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Jeder kennt sie, die Helden unserer Fantasie, lebendig gemacht durch die Geschichten unserer Eltern oder Großeltern. Doch wer sind diese Gestalten eigentlich? Was macht der Osterhase, wenn er nicht Eier bemalen oder austeilen muss? Warum sammelt die Zahnfee Zähne? Mahlt sie damit den Schlafsand für das Sandmännchen oder ist es nur ein irrer Fetisch? Wie verträgt der Weihnachtsmann die vielen Kekse, oder ist er ohnehin längst zuckerkrank? In 15 Geschichten zeigt diese Anthologie die versteckten Vorlieben, die tiefen Abgründe oder auch Macken der Helden unserer Kindheit.
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HYBRID VERLAG
Vollständige elektronische Ausgabe
12/2022
Osterhase, Weihnachtsmann, Zahnfee und Co.
mit ihren Macken und versteckten Vorlieben
herausgegeben von Marie Loth
© by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg
Umschlaggestaltung: ©2022 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco
Lektorat: Matthias Schlicke, Julia Schoch-Daub, Paul Lung
Korrektorat: Petra Schütze
Buchsatz: Paul Lung
Coverbild ›Wonders Macht‹
© 2018 by Creativ Work Design, Homburg
Coverbild ›Puppenmoor‹
© 2021 by Creativ Work Design, Homburg
Stock-Fotografie-ID: 869402154, Bildnachweis: PatriciaDz
Stock-Fotografie-ID: 91740398, Bildnachweis: toxawww
Coverbild ›Der Pakt der Seherin‹
© 2019 by Creativ Work Design, Homburg
Coverbild ›Künstlerpech‹ © 2016 by Creativ Work Design, Homburg
ISBN 978-3-96741-180-5
www.hybridverlag.de
www.hybridverlagshop.de
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
Printed in Germany
herausgegeben von
Marie Loth
Osterhase, Weihnachtsmann, Zahnfee und Co.
mit ihren Macken und versteckten Vorlieben
Anthologie
Inhaltsverzeichnis
Am Anfang war das Huhn
Claus und die Fluglizenz
Farbloses Ostern
Heldenrat
Rettet das Fest
Sandmann sucht Aushilfe
Als Ostern und April sich trafen
Wie die Welt doch noch gerettet wurde
Am Anfang ein Sandkorn
Im Hairwood Forest
Kopflos durch den Zauberwald
Träumen Störche von Menschenkindern?
Die Osterhasen-Prüfung
Trumpf oder Kritisch
Gay Santa
Vorwort der Herausgeberin
I
n jedem von uns schlummert doch der Wunsch, dass es da draußen etwas gibt, das wir uns nicht so recht erklären können. Nach etwas Magischem, etwas Mythischem, dass uns einnimmt und mit sich reißt, ja vielleicht sogar zu unserem Schicksal führt.
Es muss mehr sein, davon bin ich überzeugt!
Doch wenn ich daran zurückdenke, wer für mich von Anfang an am wahrhaftigsten von allen mystischen Wesen auf der Welt war, so waren es Osterhase, Weihnachtsmann, Zahnfee und Co.
Lebendig wurden sie durch meine Eltern, welche diese Sagengestalten in der Überzeugung an den Zauber und den Glanz in den Augen ihrer Kinder erst real haben werden lassen. Und selbst durch dich und mich leben sie fort. Wir geben diesen Zauber, den Glauben, nein, den Wunsch nach dem MEHR, weiter.
Aber was wäre, wenn es diese Gestalten tatsächlich gäbe? Die folgenden Geschichten geben einen Einblick, wie das Leben von Osterhase, Weihnachtsmann, Zahnfee und Co. heute aussehen könnte.
Ich bedanke mich für fünfzehn fesselnd, fantasievolle Einblicke mit Tiefgang und wünsche den Lesern das Schmunzeln auf die Lippen, dass der Hybrid Verlag und ich beim Aussuchen hatten.
Eure Marie Loth
Am Anfang war das Huhn
Michael G. Spitzer
D
a sitze ich nun. Atemlos in Vorfreude auf den bevorstehenden Urlaub.
Osterhase nennen sie mich. Dass ich nicht lache. Ich bin ein Karnickel, das entgegen seiner Natur die Liebe zu einer anderen Spezies gefunden hat. Und es bitter bereut.
Waldfrieda wurde sie gerufen. Von Menschen. Lebewesen, die nur fordern können, aber nichts geben.
Moment, doch: Sie können geben. Dämliche Namen!
Wer bitteschön nennt jemanden Waldfrieda?
∞
Sie war anmutig, schön in jeder ihrer Bewegungen. Und bei jedem Schritt, den sie vollführte, ging ihr Kopf nach vorne wie … er tat es in einer Eleganz, die nur ein Huhn hervorbringen konnte.
Gleich meine erste Begegnung mit Waldfrieda ließ mich ihr verfallen. Ein Treffen war unproblematisch, denn wer hat schon Bedenken, wenn ein Kaninchen neben einem Huhn steht. Sie jedoch würdigte mich zunächst kaum eines Blickes. Waldfrieda bevorzugte Größe. Selbst der Hahn des Hofes konnte nicht bei ihr landen, da sein Kamm deutlich kleiner war als der seiner Vorgänger. Doch was konnte ich an Größe überhaupt zeigen? Es gab nur einen offensichtlichen Punkt, der infrage käme: Die Ohren.
Also zog und zog ich an ihnen. Natürlich half das nicht. Was für eine dämliche Idee. Zum Schluss blieb mir lediglich eine Möglichkeit: künstliches Aufpeppen! Warum auch nicht? Menschen tun das fast täglich, um das andere Geschlecht zu beeindrucken.
Natürlich haben wir Kaninchen keine Ärzte oder Schminke, die das Offensichtliche noch deutlicher hervorheben können. So musste ich mir etwas einfallen lassen.
