Aufstand der Gefühle - Marie Loth - E-Book

Aufstand der Gefühle E-Book

Marie Loth

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Beschreibung

Wenn der Egoismus droht, die Liebe zu zerstören, braucht es Mut, um sie zu retten. »Ich küsse keine Frösche, die sich in Rüstungen werfen und hilflose Jungfrauen vor stinkenden Ungeheuern retten. Dafür musst du dich schon etwas mehr anstrengen.« »Ich finde dich Jasmin, das ist ein Versprechen.« Jasmin besitzt als Avatar Kräfte, mit denen sie die Menschen um sich herum beeinflussen kann. Es gibt nur einen Haken. Sie muss selbst herausfinden, welche Macht in ihr steckt. Zum Glück ist sie nicht allein. Alexander und Raja kommen, um sie vor dem Aufstand zu schützen. Im immerwährenden Krieg zwischen Aufstand und Widerstand kann Jasmin zu einer mächtigen Gegnerin werden. Doch sie muss sich entscheiden. Nimmt sie ihr Schicksal an? Alles wäre einfacher, wenn ihr nicht vor ein paar Tagen Kain über den Weg gelaufen und ihr Herz gestohlen hätte. Und was würde ihre beste Freundin Lisa dazu sagen?

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Aufstand

der

Gefühle

− Erwachen −

von

Marie Loth

Für meinen Schatz

Denn du bist es, der mich zu einem Ganzen macht. Du hast an mich geglaubt, als es noch keiner getan hat. Mit dir an meiner Seite habe ich das Gefühl, alles zu schaffen.

Inhaltsverzeichnis

Glossar

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Danksagung

Copyright ©

Impressum

Glossar

Aufstand

WayneAvatar der Gleichgültigkeit, Kopf des Aufstandes

KainAvatar des Egoismus, Waynes rechte Hand

Desire / Frau MorélAvatar der Verachtung

GigiAvatar der Eifersucht

AleisterAvatar der Angst

Ray und Gary Avatare von Hass und Zorn

SvenAvatar des Ekels

Widerstand

AlexanderAvatar des Mutes

RajaAvatar der Hoffnung

BenjaminAvatar der Freude

FeliceAvatar des Glückes

JasminAvatar der Liebe

Menschen

LisaJasmins beste Freundin

Bewohner aus Lukxun

ElaraMutter Natur

ThaliaFrühling

ElionSommer

GajaHerbst

ChionWinter

Prolog

Damals

Dass heute ihr letzter Tag werden würde, ahnte Minna nicht. Sie saß gedankenversunkenauf der Veranda ihres bescheidenen Häuschens. Es lag etwas abseits der Stadt am Rande eines Waldes und war von der Straße aus nicht direkt einzusehen. Es lag versteckt hinter Birken und uralten Buchen. Der Blick von ihrer Terrasse zeigte endlose Weite. Freie Steppe erstreckte sich bis zum Horizont. Sie bildete einen herben Kontrast zu der friedlichen Oase, die Minna sich über viele Jahrhunderte hinweg geschaffen hatte.

Mit einer Tasse Tee in der Hand beobachtete die inzwischen in die Jahre gekommene Frau, wie die runde, leuchtende Scheibe immer tiefer in einem Meer aus rosa Wolken verschwand.

Dieser Moment, so unbedeutend und bescheiden er anmutete, erfüllte sie stets mit innerem Frieden. Das Gefühl von Zufriedenheit breitete sich in ihr aus und schaffte es, dass all die Sorgen des Tages verblassten.

Dieser eine, kleine Augenblick gehörte nur ihr. Ihr allein.

Der Abend war fortgeschritten, als sie ein heftiges Klopfen aus der Ruhe riss. Es gefiel ihr nicht, in den späten Abendstunden gestört zu werden, doch das Trommeln klang flehend und nach Hilfe suchend in ihren Ohren. Nicht zu öffnen und denjenigen, der vor ihrer Tür stand, seinem Schicksal zu überlassen, war nicht mit ihrem Gewissen zu vereinbaren. Schon gar nicht mitten in der Nacht.

Das war sicher wieder einer dieser Touristen, dem die Straßenschilder und Warnhinweise am Straßenrand gleichgültig waren.

In letzter Zeit häuften sich die Wildunfälle in der Gegend. Und fast täglich klingelten die Menschen bei ihr und baten darum, einen Abschleppdienst zu rufen.

Oder war es einer dieser Manager, der bis spät in die Nacht arbeitete. Seit ein paar Wochen waren einige davon in der Stadt und diskutierten mit dem Bürgermeister darüber, welcher Standort sich für den neuen Steinbruch am besten eignete. Den keiner der Stadteinwohner befürwortete. Doch das war den geldgierigen Finanzoberhäuptern egal.

Minna öffnete die Tür und sah zu ihrer Überraschung einen verstört wirkenden Jungen. Sie kannte ihn, sie hatte den Kleinen des Öfteren in der Stadt gesehen. Dass er den weiten Weg zu ihrem Haus bei Dunkelheit auf sich genommen hatte, bedeutete, dass jemand in Schwierigkeiten steckte.

Aus seinen großen braunen Augen starrte er sie flehend an.

»Was ist passiert? Ist etwas mit deinen Eltern?« Minna ließ sich vor dem Kind in die Hocke nieder.

Seine Verzweiflung zerriss ihr fast das Herz. Aber er plapperte so schnell und wild durcheinander, dass seine Erzählungen keinen Sinn ergaben.

Minna griff nach der Hand des Jungen. Bei einer warmen Tasse Milch hatte er Zeit, sich zu beruhigen und in Ruhe alles zu berichten. Doch dem Kind war nicht danach, sich hinzusetzen.

Geschickt entzog er sich immer wieder Minnas Fingern. Gleichzeitig zerrte er an ihrem Rock. Flehend drängte er, bis sie nachgab und ihn begleitete.

Es kostete sie Mühe, dem Jungen hinterherzukommen.

Aber die Not in seinen glasigen Augen, die Minna schon in der ersten Sekunde aufgefallen war, ließ sie zu unvermuteten Kräften kommen. Er führte sie zuerst über den Trampelpfad im Wald. In der Stadt eilte der Junge durch enge Gassen und Wege. Was war dem Kleinen nur zugestoßen, was hatte er mit seinen unschuldigen Augen gesehen? Sobald die Sonne untergegangen war, trieben sich zwielichtige Gestalten in dieser Gegend herum.

Keiner mit genügend Menschenverstand wagte sich jetzt noch vor die Haustür. Freiwillig würde er nicht allein durch dunkle Straßen und den finsteren Wald eilen. Er wäre nie zu ihr gekommen, wenn nicht jemand dringend ihrer Hilfe bedurfte, soweit kannte sie den Jungen.

Ihre besten Tage lagen weit hinter Minna und sie hatte Mühe, dem Kind zu folgen.

Obwohl ihr der schnelle Gang längst in der Seite stach und ihr die Luft zum Atmen raubte, trieb sie die Sorge voran. In einer dunklen Gasse verlor sie ihn endgültig. Egal, wohin sie lief, oder wie laut sie nach ihm rief, ohne seinen Namen zu kennen, er blieb verschwunden.

Hilflos sah Minna sich in dem schummrigen Licht der Laternen um.

Es wunderte sie, dass die Straßen wie leer gefegt waren, aber um weiter darüber nachzudenken, fehlte ihr die Zeit.

In einer unscheinbaren Seitenstraße meinte sie eine Bewegung in den Schatten gesehen zu haben. Minna hoffte, dass es der Junge war, der sich dort versteckte, doch sie war sich nicht sicher.

Flackerndes Laternenlicht erhellte die Gasse nur dürftig. Ein kaum wahrnehmbares Geräusch ließ ihr den Atem stocken. Vorsichtig sah sie sich um, kniff die Augen zusammen, und versuchte die dichte Dunkelheit, mit ihnen zu durchbohren.

Doch das, was sie erkannte, war nicht der kleine Junge, den sie so verzweifelt suchte. Nein, sie sah die Umrisse eines groß gewachsenen Mannes, der auf sie zukam. Kräftig und ungezähmt.

