Orks vs. Zwerge - Fluch der Dunkelheit - T.S. Orgel - E-Book

Orks vs. Zwerge - Fluch der Dunkelheit E-Book

T. S. Orgel

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Beschreibung

Dieser Krieg ist noch nicht vorbei!

Ein gewaltiger Krieg zwischen Orks und Zwergen ist über das Land hereingebrochen. Die mächtige Zwergenstadt Derok ist gefallen, und die Orks haben den Norden zurückerobert. Während die Heere der Zwerge sich noch lange nicht geschlagen geben und zur Gegenoffensive aufmarschieren, flüstern die Schamaninnen der Orks von einem heraufziehenden Sturm der Finsternis. Einem Sturm, der die Geister der Toten wecken und das Land der Lebenden für immer vernichten kann. Und so brechen eine Kompanie Zwerge und ein Orktrupp auf, um über das Schicksal der Welt zu entscheiden …

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T.S. Orgel

ORKS

VS.

ZWERGE

Fluch der Dunkelheit

Roman

Originalausgabe

Mit ausführlichem Glossar und

Ork-Wörterbuch im Anhang

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Originalausgabe 12/2013

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2013 by Thomas & Stephan Orgel

Copyright © 2013 dieser Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Karten: Andreas Hancock

Umschlagillustration: Alexander Tooth

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-11305-6

www.heyne-fantastisch.de

TEIL I

»Das größte Unglück ist eine verlorene Schlacht,

das zweitgrößte eine gewonnene.«

ARTHUR WELLESLEY, DUKE OF WELLINGTON

EINS

Glond

Wenn das überhaupt möglich war, sah der Ork aus dieser Nähe noch gefährlicher, noch furchterregender aus. Hochgewachsen und muskelbepackt, beinahe doppelt so groß wie Glond und höchstwahrscheinlich sogar größer als der Wolfmann. Wobei man das nicht so genau sagen konnte, denn der schlaksige Menschenkrieger stand für einen direkten Größenvergleich nicht zur Verfügung. Nur Glond war da und diese nachtschwarze Bestie mit den tief in den Höhlen liegenden Augen und der bösartigen Steinkeule in der Hand.

Glond presste sich noch dichter in den Schatten der Hauswand. So dicht, dass er durch das Hemd jede Unebenheit im Sandstein spüren konnte. Seine Hand tastete über die raue Oberfläche, bis sie eine Lücke entdeckte. Der Regen hatte an dieser Stelle in jahrzehntelanger, geduldiger Kleinarbeit einen etwa handtellergroßen Steinbrocken freigespült, den Glonds zitternde Finger nun umklammerten.

Der Ork war keine zehn Schritte entfernt in die Hocke gegangen, um etwas vom Boden aufzuheben. Grunzend presste er seine Hand gegen die platte Nase und sog witternd die Luft ein.

Glond wagte kaum zu atmen. Dreh dich nicht um. Geh weiter. Lauf einfach nur die Straße hinab, zurück nach Hause in deine Höhle. Ich bin mir sicher, dort wartet ein leckerer Schweinebraten auf dich und eine Horde kleiner orkischer Hosenscheißer, die es kaum erwarten können, deinen beeindruckenden Kriegsgeschichten zu lauschen.

Aber natürlich kam es anders. Es kam immer anders, als man es sich wünschte. Wenn es einen Gott gab, dann war er ein mieser Drecksack.

Der Ork erstarrte, und ein tiefes Grollen drang aus seiner Kehle. Sein Kopf fuhr herum, die gelben Augen blitzten in der Dunkelheit. Mit einer Behändigkeit, die seinen massigen Körper Lügen strafte, sprang er auf, riss die Keule in die Höhe und stieß einen mächtigen Kampfschrei aus, der vielfach von den Hauswänden widerhallte.

Glond holte tief Luft. Er spürte das vertraute Gewicht des Steins in der Hand und holte aus. Es war ein verdammt guter Wurf, und er traf den Ork mitten im Gesicht. Blut spritzte, und der Kopf des Monsters wurde herumgerissen. Er taumelte rückwärts und wäre beinahe über die eigenen Füße gestolpert. Aber eben nur beinahe.

»Verdammter Drecksack«, schrie Glond, während er aufsprang und an ihm vorbeischoss. Er hörte den Ork noch brüllen, dann war er über den Bleichplatz gestürmt und in die nächste Gasse eingebogen. Der Stein hatte ihm nur wenige Schritte Vorsprung verschafft, aber sie mussten reichen.

Während er die Gasse hinunterrannte, dachte er daran, wie überfüllt sie zu dieser Tageszeit einst gewesen war. Keine vier Schritte weit wäre er gekommen, ohne mit einem Ochsenkarren zusammenzukrachen oder mit einem der unzähligen Tuchhändler, die hier früher lautstark ihre Waren angepriesen hatten. Irgendwie vermisste er ihre wüsten Schimpftiraden, die seine Flucht früher einmal ausgelöst hätte. Die Menschen in Derok besaßen nicht viele Talente, aber das Fluchen beherrschten sie meisterhaft.