Die Idee, meine Ohren nach und nach mittels Schlammanhaftungen zu verlängern, schmolz mit dem ersten Regen dahin. Auch das Einklemmen meiner Löffel in einer Astgabelung und dem anschließenden Ziehen führte zu keinem sichtbaren Ergebnis. Monatelang schmachtete ich in Richtung des einzigen Wesens, das mein kleines Kaninchenherz schneller schlagen lassen konnte, als es ein Zwei-Kilometer-Sprint hätte tun können.
Irgendwann im Winter traf ich auf Johannes. Einen echten Hasen, der derart speziesbeschränkt war, dass er schon wieder in sich selbst verliebt sein musste.
»Junge, du bist ein Kaninchen und wirst es auch bleiben. Wenn es dir aber auf die Ohren ankommt und du sie unbedingt größer haben willst, dann mach Folgendes: …« Arrogant streckte er die Brust hervor. »… Suche dir Taubenfedern. Nicht von den weißen Ziervögeln, die sowieso nicht wissen, wie man richtig gurrt, sondern von den majestätischen Ringeltauben, die immer wissen, wann es Zeit ist, seine Pracht zur Schau zu stellen.«
»Wozu?«
Er schnalzte mit der Zunge. »Klemme die Flügelfedern hinter die Ohren. Sie sind länger als dein kleines Leder am Kopf und haben eine fast identische Farbe wie dein Fell.«
Skeptisch schaute ich ihn an, musste mir aber eingestehen, dass es die beste Idee seit Monaten war. »Denkst du nicht, Waldfrieda wird es bemerken?«
Johannes lachte auf. »Sie ist ein Huhn, dumm wie die Körner, die sie frisst. Sie wird die Größe erkennen und sie akzeptieren. Genaueres Hinschauen ist bei diesen Eierlieferanten nicht drin.«
Wütend schnaubte ich auf. Wie konnte er es wagen? Seine Größe und die entsprechend höhere Kraft in Augenschein nehmend hielt ich mich jedoch zurück. Kurz schloss ich die Augen. »Danke für diesen Rat.«
Er nickte lediglich und sprintete davon. Der Dreck, welchen er dabei aufwühlte und mir ins Gesicht schleuderte, war wohl seine Art, mir die Überlegenheit eines Hasen zu zeigen.
Mit einigen Flüchen auf den Lippen begab ich mich auf die Suche nach den angesprochenen Utensilien. Es dauerte gerade mal zwei Tage, da hatte ich meine neuen Ohren schon gefunden. Ich befestigte sie hinter meinen eigenen Löffeln und startete einen Versuch, mich dem Objekt meiner Begierde zu nähern.
Waldfrieda stand — wie immer mit majestätisch lang gerecktem Hals und leicht erhobenem Schnabel — am hinteren Ende des Freigeheges. Sie würdigte Karl, den Hahn des Hofes, weiterhin keines Blickes. Selbstbewusst atmete ich tief ein und nutzte die kleine Lücke unter dem Zaun, um zu ihr zu gelangen. An ihrer Seite angekommen, streckte ich meine Brust heraus.
»Guten Tag, schöne Frau. Ich hoffe, Sie können ihn genießen.«
Waldfrieda musterte mich mit ihren hellbraunen Augen skeptisch. »Schon recht große Ohren für einen solch jungen Mann«, erwiderte sie. »Ich hoffe, Ihr könnt sie auch nutzen!«
Verdutzt drehte ich meinen Kopf zu ihr. »Was meint Ihr?«
»Nun ja, Ihr müsst recht gut darin sein, einen Feind zu orten, doch ich bin mir nicht sicher, ob Ihr schon die Erfahrung habt.«
Erleichtert, dass sie nicht etwas anderes meinte, stellte ich mich auf meine Hinterläufe. »Ihr werdet niemanden finden, der Euch eher zur Hilfe eilt, wenn Ihr in Gefahr seid, Euer Gefieder zu verlieren.«
Waldfrieda senkte ihren Kopf fast unmerklich in meine Richtung. »Nun, um mein Gefieder mache ich mir keine Gedanken.«
Ab diesem Zeitpunkt war es um mich endgültig geschehen. Ich befestigte die Federn von nun an täglich an meinen Löffeln und besuchte Waldfrieda. Sie erzählte mir von ihrer Aufgabe, den Menschen Eier zu schenken, damit diese zufrieden ihr Tageswerk vollbringen konnten.
Im Frühling wurde Waldfrieda melancholisch und zog sich nicht nur von ihren Freundinnen, sondern auch von mir zurück. Sie legte nur noch maximal ein Ei alle zwei Wochen. Ich konnte nicht anders, als sie darauf anzusprechen.
»Was bedrückt dich?«
»Ich mache tagein, tagaus nichts anderes als futtern und für die Menschen Eier legen.« Sie blickte mich mit ihren fast gelb schimmernden, hellbraunen Augen seufzend an. »Letzteres ist nun mal meine einzige Aufgabe hier, aber ich würde gerne mehr tun. Vielleicht würden sie sich freuen, wenn mein Beitrag zu ihrem Leben etwas bunter wäre.«
Ich ließ ihre Worte wirken und kam schnell zu einer Antwort. »Vielleicht sollten wir deine Eier anmalen!«
Ruckartig hob Waldfrieda ihren Kopf. »Das ist eine tolle Idee! Hilfst du mir?«
Ich nickte und besiegelte damit mein Schicksal. Wir bemalten ihr letztes Ei, indem wir für Grün Gras zermalmten und es auftrugen. Gelb waren die ersten Butterblumen aus der Wiese neben dem Freigehege. Mehr als diese Farben konnten wir um diese Jahreszeit nicht aufbringen. Dazu sammelte ich mit deren Einverständnis noch ein paar Eier von Waldfriedas Stallgenossinnen und färbte auch diese ein. Einige legte ich in Waldfriedas Gelege, zwei weitere sehr zu Waldfriedas Gefallen in die Nähe des Hauses der Menschen. Es kostete mich ein wenig Überwindung, denn ich kann diese komischen Wesen nicht allzu gut leiden. Doch für meine Liebe war es mir das wert.
Als erstes fanden die Kinder die bunten Geschenke. Sie jauchzten und jubelten, als sie sie sahen.
