsozialismus als Abwehrreaktion auf die Aggression der Bolschewiki zu interpretieren sei, die sich gegen den Westen richtete. Jeglicher Bemühung darum, den Holocaust in einen vergleichenden Zusammenhang mit anderen Genoziden zu stellen, die im Rahmen des Kolonialismus und Stalinismus verübt worden sind, haftet seitdem der scharlachrote Buchstabe ›R‹ an. Auch die hysterische Aburteilung Achille Mbembes durch Anhänger des von Dirk Moses so bezeichneten »Katechismus der Deutschen« kann in der Kontinuität der großen Sorge über die beschämende Relativierung des Holocaust verstanden werden. In dem durch die Mbembe-Kontroversen ausgelösten Historikerstreit 2.0 stand die politische Konstellation jedoch in nahezu diametralem Gegensatz zu jener des Historikerstreits der Achtziger Jahre. Es waren vor allem Konservative, die die Einzigartigkeit des Holocausts betonten, während die Linken den postkolonialen Nexus des Holocausts herausstellten. Der politisch-historische Kontext, in dem der Holocaust relativiert wird, muss historisiert und seinerseits relativiert werden. Worum es in diesen Debatten geht, ist nicht mehr die Frage, ob relativiert wird, sondern auf welche Weise.

Alle historischen Ereignisse, einschließlich des Holocausts, sind einzigartig, und das schlicht deshalb, weil sie nicht gleich sein können. Die historische Singularität des Holocausts ist jedoch nicht gleichzusetzen mit seiner Unvergleichbarkeit. Statt Vergleichbarkeit auszuschließen, ermutigen historische Singularitäten zum Vergleich. Das Tabu der Unvergleichbarkeit des Holocausts zu brechen, ist eng mit dem Bestreben verbunden, die nationale Erinnerungskultur in Deutschland zu entprovinzialisieren. Aus der Perspektive der globalen Erinnerungsformation offenbart der Mbembe-Streit den postkolonialen Nexus der Holocaust-Erinnerung, der die Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des Holocausts als Markstein des kritischen Gedenkens im Deutschland nach 1968 überschreitet. Trotz aller guten Absichten verschließt das deutsche nationale Gewissen, das in der Kollektivschuld am Holocaust wurzelt, die Augen davor, dass europäische Nachbarn Komplizen beim Mord an den Juden waren und ihn geduldet haben. Die alleinige nationale Verantwortung Deutschlands für den Holocaust hat wie eine Deckerinnerung gewirkt, um die nichtdeutsche Mittäterschaft zu verschleiern. Ganz zu schweigen vom »Vichy-Syndrom«: Der osteuropäische Historikerstreit und die dortige selbstentlarvende Erinnerungskultur in der Zeit nach 1989 sind beredte Zeugnisse für das transnationale Dilemma der Holocaust-Erinnerung. Die Nationalisierung der Holocaust-Erinnerung in Deutschland neigt dazu, den kolonialen Völkermord und die Verbrechen des Westens ebenso zu verdrängen wie die Mitschuld des Ostens am Holocaust. So behindert das deutsche Nationalbewusstsein das Aufkommen eines transnationalen Gewissens, das die osteuropäische Mittäterschaft beim Holocaust und die westliche Schuld am kolonialistischen Völkermord zur Sprache bringt.