Heute lag die Gasse verlassen vor ihm, und es gab nichts, hinter dem er sich hätte verbergen können. Er warf einen hastigen Blick über die Schulter. Der Ork hatte die Verfolgung aufgenommen und kam mit langen Schritten näher.

Je weiter er in die verwinkelten Gassen des Weberviertels vordrang, desto schwieriger wurde die Flucht. In diesem Teil der Weststadt hatten die Orks am schlimmsten gewütet. Die einfachen Holzhütten hatten wie Zunder gebrannt, und Schutt und heruntergebrochene Dachbalken säumten die Straßenränder. Der früher allgegenwärtige Ätzgeruch der Bleichmittel war nun dem nicht weniger widerwärtigen Gestank von verkohltem Fleisch gewichen. Keuchend kletterte Glond über die Reste eines zusammengebrochenen Leiterwagens, dessen Ladung über die Straße verstreut lag, und zwängte sich zwischen den Balken eines heruntergebrochenen Dachaufbaus hindurch. Obwohl sein großgewachsener Gegner Mühe hatte, ihm durch die schmalen Lücken zu folgen, kam er unerbittlich näher. Und er schien noch nicht einmal ansatzweise außer Atem zu sein, während Glond bereits sein Herz bis zum Hals hinauf schlagen hörte. Keuchend hastete er an einem Toten vorüber, der mit drei Pfeilen im Bauch an einer Haustür lehnte und mit weit geöffnetem Mund blicklos ins Leere starrte. Weiße Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen, und in seiner Seite machte sich ein stechender Schmerz breit. Jetzt musste er nur noch wenige Schritte durchhalten. Er mobilisierte die letzten Kräfte und stürmte an dem beschnitzten Pfahl vorüber, der den Zugang zum Labyrinth markierte. Seine Schulter streifte schmerzhaft eine Hauswand, und er geriet ins Straucheln. Im allerletzten Augenblick konnte er sich fangen, stolperte fluchend um die Ecke in eine dunkle Gasse hinein und – dann waren da nichts weiter als Schutt und rußgeschwärzte Gemäuer.

Er lief noch einige Schritte weiter und blieb japsend stehen. Langsam drehte er sich im Kreis. Um ihn herum gab es nichts als hohe, unüberwindliche Mauern. Kein Hauseingang, keine Fensteröffnung, kein Fluchtweg. Sein Blick wanderte nach oben, wo in schwindelerregender Höhe einige Dachbalken aus dem Gestein ragten. Viel zu hoch, um sie jemals erreichen zu können. Glond schloss die Augen und atmete tief durch. So weit, so gut.

Der Ork war im Zugang zur Gasse stehen geblieben. Sein mächtiger Brustkorb hob und senkte sich so gleichmäßig, als hätte er lediglich einen kleinen Morgenspaziergang hinter sich gebracht, und seine winzigen Augen wanderten aufmerksam über die Schuttberge und verharrten dann auf Glond. Er musste sich ziemlich sicher sein, dass er sein Opfer in der Falle hatte, denn nach einem kurzen Augenblick drang ein tiefes, grollendes Lachen aus seiner Kehle.

»Leck mich«, keuchte Glond und zog die kurze Klinge aus seinem Gürtel. Im Vergleich zu der mächtigen Keule des Orks wirkte sie wie ein Kinderspielzeug.

Von diesem Augenblick an lief das Ganze gehörig schief.

Hinter dem Rücken des Orks trat die Gestalt eines unbekannten Dalkar in die Gasse, gedrungen und zäh, das Gesicht von Narben zerfurcht und von einem grauen Bart eingerahmt, der ihm in verfilzten Strähnen bis über den Bauch hing. Über der Schulter trug er einen langen Holzprügel, aus dessen oberem Ende eine Reihe rostiger Nägel ragten. Seine blutunterlaufenen Augen fixierten Glond vorwurfsvoll. »Ein Dalkar flieht nicht vor dem Feind. Ein Dalkar kämpft bis zum Ende, egal, wie groß die Übermacht auch scheinen mag.«

»Warte!«, keuchte Glond voller Entsetzen, doch der Grauhaarige schnaufte nur geringschätzig und wandte sich dem Ork zu. »Mein Name ist Dvergat von der Deroker Mauerwacht, und wir zwei sind vom Schicksal dazu auserkoren worden, gegeneinander zu kämpfen. Ich fordere dich zu einem Duell auf Leben und Tod.«

Der Ork gab mit keiner Miene zu erkennen, ob er den Sinn seiner Worte verstanden hatte. Doch das musste er auch nicht, denn Dvergat wartete gar nicht erst eine Antwort ab, sondern stürmte einfach los.

Wie zwei Naturgewalten prallten sie aufeinander. Mit ohrenbetäubendem Krachen zerbarst der Holzprügel an der Schulter des Orks, und die rostigen Nägel bohrten sich tief in sein Fleisch. Doch seine Keule fand ebenfalls ihr Ziel und ließ den Grauhaarigen schwer getroffen zurücktaumeln.

In einem Kampf entscheiden manchmal Kleinigkeiten über Sieg oder Niederlage. Die Sonne, die den Angreifer überraschend blendet, ein verirrter Pfeil oder auch nur eine Unebenheit im Boden, über den der Feind herangestürmt kommt. Das Schicksal dieses Dalkar war eine unscheinbare Pfütze, in der sein Bein versank, als er einen wankenden Schritt rückwärts tat. Mit einem hässlichen Knirschen knickte es zur Seite weg und stürzte hart in den Schlamm.