Und plötzlich geschah etwas, das mein Leben für immer veränderte. Ich hörte eine hohe, nahezu kindliche Frauenstimme. »Du hast den Menschen eine Freude bereitet. Sie glauben, dass es mein Werk war, das ihnen den Glanz in den Augen bescherte.«
Verblüfft schaute ich mich um, konnte jedoch niemanden erkennen.
»Ich bin hier!«
Wieder schaute ich mich um. Niemand da. Ich runzelte die Stirn und blickte nach oben.
»Ja, genau. Hier!«
Konnte das sein? War da tatsächlich jemand? Eine unsichtbare Person, die seit keine Ahnung wie lange von den Menschen angebetet wurde?
Ich zog eine Braue hoch. »Und was willst du von mir?«
»Deine Idee war wundervoll. Ich möchte, dass du allen Menschen solche Freude bescherst.«
Ich riss die Augen auf. »Hast du sie noch alle? Ich soll allen Menschen dieses Planeten mindestens ein Ei bringen?« Ungläubig schüttelte ich den Kopf.
»Bemalt wäre schön.«
Was? Ich sollte … wie viele Eier bemalen und ausliefern? Ich blickte nach oben. »Wie lange soll ich denn dafür brauchen?«
»Nur einen Tag.«
Ääh … klar. Einen Tag für … wie viele Menschen weltweit? Sicher. Kein Problem. Schaffe ich zwischen Frühstück und Vormittagstee.
Augenverdrehend schüttelte ich den Kopf und hoppelte in Richtung der kleinen Lücke im Zaun. »Vergiss es, Mädchen. Bei dir sind ein paar Kerzen ausgegangen.«
Noch bevor die letzte Silbe in meinen Löffeln verhallt war, schloss sich mein Durchschlupf im Zaun. Ich blieb stehen und blickte nach oben. »Warst du das?«
»Ja, wer sonst?«
Ich richtete mich auf und tappte mit der rechten Hinterpfote auf den Boden. »Wenn du mich hier einsperrst, wird das nie etwas mit den Eiern für die Welt.«
»Oh, du sagst also zu?«
Genervt atmete ich lautstark aus. »Nein!«
Eine kurze Stille kehrte ein, bis ein kleiner Luftzug um meine Löffel wehte. Es fühlte sich anders an als sonst. Mit meiner rechten Vorderpfote zog ich das gleichseitige Ohr herunter und mir stockte der Atem. Sofort tat ich es mit dem anderen Löffel und konnte es nicht fassen. Die Federn waren weg, doch die Länge meiner Ohren glich auch ohne sie der eines Hasen.
Mein Herz pochte wild, als ich hochsah. »Warst du das auch?«
»Natürlich! Du wolltest doch ein Hase sein, oder?«
Mir kam Johannes in den Sinn. Seine arrogante Art und sein herablassender Ton, als er über Waldfrieda gesprochen hatte. »Na ja, nicht wirklich. Mir ging es nur um die Ohren.«
»Tja, diese Löffel wären ein kleines Geschenk für deine Dienste.« Eine Pause ließ diese Worte wirken. »Aber ich kann es auch wieder rückgängig machen.«
Waldfriedas anmutiges Gesicht erschien vor meinem geistigen Auge. »Nein! Sie sind toll!«
»Also bist du dabei?« Ich konnte die Aufregung in der Stimme des Mädchens deutlich heraushören. Was für ein Miststück. Diese Göre versuchte meine Liebe auszunutzen. Okay, die Löffel waren schon der Hammer. Doch der Preis dafür war enorm. Da fiel mir der Ausweg auf und ich schaute wieder nach oben.
»Kannst du mir denn erklären, wie ich den ganzen Planeten in nur einem Tag umrunden und jedem Menschen so ein Ei ins Nest legen soll?«
»Schau nach vorne.« Ich tat es. Die Lücke im Zaun öffnete sich wieder. »Lauf!« Verwirrt blickte ich nach oben. »Los, lauf schon!«
Langsam hoppelte ich auf die Öffnung zu.
»Hey, ich sagte: laufen!« Der Befehlston war deutlich herauszuhören.
»Ja doch!« Ich beschleunigte meinen Lauf und nach nur einem Augenblick befand ich mich am anderen Ende der angrenzenden Wiese.
Erstaunt schaute ich hoch. »Ich bin schneller als jedes andere Wesen auf diesem Planeten!«
»Tz, du bist nicht mal gelaufen.«
»Das geht noch schneller?«
»Hey, du musst die Erde innerhalb eines Tages nicht nur umrunden …« Zum ersten Mal konnte ich etwas wie Ungeduld aus der Stimme heraushören. »… du musst praktisch Zickzack laufen, denn die Menschen leben nicht nur auf einem Breiten- und Längengrad.«
Okay, da war was dran. Mit schmalen Augen suchte ich mir ein neues Ziel. Nach wenigen Sekunden entdeckte ich es: Ein großes Haus mitten auf dem Hügel rund … tja, wie weit war es entfernt? Vielleicht dreißig Kilometer? Möglicherweise mehr als vierzig? Ich duckte mich leicht und suchte mit meinen Hinterpfoten Halt im lehmigen Boden der Wiese, als ich ein deutliches Schnaufen vernahm.
»Meine Güte, jetzt mach nicht so eine Show.«
Kurz schloss ich die Augen und wollte gerade eine passende Antwort geben, als es hinter mir knallte. Sofort sprintete ich vor Schreck los und blieb nach maximal zwei Sekunden wieder stehen. Ich schaute mich um und konnte meine Wiese nicht mehr sehen. Neben mir befand sich das Haus, das ich eben noch angepeilt hatte. Ich war kaum außer Atem und hätte schwören können, maximal zehn Meter gelaufen zu sein. Verwundert schaute ich hoch, doch es kam keine Erklärung für dieses Ereignis. Kurz orientierte ich mich und lief wieder los. Meine Wiese war genauso schnell wieder unter meinen Pfoten, wie ich sie verlassen hatte. Ich blickte nach rechts und sah Waldfrieda, die mich durch den Maschendrahtzaun hindurch neugierig ansah. Bedächtig hoppelte ich zu ihr, um meine neugewonnene Geschwindigkeit nicht direkt zu offenbaren. Ich wusste nicht, ob sie gut oder schlecht auf sie wirken würde.