In einer fast unmenschlichen Schnelligkeit hielt er auf sie zu. Das Kind war eine Falle, das wurde Minna in diesem Augenblick bewusst.

Bevor sie ihren Fehler beheben konnte, erfasste sie der Mann. Herrisch packte er sie an den Haaren und zog sie hinein in die Finsternis. Im Schutz der Dunkelheit hielt er ihr seine Axt an die Kehle.

Es war ein gekonnter Schachzug, sie allein aus ihrem Haus zu locken, indem sie durch einen Schutzschild vor den Anhängern des Aufstandes sicher war.

Ohne Verstärkung und mitten in der Nacht durch die Straßen zu eilen, war alles andere als durchdacht. Wayne, der Kopf des Aufstandes, setze darauf, dass Minna ihrem Naturell entsprechend handelte und den Jungen nicht seinem Schicksal überließ.

»Sprich deine letzten Worte, alte Frau«, raunte der Kerl ihr zu, wobei seine Lippen unangenehm ihr Ohr berührten.

Er sah das Entsetzen und die Furcht, die ihm aus Minnas Blick entgegenschlugen. Siegessicher sog er ihren Geruch in sich auf, roch an ihrem Haar und witterte ihre Angst.

Minna schloss die Augen. Sein Atem strich ihr warm über die Haut. Ihre Situation war aussichtslos. Ihr fehlte die Kraft, um dem Mann zu trotzen. Und doch beschloss sie, die ihr gegebene Gabe strömen zu lassen. Leider hatte sie gegen ihren Widersacher kaum eine Chance.

Sein Herz verschloss sich und ihre Macht fand keinen Weg, um es zu erweichen.

Es war zerfressen von Selbstsucht und Gier. Der einzige Ausweg, der ihr blieb, war, ihr Eigenes zu stärken und die schändlichen Gefühle und Quälereien des Mannes auszusperren. Ihre Macht half ihr dabei, ihr Schicksal anzunehmen und ihrem Peiniger damit nicht die Genugtuung eines Sieges zu gönnen. Und so begegnete sie seinem zornigen Blick mit Güte und Zuversicht.

Der Mann, der weiterhin die Axt an ihre Kehle hielt, raste vor Wut, nachdem er die Veränderung in ihrem Gesicht bemerkt hatte. Seine Finger umgriffen den Stiel der Axt so fest, bis die Fingerspitzen kalkweiß hervorblitzten und die Muskeln seines Unterkiefers spannten sich an. Minna zeigte ihm ihre Furcht nicht länger, obwohl er ihr Untergang sein würde.

In diesem Augenblick schenkte Minnas Macht ihr eine Eingebung und die folgenden Worte klangen verheißungsvoll in seinen Ohren.

»Es kommt der Tag, an dem deine Gabe, die Meine retten wird. Ich sterbe, damit sie lebt. Mein Tod ist dein Schicksal!«

Mit einem Lächeln im Gesicht trotzte sie ihrem Peiniger.

Das unumgängliche Ende direkt vor Augen nahm sie, ohne zu zögern, und ohne Widerstände an.

Unbeeindruckt von ihren Worten holte der Mann aus und schlug zu. Die Klinge seiner Axt bohrte sich in die lederne Haut an ihrem Hals. Schwallartig quoll das Blut aus dem Schnitt hervor. Sein Auftrag war erledigt. Den leblosen Körper überließ er seinem Schicksal. Eingehüllt in das Dunkel der Nacht, einsam und verlassen lag Minna in der leeren Gasse. Keiner hatte den heimtückischen Mord mitbekommen.

Minnas Aufgabe auf Erden war beendet.

Dennoch rührte sich etwas an ihrem Leichnam. Erst kaum wahrnehmbar, dann zunehmend deutlicher erhob sich ein leichter Dunst aus ihrem toten Körper. Unwissende Menschen würden behaupten, sie beobachteten, wie Minnas Seele in den Himmel stieg.

Es entwich immer mehr von dem Nebel, bis er sich zu einer roten Wolke formte. Die inzwischen tiefrote Dunstschicht erhob sich aus den Überresten und schwebte unbemerkt über Häuser und Städte hinweg.

Suchend schweifte die Naturgewalt von diesem Zeitpunkt an durch die Welt, auf der Suche nach einem Wirt.

Immer dann, wenn ein Avatar starb, suchte sich die Macht eine neue Hülle. Leider erwiesen sich zunehmend weniger Menschen ihrer würdig.

Verdorben und durchtrieben waren ihre Herzen.

Doch nicht dieser eine Mann. So perfekt wie Minna war er bei Weitem nicht, dennoch für eine gewisse Zeit akzeptabel. Die Wolke erfasste ihn genau in dem Augenblick, indem er seiner Liebsten das lang ersehnte Kind schenkte. Mithilfe der Macht empfing die Frau das neue Leben. Und obwohl der Mann das eigentliche Ziel war, verwob sich das Schicksal des Ungeborenen damit unwiderruflich mit der Welt der Avatare.

Wenige Tage später wurde der nichts ahnende Vater von einem hageren und unheimlich wirkenden Kerl mit zwei Dolchen ermordet.

Eins

Heute

Was ist denn nur los mit mir? Seit Stunden liege ich im Bett. Mein Kopf rattert unaufhörlich und dennoch zwinge ich mich, die Augen geschlossen zu halten. Nur das Licht der Straßenlaterne dringt durch die Vorhänge, ansonsten ist es im Zimmer dunkel. Beim Blick auf das Handy wird mir schwindelig. Vier Uhr morgens? Das ist mal wieder typisch!

Nervös wälze ich mich von der einen auf die andere Seite. Jedes Mal stört etwas und raubt mir den Schlaf. Entweder liegt das Kissen falsch, die Position ist unbequem oder es ist zu heiß. Es ist Wochenende, verdammt!

Unter der Woche quäle ich mich regelrecht aus dem Bett und wenn ich frei, und Zeit zum Ausschlafen habe, hat meine innere Uhr was dagegen. Dabei hätte ich die Erholung bitternötig. Die letzten Tage im Büro waren anstrengend. Beinahe jeden Tag bin ich länger geblieben und habe das abgearbeitet, wozu die Kollegen nicht mehr gekommen sind.

Stöhnend drücke ich das Gesicht in das Kissen und will mich zwingen, wieder einzuschlafen. Doch es funktioniert nicht.

Der Traum von vorhin tanzt mir im Kopf herum. Er war so real, so echt. Vollkommen anders als all die Träume zuvor. Bei diesem hier erinnere ich mich an jedes noch so kleine Detail: Zwei Augen starrten mir entgegen. Musterten meinen Körper von oben bis unten. Der Blick durchdrang mich regelrecht. Selbst jetzt kriecht mir, allein bei dem Gedanken daran, eine Gänsehaut über den Rücken.

In diesem Traum stand ich in einem ungewöhnlichen Zimmer. Die Wände sahen aus, wie aus rohem Stein gehauen und nicht gestrichen. Die gedämpften Farben und die roten, samtenen Vorhänge schafften eine unheimliche Atmosphäre. Fackeln in eisernen Halterungen an der Wand erhellten den Raum.

Das Bett, das Nachtschränkchen, der Tisch und die Stühle hoben sich aus schwerem dunklem Holz im Tanz der Flammen von den Wänden ab. Elektrisches Licht suchte ich vergeblich. Im Kamin flackerten die letzten Reste eines Feuers. Indirekte Beleuchtung ist eine meiner Schwächen, aber hier wirkte alles eine Spur zu düster. An einer der Wände hingen Wandteppiche, die mir nicht gefielen. Und doch, irgendetwas faszinierte mich an diesen Teppichen.

Der Drang, sie mir genauer anzusehen, trieb mich zu ihnen. Insgesamt waren es fünf Stück. Auf den beiden Linken waren Frühling und Sommer abgebildet. Rechts schlossen Herbst und Winter an. Der in der Mitte war anders, passte aber dazu. Dieser eine zeigte den Kreislauf der Natur.