Als Glond ihn fallen sah, stieß er einen frustrierten Schrei aus. Warum war sein Volk nur so verdammt engstirnig? Warum konnten diese Dickschädel nicht ein einziges Mal nachdenken, bevor sie losstürmten? Warum mussten sie der Welt nur immer wieder beweisen wollen, dass sie ihr Schicksal verdienten? Für einen Augenblick zögerte er, dann stieß er einen sinnlosen Kampfschrei aus und rannte los.

Doch er kam zu spät. Brüllend riss der Ork seinen benommenen Gegner in die Höhe und hob die Keule. Die rostigen Nägel in seinem Arm schien er nicht einmal zu bemerken. Seine gelben Augen glühten vor Zorn, und zäher Geifer spritzte ihm aus dem Mund, während er dem Grauhaarigen seinen ganzen Hass ins Gesicht schrie und mit voller Kraft zuschlug.

Als die Keule gegen eine matte Schwertklinge prallte und zur Seite abgelenkt wurde, sprühten Funken. Der Ork fuhr herum und starrte in das grinsende Gesicht des Wolfmanns, der mit einem eleganten Sprung hinter seinem Rücken gelandet war. Der lange Menschenkrieger drehte das Schwert, rammte dem Ork den Knauf in die Rippen und hieb im nächsten Atemzug nach seinen Beinen. Irgendwie gelang es dem Ork, dem Schlag auszuweichen, mit seiner Keule auszuholen und sie in die Seite des Wolfmanns krachen zu lassen. Mit einem triumphierenden Heulen sprang er zurück und spießte sich selbst an Glonds ausgestreckter Klinge auf.

Das kurze Schwert glitt mühelos bis zum Heft in den Rücken des Orks und blieb darin stecken. Es war ein unwirkliches Gefühl, beinahe so, als hätte Glond es sich selbst in die Eingeweide gestoßen und warte nun auf den Augenblick, in dem der Schmerz wie eine Flutwelle über ihn hereinbrechen würde. Erschrocken ließ er den Griff los, und der Ork wandte sich um und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Unverständnis lag in ihnen, und beinahe so etwas wie verletzter Stolz. Mit einem mitleiderregenden Wimmern umklammerte er die nass glänzende Klinge, die aus seinem Bauch ragte, und zerrte daran. Dunkles Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor und tropfte in langen Fäden zu Boden. Langsam sank er in die Knie, bis er sich beinahe auf Augenhöhe mit Glond befand und überhaupt nicht mehr so bedrohlich wirkte wie noch Augenblicke zuvor. Er schien etwas sagen zu wollen, denn sein Mund bewegte sich lautlos. Dann kippte er zur Seite und war tot.

»Was habt ihr getan?«, rief der Grauhaarige, der sich Dvergat genannt hatte.

»Was?«, fragte Glond. Seine Beine zitterten, und seine Lunge brannte, als stünde sie in Flammen.

»Das war mein Zweikampf, ihr hättet ihn mir nicht nehmen dürfen!«

»Wir haben dir das Leben gerettet«, knurrte der Wolfmann und stützte sich auf den Knauf seines Schwerts. »Wenn wir nicht gewesen wären, hätte der Drecksork Kleinholz aus dir gemacht.«

»Ich hatte ihn dort, wo ich ihn haben wollte.«

»Und du wolltest ihn direkt über dir haben? Die Keule zum tödlichen Schlag erhoben?«

»Ja, aber völlig ohne Deckung. Er hatte keinen Schimmer, dass wir Meister darin sind, ungesehen von unten anzugreifen. Das sind unsere körperlichen Vorteile.« Mit zitternden Händen tastete der Alte im Straßendreck nach seiner Waffe. »Du hast alles zerstört, du räudiger Köter.«

»Du kannst mich mal, du alter Sack.«

»Lasst es gut sein.« Glond schloss die Augen und schüttelte den Kopf.

»Genau«, raunzte der Wolfmann und spuckte auf den Boden. »Halt endlich den Mund, alter Mann.«

»Halt du dein Maul!«, brüllte der Dalkar, und die Augen traten ihm fast aus den Höhlen. »Du hast mir überhaupt nichts zu sagen. Weder du, noch dein Freund, der feige vor dem Ork geflohen ist.« Sein anklagender Zeigefinger zuckte wie eine Klinge durch die Luft.

»Ich übernehme das Kämpfen gern für ihn, wenn du es darauf anlegst.« Der Wolfmann hob sein Schwert und bleckte die Zähne.