»Wo warst du?«, fragte sie mich.
»Ich musste was erledigen.«
Waldfrieda senkte leicht ihren Kopf und starrte mich aus ihren hellbraunen Augen heraus an. »Eine Andere?«
Beinahe hätte ich aufgelacht, denn irgendwie war sie nah an der Wahrheit. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, keine Sorge. Du bist die Einzige für mich.«
»Die Einzige was?«
Meine Augen wurden groß. »Die einzige Frau an meiner Seite!«
Waldfrieda reckte den Hals nach oben und blickte in Richtung des Daches des Hühnerstalls vor ihr. »Ich war eben nicht an deiner Seite, denn du warst weg.« Ruckartig senkte sie wieder den Kopf in meine Richtung und sah mir scharf in die Augen. »Wie heißt sie?«
»Wer?«
»Die Andere!«
»Es gibt keine Andere!«
Mit einer Drehung wandte sie sich von mir ab und schritt davon. »Grüße sie schön von mir.« Ihre Stimme klang gekränkt und ich wollte ihr nachhoppeln, als einer der Menschen aus dem Haus kam. Da ich wusste, dass auch Kaninchen auf dem Speiseplan dieser selbstgefälligen Wesen stand, drehte ich mich schnell um und schlüpfte wieder durch das Loch im Zaun auf meine Wiese.
»Du hast sie angelogen.« Die Stimme aus dem oberen Nichts in meinem Ohr. Sie klang vorwurfsvoll. »Warum?«
Fassungslos schüttelte ich den Kopf. »Soll ich Waldfrieda etwa sagen, dass ich Stimmen höre und schneller laufen kann als ein Blitz?«
»Hm, das mit der Stimme ist wirklich ein Problem.« Ein tiefes Durchatmen war deutlich zu vernehmen. »Doch das mit dem schnellen Laufen nicht. Zeige es ihr und erkläre deiner Geliebten, dass du etwas Besonderes bist, was du nicht jedem auf den Schnabel binden möchtest.«
Nachdenklich blickte ich nach oben. »Okay, ich werde es probieren.« Ich schluckte hart. »Ich hoffe, sie ist solchen Dingen gegenüber aufgeschlossen.«
Vorsichtig hoppelte ich wieder zurück zum Hühnergehege, schlüpfte mich umschauend durch die kleine Öffnung im Zaun. Der Mensch war wieder weg und als ich mich gerade in Richtung des Hühnerstalls begeben wollte, kam Waldfrieda hinter dem Haus der Menschen hervor. Als sie mich erblickte, hob sie den Schnabel und drehte sich wieder um.
Nicht mal einen Wimpernschlag später stand ich neben ihr. »Ich muss mit dir reden.«
Sie blickte missachtend zu mir herab und ich begann, ihr von meiner neuen Fähigkeit zu erzählen. Natürlich ließ ich die Stimme der jungen Frau … oder doch Mädchens? … weg und erwähnte auch nicht, dass ich erst seit wenigen Minuten so schnell laufen konnte.
Waldfrieda kehrte mir den Rücken zu. »Komm mit einer besseren Ausrede!«
»Das ist keine Ausrede.« Ich stellte mich vor sie. »Sieh her!«
Noch bevor sie antworten konnte, lief ich zur Öffnung zurück und auf das Ende der Wiese. Dort winkte ich ihr zu und eilte direkt wieder zu dem Huhn meines Herzens.
Sie blickte mich nur skeptisch an. »Aha, also kannst du dich zu jeder Zeit unbemerkt davonmachen und dich am nächsten Hof mit anderen Hühnern treffen, wenn ich gerade ein Ei lege oder schlafe.« Sie drehte den Kopf weg. »Und wenn du glaubst, ich könnte es bemerken, dann kommst du direkt zurück. Sehr geschickt.«
»Waldfrieda, ich …« Doch noch bevor ich ausreden konnte, drehte sie sich weg, scharrte etwas Lehm vom Boden, den sie mir ins Gesicht schleuderte, und ging von dannen.
»Lass sie etwas in Frieden, die fängt sich wieder.«
Ich schaute nach oben, wischte mir den Schmutz aus dem Gesicht und schnaubte auf. »Du hast gut reden. Dich hat sie nicht mit Dreck beworfen.«
Unmittelbar nach meinen Worten hörte ich ein leichtes Scharren hinter mir und drehte mich um. Vor mir stand die Nestnachbarin meiner Liebe, Guthild.
»Mit der hast du es dir verscherzt.« Sie nickte in die Richtung, in die Waldfrieda verschwunden war. »Sie ist sehr eifersüchtig und du musst schon was Besonderes anstellen, um sie wieder von dir zu überzeugen.«
»Was soll ich tun?«
Sie schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Vor dir hatte sie zwei Hähne, die ihr fremdgingen. Beide versuchten, sie zurückzuerobern. Sie taten viel, doch hatten keinen Erfolg.«
Ich sah zögernd zu Guthild. »Haben sie mit ihr … du weißt schon.«
Gackernd lachte die Henne auf. »Genauso oft wie du.«
Wirklich beruhigt war ich nun nicht. Ich hatte immer gedacht, Hühner müssten bestiegen werden, bevor sie Eier legen können. Egal, ich würde mich anstrengen müssen, um Waldfrieda milde zu stimmen.
»Du kannst sie von dir überzeugen!« Die Stimme von oben.
»Wie?«
»Verteile bunte Eier an die Menschen und schau, dass deine Geliebte es mitbekommt.«
Sehr geschickt. So bekam das Mädchen aus dem Nichts seinen Willen. Doch es hatte recht: Wenn ich Waldfrieda zurückbekommen wollte, musste ich etwas tun, das ihr gefiel. Und den Menschen bemalte Eier zu schenken, war in ihrem Sinne.