Die Abbildung eines Apfels erklärte, wie im Frühling das Leben seinen Lauf nimmt. Sommer und Herbst stellten das Wachstum und die Reife dar. Im Winter symbolisierte der übrig gebliebene Apfelkern den Tod, aber auch den Neubeginn. Die nächste Generation.

Wieder wälze ich mich im Bett hin und her. Im Zimmer steht die Luft. Unter dem dünnen Baumwolllaken wird es unerträglich heiß. Wie warmer Sand liegt es auf meiner Haut. Der Schweiß rinnt mir am Körper herunter. Die Temperaturen in diesem Sommer sind nachts genauso hitzig wie tagsüber und die Thermometeranzeige sinkt selten unter die zwanzig-Grad-Grenze.

Es ist nicht mehr auszuhalten und ich befreie mich aus der Decke. In hohem Bogen fliegt sie von mir herunter und landet auf dem Boden. Der Schweißfilm auf der Haut kühlt mich etwas ab. Hoffentlich finde ich jetzt endlich in den Schlaf!

Mit ausgestreckten Beinen und geschlossenen Augen liege ich auf dem Bett.

Immer wieder wandern meine Gedanken zu dem Traum.

Während ich die Brücke ins Traumland überquere, ertönt die mahnende Stimme meiner Mutter in meinem Kopf. »Du bekommst einen Schnupfen, wenn du die verschwitzten Klamotten nicht ausziehst.«

Das Nachthemd klebt an mir und ist völlig durchnässt. Aber mir fehlt die Kraft, um aufzustehen. Jetzt fällt es mir doch schwer, Arme und Beine zu bewegen. Nach einer gefühlten Ewigkeit sitze ich auf der Kante des Bettes. Der fehlende Schlaf macht sich sofort bemerkbar. Gequält schwanke ich zum Kleiderschrank und fische mein Lieblingsshirt heraus. Das mit den zwei sich umarmenden Mickymäusen.

Auf Autopilot geschaltet, steuere ich die Küche an. Kaffee, ich brauche dringend einen Kaffee! Mit automatisierten Handgriffen vermische ich das Pulver und heißes Wasser in einer Tasse. Außerdem stehe ich auf den leckeren löslichen Fairtrade Kaffee aus dem Unverpackt Laden. Ich setze mich an den Küchentisch und starre Löcher in die Luft. Je länger ich über den Traum nachdenke, umso merkwürdiger wird er.

Nachdem ich die Teppiche ausgiebig betrachtet hatte, sah ich mich im Raum um. Eine alte Frau lag in dem Bett, das mir vorher nicht aufgefallen war. Sie lag da und rührte sich kaum. Ich wagte mich ein paar Schritte auf sie zu. Je näher ich kam, umso auffälliger wurde ihre blasse und faltige Haut. Tiefe Furchen durchzogen ihr Gesicht und dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab. Das Haar war gewellt und grau meliert. Selbst schlafend, schien die Frau zufrieden und trug ein Lächeln auf den Lippen. Den Drang, mich neben sie zu setzen, hielt meine Angst unter Kontrolle. Mir fehlte der Mut. Was, wenn ich sie weckte?

Hinter mir knallte es. Erschrocken fuhr ich herum. Jemand riss die Tür auf und sie krachte lautstark gegen die Wand. Zwei Personen betraten den Raum. Hektisch ließ ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen, auf der Suche nach einem Versteck. Die Vorhänge waren aus dickem Samt und verbargen mich. Im letzten Moment verschwand ich dahinter und spitzelte mit einem Auge hervor.

Mein Eindringen war mit keiner Ausrede zu erklären. Ich kannte die Frau in dem Bett nicht einmal.

»Schhhh, sie entdecken uns!«, rügte die Frau den Mann.

Sie sah sich noch mal im Gang um und schloss lautlos die Tür.

»Und wenn schon! Ist mir egal! Ich stelle mich ihnen«, erwiderte der Mann energisch.

Seine Stimme hallte laut und ungezähmt durch das Zimmer.

Hatte er kein Benehmen? Zu einer alten, schlafenden Frau platzte man nicht einfach herein.

»Wenn sie uns zu fassen bekommen, wer ist dann übrig, um ihr zu helfen?

Hast du darüber einmal nachgedacht? Alexander, ich sage es dir jetzt das letzte Mal: Zügel dich!«, tadelte die junge Frau.

Der Mann stöhnte genervt, als er sich durch die Haare fuhr. Er trug ein rotes Hemd, dazu eine schwarze Hose und Gehrock. Die Frau hüllte sich in ein grünes Trägerkleid, welches zum Saum hin in Türkis überging. Der auffallende Rock glänzte durch aufgenähte Steinchen, wie ein Sternenhimmel.

Hinter dem Vorhang hielt ich den Atem an. Hoffentlich sahen mich die beiden nicht. Mein Herz schlug wie wild. Wenn jemand ungefragt in meinem Zimmer stünde, wäre ich angefressen, soviel war klar.

»Dir ist doch bewusst, was sie mit dir anstellen, wenn sie dich gefangen nehmen, oder?«, hörte ich die Frau.

Bisher hatten sie mich nicht entdeckt und ich atmete erleichtert aus. Die Frau lauschte weiter an der Tür, Alexander marschierte unterdessen hektisch im Raum auf und ab.

»Wir haben alles versucht. Es gibt keinen anderen Weg. Sie wird mit uns reden, vertrau mir, uns bleibt keine andere Wahl«, verteidigte sich die Frau.

Alexanders besorgter Blick wanderte zu der Alten im Bett.

»Das ist mir klar, ich bin ja nicht auf den Kopf gefallen!«, keifte er los und sah die junge Frau einige Augenblicke an.

Dann atmete er tief durch und fügte versöhnlicher hinzu: »Entschuldige bitte. Du kennst mich, ich bin so. Diebringen mich an den Rand der Verzweiflung!«

Die Frau nickte wissend, während Alexander sich umdrehte und sich auf die Bettkante setzte. Behutsam nahm er die Hand der Alten und strich liebevoll darüber. Seine leicht zittrigen Finger hielten sie so sanft, als wären sie aus zerbrechlichem Porzellan. Die junge Frau blieb hinter ihm stehen.

»Elara, mach die Augen auf, bitte!«, flehte er mit tiefer Stimme und hob ihre Hand an seine Wange.

»Elara, wir sind hier, um dir zu helfen, wissen aber nicht wie. Bitte, wach endlich auf.« Er klang bittend und fordernd zugleich.

Die Alte öffnete langsam ihre Augen. Aus meinem Versteck heraus erkannte ich, dass ihr Blick voller Güte und Liebe war.

»Alexander …, Raja …«, ihre Stimme war ein leises Flüstern. Sie war müde und erschöpft. »… was macht ihr denn hier? Ihr solltet …«

»Wir sind gekommen, um dir zu helfen. Doch alles, was wir bis jetzt versucht haben, ist fehlgeschlagen«, fiel er ihr ins Wort und wurde mit jedem Wort lauter.

»Nur die Beine in den Bauch zu stehen und abzuwarten, bis sie zur Vernunft kommen, bringt uns nicht weiter. Es ist an der Zeit, zu handeln! Deine Kinder sind starrköpfig wie eine Horde Esel.«

»Alex, bitte …«, unterbrach ihn Raja, »… beruhige dich!«

Sie zog Alexander leicht an den Schultern zurück. Elara, die bis jetzt stumm geblieben war, schüttelte mit besorgtem Blick den Kopf.

Raja umrundete Alexander und hob den Oberkörper der alten Frau behutsam mit einer Hand an, um ihr ein zweites Kissen unter den Rücken zu schieben. Jetzt fiel es Elara leichter, die beiden anzusehen. Im Anschluss schenkte Raja etwas Wasser aus dem Krug in einen Becher, der auf einem kleinen Tisch unweit des Bettes stand und reichte ihn ihr.

»Elara«, Rajas Stimme klang sanft und zart.

Sie wartete geduldig, bis die Frau ausgetrunken hatte und ihr den Becher zurückgab.