Glond presste die Handflächen auf die Ohren. Es war zum Verzweifeln. Da standen sie inmitten einer zerstörten Stadt, in der es vor Orks nur so wimmelte, und diese Dickschädel hatten nichts Besseres zu tun, als sich gegenseitig die Köpfe blutig zu schlagen. Wenn diese zwei Streithähne symbolisch für den Zustand der dalkarischen und menschlichen Rassen waren, stand es wirklich schlecht um sie. »Haltet beide euer Maul«, brüllte er so laut, dass sie ihn verblüfft anstarrten. »Es ist völlig egal, wer diesen verdammten Ork umgebracht hat. Er ist tot, und das ist das eigentliche Problem. Wolfmann, erinnerst du dich, warum wir hier sind? Wir wollten den Ork in eine Falle locken, um ihn zu befragen. Das war ein ganz einfacher Plan, bei dem wir nichts weiter tun mussten, als mein Leben zu riskieren, um den Ork mit einer Schlinge einzufangen. Der erste Teil hat ja auch ganz wundervoll geklappt.«

»Ach ja«, murmelte der Wolfmann und senkte widerwillig sein Schwert. »Nur dass uns der Kerl hier den Rest versaut hat.«

Für einen Augenblick war es still, doch dann funkelten die Augen des Grauhaarigen streitlustig auf. »Einen Ork wolltet ihr befragen«, höhnte er und verzog das Gesicht. »Einen Ork, der kaum seine eigene Sprache beherrscht, geschweige denn irgendeine andere. Da hättet ihr ja gleich einen Stein ausquetschen können.«

»Das lass mal unsere Sache sein.«

»Solange ich lebe, machen wir keine Gefangenen.« Dvergats Zeigefinger fuchtelte wild unter der Nase des Wolfmanns herum. »Wir bekämpfen sie, wo immer wir stehen. Wir halten sie auf und treiben sie zurück in die Berge. Jeden Schritt bezahlen sie mit hohem Blutzoll, solange die Fahne der Zwölften steht. Das habe ich meinem Heetmann geschworen. Geschworen! Verstehst du das?«

»Die Zwölfte?« Glond runzelte die Stirn. »Die Zwölfte wurde doch aufgelöst.«

»Was soll das heißen?«

»General Variscit hat sie aufgelöst, nachdem alle Krieger für tot erklärt wurden.« Glond warf einen Seitenblick auf den Wolfmann. »Du warst dabei, als sie es verkündeten, nicht wahr?«

»So ist es gewesen. Sie wurden alle für tot erklärt.«

»Du weißt hoffentlich, was das bedeutet, Dvergat. Für die Clans warst du von diesem Augenblick an nicht mehr am Leben. Ausgelöscht und für alle Ewigkeit nicht mehr als eine Erinnerung. Alles, was du von jenem Tag an getan hast, ist sinnlos. Jeder getötete Ork, jede deiner Heldentaten – für die Clans ist es gerade so, als wären diese Dinge nie geschehen.«

Es folgte eine Pause, in der keiner ein Wort sprach.

»Tot?« Dvergat sog ungläubig die Luft ein. »Du lügst. Wer soll das entschieden haben? Es gibt niemanden, der das Recht dazu hat.«

»Jarl Dornbirn, der Standartenträger der Zwölften, war der Einzige, der an jenem Tag aus der Schlacht zurückkehrte. Er hat die Fahne eingerollt und an General Variscit übergeben.«

»Jarl Dornbirn«, zischte Dvergat und rang nach Atem. »Er lügt! Er wurde am Kopf verletzt und konnte nicht mehr klar denken. Die Standarte war schon lange nicht mehr in seinem Besitz, als er die Brücke überquerte. Er hatte sie verloren, als der Großteil der Einheit in den Gassen der Weststadt in eine Falle gelockt wurde. Heetmann Talus hat sie durch ein Bierfass ersetzt. Durch mein Bierfass!« Die letzten Worte schrie Dvergat fast.

Glond lachte traurig. »Das hat der General wohl anders gesehen, denn er hat Jarl Dornbirn zum Heetmann befördert und ihm das Kommando über die Zwanzigste übertragen. Dich dagegen hat er zu einem lebenden Toten gemacht.«

Dvergat starrte ihn an, die Augen weit aufgerissen und die Hände hilflos zu Fäusten geballt. Endlich schien die gesamte Tragweite des Gesagten zu ihm durchzudringen. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, und seine Schultern sackten nach unten, als hätte sich ein Amboss auf sie gesenkt. »Tot«, flüsterte er, und seine Stimme zitterte dabei. Kraftlos ließ er den Kopf hängen, von einem Augenblick auf den nächsten ein gebrochener alter Mann.

Wie er so dahockte, konnte er einem beinahe leidtun. Mit seinem ramponierten Gesicht und dem verdrehten Bein, von aller Welt allein gelassen, ohne Freunde oder Verbündete, und vor allem ohne Zukunft. Auch wenn er es verdient haben mochte, musste man schon ein ziemliches Arschloch sein, um einen solchen Mann noch tiefer in den Schlamm zu treten. Dabei war es doch noch gar nicht so lange her, dass sich Glond in einer ähnlichen Situation befunden hatte. So schnell, wie er gekommen war, war der Zorn verraucht und wich einem leisen Gefühl von Scham. Glond zog die Flasche Dunkelbier aus seinem Gürtel und reichte sie dem alten Mann. »Mein Name ist Glond. Der Große heißt Cryn, aber wir nennen ihn alle nur Wolfmann. Wegen dem Pelz«, fügte er überflüssigerweise hinzu. »Wie ein Wolf. Verstehst du?«