»Okay, ich werde es tun«, antwortete ich. »Doch mal ehrlich: Wie soll ich so viele Eier bemalen und austeilen? Sie in Windeseile an den Mann zu bekommen, kann ja klappen. Doch vorher färben? Das dauert bei dieser Masse Jahre!« Ich zog meine Lider zusammen. »Von wie vielen reden wir eigentlich?«
»Nur knapp eine Milliarde.«
»Was?«
Guthild trat einen Schritt vor. »Mit wem redest du da?«
Ich riss die Augen auf. Verdammt, wie sollte ich das erklären? »Mit niemandem, außer mir selbst.«
Sie schüttelte den Kopf. »So bekommst du Waldfrieda nie zurück.«
Mist, sie hatte recht. Und sicher würde sie als Nestnachbarin sofort zu ihr gehen und meiner Geliebten alles erzählen. Tatsächlich stolzierte die Henne in Richtung des Menschenhauses. Möge dieses Suppenhuhn …
»Vorsicht, was du dir wünschst!« Wieder das unsichtbare Mädchen. Ich zuckte zusammen. Wenn diese Stimme Löcher im Zaun schließen und mich schneller machen konnte, was dann noch alles?
Ich atmete tief durch und zwang meine Gedanken zurück zu dem Auftrag von der Kleinen da oben. »Das schaffe ich nicht. Selbst, wenn ich das ganze Jahr malen würde, bräuchte ich zu lange. Die Eier wären schlecht, bevor ich sie ausliefere.«
Eine lange Pause stellte sich ein, bevor sich die Stimme wieder meldete: »Wende dich an den Weihnachtsmann. Er wird dir sicher seine Wichtel zur Seite stellen. Sie sind nahezu arbeitslos bis zum Sommer.«
»Wen soll ich fragen?« Die hatte doch nicht mehr alle Nadeln an der Tanne.
»Den Weihnachtsmann. Er hat vor ein paar Jahren bei mir angefangen und eine Schar treuer Wichtel um sich versammelt. Er hilft dir bestimmt.«
Na klar, der Weihnachtsmann. Ich war ihm ja erst letzte Woche begegnet, als er in den Urlaub auf die Tropeninsel der Zahnfee geflogen war. Kurz nachdem ich dem schwarzen Mann eine Taschenlampe gegeben hatte, damit er sich endlich mal selbst sehen konnte.
Wie krank war dieses Kind?
Obwohl … Wie schnell war ich mittlerweile, seitdem mich diese Stimme zum Laufen aufgefordert hatte? Vielleicht war also doch etwas dran an der ganzen Sache. Gab es ihn wirklich?
»Wo finde ich ihn?«, wollte ich wissen.
»Nicht dein Ernst.« Die Stimme klang fassungslos und ich verdrehte die Augen. »Am Nordpol natürlich. Weißt du denn gar nichts?«
Ich legte die Löffel an und schaute nach oben. »Entschuldige bitte, dass ich bis vor einer halben Stunde nur ein normales Kaninchen war!« Ich schloss kopfschüttelnd die Augen. »Wie komme ich zu ihm?«
»Du bist schnell genug, dass du riesige Sprünge machen und auch Wasser überqueren kannst, ohne unterzugehen.«
»Hey, da gab es doch schon mal jemanden, der zumindest über Wasser …«
»Keine blöden Scherze jetzt!«
Aufgrund der Härte in der sonst so friedlichen Stimme zuckte ich zusammen. »Entschuldigung.« Dennoch hatte ich Mühe, mir ein Grinsen zu verkneifen. Anscheinend gab es bei diesem Balg doch eine Schwachstelle, die ich versehentlich getroffen hatte.
Wie von der Stimme befohlen, suchte ich den Weihnachtsmann auf. Keine Ahnung, woher ich seinen genauen Aufenthalt wusste, doch nach nur knappen zwanzig Sekunden stand ich vor ihm. Beinahe lachte ich bei seinem Anblick auf. Er war deutlich kleiner als es in den Geschichten der Menschen erzählt wurde. Auch bei Weitem nicht so dick wie beschrieben. Im Gegenteil: Unter dem eng anliegenden Kostüm zeichnete sich seine Muskulatur deutlich ab. So sehr, dass ich ihn für einen der Poser am Strand hätte halten können, die ich auf dem Weg zum Nordpol gesehen hatte. Moment mal: Ich hatte jemanden gesehen und konnte mich daran erinnern? Wow, nicht schlecht für diese Geschwindigkeit!
»Was willst du?« Die Stimme des Mannes in rot-weiß klang tatsächlich so tief, wie ich es mir nach den Erzählungen der Menschen vorgestellt hatte.
Ich blickte zu ihm hoch. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Wobei?«
Um direkt auf den Punkt kommen zu können, erzählte ich ihm meine Geschichte.
Der Weihnachtsmann lachte auf. »Du bist auf den gleichen Trick reingefallen wie ich damals.«
Ich riss verwundert die Augen auf. »Du machst das auch nicht freiwillig?«
Nachdenklich kraulte sich der Mann durch den weißen Rauschebart. »Jetzt schon. Doch zunächst tat ich es nur, um meiner Freundin Barbara zu gefallen.«
»Lass mich raten.« Ich hob eine Pfote. »Sie hat dich abgewiesen und du willst sie zurückhaben.«
Er verdrehte die Augen. »Du bist ein schlaues Bürschchen. Doch nicht so klug wie du denkst.«
»Das heißt?«
»Das geht dich nichts an!«
Trotz dieser Ablehnung bat mich Claus — er stellte sich dennoch vor — in seinen kleinen Palast. Er fragte mich nach meinem Begehr und ich bat um Hilfe durch seine Wichtel.
Erneut strich er sich mit den Fingern durch den Bart. »Mhm, meine Jungs sind sehr flink und würden das innerhalb einer Woche schaffen. Doch mal ehrlich, …« Er schüttelte mit heruntergezogenen Brauen den Kopf. »… bei der Geschwindigkeit, die du an den Tag legst, gehen die Dinger kaputt und du hast nur noch Suppe im Sack.«
Ich fiel in mich zusammen. Kaum war ein Problem gelöst, kam das Nächste um die Ecke. Hilfesuchend schaute ich nach oben. »Hast du vielleicht mal eine Idee, die nicht so absurd ist?«
Keine Antwort.