»Alex hat recht. Sie streiten nur und schlagen sich bald die Köpfe ein. Es wird Zeit, dass wir einschreiten«, pflichtete sie ihm bei.

Ohne den Blick von der Alten abzuwenden, reichte sie den Becher an ihren Begleiter weiter, der inzwischen wieder aufgestanden war. Es krachte erneut und ich erschrak in meinem Versteck. Alexander hatte ihn etwas zu schwungvoll auf den Tisch zurückgestellt.

»Ihr müsst sie zur Vernunft bringen, das ist alles, was zählt.« Elaras kraftlose und zittrige Stimme mit einem Hauch Enttäuschung versetzte mir einen Stich.

»Und wie stellst du dir das vor?«, fragte Alexander. »Die Fronten sind dermaßen verhärtet, dass sie es nicht einmal schaffen, vernünftig miteinander zu reden.« Er war deutlich darum bemüht, die Fassung nicht wieder zu verlieren, und atmete tief durch. »Wir können nicht länger warten.«

Seine Stimme klang verachtend, doch seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und er wendete seinen zuvor so sorgenvollen Blick von ihr ab.

»Er hat recht, keiner ist mehr zu irgendeinem Kompromiss bereit. So verbohrt und engstirnig habe ich sie bisher nie erlebt. Gleichzeitig ist ihnen alles, bis auf das eigene Schicksal, egal. Die Welt gerät außer Kontrolle«, pflichtete Raja ihm bei.

Sie kniete sich neben das Bett, ohne dabei ihre besorgten Augen von Elara abzuwenden.

Gespannt wartete ich darauf, was die alte Frau dazu zu sagen hatte. Ihr Blick streifte wie beiläufig die Vorhänge, hinter denen ich mich versteckte. Eilig zog ich den Kopf zurück.

Ob sie vermutete, dass ich mich hier versteckte? Mein Herz pochte so laut, dass ich befürchtete, entdeckt zu werden. Wild pumpte es Adrenalin durch jede Zelle meines Körpers. Nur um sicherzugehen, zog ich mich tiefer in die Schatten der Stoffbahnen zurück. Alexander tigerte unterdessen im Zimmer weiter auf und ab.

Seine Schritte kamen meinem Versteck gefährlich nahe.

Erst als Elara weitersprach, als wäre nichts vorgefallen, beruhigte sich mein Herzschlag wieder. Ich wagte es, erneut hinter dem Vorhang hervorzuspitzeln.

»Es ist alles in die Wege geleitet, Alexander, du brauchst nur etwas Geduld und Vertrauen in dich.« In Elaras Gesicht zeigte sich ein gütiges und mitfühlendes Lächeln.

»Da hörst du es. Glaubst du mir jetzt?«, fragte Raja und sah ihren Begleiter mit ernstem Blick an.

Wie, alles in die Wege geleitet? Mehr hatte sie nicht zu sagen? Jetzt war ich erst recht gespannt. Obwohl ich keine Ahnung hatte, wovon das Gespräch handelte, überkam mich das Gefühl, dass diese Sache, die die drei besprachen, wichtig war.

»Ihr müsst Minnas Macht finden. Ihre Trägerin ist neu erwacht«, fügte Elara hinzu. Alexander, der sich wieder auf ihr Bett gesetzt hatte, sprang, wie von der Tarantel gestochen auf, entfernte sich ein paar Schritte und fuhr sich durch das Haar. Sein Blick war wütend.

»Wir suchen sie seit über zwanzig Jahren«, presste er zwischen angespannten Kiefermuskeln hervor.

»Aber immer ist uns der Aufstand einen Schritt voraus.«

Die Enttäuschung in seiner Haltung war ihm deutlich anzusehen. Es schien nichts Neues zu sein, was die beiden erfuhren. Trotzdem ließen diese Aussagen mehr Fragen bei mir offen, als sie beantworteten.

»Lass sie doch bitte aussprechen«, warf Raja beruhigend ein.

Alexander und ihr Blick wandten sich hoffnungsvoll zurück zu Elara. Selbst ich hing voller Spannung an ihren Lippen. Wer war diese geheimnisvolle Person?

»Die neue Trägerin ist bereit. Sie hat noch keine Ahnung von ihrem Schicksal. Finde sie, Alexander, öffne dich ihr. Wenn du anfängst, auf dein Bauchgefühl zu hören, anstatt immer mit der Tür ins Haus zu fallen, wird sie sich dir offenbaren.«

Ich war enttäuscht, dass sie nicht mehr enthüllte. Nicht einmal einen Namen hatte Elara genannt. Die Sätze ergaben kaum Sinn. Erst verlangte sie, dass Alex und Raja eine ominöse Macht fanden.

Im nächsten Augenblick beharrte sie dann darauf, dass es doch keine Macht, sondern um eine Frau mit ungeahnten Kräften handelte.

»Und jetzt verlasst bitte das Zimmer. Ich bin müde und kaum mehr imstande, meine Augen offenzuhalten.«

Sie hatte die Lider wieder geschlossen. Raja sah ihren Begleiter ernst an.

»Lass sie schlafen, Alexander. Elara hat recht. Sie braucht ihre Ruhe.«

Entschlossen fasste sie nach seiner Hand und zog ihn Richtung Tür.

»Was genau hast du jetzt vor? Sie verlangt, dass wir so verfahren, wie wir es bisher haben. Das bringt doch nichts!«, regte er sich erneut auf. »Wir haben in den letzten zwanzig Jahren alles versucht und stehen immer noch mit leeren Händen da.«

Geschickt wand er sich aus Rajas Umklammerung. Mit einem Kuss auf die Stirn verabschiedete er sich von Elara, die längst wieder im Land der Träume verweilte.

»Eine Idee habe ich noch, vertrau mir. Aber zuerst ist es wichtig, dass wir unbemerkt aus diesem Schloss herauskommen!«

Jetzt standen sie nicht mehr nur mit dem Rücken zu mir, was mir die Sicht auf die Zwei erleichterte. Sofort fiel mir die Ähnlichkeit zwischen ihnen auf. Sie hatten beide dieselbe Augen- und Nasenpartie. Ob sie Geschwister waren?

Alexander war zwar einen Kopf größer als Raja, aber sowohl er als auch sie hatten dasselbe dunkle, mit Locken durchzogene Haar. Er trug es im Nacken zwanglos zusammengebunden, wobei bei Raja jede Locke rebellisch um ihr zartes Gesicht tanzte.

Um nicht entdeckt zu werden, zog ich mich wieder hinter den Vorhang zurück. Hoffentlich verschwanden sie bald. Es war an der Zeit, mir ebenfalls einen Weg aus dem Zimmer und dem Schloss zu suchen. Erleichtert atmete ich aus, als ich ein Rascheln vernahm. Sie brachen auf. Zehn Minuten würde ich in meinem Versteck ausharren, nur um sicherzugehen.

Doch anstatt, dass Ruhe einkehrte, kamen Schritte auf mich zu. Wieso befanden sie sich noch im Zimmer? Worauf warteten sie? In dem Moment, in dem ich hörte, wie sich mir jemand näherte, hielt ich unweigerlich den Atem an. Eine Hand schob den Vorhang, hinter dem ich mich versteckte, zur Seite. Wie versteinert stand ich da.

Zwei eisblaue Augen starrten auf mich herab. Von der Iris aus strahlten an vereinzelten Stellen dunkle bernsteinfarbene Flecken ab, wie die Eruption einer Sonne. Alexander ragte riesig vor mir auf und er wirkte alles andere als begeistert. Sein Blick bohrte sich intensiv und fordernd in den meinen. Er kam näher, Schwindel erfasste mich.

Jeder Muskel meines Körpers spannte sich an. Ich wich zurück, bis mir die kalte Mauer im Rücken den Weg versperrte. Ich kam mir wie ein Kind vor, das den Keks in der Hand hielt. Adrenalin zuckte und blitzte überall in meinem Körper auf. Meine Hände wurden feucht. Mein Herz pochte mir bis zum Hals. Angst und Scham kämpften in mir um die Wette. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Unfähig jeglicher Regung suchte ich, nach einer Erklärung, um zu entschuldigen, warum ich hinter dem Vorhang stand.