Dvergats Augen wanderten zum Wolfmann und wieder zurück. »Ich bin ja nicht blöd«, murmelte er und nahm einen tiefen Zug aus der Flasche. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Mein Name lautet Dvergat. Aber das wisst ihr ja bereits.«

Glond nickte und deutete auf Dvergats Bein. »Was ist damit? Tut es sehr weh?«

»Manchmal schon. Vor allem an kalten Tagen.« Dvergat krempelte die Hose hoch und entblößte einen vernarbten Stumpf, wo einmal sein Unterschenkel gewesen war. Ein grob geschnitztes Holzbein war daran befestigt, nur notdürftig festgezurrt mit ein paar ausgefransten Lederriemen. »Obwohl da gar nichts mehr ist, was wehtun könnte. Ist das nicht seltsam? Als ob das Bein noch irgendwo da unten dranhängt. Nur dass es mich nicht mehr trägt und man es nicht sehen kann, das nutzlose Ding.« Kopfschüttelnd schob er das Ende des Holzbeins zurück in die richtige Position und zurrte die Lederriemen fest. Dann nahm er einen weiteren tiefen Schluck aus der Flasche und zuckte mit den Schultern. »Was wolltet ihr denn von dem Ork wissen?«

»Wir suchen nach einem Menschenkind, einem Jungen von nicht mehr als zwölf Wintern. Sein Name ist Navorra von Andrien, und er ist im Sanatorium zu Hause. Er trägt ein teures Hemd und um den Hals eine Kette mit einem goldenen Ring.«

»Von einem Navorra habe ich noch nie etwas gehört oder gesehen. Für mich sehen die Menschen aber ohnehin alle gleich aus. Viel zu groß und dürr, kein Fleisch auf den Knochen und kümmerliche Bärte, die den Namen kaum verdienen.« Angeekelt verzog Dvergat das Gesicht und rümpfte die Nase. »Aber an den Ring erinnere ich mich genau. So ein schweres Ding mit einem Wappen oben drauf, das man braucht, um wichtige Dokumente zu versiegeln. Ich habe noch nie ein so seltenes Stück Edelmetall im Besitz eines Menschen gesehen. Er wird ihn vom Finger eines toten Kriegers gestohlen haben, der diebische Bastard.«

»Du hast Navorra gesehen.« Die Erleichterung war Wolfmanns Stimme deutlich anzuhören. »Wo? Was ist aus ihm geworden?«

»Er ist tot.«

»Nein!«

Dvergat zuckte mit den Schultern. »Es war eine kleine Gruppe, ein knappes Dutzend Menschen – und ein paar sehr seltsame Gestalten noch dazu. Sie wollten in die Sümpfe fliehen. Weiß der Grubenteufel, wie es ihnen gelungen war, sich so lange vor den Orks verborgen zu halten. Aber das ist ja nun egal, denn selbst wenn ihnen die Flucht gelungen ist, wird der Sumpf sie inzwischen verschlungen haben. Niemand kehrt lebendig von diesem Ort zurück.« Er nahm einen letzten geräuschvollen Zug aus der Flasche und stellte enttäuscht fest, dass sie bereits leer war. Als er sie zurückgab, zitterte seine Hand. »Es hat keinen Zweck, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Es ist, wie es ist.«

Die Kiefer des Wolfmanns mahlten, während sein Blick nach Westen wanderte, wo die mächtige Stadtmauer wie ein Mahnmal über das Meer der Hausdächer hinausragte. »Mag sein. Aber es gibt Wege, von denen die Dalkar nichts wissen. Selbst die meisten Menschen haben keine Ahnung von ihrer Existenz. Ich habe Navorra irgendwann einmal von ihnen erzählt und auch, welchem Zweck sie dienen. Er hat ein gutes Gedächtnis, er hat sich an meine Worte erinnert.«

»Was waren das für Worte?«, fragte Glond.

»Halte dich von den Sümpfen fern.«

Glond nickte. Ein weiser Ratschlag, so viel war sicher. Die Alten erzählten eine Menge hässlicher Geschichten über die Sümpfe. Düster sollten sie sein und unheimlich, die Erde tückisch und nachgiebig unter den Stiefeln, nur darauf bedacht, den unachtsamen Wanderer in die Tiefe zu zerren und mit Haut und Haaren zu verschlingen. Und das war sicherlich nicht die einzige Gefahr, die an so einem trostlosen Ort lauerte. Man erzählte sich von wandernden Lichtern und unheimlichen Gestalten … Nein, die Sümpfe waren wirklich kein Ort für einen Dalkar. Niemand, der noch einigermaßen klar bei Verstand war, würde sie freiwillig betreten.

Aber er hatte einen Eid geschworen. Er hatte geschworen, Navorra und die restlichen Bewohner des Sanatoriums zu retten. Er hatte sich dafür mit einem der größten Dalkarhelden der Geschichte angelegt, hatte es abgelehnt, der Stellvertreter von General Variscit zu werden, war sogar in eine Nussschale von einem Boot gestiegen, mit kaum einem Fingerbreit Holz zwischen sich und den eisigen Fluten. Und er hatte ein denkendes Wesen getötet. Nachdenklich wischte er sich die Hand am Hemd ab. Es klebte eine ganze Menge Blut daran. Er wollte verdammt sein, wenn er sich jetzt noch von so einem stinkenden Sumpfloch aufhalten ließ. »Je eher wir aufbrechen, desto schneller haben wir Navorra eingeholt.«

Der Wolfmann nickte und spuckte auf den Boden. »Du hast recht. Je eher wir aufbrechen, desto schneller haben wir diese Sache hinter uns gebracht.«

»Und was wird aus mir?«, fragte Dvergat.