Wenn wir auf bestehende Ansätze des Vergleichens und der Relativierung blicken, erkennen wir, dass sich vielfältige lokale Erinnerungen bereits in Beziehung setzen mit dem Gedenken an den Holocaust, der inzwischen metonymisch für jegliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit steht und zum mnemonischen Prüfstein für das Böse geworden ist. Diese Entwicklung lässt sich innerhalb der globalen Erinnerungsformation nicht mehr rückgängig machen. Doch wenn man den Holocaust als eine ethische Schablone heranzieht, um über andere Genozide und Verbrechen weltweit nachzudenken, erscheint er nicht mehr nur als eine ausschließlich deutsch-jüdische Erfahrung, vielmehr wird er zum Ausgangspunkt für eine transnationale Ziviltugend in der globalen Erinnerungsformation. Ich verwende in diesem Buch daher die Begriffe »kritische Relativierung« und »radikale Gegenüberstellung« als konzeptuelle Werkzeuge, mit denen sich sowohl das relativierende Abwälzen von deutscher Verantwortung als auch die schematische Annahme kritisch hinterfragen lassen, der Holocaust sei mit dem Kolonialgenozid des Westens nicht zu vergleichen. Beide begrifflichen Werkzeuge können der selbstentlastenden Relativierung des Holocaust wie auch den mnemonischen Eurozentrismen entgegenwirken, die sich hinter der Vorstellung des Holocaust als etwas Einzigartigem und Unvergleichbarem verbergen. Mein regionaler Fokus liegt dabei auf den ›Globalen Osten‹, vor allem auf Osteuropa und Ostasien, weil ich insbesondere die pluralen Formen der kritischen Relativierung und radikalen Gegenüberstellung im globalen Erinnerungsraum beleuchten will. Dieses Vorgehen kann hoffentlich dazu beitragen, eine »multidirektionale Erinnerungskultur« zwischen dem Westen und den ›Globalen Osten‹ zu fördern.

Der Skandal um den Hannah-Arendt-Preis, ausgelöst durch die Heraufbeschwörung des Vergleichs des Warschauer Gettos mit der Situation in Gaza durch die Preisträgerin Masha Gessen, zeigt erneut die Komplexität des Vergleichs. Der ironische Kommentar »Der Hannah-Arendt-Preis könnte wohl nicht an Hannah Arendt verliehen werden, wenn sie noch lebte«, trägt in der gegenwärtigen deutschen Erinnerungskultur ein Körnchen Wahrheit in sich. Gessens kritische Relativierung, radikale Gegenüberstellung und ethischer Vergleich zwischen nationalsozialistischen Gettos und Gaza ist nicht gleichzusetzen mit Putins Worten von der »Entnazifizierung« der Ukraine. Im Gegensatz zu Putins Legitimation der russischen Invasion und der Kriegsgräuel fordert Masha Gessen eine »differenzierte Solidarität« im Sinne des von Michael Rothberg in seinem Artikel »Holocaust Remembrance and the Ethics of Comparison« vorgeschlagenen Verständnisses. Masha Gessen wirbt für die mnemonische Solidarität unter den verschiedenen Opfern, ohne die historischen Singularitäten und Besonderheiten zu negieren. Gessens Vergleich zwischen dem Getto und dem palästinensischen Gazastreifen wirkt wie eine bewusste Metonymie, um weitere Gräueltaten im Nahen Osten zu verhindern, wo sich kritische Relativierung und radikale Gegenüberstellung überschneiden. Trotz des unterschiedlichen Kontexts und der gegensätzlichen Geschichte entspricht Gessens Episode der Vermutung von Adam Shatz, dass wiederum Frantz Fanon das Hamas-Massaker vom 7. Oktober nicht unterstützt hätte. Laut Shatz’ umfangreicher postkolonialer Biografie stand Fanon dem historischen Fatalismus, den Afropessimismus und Zionismus teilen, sehr skeptisch gegenüber.

Erinnern ist grundsätzlich ein kognitiver Prozess, bei dem es nicht darum geht, sich passiv aufnehmend einer feststehenden Vergangenheit erneut zu vergewissern, sondern darum, eine Momentaufnahme aus dem beständigen Strom der Vergangenheit zu gewinnen. Wenn man sich der Vergangenheit im Jetzt erinnert, dann ist Erinnerung die Geschichte der gleichzeitigen Gegenwart. Paul Ricoeurs Überlegungen zu einer »Phänomenologie der Erinnerung« sind hier nützlich, denn an die Stelle der Frage »was erinnert werden soll« tritt bei ihm die Frage »wer erinnert«. Je nachdem, von wem und in welchem Rahmen die Vergangenheit wahrgenommen und erinnert wird, stellt sie sich jeweils anders dar. Erinnerung ist ein wesentliches Instrument einer epistemologischen Politik, die Darstellungen von Vergangenem und Konstruktionen von Geschichte entwirft. Im Sinne einer Phänomenologie der Erinnerung geht es in diesem Buch darum, das »globale Erinnerungsregime« des Opfernationalismus infrage zu stellen. Als Erinnerungsaktivist und Historiker scheint mir ein Wandel im Erinnerungsregime nicht weniger dringlich als der politische Regimewechsel. Ich wage zu behaupten, dass im Zeitalter des globalisierten Erinnerns sämtliche Transformationsstrategien, die nicht auch auf die Hegemonie des Erinnerungsregimes abzielten, historisch Schiffbruch erlitten haben. Den Opfernationalismus zu ›opfern‹, ohne dabei Asymmetrien der Viktimisierung außer Acht zu lassen, wäre der erste Schritt in Richung eines regime change der globalen Erinnerung.