»Ähm … ähm«, stammelte ich, »Entschuldige!«

Alexander zeigte keine Reaktion. Sah er mich oder starrte er durch mich hindurch auf die Wand hinter mir?

»Ist etwas?«, fragte Raja.

Sie stand mit der Hand auf der Türklinke da und wartete. Sie hätte mich jetzt ebenfalls sehen müssen, aber, wie Alexander schien sie mich nicht wahrzunehmen. Ungläubig fuchtelte ich mit der Hand vor Alexanders Gesicht umher. Er starrte weiter auf mich herab.

»Nein, nichts … ich dachte nur, dass …, ach, egal!«

Er senkte den Kopf und seine Augen richteten sich kurz auf den Boden, um erneut zu mir aufzusehen. Dann verschwand er. Selbst wenn er mich nicht sah, war ihm meine Anwesenheit nicht entgangen. Was würde er sonst hinter einem Vorhang suchen?

Ein Seufzen der Erleichterung entfleuchte mir, als sich die Tür hinter den beiden schloss. Die Wärme, die sein Blick in mir auslöste, ließ nach. Endlich erlosch der Scheinwerfer, der aus seinen Augen heraus auf mich gerichtet war und ich verschwand wieder im Dunkeln. So kam es mir zumindest vor.

»Sie brauchen dich!«, ertönte Elaras leise Stimme.

War sie imstande, mich zu sehen? Ihre Augen waren geschlossen. Es sah aus, als würde sie schlafen. Wusste sie, dass ich mich die ganze Zeit über hinter dem Vorhang versteckte, dass ich jedes ihrer Worte hörte?

Spürte sie meine Anwesenheit. In ihrem Gesicht zeichnete sich wieder dieses beruhigende Lächeln ab.

Doch ehe ich in der Lage war auf sie zugehen, bevor ich es schaffte, Elara anzusprechen, zupfte etwas an mir. Ich versuchte, mich dagegen zu wehren, aber aus dem Zupfen wurde ein Zerren und dann ein Reißen. Ich verschwand aus dem Zimmer und fand mich in meinem Bett wieder.

Zwei

Mein Kopf ist wie in Watte gehüllt und trotzdem tanzen darin ständig die Bilder der letzten Nacht. Mit der Kaffeetasse in der Hand sitze ich auf dem Stuhl und genieße jeden einzelnen Schluck. Wie um Himmelswillen ist es möglich, dass sich ein Traum so real anfühlt? Obwohl mir bewusst ist, dass es nur ein Traum war, kommt es mir so vor, als hätte ich tatsächlich in Elaras Zimmer gestanden. Die Anspannung, die Aufregung und der Schreck, nachdem Alexander den Vorhang zurückgezogen hatte, sitzen mir noch immer in den Knochen.

In all den anderen Träumen, in denen ich von Menschen aus meinem Leben geträumt habe, erinnerte ich mich nicht ansatzweise an solche Details. Geschweige denn, dass ich Gesichtszüge erkannt hätte.

Die Gesichter glichen nie mehr als schemenhaften Fratzen.

Mein Herz wird schwer, bei dem Gedanken an meine Mutter. Wieso habe ich nicht von ihr geträumt? Ihr Lächeln auf diesem Wege, ein letztes Mal zu sehen, hätte mir Kraft gegeben. Wie gerne würde ich sie anrufen und ihr von der Arbeit erzählen, damit sie mich wieder aufbaut.

Meine Muskeln sind schwer wie Blei. Ich strecke mich und lasse die Schultern kreisen. Dabei knackt mein Nacken. Ein stechender Schmerz lässt mich kurz erstarren. Erst jetzt wird mir bewusst, wie verspannt ich bin. Selbst der Kaffee hilft mir nicht beim Wachwerden. Die Müdigkeit bleibt hartnäckig und ich fühle mich, wie durch die Mangel gedreht. Der viel zu kurze Schlaf hatte nichts Erholsames. Ich frage mich langsam, ob ich heute Nacht in meinem Bett gelegen, oder nicht doch an einem Marathon teilgenommen habe.

Etwas benommen schleppe ich mich ins Badezimmer.

Winzige, geschwollene Augen blinzeln mich aus dem Spiegel heraus an. Die tiefen, schwarzen Augenringe, die mir entgegenspringen, versuche ich zu ignorieren. Meine goldbraunen Locken stehen in alle Richtungen ab. Erholsamer Schlaf sieht eindeutig anders aus. Doch ich weiß, dass es nicht nur an einer zu kurzen Nacht liegt.

Die letzten Wochen im Büro waren anstrengend. Ich habe aufgehört, zu zählen, wie oft ich am Ende länger geblieben bin.

Gil, mein Chef, ist einer der Topanwälte der Stadt und ein regelrechter Workaholic. Manchmal frage ich mich, ob er überhaupt ein Privatleben besitzt. Überstunden und Mehrarbeit zeugen für ihn von Anstand und Arbeitswillen. Was das über die Qualität meiner Arbeit aussagt, verstehe ich zwar nicht, doch zum Glück beschränkt sich mein Arbeitsbereich auf die Akten.

Trotzdem wäre es mir lieber, wenn er die Arbeit besser verteilt. Er hat außer mir drei weitere Mitarbeiter und Ben, der zwar mit anpackt, aber oft durch Krankheit ausfällt. Doch das scheint er zu ignorieren. Dafür stapeln sich auf meinem Schreibtisch die Akten.

Gil ist ein Pedant und äußerst kleinlich, was die Formulierungen in den Mandaten betrifft. Manchmal habe ich das Gefühl, die Kollegen sind deswegen neidisch, dass er mich auf diese seltsame Art bevorzugt behandelt. Dabei ist mein Los eindeutig das schwerere. An mir bleibt am Ende die ganze Arbeit hängen, während sich die Kollegen in den Feierabend verabschiedeten. Leider habe ich bisher keinen Weg gefunden, um das Problem anzugehen. Ich bin da anders gestrickt als sie. Ich verlasse mich auf das, was mir Sicherheit gibt. Paragrafen, Regeln, Gesetze, das ist das, womit ich mich auskenne.

Doch Gil hat sich verändert, und das nicht unbedingt zum Positiven. In letzter Zeit ist sein Verhalten etwas ambivalent. Immer dann, wenn keiner hinsieht, oder ich mit ihm allein bin, ist er freundlich und zuvorkommend. Sobald aber jemand dazustößt, wird er kalt und abweisend. Am schlimmsten ist es, wenn Frau Morél, unsere Personalchefin, ins Zimmer kommt. Dann hat er immer so eine verachtende Art an sich. Seine Anweisungen spuckt er mir förmlich vor die Füße und bei seinem eisigen Blick läuft mir ein Schauer über den Rücken.

Aber Frau Morél ist ohnehin ein Mysterium. Irgendetwas irritiert mich an ihr. Etwas, das sich nicht recht in Worte fassen lässt. Wenn sie auftaucht, animiert sie Gil immer dazu, nach Fehlern bei mir zu suchen. Doch mehr, als mich auf die Arbeit zu konzentrieren und zu hoffen, dass die alte Schreckschraube schnell wieder verschwindet, liegt nicht in meiner Macht. Warum sich Gil ihr Verhalten gefallen lässt, ist mir schleierhaft.

So lange bin ich noch nicht bei Gil Gibson angestellt. Okay, ein Jahr ist dann etwas länger, aber die Zeit vergeht bei den vielen Überstunden wie im Flug. Leider kenne ich bisher kaum einen meiner Kollegen näher. Ben ist die Ausnahme, er sitzt mir im Büro gegenüber. Die anderen treffe ich sporadisch auf dem Flur, im Fahrstuhl, oder bei der Kaffeepause in der Büroküche. Alles, was an kollegialen Beziehungen hätte entstehen können, torpediert Gil durch seine Launen. Ganz zum Vergnügen von Frau Morél, die mit Argusaugen alles strengstens überwacht.