Glond warf ihm einen Seitenblick zu. »Du kannst uns begleiten, wenn du willst. Hat ja keinen Zweck, hier länger auszuharren. Falls wir es bis in die Hochebenen schaffen, kannst du dich nach Süden zur nächsten Siedlung durchschlagen. Nach Garenn vielleicht, oder nach Vyndtport. Dort sind deine Chancen, am Leben zu bleiben, allemal besser als hier in Derok.«

»Am Leben bleiben …« Dvergat schnaufte abfällig. »Was hat denn das noch für einen Wert?«

ZWEI

Derok

Die Abendsonne stand tief im Westen und sandte ihre letzten Strahlen herab, die die zahlreichen Wasserflächen für einige Augenblicke wie rotgoldene Spiegelscherben schimmern ließen.

Für diese kurze Zeit war selbst das verwüstete Derok schön. Das abendliche Licht tauchte Ruinen und zerstörtes Land gleichermaßen in ein seltsam unechtes, überzeichnet wirkendes Licht. Das Angenehme daran war, dass dieses Licht eine Menge der unschöneren Seiten einer Schlacht verbarg. Die Farben zum Beispiel. Die Farben von geronnenem Blut, von Eingeweiden und die der Gesichter von Toten. Die Strahlen tauchten alles, was sie berührten, in warme, schmeichelnde Töne von Gelb, Orange, Rot und Gold. Den Rest verbargen sie in tiefen Schatten. Tief genug für Zwerge, Orks oder auch Menschen, nicht jedoch für die scharfen Augen des Kronhabichts.

Der Greifvogel sah die Leichen, die noch immer in unzugänglichen Ecken der Ruinen lagen, Gliedmaßen, die aus Trümmerhaufen ragten, angefressen von Krähen bei Tag und Ratten bei Nacht. Er sah die Trümmer von Geschirr und Möbeln, die verlorenen Spielzeuge, zerbrochenen Waffen und verbogenen Schilde, die vergessenen Bücher, deren von Ruß befleckte Seiten im Abendwind flatterten. Rauch und Asche wehten sacht durch die verlassenen Straßen und Gassen unter ihm.

Anfangs waren noch Schweine und Hunde herrenlos durch die Ruinen gestreift und hatten sich mit den Krähen um die Toten gestritten. Jetzt sah der Habicht keine mehr davon. Die Orks waren gründlich gewesen, und ein Hund bedeutete ihnen dasselbe wie ein Schwein: eine willkommene Mahlzeit. Alles, was ihnen essbar erschien, hatten sie eingefangen, eingesammelt und davongetragen. Die Speicher der Stadt waren leer geräumt, ebenso wie ihre Felder und Gärten, und längst war das meiste von dem, was den Orks kostbar erschien, aus den Trümmern geborgen. Was die Orks nicht rechtzeitig wegschleppen konnten, hatten die Wurfmaschinen der Zwerge unter Felsbrocken begraben und mit brennenden Pechkugeln vernichtet. Fünf Tage und Nächte lang waren die Geschosse ohne Unterlass auf Derok niedergegangen, in den Himmel geschleudert von Dutzenden Katapulten der Festung auf der südlichen Seite des Flusses, bis schließlich nichts mehr in ihrer Reichweite lag, das man noch weiter hätte zerstören können. Die Zwerge hatten ihre Stadt an die Orks verloren, doch sie hatten sie ihnen nicht überlassen.

Rauch stieg in den Himmel, so wie er es seit über zehn Tagen tat, seit die einst mächtige Zwergenstadt gefallen war. Fettige Flocken von Asche schwebten wie grauer Schnee auf die tote Stadt hinab.

Der Kronhabicht zog einen großen Kreis, unentschlossen, wohin er sich wenden sollte. Im Norden, dort, wo einst die Gartenvorstadt gewesen war, lohten die Feuer der Orks, gewaltige Scheiterhaufen, auf denen die Leichen der gefallenen Orkkrieger zu Asche und Staub verbrannten. Tausend Tote waren bereits in Rauch aufgegangen, und noch immer wurden weitere Körper in die Flammen geworfen. Von dort drifteten die Gesänge der Drûaka, der orkischen Geistersprecherinnen, herauf. Tag und Nacht, ohne Unterlass, sangen die Schamaninnen der Stämme, während sie die Herzen der Krieger aus den Leichnamen schnitten und sie im Rauch der Totenfeuer trockneten. Ihr Rauch verdunkelte den Himmel über den Ruinen, eine Wolke, so schwarz und dicht, dass sie der leichte Wind, der von den Bergen herabwehte, nicht auseinandertreiben konnte. Die Schamaninnen sahen sorgenvoll zu ihr auf und verstärkten ihre Gesänge.