Anlässlich der deutschen Ausgabe möchte ich meinen Kollegen und Freunden der Globalgeschichte und -erinnerung in Deutschland meinen Dank aussprechen. Die gilt in besonderem Maße für Aleida Assmann, Sebastian Conrad, Michael Geyer und Reinhart Kößler. Die Erinnerungsstudien in diesem Buch sind in erster Linie meine Antworten auf ihre Einladungen.

Opfernationalismus Nationale Trauer und globale Verantwortlichkeit

Früher beneidete man die Juden um ihre Besitztümer, Fähigkeiten, Positionen und internationalen Netzwerke […]. Heute beneidet man sie wegen der Krematorien.

Witold Kula, 1996

Die Opferwende in der globalen Erinnerungskultur

Wir können uns keine Opfer ohne Täter vorstellen und keine Täter ohne Opfer. Die Dichotomie von Tätern und Opfern zeugt im Rahmen der Nationen vom transnationalen Charakter des Nationalismus, denn Täternationen und Opfernationen sind über ihre Grenzen hinweg miteinander verflochten. Seit sich zu Anfang des 21. Jahrhunderts »der Schwerpunkt des Globalisierungsdiskurses von der Imagination zur Erinnerung verschoben hat«,1 werden mnemonische Konflikte zwischen Täternationen und Opfernationen in einem globalen Erinnerungsraum ausgetragen, der weiterhin im Entstehen begriffen ist. Dieser globale Erinnerungsraum hat sich zu einem Kampffeld entwickelt, auf dem widerstreitende nationale Erinnerungen um internationale Anerkennung konkurrieren. Während sich dieser Kampf um Anerkennung verschärft, gewinnt der Opferstatus für nationale Gedenkkulturen weltweit an Bedeutung. Eine oft weiblich vorgestellte Opferrolle wird gegenüber einem männlich gezeichneten Heldentum bevorzugt, um dadurch mehr Anklang bei dem Menschenrechtsregime zu finden, das dem globalen Erinnerungsraum eigen ist. Die Entstehung dieses Menschenrechtsregimes stärkte jenes »moralische Gedenken«, das die Opferwende vorangetrieben hat. Dabei steht die »Kosmopolitisierung des Holocaust« am deutlichsten für die Opferwende im globalen Erinnern. Im Rahmen des Bestrebens, dem eigenen Recht globale Anerkennung zuteilwerden zu lassen, ist der Opferstatus zum angestammten Element eines nationalen Erbes geworden. Indem er die Generationen aneinander bindet, wird der Opferstatus konstitutiv für die nationale Identität. Durch die politische Herstellung, Inanspruchnahme und Verbreitung dieses »ererbten Opferstatus« wird ein nationales Gedächtnis geschaffen, das zwischen Opfern und ihren Nachkommen eine mnemonische Solidarität befördert.2