Aber Ben ist der Typ: »Schau mer mal, dann sig ma schon«. Sprich, er ist die Ruhe in Person. Zumindest, was zwischenmenschliche Beziehungen angeht. Beruflich wächst ihm schnell alles über den Kopf. Er leidet unter der Arbeitswut von Gil und kommt seinen Aufgaben kaum hinterher. Manchmal überkommt mich Mitleid und ich versuche, ihn zu unterstützen, indem ich ihm Fälle abnehme. Aber das ändert nichts an der Situation. Doch mir fehlt der Mut, die Tatsache anzusprechen, dass eine weitere Kollegin nicht schaden würde. Es wäre eine Entlastung für uns alle, wenn schon die anderen nicht mithelfen. Im Idealfall arbeite ich sie ein. Damit ist sichergestellt, dass sie lernt, worauf Gil Wert legt. Nur bei den Stimmungsschwankungen, die Gil in letzter Zeit hat, feuert er am Ende Ben und das bewirkt das genaue Gegenteil, von dem, worauf ich hinauswollte.

Um den Schlaf endgültig aus den müden Knochen zu vertreiben, gehe ich duschen. Die Hitze der Nacht und der eigenartige Traum haben ihre Spuren hinterlassen. Eine ganze Weile stehe ich mit geschlossenen Augen unter dem Wasserstrahl und lasse das handwarme Nass über meinen Körper rinnen.

Dieser Blick! Alexander schleicht sich erneut in meine Gedanken. Warum nur fesseln mich seine Augen so extrem? Er hat mich eindeutig angesehen, da bin ich mir sicher. Dieser Traum war kein Albtraum und trotzdem brennt er sich mit diesem zermürbenden Gefühl tief unter meine Haut.

Das letzte Mal, als mich ein Traum dermaßen aufgewühlt hat, war ich etwa acht Jahre alt. Tränenüberströmt kletterte ich in das Bett meiner Mutter. Das war der einzige Ort, an dem es mir möglich war, nach einem Albtraum, zu schlafen. Damals gab es keinen besseren Platz. Meine Mutter schloss mich dann immer in ihre Arme und vertrieb damit all die schrecklichen Ungeheuer, die versuchten, mir den Schlaf zu rauben.

In dem Alter wachte ich fast jede Nacht auf, was meine Mutter an den Rand der Verzweiflung trieb. Schreiend und schweißgebadet saß ich im Bett und rief nach ihr. Ständig träumte ich denselben Traum. Jede Nacht verfolgte mich ein Schatten durch enge Gassen, bis ein Mann mit einer Axt mir in die Kehle hieb. Erst, nachdem mich meine Mutter zu einem Psychologen geschleppt hatte, der diesen Traum mit mir aufarbeitete, hörten die nächtlichen Heimsuchungen auf.

Träume sind ein Mysterium, das sich nur schwer erklären lässt. Oft steckt eine verschleierte Botschaft dahinter.

Mein Therapeut meinte damals, ich hätte Angst mich neuen, mir unbekannten Situationen zu stellen.

Bei dem jetzigen Traum tappe ich allerdings im Dunkeln. Bis zu dem Zeitpunkt, in dem mich Alexander entdeckte, empfand ich den Traum sogar recht angenehm. Ich war nur stiller Zuschauer. Der Vorhang bot mir ein ideales Versteck und trotzdem nahm ich, alles so wahr, als wäre ich mitten in dem Raum. Die weichen, schweren Stoffbahnen, die meinen Finger streifen, die kalte Steinmauer am Rücken und das knisternde Feuer im Kamin waren für mich seltsam real.

Ewig unter der Dusche zu stehen, bringt mich nicht weiter. Eilig schrubbe ich meinen Körper und wasche mir die Haare. Ich stelle das Wasser ab und ziehe den Duschvorhang zurück. Er ist so leicht im Gegensatz zu den roten, schweren Stoffbahnen im Zimmer von Elara. Kopfschüttelnd schiebe ich ihn zur Seite und angle nach zwei Handtüchern. Eins wickle ich mir um den Körper, das andere um den Kopf und putze mir die Zähne.

Mit dem Handy in der Hand sitze ich zehn Minuten später auf der Couch und surfe im Internet. Der Traum und die große Frage nach dem: Warum träume ich solche Sachen wühlen mich auf. Was hat es zu bedeuten, wenn ich von Augen träume?

Gespannt klicke ich auf die erste Internetseite, die mir angezeigt wird:

Ägyptischen Schöpfungsmythen zufolge ist die Erde aus einem Auge entstanden. Es ist also nicht verwunderlich, dass in der Traumdeutung dem Auge eine besondere Stellung zugeschrieben wird …

Ich scrolle etwas weiter herunter. Zuerst wird näher auf das Auge eingegangen, ehe die Aufklärung über das Traumsymbol aufgelistet ist. Im Folgetext erfahre ich, dass wenn man von blauen Augen träumt, man von starken Emotionen spricht, die im Alltag unterdrückt werden. Enttäuscht schließe ich die Seite. Wieso versuche ich es immer wieder? Diese viel zu vage verfassten Texte sind doch völlig nichtssagend. Ich unterdrücke keine Gefühle, oder?

Ein Ton erklingt und eine Nachricht von Lisa taucht auf dem Bildschirm auf. Derart früh steht sie im Normalfall nicht auf, oder ist sie erst nach Hause gekommen? So wie ich sie kenne, ist es Zweiteres. Sie hat ihr Profilbild gewechselt und ist jetzt mit einem jungen Mann zu sehen. Der Kerl sieht nett aus. Verliebt himmelt er sie an, dabei steht Lisa doch heimlich auf den Barkeeper aus dem Lifestyle.

Für den schnuckeligen Typ, mit dem verführerischen Spitzbubenlächeln, das selbst den Eisberg der Titanic zum Schmelzen gebracht hätte, schwärmt meine beste Freundin seit Wochen. Ständig versucht sie ihr Glück bei ihm. Bisher ohne Erfolg.

»Der ist doch schwul!«, ist Lisas Erklärung dazu.

Aber ich bin mir da nicht so sicher. Wieso ist ein Kerl immer vom anderen Ufer, wenn er sie links liegen lässt?

Dass sie jetzt eine Ablenkung an der Angel hat, beschreibt sie recht genau. Sie lässt eben nichts anbrennen. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre genauso locker eingestellt wie sie. Doch ich durchdenke jeden meiner Schritte, schmiede Pläne, nur, um sie im nächsten Augenblick wieder zu verwerfen. Ich stehe mir schlichtweg immer selbst im Weg. Bis ich mich dann entschieden habe, einen Mann näher kennenzulernen, hat der es sich anders überlegt und ich sehe ihm enttäuscht hinterher.

Mit einem Finger öffne ich ihre Nachricht:

Hi Süße, heute Abend wieder Party?

Lisa ist das perfekte Gegenstück zu mir. Wir haben uns gesucht und gefunden. Sie genießt das Leben auf der Überholspur in vollen Zügen. Mir ist jeden Tag Party dann doch zu anstrengend und vor allem zu teuer.

Hast du überhaupt Zeit für mich? ;-)

Der kleine Seitenhieb ist schneller in das Handy eingetippt und abgeschickt, ehe ich darüber nachdenken kann. Die Vorstellung von einem Abend mit mir als fünftem Rad am Wagen ist nicht sonderlich berauschend. Ich bin nicht scharf drauf, die beiden beim Knutschen zu beobachten, solange ich mit einem Glas Wasser, einsam und verlassen die Zeit an der Bar verbringe und warte, bis sie endlich beschließt, den Abend ausklingen zu lassen.

Für dich doch immer, meine Süße!

Schreibt sie und schickt gleich hinterher: Der Kerl ist echt nett, aber wir haben uns jetzt jeden Tag gesehen, ich brauche wieder Zeit für mich. Das bedeutet Zeit mit dir!

Ein Schmunzeln schleicht sich auf meine Lippen, weil Lisa meinen Wink sofort verstanden hat. Selbst wenn sie gelegentlich ein kleines, Männer verschlingendes Monster ist, findet sie trotzdem Zeit für mich.