Ein kleiner, in militärischer Camouflage gekleideter Mann ging an uns vorbei. »Kocht sie, bevor ihr die Eier anmalt. Dann platzt maximal die Schale, aber der Inhalt bleibt drin.« Ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er weiter und zündete sich eine lange, dünne Pfeife an.
»Wer war das?«, wollte ich wissen.
»Oh, das war Nummer 1«, erwiderte Claus. »Ich kann mir die Namen nicht alle merken, weswegen ich ihnen Nummern gegeben habe.« Er legte den Kopf schief. »Sag mal, wo bekommen wir eigentlich die ganzen Eier her?«
»Schaut mal hinter euch«, erklang die Stimme aus dem Nirvana über uns. Wir blickten beide zunächst nach oben und drehten uns anschließend um. Tatsächlich standen hinter unserem Rücken unzählbar viele Kisten. Der Inhalt war uns klar.
Ich runzelte die Stirn und schaute wieder hoch. »Äh, Moment mal. Ich soll schon nächste Woche damit anfangen?«
»Nein, in der übernächsten Nacht wäre am besten. Da feiern wir hier oben eine kleine Party und was wäre schöner, als strahlende Kinderaugen beim Frühstück zu sehen?«
Claus lachte auf. »Pah, das schaffen wir nie. Ein wenig mehr Spielraum musst du uns schon lassen.« Er zog eine Braue hoch, blickte zu mir und zuckte mit den Schultern.
»Ihr schafft das. Deine Jungs bekommen das hin.«
Augenverdrehend schüttelte ich den Kopf. »Die Eier alle kochen und bemalen? In nur eineinhalb Tagen? Von den Keksen, die du isst, hätte ich auch gerne welche!«
Claus atmete geräuschvoll aus und legte eine Hand auf meine Schulter. »Wenn sie sagt, dass das geht, dann ist das so. Obwohl ich diesen Zeitplan auch für ziemlich optimistisch halte.«
Erneut schüttelte ich den Kopf. »Und ich soll … wie viele Eier nochmal auf meinem Rücken tragen? Ich kann doch nicht andauernd hin und her laufen!«
Der Weihnachtsmann schürzte die Lippen. »Wir können es machen wie die Menschen: Ich beliefere fest geplante Stationen mit bemalten Eiern. Dann musst du zwar immer noch Nachschub holen, doch nicht mehr über so weite Wege.«
»Du könntest gesehen werden. Und das zu einer Zeit, in der du nicht aktiv sein solltest«, warf ich ein.
»Ich werde nur gesehen, wenn ich es will.«
Das durfte doch nicht wahr sein. Jetzt schlug der Kerl noch in die gleiche Kerbe wie das Spielkind da oben. Gab es denn wirklich keine Möglichkeit, aus dieser Nummer herauszukommen?
»Nun macht schon voran.« Wieder die Quenglerin. »Je eher ihr fertig seid, desto früher habt ihr frei.«
Ich blickte hoch und seufzte. Mir blieb wohl kein Ausweg mehr. Waldfrieda kam mir in den Sinn. Ich war jetzt schon eine gute Stunde weg. Und das, nachdem sie meine letzte Abwesenheit von wenigen Sekunden als Seitensprung ausgelegt hatte. Was würde sie jetzt denken?
Claus drehte sich um und schritt zum großen Tor, das den Eingang zu seinen unterirdischen Werkstätten bildete. »Komm, bevor sie …« Er richtete einen Finger nach oben. »… noch auf ganz andere Ideen kommt.«
Ich folgte ihm und sah ein Rentier, das mehrere Paletten Eier auf einem Schlitten durch den Seiteneingang in die Halle zog.
Ich erkannte die rote Nase. »Ist das der berühmte Rudolf?«
Der Weihnachtsmann lachte auf. »Das ist Rudolpha. Die Menschen machten aus ihr einen Bullen, da sie nicht glauben konnten, dass die Kühe die Kraft hätten, einen vollbepackten Schlitten zu ziehen.« Mit einem verlegenen Lächeln schaute er zu mir herunter. »Ich muss aber zugeben, dass ich mich wegen der Optik für weibliche Rentiere entschieden habe. Die Bullen schmeißen ihr Geweih spätestens im Frühwinter ab. Was meinst du, wie blöd das aussieht, Rentiere ohne Hörner vor den Schlitten gespannt zu haben.« Claus drehte sich weg, ging zu einem seiner Wichtel und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Ich schaute mich um. Aus einem überdimensionalen Ofen kamen die ersten fertigen Eier heraus und sofort begannen hunderte von Claus’ Mitarbeitern mit dem Bemalen. Immer mehr Eier fuhren aus der Kochmaschine und genauso schnell, wie sie gegart waren, waren auch die Wichtel mit dem Bemalen fertig. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder über diesen Umstand verzweifeln sollte. Mit jeder Minute kamen die Kerlchen, die kaum größer waren als ich, dem angepeilten Ziel näher.
Bei Abenddämmerung des folgenden Tages trat Claus wieder an mich heran. »Meine Jungs sind noch nicht fertig, doch ich habe dir eine Liste gemacht, an welchen Orten deine Eier bereits für dich hinterlegt sind.« Er reichte mir einen Zettel. »Während du austrägst, bringe ich den Rest zu den anderen Orten.«
Ich blickte auf das Stück Papier. »Da sind ja nur zwanzig Stationen drauf!«
»Sobald du den ersten erreicht hast, verschwindet der Name auf der Liste, der Nächste rutscht nach und unten erscheint ein neuer.«
Mit zusammengepressten Lippen schaute ich nach oben. »Wo soll ich anfangen?«
»Mach einfach die Augen zu und lauf. Du wirst den Weg schon richtig einschlagen.«
Ich verdrehte die Augen. »Kannst du nicht wenigstens einmal etwas konkreter werden?«
Keine Antwort. Typisch.