Ernest Renan schrieb in weiser Voraussicht: »[D]as gemeinsame Leiden eint mehr als die Freude. In den nationalen Erinnerungen zählt die Trauer mehr als die Triumphe«.3 Zu Renans Lebzeiten waren Erinnerungen an Opferschaft jedoch auf den Raum innerhalb der nationalen Grenzen beschränkt. Heute sind sie grenzübergreifend miteinander verwoben, über Grenzen hinweg umkämpft, werden angefochten und verhandelt. Der Nationalstaat hat nicht länger ein Monopol auf kollektive Erinnerungen, denn paradoxerweise führte die Herausbildung eines globalen Erinnerungsraums dazu, dass Erinnerungen an nationale Opferschaft zunehmend umstritten geworden sind – der Herausbildungsprozess prägte die Formen des kollektiven Erinnerns. Eine der auffälligsten Veränderungen in der globalen Gedächtnislandschaft ist die diskursive Verschiebung vom heroischen Märtyrertum zum Status des unschuldigen Opfers. In nationalen Gedenkkulturen treten bislang marginalisierte, weiblich attribuierte Opfer immer häufiger an die Stelle von männlich imaginierten Helden. Die Überhöhung der Opferschaft, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten auf globaler Ebene zeigt, führte jedoch nicht unbedingt zu einem Mehr an transnationaler Verantwortung, nicht einmal was menschliche Tragödien wie Genozide anbelangt. Im Gegenteil wird die Entwicklung umkämpfter Opfererinnerungen im globalen Erinnerungsraum oftmals durch nationalistische Aneignungen verzerrt. In der Annahme, die globale Öffentlichkeit werde unschuldigen Opfern größere Sympathie entgegenbringen, liefern sich verzweifelt trauernde Nationen »einen geschmacklosen Wettbewerb darum, wem das meiste Leid widerfahren sei.«4

Das kollektive Gedächtnis, das sich auf die Opferrolle konzentriert, ist kein neues Phänomen. Die Geschichte der nationalistischen Diskurse offenbart, dass die Opferschaft neben dem Heldenkult darin eine lange Tradition hat. Die Reconquista, der polnische Irredentismus, das italienische Risorgimento und andere nationale Befreiungsbewegungen haben jedoch gezeigt, dass der Opfernationalismus stets bald vom Heldennationalismus überschrieben wurde. Das Aufkommen der globalen Erinnerungsformation eröffnete ein neues Kapitel des Opfernationalismus. Das Gedenken an den Holocaust ist in der globalen Erinnerungsformation zu einer transnationalen Ziviltugend geworden, die die nationalistische Metamorphose vom Held zum Opfer nachahmenswert erscheinen ließ. Nachdem die verschiedenen Opfergedächtnisse weltweit miteinander verwoben, verglichen, in Beziehung gesetzt, gegenübergestellt und voneinander angefochten worden waren, wurde die globale Erinnerungsformation zu einer Brutstätte für konkurrierende Opfernationalismen.

Begünstigt wurde die Opferwende in der globalen Erinnerungskultur durch die Binarität von kollektiver Schuld und kollektiver Unschuld. Das Denken in Kategorien der Kollektivschuld läuft darauf hinaus, dass »Menschen angeblich schuldig werden oder sich schuldig zu fühlen haben für Dinge, die nicht von ihnen, wenn auch in ihrem Namen, begangen wurden«. Hannah Arendt zufolge trägt die Kollektivunschuld, gepaart mit einer Kollektivschuld, dazu bei, dass sich unter selbsterklärten Opfern eine starke Solidarität entfaltet.5 Wenn Schuldige nicht wegen ihrer individuellen Verfehlungen verurteilt werden, sondern wegen ihrer ethnonationalen Identität, bilden sich stabile nationale Erinnerungskollektive von Opfern wie auch von Tätern heraus. Die besonders starken Bindungen, die in Erinnerungskollektiven über die Opferschaft entstehen, gehen einher mit einem Alleinanspruch auf den Prozess der »Vergangenheitsaufarbeitung«; eine Folge davon ist, dass bestimmte Dimensionen dieser Vergangenheit verdrängt werden. Die Priorisierung des Opferstatus im Erinnerungsraum erleichtert und rechtfertigt somit den Nationalismus von Nationen, die sich als Opfer verstehen.