Hinter den Rauchsäulen, auf den Hügeln im Norden, richtete sich das gewaltige Heer der Orks auf den nahenden Winter ein, während ihre Häuptlinge stritten, was als Nächstes zu tun sei. Noch hielt der Heerwurm der vereinigten Stämme, noch war nicht entschieden, ob der Feldzug des großen Rogoru hier beendet war. Doch das Murren unter den Kriegern wurde lauter, und mit jedem Tag rückte der Winter näher.

Für einen Ork waren die Risse in der Allianz der Stämme beinahe schon zu sehen. Doch der Kronhabicht war kein Ork, und die Belange der Erdgebundenen interessierten ihn nicht.

Die Rauchwolke, die über der Stadt hing, störte den Vogel dagegen tatsächlich. Sie erschwerte ihm das Fliegen, füllte seine Lungen mit ätzendem Qualm, überzog sein Gefieder mit einem öligen Film und biss in seine Augen. Nein, das war nicht die Richtung, in die er fliegen wollte.

Der Habicht kreiste weiter. Nach Osten zu fliegen kam nicht in Frage. Im Osten verlief das Flusstal bis hinauf in die Berge, deren Höhen selbst in den heißesten Sommern von Schnee und Eis bedeckt waren. Sie waren höher, als einer seiner Art fliegen konnte, und instinktiv wusste er, dass Beute dort rar war. Und noch etwas spürte er: Die dunkle Wolkenwand, die langsam von Osten herankroch, als sei sie begierig, sich den Rauch der Totenfeuer über der Stadt einzuverleiben, kündete von Sturm. Einem Sturm, der von Derok aus das Land heimsuchen würde. Er spürte ihn in den Knochen seiner Schwingen, in den Eingeweiden und als Druck, der sich in seinem Schädel aufbaute. Verärgert schüttelte der Habicht den Kopf und drehte nach Süden bei.

Hier zerschnitt der reißende Fluss das Land und die Stadt. Sein Wasser hatte auf seinem Weg von den Feldern des ewigen Eises herab kaum an Wärme gewonnen oder an Wildheit eingebüßt. Am gegenüberliegenden Ufer erhob sich ein einsamer Fels hoch über die Reste der Stadt. Auf seiner Höhe thronte eine Festung der Zwerge, gespickt mit Katapultstellungen und besetzt von wachsamen Posten mit stählernen Panzern und griffbereiten Waffen. Die Zwerge hatten dazugelernt. Sie würden die Orks nicht mehr unterschätzen. Und sie schienen nicht vorzuhaben, den Orks den Zugang zum Süden kampflos zu überlassen. Noch jetzt, in den letzten Strahlen der Abendsonne, trafen Ochsenkarren voller Fässer und Säcke in jenem Rest der Stadt Derok ein, der das Glück hatte, auf der richtigen Seite des Flusses zu liegen. Südlich davon hatten Zelte und hastig errichtete Verschläge die noch vor kurzem friedlichen Obsthaine in ein chaotisches Flüchtlingslager verwandelt. Doch wie es in der Natur der Zwerge lag, verringerte sich das Chaos bereits. Täglich brachen Flüchtlinge von hier in den Süden auf, um dort ihr Glück oder wenigstens Zuflucht zu suchen. Sie wurden ersetzt durch Truppen weiterer Gepanzerter, die in die Gegenrichtung marschierten und Waffen ebenso wie Vorräte zur Festung von Derok brachten. Schon jetzt wehten die Wimpel einer Vielzahl von Truppenverbänden über dem wachsenden Heerlager, und bald würde es in Derok mehr Zwergenkrieger geben als je zuvor.

Doch auch dorthin flog der Habicht nicht. Ein Schwarm zorniger Krähen stieg aus dem Zentrum der Stadt auf, von dort, wo die Reste der zerstörten Brücken wie die Knochen eines gefallenen Urtiers aus dem schäumenden Wasser ragten. Am Kopf der Brücke türmten sich Berge von Leichen auf. Die Orks hatten ihre Toten weggebracht – die Gefallenen der Zwerge jedoch lagen noch immer dort, zu Dutzenden und Hunderten aufgehäuft oder verstreut, halb eingetreten in den ausgehärteten Schlamm der zerstörten Barrikaden. Nichts lebte mehr dort – nichts außer unzähligen Fliegen, die fieberhaft damit beschäftigt waren, ihre Eier in die zerfallenden Leichname zu legen, und natürlich ihren wimmelnden, kriechenden, brodelnden Nachkommen. Einzig die Krähen machten ihnen das Mahl streitig, doch im hier herrschenden Überfluss würde wohl niemand von ihnen in absehbarer Zeit hungern müssen. Die Schlachtplatte, die die Orks hinterlassen hatten, war reich gedeckt. Normalerweise hätte der Habicht seinerseits eine fette Krähe nicht verschmäht, doch die schwarzen Räuber waren wachsam und so zahlreich, dass er in diesen Tagen selbst zum Gejagten wurde.