Ich hole dich um zwanzig Uhr ab. Heute stellen wir das Livestyle auf den Kopf! Keine Widerworte, ich brauche das! Doch jetzt lege ich mich hin, damit ich fit bin für heute Abend. Ich habe mir die halbe Nacht um die Ohren geschlagen. Küsschen.

Ich schreibe ihr, dass ich mich auf sie freue, und schicke die Nachricht ab. Aus dem Augenwinkel erkenne ich die nahende Morgendämmerung. Das Dunkel der Nacht weicht den leichten Strahlen. Das eigentliche Rot, das den kommenden Tag ankündigt, ist noch nicht zu sehen. Es versteckt sich im Grau, das als Brücke zwischen Licht und Schatten den Weg der Sonne ebnet. Minute für Minute wird es heller. Das weiche Grau wechselt zu einem flammenden Rot, das jetzt die Stadt erhellt.

Wie ich Sonnenaufgänge liebe! Sie haben etwas Beruhigendes und geben mir Kraft.

Ein Knurren holt mich aus den Tagträumen – mein Magen. Doch als ich die Kühlschranktür öffne, fällt mir ein, dass ich mal wieder vergessen habe einzukaufen. Das kommt davon, wenn man mit dem Kopf nur in der Arbeit steckt. Normalerweise bin ich kein Frühstücksmensch, nur mein Bauch, der mit mir um vier Uhr morgens aufgestanden ist, hat Hunger. Ich entscheide mich zum Bäcker zu fahren und ziehe mich schnell an. Eine kurze luftige Hose und ein lockeres Hemd reichen. Die Nacht war bereits heiß, da wird es tagsüber nicht besser.

Inzwischen ist es drei vor sieben und vermutlich schlafen die meisten Leute noch. Der Park ist zu der Zeit nicht überfüllt und unter der alten Eiche, meinem Lieblingsplatz, ließe es sich prima aushalten.

Ich packe mir eine Decke, Sonnencreme, ein Buch und den Geldbeutel in einen Rucksack. Das Fahrrad hole ich aus dem Keller und schleppe es nach oben. Allein die wenigen Stufen reichen aus, um mir den Schweiß auf die Stirn zu treiben.

Mitte August gehören hohe Temperaturen zu einem anständigen Sommer dazu, doch seit ein paar Wochen ist es unerträglich heiß. Die Nachrichten überschlagen sich mit Hitzerekorden.

Dieses Jahr sind die drei Sommermonate eine einzige Dürreperiode mit nur wenig Regen.

Mit dem Rad fahre ich die Auffahrt hinunter. Der Weg zum Park ist kurz. Mein noch feuchtes Haar wird mir vom Fahrtwind aus dem Gesicht geweht. Die Straßen sind nicht so voll wie während der Woche um diese Uhrzeit. Beim Bäcker angekommen, bestelle ich mir zwei leckere Brezeln, ein ofenfrisches Croissant und drei Sesambrötchen. Mehr gibt es heute nicht, beschließe ich und die Backwaren verschwinden in meinem Rucksack. Beim Anblick des Croissants läuft mir trotz alledem das Wasser im Mund zusammen. Ehe ich aus dem Laden bin, habe ich schon davon abgebissen. Der buttrige Geschmack von dem warmen Blätterteig lässt mich jedes Mal wieder einknicken.

Kurz darauf fahre ich den Kiesweg im Park entlang. Wie erwartet, ist kaum eine Menschenseele unterwegs, was sich später ändert. Nur vereinzelt sehe ich einen Hund mit seinem Herrchen spazieren. Und es ist nicht ungewöhnlich, dass sich die Menschen im Freien tummeln, auf Decken liegen und ein Picknick veranstalten oder grillen.

Der Trubel ist mir zu anstrengend, ich genieße die Ruhe und Abgeschiedenheit.

Am liebsten wäre ich allein. Ich brauche Zeit für mich und wichtig – Entspannung.

Tiefer im Park, etwas versteckt, steht eine alte Eiche. Dieses idyllische und abgelegene Plätzchen habe ich in der zweiten Woche entdeckt, nachdem ich hierhergezogen bin. Bei dem Baum fühle ich mich geborgen. Es ist das Stückchen Heimat in der Ferne. Im Garten meiner Mutter stand ebenfalls eine alte Eiche, unter der ich oft ganze Tage verbracht habe.

Im Schatten breite ich die Decke aus, hole das Buch und eine Brezel aus dem Rucksack und fange an zu lesen. Nach ein paar Stunden nagt die Müdigkeit an mir. Je mehr ich versuche, mich auf den Text des Romans zu konzentrieren, desto öfter verschwimmen mir die Buchstaben vor meinen Augen. Der fehlende Schlaf macht sich bemerkbar. Meine Augenlider werden schwer und ich schaffe es zunehmend weniger, sie offenzuhalten. Bis ich einschlafe.

Ein Kribbeln im Nacken weckt mich. Ich öffne die Augen und zu meinem Erstaunen sitzt ein junger Mann neben mir. Was will der von mir? Warum beobachtet er mich? Steht er auf schlafende Frauen? Oh nein, hoffentlich habe ich nicht geschnarcht, oder schlimmer, gesabbert! Ich merke, wie meine Wangen anfangen, zu glühen. Hektisch richte ich mich auf und wische mir mit dem Handrücken über den Mund.

»Hallo, ich bin Kain«, stellt sich der Fremde vor. »Du siehst putzig aus, wenn du schläfst.«

Was will der bitte von mir? Was hat ihn geritten, dass er sich neben mich setzt, vor allem wenn ich nur daliege und schlafe? Meine Theorie, dass er auf schlafende Frauen steht, verhärtet sich und ich rücke ein Stück von ihm weg. Der Kerl ist mir unheimlich.

Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen, womöglich ist er nur ein Überbleibsel aus meinem Traum – Nein. Dieser Kain sitzt immer noch da.

Er wirkt nur ein paar Jahre älter als ich. Sein muskulöser und definierter Körper ist das Erste, was mir auffällt. Kain trägt ein enganliegendes Shirt, das seine Muskeln betont. Muskelprotze sind weniger mein Fall, doch er sieht zum Anbeißen aus. Die längeren Haare seines Undercuts hat er zu einem Man Bun gebunden. Ein Dreitagebart rahmt sein etwas rundlicheres Gesicht ein und verleiht ihm dadurch mehr Tiefe. Mit seinen dunkelbraunen Augen hält er mich gefangen. In meinem Bauch fängt es gewaltig an zu kribbeln.

»Danke«, quetsche ich, viel zu spät heraus.

Zum einen bin ich verwundert, dass der Kerl neben mir sitzt. Zum anderen bin ich mir nicht sicher, was er von mir erwartet. Oder bin ich doch noch nicht richtig wach? Ist das wieder so ein verrückter Traum wie letzte Nacht?

»Hier ist vorhin so ein ekeliger Kerl vorbeigelaufen. Der hat gestunken. Er ist direkt bei dir stehen geblieben und hat auf deinen Hintern gestarrt.«

Ich nicke, selbst wenn ich nicht verstehe, was er damit anzudeuten versucht.

»Das konnte ich nicht zulassen, also habe mich neben dich gesetzt und ihm gesagt, dass er dich in Ruhe lassen soll.«

Ich habe nicht erwartet, dass er weiter neben mir sitzen bleibt. Mir wäre es echt peinlich, wenn ich bei einem schlafenden Kerl hocke und ihn beobachte und obendrein ertappt werde. An seiner Stelle hätte ich längst die Flucht ergriffen. Nein, ich hätte mich das gar nicht getraut. Das ist schon ein wenig dreist.

Dreister finde ich allerdings das Verhalten des anderen Kerls. Das ist aller unterste Schublade! Arglose Frauen angaffen, wo kommen wir denn dahin?

Wenn ich es mir recht überlege, bin ich jetzt doch ein wenig froh, dass Kain sich neben mich gesetzt hat.