Heutzutage konkurrieren Nationalstaaten darum, sich in der Rolle als Opfer von Aggressornationen zu etablieren. Meine These vom »Opfernationalismus« erklärt diesen Wettbewerb als neuartiges Phänomen eines regenerierten Nationalismus im Zeitalter des globalisierten Erinnerns.6 Ohne eine transnationale Reflexion über den Opfernationalismus lassen sich die Prozesse der »Vergangenheitsaufarbeitung« nach dem Zweiten Weltkrieg nicht begreifen, und zwar vor allem deshalb nicht, weil sich der Opfernationalismus als erhebliches Hindernis für jegliche Form von Versöhnung über Ost und West hinweg erwiesen hat. Ohne eine Demontage dieses Opfernationalismus wird sich die Vergangenheit nicht mit der Gegenwart versöhnen lassen. In den ›Globalen Osten‹, wo die Vergangenheit die Gegenwart und die Zukunft als Geiseln genommen hat, sind sämtliche Strategien, die auf eine politische Transformation abzielten, ohne diese mit einem veränderten Erinnerungsregime zu verknüpfen, letztendlich gescheitert. Um das Feld der Erinnerungspolitik in Ostasien und Osteuropa neu auszurichten, reicht der bloße Wechsel politischer Machthaber nicht aus – ebenso dringend notwendig ist ein Wandel des Erinnerungsregimes. Ein erster Schritt dahin wäre, den Opfernationalismus ins Visier zu nehmen.

Das wohl erstaunlichste Manöver des Opfernationalismus ist die magische Metamorphose des Individualtäters in ein Kollektivopfer. Dieser Akt der Verwandlung soll individuelle Täter von ihren Verbrechen entlasten. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Art und Weise, wie die Brüder Laudański sich über längere Zeit im Rahmen unterschiedlicher politischer Regime jeweils selbst von Schuld freisprachen. Im kommunistischen Polen hatten sich die Laudańskis – die damals einzigen lebenden Täter, die wegen ihrer Mitwirkung am antisemitischen Pogrom von Jedwabne verurteilt worden waren – noch als »Opfer des Faschismus, des Kapitalismus, des autoritären Sanacja-Regimes der Vorkriegszeit« inszeniert. Nach 1989 verdrängten der Stalinismus und die Volksrepublik Polen den Kapitalismus und das Sanacja-Regime aus der Erinnerung der Brüder. Auch nachdem die angeblichen Täter gewechselt hatten, kultivierten die Laudańskis weiter ihren Opferstatus: »Wie die ganze Nation haben wir unter den Deutschen, den Sowjets und den Volkspolen gelitten.«7 Täter wandelten sich zu Kollektivopfern, indem sie sich hinter der Erinnerung an eine nationale Opferrolle versteckten. Die Grundlage für diese Verwandlung war die Obsession bezüglich einem nationalen Opferstatus in der polnischen Erinnerungskultur, die es individuellen Tätern aus der Opfernation ermöglichte, ihre Verbrechen herunterzuspielen.8

Die Sakralisierung von Erinnerung bildet den epistemologischen Grundpfeiler des Opfernationalismus. Sakralisierte Erinnerung kann dazu dienen, den zweifelnden und kritischen Blick Außenstehender auf »unsere singuläre Vergangenheit« abzuwehren. Vielleicht ist die Sakralisierung von Erinnerung auf individueller Ebene bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich, denn unsere persönliche Erinnerung ist im Grunde etwas Intimes, das sich mit den Erfahrungen anderer als inkommensurabel erweisen kann. Eine nationale Erinnerung kann dagegen nur entstehen, wenn persönliche Erinnerungen durch Kommunikation, Bildung, Gedenkpraktiken, Rituale und Zeremonien massenhaft geteilt werden. Eine auf diese Weise geprägte individuelle Erinnerung tendiert dazu, sich in einem kollektiven Gedächtnis zu verankern, das sich an die Stelle persönlicher unverarbeiteter Erinnerungen setzt.9 Theoretisch sollte sich das kollektive Gedächtnis der Sakralisierung entziehen, da es durch die soziale und kulturelle Kommunikation persönlicher Erinnerungen geformt wird. In seinem Paradox wird jedoch der Unterschied zwischen den Charakteristika von Kollektiv und Individuum deutlich: Obwohl jede individuelle Erfahrung einzigartig ist und nicht vollständig vermittelt werden kann, ist die Formulierung »unvermittelbare kollektive Erinnerung« ein Widerspruch in sich.