Mit einem zornigen Schrei stieg er höher empor, bis die Totenvögel der Verfolgung überdrüssig wurden und sich wieder ihrem Mahl zuwandten. Nein, hier gab es nichts mehr für ihn. Der Kronhabicht wandte sich nach Westen und glitt auf der leichten Brise der Sonne entgegen, hinaus über das flacher werdende Land. Unter ihm zogen zerstörte Gehöfte vorbei; auf den Feldern war keine Ernte, auf den Weiden kein Vieh mehr zu finden. Niedergebrannte Scheunen und abgeholzte Wäldchen kündeten davon, dass auch hier die Orks gewesen waren, um den unersättlichen Hunger ihres Heers zu stillen. Die Höfe wichen langsam sumpfigerem Land, in dem hier und dort kleine Seen aufblitzten und sich dunkle Bachläufe durch feuchte Wiesen wanden. Noch immer folgte der Habicht dem glitzernden Band des Flusses, den vereinzelten Gruppen von Menschen gleich, die unter ihm mühsam ihren Weg in die Wildnis erkämpften. Weitere Flüchtlinge, diesmal jedoch die Sorte, die ihren Hausrat zurückgelassen hatte, um sich mit dem Mut der Verzweiflung einen Pfad durch die nahen Sümpfe zu suchen.

Flussabwärts gab es andere Siedlungen: Gehöfte und kleine Dörfer am Flusslauf, in denen die Heimatlosen auf Hilfe oder zumindest ein Boot hofften, das sie flussabwärts zum großen Strom und in den sicheren Süden bringen konnte. Andererseits – was war schon sicher? Lediglich der Hunger und die Kälte im nahenden Winter für all jene, die kein Dach über dem Kopf finden konnten. Vielleicht war der Tod in einem der Moorlöcher auf dem Weg dorthin ein gnädigeres Ende.

Für den Habicht stellten sich diese Fragen nicht. Sorgen um die Zukunft lagen vollkommen jenseits seines Horizonts, etwas, worum ihn die meisten der Fliehenden sicher beneiden würden. Jetzt, da er den Schatten der Wolkenwand über Derok hinter sich gelassen hatte, richtete sich seine Aufmerksamkeit wieder ausschließlich auf das gefiederte Leben unter ihm. Wenn er weiterziehen musste, dann mit vollem Magen.

DREI

Krendar

Niedrig hängende Wolken krochen von Osten her über das Sumpfland und verbargen die nächtliche Landschaft hinter immer neuen Regenschleiern. Sie blieben an den Flanken der Hügel hängen, verwandelten alles in mehr als einem Dutzend Schritten Entfernung in bloße Schemen und ertränkten jedes Geräusch in monotonem Rauschen und Tropfen. Ein schmaler Einschnitt kerbte die östliche Flanke des Hügels, von einem Bach, der den größten Teil des Jahres kaum mehr als ein dahinsickerndes Rinnsal war, in den lehmigen Waldboden gegraben. Die ausladenden Äste von Nadelbäumen verdeckten die Rinne beinahe vollständig. Selbst wenn Nacht, Wolken und Regen nicht gewesen wären, hätte kaum jemand die Gestalten entdeckt, die unter dem tropfenden Geflecht aus Zweigen warteten. Sie wirkten wie dunkle Felsbrocken, die jemand in kleinen Gruppen angeordnet hatte, und nur eine gelegentliche Bewegung, das Aufblitzen von Metall oder ein gemurmeltes Wort verrieten, dass es sich nicht etwa um antike Steinkreise handelte. Zwischen den Zusammengekauerten brannten hier und da kleine Feuer. Die Flammen flackerten trüb, gaben kaum Licht und noch weniger Wärme ab und zischten leise im fortwährenden Nieseln. Schwere Planen aus rohem Leder schützten die Feuer notdürftig vor der Nässe und dämpften den Lichtschein noch zusätzlich.

An der Feuerstelle, die am weitesten bachabwärts lag, grunzte eine der Gestalten und schüttelte die nasse Lederplane von ihren Schultern, um einen Becher heißen Kräutersud aus dem Kochbehälter zu schöpfen.

»Verdammtes Mistwetter«, knurrte der Aerc, leckte sich über die spitz gefeilten, blutroten Zähne und schmatzte unwirsch. »Ich verstehe immer noch nicht, warum wir hier sind.« Er war kleiner und sehniger als seine fünf Kumpane, und seine nasse Haut schimmerte selbst im schwachen Widerlicht grünlich. Er wirkte wie ein großer, missgestimmter Frosch. Ein Frosch mit Raubtiergebiss.

»Tja, wenn ich mich recht erinnere, war das so«, rumpelte der riesige Oger zu seiner Linken. »Am Anfang der Zeiten, als die Welt noch jung war, öffneten die Ersten der Ahnen ihre Augen und …«

»Ach halt’s Maul, Modrath.« Der rotzahnige Aerc zischte entnervt, als der Oger und die beiden grauhäutigen Krieger neben ihm leise kicherten. »Und ihr – sehr witzig. Krendar, hast du dich nicht gefragt, was wir in dieser Gegend hier wollen?«

»Äh … nein? Nein. Eigentlich nicht.« Der jüngste der Aerc riss den Blick von den Flammen los und sah auf. »Ich war noch nie hier, Dudaki. Ich hab also keine Ahnung, wohin der Häuptling will und ob wir hier richtig oder falsch sind. Was passt dir daran nicht?«

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