»Außerdem habe ich ihm gesagt, dass ich dein Freund bin.«

Okay, spätestens jetzt bin ich mir sicher, dass ich träume. Während er das sagt, sieht er mir tief in die Augen. Alles klar, der Kerl spinnt. Ich unterdrücke ein Augenrollen.

»Aber nur, damit er dich in Ruhe lässt«, fügt er schnell hinzu, nachdem er meinen immer skeptischer werdenden Blick erkennt.

»Danke!«

Zu mehr Konversation bin ich nicht bereit. Kain überrumpelt mich mit seinem Verhalten. Um mich zu vergewissern, dass ich nicht träume, kneife ich in meinen Arm. Sofort sticht der Schmerz an der Stelle. Das hier ist real. Er ist schon etwas seltsam.

Es fällt mir schwer, ihn einzuschätzen. Vermutlich ist er aber nur ein harmloser Spinner.

»Wie heißt du eigentlich?«, bleibt er hartnäckig und versucht, das Gespräch weiter am Laufen zu halten.

Ausdauer hat er und lässt sich nicht einfach abschütteln, oder in meinem Fall vertreiben. Bisher hat nicht viel Sinnvolles meinen Mund verlassen.

Kain sieht mich nicht mehr an, sondern beobachtet ein paar spielende Kinder in der Ferne. Ich beiße mir auf die Lippe und überlege, ob er es wert ist, dass ich mich ihm öffne. Im Grunde war das, was er mir gezeigt hat, echt nett und er macht einen anständigen Eindruck. Innerlich schüttle ich meine Zweifel ab und reiche Kain mit einem Lächeln die Hand.

»Entschuldige bitte, ich bin Jasmin. Und danke, dass du auf mich aufgepasst hast.«

»Ähm, ja nichts zu danken. Das war eine meiner leichtesten Übungen.«

Inzwischen spielt er mit einem Grashalm, den er an der Seite der Decke abgezupft hat. Bilde ich es mir ein, oder ist er genauso durch den Wind wie ich? Bei diesem Gedanken macht mein Herz einen Hüpfer. Ich wage einen Blick zu ihm hinüber.

Die Luft um uns herum flimmert ein wenig und die kleinen Härchen auf meinen Armen stellen sich auf.

Kain bemerkt es ebenfalls und streckt den Rücken durch. Ich erkenne, wie sich seine Kiefermuskeln anspannen. Seine Mundwinkel verziehen sich für den Bruchteil einer Sekunde zu einem schmerzhaften Ausdruck.

Doch sicher bin ich mir nicht. Ist er aufgeregt und traut sich nicht, mir das zu sagen, was ihm auf der Zunge liegt?

Zu meiner Enttäuschung rümpft er unmerklich die Nase und rückt ein Stück von mir ab.

Unauffällig schnuppere ich an meinem Shirt, ist es möglich, dass ich inzwischen etwas rieche?

Kain hat es bemerkt und räuspert sich. »Ich muss auf einem Stein gesessen haben. Da hat mich etwas gepikst.«

Das ist eine blöde Ausrede. Immerhin lag ich vor wenigen Minuten hier und habe geschlafen. Kain meidet meinen Blick und beobachtet einen spielenden Hund in unserer Nähe. Er wirkt angespannt. Nervös fummelt er an dem Grashalm herum, dreht ihn, bis nur ein kleiner Rest davon überbleibt.

»Hör zu«, durchbreche ich die Stille. Das Schweigen zwischen uns erdrückt mich. »Ich werde jetzt nach Hause fahren.

War nett, dass du aufgepasst und diesen Ekeltypen zum Teufel gejagt hast. Vielleicht sieht man sich mal wieder.«

Ruckartig dreht er sich zu mir um. Sein Blick bohrt sich in meinen. Das Herz schlägt mir bis zum Hals und raubt mir den Atem. Kain hebt die Hand und nähert sich damit meinem Kopf. Dabei starrt er mich weiter an. In meinem Nacken kribbelt es unangenehm. Das Gefühl, dass jemand hinter mir steht, überkommt mich. Mein Inneres schreit, dass ich in Gefahr schwebe, doch ich unterdrücke den Drang, mich umzudrehen. In Kains Blick ist etwas, das ich nicht einzuordnen vermag.

»Du hast da ein Blatt im Haar«, flüstert er mit kehliger Stimme.

Ich bekomme Gänsehaut. Auf einmal wirkt er befremdlich. Sein Blick hält mich weiter gefangen. Diesmal tauchen seine Augen tief in meine ein. Hitze steigt in mir auf. Doch dann wandern seine Augen zu meinen verräterischen Wangen und er lächelt. Das Gefühl, in Gefahr zu schweben, zerplatzt wie eine Seifenblase. Erleichtert atme ich auf.

Zaghaft steift Kain mit der Hand durch mein Haar und wickelt sich eine Strähne um die Finger. Was passiert hier?

Es kommt mir so unwirklich vor. Das ist ganz sicher ein Traum!

»Was würde ich jetzt dafür geben, dich zu küssen.«

Bei den Worten streicht er mir sanft über die Wange. Kaum hat er mich berührt, entlädt sich die Spannung zwischen uns. Kurz zucke ich zusammen und erstarre zu Stein.

Diese Berührung ist ungewohnt und doch alles andere als unangenehm.

KÜSSEN? Hat er Küssen gesagt? Dieses kleine Wort reißt mich aus der Blase. Wie gerne würde ich dem Impuls in mir nachgeben, aber einen wildfremden Mann küssen, nie im Leben! Zuerst darf er mir zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt ist. Ich bin keines dieser Mädchen, das man mit ein paar Worten um den Finger wickelt, wie er meine Locke vor wenigen Augenblicken.

Normalerweise verfalle ich in solchen Situationen in Schockstarre, doch nicht bei Kain. Zu meiner eigenen Überraschung bin ich absolut klar im Kopf und die folgenden Worte sprudeln unbekümmert aus mir heraus: »Ich küsse keine Frösche.

Selbst keine, die sich in Rüstung werfen und hilflose Jungfrauen vor stinkenden Ungeheuern retten. Dafür musst du dich schon etwas mehr anstrengen!«

Ihn jetzt zu küssen, wäre zu leicht. Merkwürdigerweise gefällt mir der Gedanke, von seinen warmen Lippen zu kosten, was noch lange kein Grund ist, so mit der Tür ins Haus zu fallen. Etwas an ihm fasziniert mich. In seiner Nähe fühle ich mich eigenartig anders.

»Es reicht nicht, dass du mit den Fingern schnippst, in der Hoffnung, ich erfülle dir jeden Wunsch. Wenn du mich wirklich küssen willst …« Ich schaue ihm eindringlich in die Augen. In seinen blitzt es verräterisch. »… man sieht sich immer zweimal im Leben. Finde mich und ich überlege es mir!«

»Unter Umständen!«

Unfassbar, dass mir das herausgerutscht ist. Doch in seiner Nähe fällt es mir erstaunlich leicht, das zu sagen, was ich tief in meinem Herzen wünsche, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Es kommt so kinderleicht über mich. Mein Mund hat gesprochen, ohne dass ich darüber nachgedacht habe.

Eilig stehe ich auf und fange an, meine Sachen in den Rucksack zu stopfen. Kain hat sich hingelegt und die Arme hinter dem Kopf verschränkt.

Er beobachtet mich mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Einen Penny für seine Gedanken. Erst als ich an der Decke ziehe, um sie zusammenlegen, erhebt er sich. Ich sehe ihm an, dass er mit der Wendung des Gespräches nicht gerechnet hat. Doch genau das ist es, worauf ich es abgesehen habe. Er soll nicht davon ausgehen, dass ich leicht zu haben bin. Es scheint, als ist er es gewohnt, dass die Damen reihenweise bei seiner Masche einknicken. Nur man bekommt nicht immer das, was man sich in den Kopf setzt. Das ist seine erste Lektion.

»Ich finde dich, Jasmin, das ist ein Versprechen.«

Ich drehe mich noch mal um und erkenne ein freudestrahlendes Gesicht. Ich bitte darum, denke ich und trete in die Pedale.

Drei