Claus reichte mir einen Rucksack und ich sah skeptisch zu ihm hoch. »Da passen ja weniger rein, als ich bei den ersten drei Häusern benötige.«
Er schmunzelte. »Da sind ziemlich genau hunderttausend Eier drin.« Er zwinkerte mir zu und reckte den Zeigefinger hoch. »Ein kleiner Trick, den ich von der Kleinen da oben erklärt bekam. Ganz praktisch für meine Aufgabe. Und jetzt auch für deine. An den Packstationen wirst du ebenfalls so einen finden.«
Zögernd nickte ich ihm zu, legte den Rucksack an und rannte los. Ich schloss die Augen und verspürte nach nicht mal einer Sekunde den Drang, stehenbleiben zu müssen. Direkt vor mir stand ein Haus. In einem der Fenster schimmerte Licht, alle anderen waren unbeleuchtet. Vorsichtig zog ich den Rucksack ab und griff hinein.
»Wie viele?«, fragte ich flüsternd, und schaute nach oben.
»Mach es einfach. Deine Pfoten wissen, was sie tun sollen.«
Ich verdrehte die Augen, griff erneut in den Rucksack und holte zwei Eier heraus.
Wieder blickte ich in die Richtung, aus der meine Befehlsgeberin mit mir sprach und wie befürchtet erhielt ich keine Antwort auf die ungestellte Frage. Ich legte die Eier neben die Tür und rannte zum nächsten Haus. Auch hier die gleiche Prozedur und ich fand mich allmählich damit ab, einfach zu tun, wozu ich genötigt wurde. Was hatte ich für eine Wahl? Allerdings wäre es kein Wunder gewesen, wenn ich mich verhauen und anschließend, wenn alles vorbei ist, diese kleine, verwöhnte Prinzessin rumnörgeln und mir die Ohren zur Strafe wieder wegnehmen würde.
Als der Morgen des nächsten Tages dämmerte, stand ich wieder vor dem Haus des Weihnachtsmannes. Die Lider meiner Augen wurden schwer und am liebsten hätte ich mich bis zum nächsten Frühjahr schlafen gelegt.
Mit einem feixenden Grinsen kam Claus auf mich zu. »Na? Hast du deine Eier ordentlich platziert?«
Sehr komisch. Wirklich. Ich hätte ja gerne gelacht, wenn … ach lassen wir das.
Genervt blickte ich am Weihnachtsmann vorbei nach oben. »Kann ich jetzt gehen? Oder ist dir etwas Neues eingefallen?«
»Warte«, hörte ich Claus’ Stimme. »Du solltest dir noch was anschauen.« Er ging in sein Haus und ich folgte ihm. Im Zimmer direkt hinter der kleinen Eingangshalle hing ein großer Bildschirm an der Wand. Menschenkinder waren darauf zu erkennen, die bunte Eier an der Haustür fanden und mit strahlenden Augen aufhoben, um sie ihren Eltern zu zeigen. Ich schluckte hart, hatte ich doch nicht mit solchen Reaktionen gerechnet.
»Das ist dein Werk, mein kleiner Freund«, ertönte die ruhige, tiefe Stimme des Weihnachtsmannes. »Diese Bilder sehe ich immer nach meiner Tour um die Welt. Ist es nicht die Mühe wert, die uns auferlegt wurde?«
Mit feuchten Augen nickte ich, nicht fähig, meinen Blick von dem Bildschirm zu nehmen.
»Und? Lust, solche Augenblicke jedes Jahr zu ermöglichen?«, fragte die Kleine aus dem oberen Nichts.
Ich schaute auf. »Das ist wirklich toll. Ich denke, dass wir ins Geschäft kommen, wenn es bei diesen Konditionen bleibt.«
»Welche meinst du?«
»Dass dies nur einmal im Jahr geschieht, ich meine Ohren behalten darf und weiterhin so schnell laufen kann, dass der hochnäsige Johannes eine Erkältung vom Wind meiner Geschwindigkeit bekommt.«
»Deal!«
Mit klopfendem Herzen schaute ich erneut auf den Bildschirm. Weitere Kinder fanden die bemalten Eier und strahlten so dermaßen, dass ihre Freude in mich überging.
Mit pochendem Puls in den Löffeln sah ich zum Weihnachtsmann hoch. »Danke für die Hilfe.«
Ein wohlwollendes, zufriedenes Lächeln erschien durch seinen Bart und er zwinkerte mir zu. »Und nun mach, dass du zu deinem Mädel kommst.«
Das brauchte er mir nicht zweimal sagen. Ich sprintete los und die Landschaft rauschte regelrecht an mir vorbei. Als ich den Drang zum Stehenbleiben verspürte, stand ich auch schon vor dem Loch im Zaun des Hühnerhofes. Ich schlüpfte durch die kleine Öffnung und suchte die Liebe meines Lebens. Was würde sie sagen, wenn ich ihr von meinem neuen Auftrag erzählte? Ich hatte nicht nur die Menschen dieses Hofes glücklich gemacht, sondern alle auf der Welt, die diesem egozentrischen Diktatorenverschnitt da oben Ehrerbietung darreichten.
»Vorsicht, da unten. Ich kann dich auch hören, wenn du nichts sagst.«
Ich zuckte zusammen und bewegte mich mit angelegten Löffeln zum kleinen Tor des Legehauses. Kurz bevor ich es erreichte, hörte ich ein leichtes Scharren hinter mir und drehte mich strahlend um. Vor mir stand allerdings nur Guthild, Waldfriedas Nestnachbarin.
»Du wirst sie nicht finden. Die Menschen haben sie geholt, da sie zu wenig Eier legte.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf das Haus der alles ausnutzenden Zweibeiner.
Ich hoppelte mit rasendem Puls zu dem Gebäude und wollte gerade durch das Fenster schauen, als sich Guthild hinter mir räusperte.
»Das solltest du nicht tun.«
Das Huhn ignorierend, sah ich in die große Behausung. Mein Blick fiel auf einen großen Topf über einer Feuerstelle. Die weibliche Erwachsene rührte darin und hob mit einem Holzlöffel den Körper eines Huhns an.
Ich riss die Augen auf, konnte es nicht glauben. »Ist das … ich meine … haben die Menschen …?«
»Tut mir leid, mein Kleiner«, sagte Guthild hinter mir mit leiser Stimme.
Tränen füllten meine Augen und ich lief auf die Wiese vor dem Zaun. Ich schaute nach oben. »Du hast gesagt, ich könne sie wieder überzeugen.« Mit jedem Ton wurde ich wütender auf das Miststück da oben, sodass es mir sogar egal war, dass sie auch meine Gedanken wahrnehmen konnte.
»Ja, das habe ich. Und ich habe es auch so gemeint.« Eine unerträgliche Stille breitete sich für einen Augenblick aus. »Tut mir leid.« Tatsächlich war etwas wie Bedauern aus der Stimme herauszuhören.
Ich blickte in die Wolken. »Hättest du das nicht verhindern können? Ich meine … du hast Löcher im Zaun verschwinden und wieder erscheinen lassen. Ich kann durch dein Zutun schneller laufen, als sich die Erde dreht, und Taubenfedern werden zu echten Löffel.«
Mir kamen die strahlenden Augen der kleinen Menschen wieder ins Gedächtnis. Möglicherweise waren sie alle so beglückt von echter Freude. Sie erfüllten mich mit Zuneigung. Doch was die ausgewachsenen Menschen anrichteten, bestätigte meine Abscheu vor ihnen. Doch was ist mit dem Mädel da oben? Sie hatte die Macht über sie. Oder nicht?
»Ich weiß, kleiner Helfer«, sprach sie in meine Gedanken hinein. »Doch die Menschen hören seit einiger Zeit nicht mehr auf mich. Ich kann sie nicht zu irgendwas zwingen.«
Ich riss die Augen auf. »Und dann lässt du sie beschenken?«
Ein tiefes Durchatmen drang zu mir vor. »Ich tue es nicht für die Menschen, sondern für meine Helfer und mich.«
»Wieso?«
»Ich habe schon lange aufgehört, den Menschen Gutes abverlangen zu wollen. Doch warum sollte ich auf meinen Spaß verzichten? Vor allem die Kleinen können so viel Freude bereiten. Da macht es doch Sinn, wenn ich ihnen diese gebe und damit auch mich beschenke. Du hast bei Claus gesehen, was ich meine.«
Ich senkte den Kopf und nickte schwach, bevor ich wieder nach oben schaute. Menschenkinder sind frei von Argwohn und Falschheit. So sollten sie immer bleiben, dann wären die Menschen an sich auch nicht mehr so abstoßend angsteinflößend. »Ja, es war schön, diese Kinder so zu sehen.« Ich runzelte die Stirn. »Doch sag mal, warum hast du ausgerechnet meine Idee gewählt, Freude in die Welt der menschlichen Kinder zu bringen?«
»Weil du ein gutes Herz hast und ich nicht wollte, dass du es verlierst.«
Verdutzt zog ich die Brauen hoch. »Du wusstest, was mit Waldfrieda geschehen würde?«
»Tut mir leid, aber ja.« Die kindliche Stimme klang traurig. »Ich brachte es nicht übers Herz, dir das zu sagen und habe dich deswegen auf Reisen geschickt. Meine Hoffnung war, dass du länger bei Claus bleiben und dir die Bilder anschauen würdest. Deine Geliebte wäre dann einfach nur weg gewesen. Du hättest zwar erfahren, was geschehen ist, doch nicht selbst gesehen.«
Tief durchatmend schloss ich die Augen und versuchte, den aufkommenden Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. Das helle, fast gelb leuchtende Braun von Waldfriedas Augen erschien in meinem dunklen Sichtfeld und mein Herz setzte vor Trauer einen Moment seine Tätigkeit aus. Ein wenig gerührt, dass die Stimme ohne sichtbaren Körper mir diesen Anblick ersparen wollte, öffnete ich meine Lider wieder. Vielleicht war die Kleine da oben doch nicht so übel. Ich sollte ihr dankbar sein, auch wenn ihr Plan nicht vollends aufgegangen war.
»Was ist, mein kleiner Helfer? Hast du trotzdem noch Lust auf unsere Zusammenarbeit? Du darfst dir auch aussuchen, wo und wie du in Zukunft leben möchtest. Ich werde es arrangieren. Oder willst du hierbleiben?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, hier kann ich nicht mehr bleiben. Lass mir noch ein paar Tage Bedenkzeit, was meinen neuen Sitz anbetrifft.«
»Das heißt, du machst weiter?«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Habe ich denn die Wahl?«
»Natürlich! Ich konnte nur nicht anders mit dir umgehen, da du sonst nicht erkannt hättest, wie toll deine Idee ist.«
Ich ging tief in mich, sah wieder die Bilder auf Claus’ Bildschirm vor mir. Die Kinder und ihre strahlenden Augen.
»Wie machen wir das?«, wollte ich wissen. »Ich werde auch weiterhin Hilfe benötigen.
»Ich habe schon mit Claus geredet. Er wird dir wieder helfen.«
»Okay, dann haben wir den Deal.«
∞
Da sitze ich nun. Alleine auf einer Insel in der Südsee, die ich mir selbst aussuchen durfte. Von allen Helfern der kleinen Mädchenstimme habe ich nicht die mieseste aller Stories, warum wir anfingen. Fragt mal Claus, den Weihnachtsmann. Sein Hintergrund ist wirklich übel!
Doch wenigstens habe ich eine Moral für meine Geschichte:
Nicht jeder Wunsch, der in Erfüllung geht, ist der Richtige.
Nicht jede unbequeme Aufgabe, zu der man gezwungen wird, ist die Falsche.
Und Anmut, Stolz und ein schönes Gefieder schützen dich nicht davor, als Suppenhuhn zu enden.
Michael G. Spitzer erblickte 1971 in Köln das Licht der Welt.
Nach seiner Schulzeit begann er eine Ausbildung bei der Polizei und übt diesen Beruf bis heute aus.
Mittlerweile hat er seiner Heimatstadt den Rücken gekehrt und sich unweit von Köln ein neues Domizil geschaffen. Dort lebt er mit Frau und drei Kindern im Nahbereich der großen Domstadt.
Mittlerweile sind mehrere Bücher und Kurzgeschichten aus seiner Feder veröffentlicht, während weitere Geschichten darauf warten, endlich niedergeschrieben zu werden.