13,99 €
Stark von Dostojewski beeinflusst schrieb Hamsun diesen vielbeachteten Roman, der als literarisches Beispiel moderner Psychologie gilt: der moderne Mensch zwischen Zivilisationsmüdigkeit und Naturverklärung. Ein junger Leutnant im Ruhestand zieht sich in die Einsamkeit des norwegischen Nordens zurück und neben der Jagd widmet er sich der örtlichen Damenwelt. Seine Beziehungen enden aufgrund seines zerissenen Charakters unglücklich, es kommt zur Katastrophe. Die Geschichte lässt nach wie vor verschiedene Interpretationen zu und bleibt voller Rätsel. Hamsuns lyrische Sprache strahlt bis heute durch ihre Einfachheit und Schönheit einen ganz besonderen Reiz aus. Der Nobelpreisträger Knut Hamsun gehört zu Norwegens größten Erzählern und »Pan« gilt als einer seiner einflussreichsten Romane.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 199
.
Übertragung aus dem Norwegischen von J. Sandmeier und S. Angermann
Distanzierungserklärung:
Mit dem Urteil vom 12.05.1998 hat das Landgericht Hamburg entschieden, dass man durch die Ausbringung eines Links die Inhalte der gelinkten Seite gegebenenfalls mit zu verantworten hat. Dies kann, so das Landgericht, nur dadurch verhindert werden, dass man sich ausdrücklich von diesen Inhalten distanziert. Wir haben in diesem E-Book Links zu anderen Seiten im World Wide Web gelegt. Für alle diese Links gilt: Wir erklären ausdrücklich, dass wir keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte der gelinkten Seiten haben. Deshalb distanzieren wir uns hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller gelinkten Seiten in diesem E-Book und machen uns diese Inhalte nicht zu Eigen. Diese Erklärung gilt für alle in diesem E-Book angezeigten Links und für alle Inhalte der Seiten, zu denen Links führen.
© 2023 Langen Müller Verlag GmbH, München
© 2003 by Langen Müller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel
Umschlagmotiv: Mia Stendal, stock-adobe.com
Satz und E-Book Konvertierung: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-7844-8471-6
www.langenmueller.de
Aus Leutnant Thomas Glahns Papieren
1
In den letzten Tagen dachte und dachte ich an des Nordlandsommers ewigen Tag. Ich sitze hier und denke an ihn und an eine Hütte, in der ich wohnte, und an den Wald hinter der Hütte, und ich mache mich daran, einiges niederzuschreiben, um die Zeit zu verkürzen und um meines Vergnügens willen. Die Zeit ist sehr lang, sie will mir nicht so rasch vergehen, wie ich möchte, obwohl ich über nichts traurig bin und obwohl ich das lustigste Leben lebe. Ich bin wohl zufrieden mit allem, und meine dreißig Jahre sind kein Alter. Vor einigen Tagen erhielt ich ein paar Vogelfedern von weither zugesandt, von einem Menschen, der sie mir nicht schuldig war, aber es waren zwei grüne Federn in einem Bogen Briefpapier, der eine Krone trug und mit einer Oblate versiegelt war. Es machte mir auch Vergnügen, zwei so teuflisch grüne Vogelfedern zu sehen. Und sonst habe ich keine andere Plage, als hin und wieder ein wenig Gicht in meinem linken Fuß infolge einer alten Schusswunde, die nun seit langem geheilt ist.
Ich erinnere mich, dass vor zwei Jahren die Zeit sehr rasch verging, ohne Vergleich viel rascher als jetzt, ein Sommer war vorbei, bevor ich es recht wusste. Das war vor zwei Jahren 1855 – ich will davon schreiben, um meines Vergnügens willen, es geschah mir etwas oder ich träumte es. Nun habe ich vieles vergessen, was zu diesen Erlebnissen gehört, denn ich habe seither fast nie mehr daran gedacht: Aber ich weiß noch, dass die Nächte sehr hell waren. Viele Dinge kamen mir auch so verkehrt vor, das Jahr hatte zwölf Monate, aber die Nacht wurde Tag, und niemals war ein Stern am Himmel zu sehen. Und die Leute, die ich traf, waren eigentümlich und von einer anderen Natur als die Leute, die ich von früher kannte; hie und da vermochte eine Nacht sie aus Kindern in ihrer ganzen Herrlichkeit emporschießen zu lassen, reif und voll erwachsen. Darin war keine Zauberei, aber ich hatte es vorher nicht erlebt. O nein.
In einem großen weiß gestrichenen Haus unten am Meer traf ich jemand, der für eine kurze Zeit meine Gedanken beschäftigte. Ich erinnere mich ihrer nicht mehr beständig, nicht jetzt, nein, ich habe sie ganz vergessen; aber ich denke dafür an all das andere, an den Schrei der Seevögel, an meine Jagd in den Wäldern, meine Nächte, an alle die warmen Stunden des Sommers. Es war im Übrigen sogar nur ein reiner Zufall, dass ich sie kennen lernte, und ohne diesen Zufall wäre sie nicht einen Tag in meinen Gedanken gewesen.
Von meiner Hütte aus konnte ich einen Wirrwarr von Inseln und Holmen und Schären sehen, ein wenig von der See, einige blauende Berggipfel; und hinter der Hütte lag der Wald, ein ungeheurer Wald. Ich war voll Freude und Dank bei dem Duft von Wurzeln und Laub und von dem fetten Dunst der Kiefer, der an den Geruch von Mark erinnert; erst im Wald kam alles zur Ruhe in mir, meine Seele wurde ausgeglichen und voller Macht. Ich ging Tag für Tag durch die Waldhöhen, mit Äsop an meiner Seite, und ich wünschte nichts lieber, als dass ich Tag für Tag hier gehen dürfte, obwohl noch Schnee und weiche Frühjahrsschmelze über der halben Gegend lagen. Mein einziger Kamerad war Äsop; nun habe ich Cora, aber damals hatte ich Äsop, meinen Hund, den ich später erschoss.
Oft, am Abend, wenn ich nach meiner Jagd wieder zur Hütte heimkam, konnte ein geborgenes Gefühl des Zuhauseseins mich von oben bis unten durchrieseln, ja mein Inneres in liebe Erschütterungen bringen, und ich ging umher und schwätzte mit Äsop darüber, wie gut es uns ging. So, nun machen wir Feuer und braten uns hier am Herd einen Vogel, sagte ich, was meinst du dazu? Und wenn das alles getan war und wir beide gegessen hatten, kroch Äsop an seinen Platz hinter der Feuerstätte, während ich die Pfeife anzündete und mich für eine Weile auf die Pritsche legte und auf das tote Sausen im Wald lauschte. Es war ein schwacher Zug in der Luft, der Wind stand auf der Hütte, und ich konnte deutlich das Rascheln des Spielhahns hören, weit hinten auf den Höhen. Sonst war alles still. Und manches Mal schlief ich ein, wo ich lag, in allen Kleidern, wie ich ging und stand, und erwachte nicht eher, als bis die Seevögel zu schreien begonnen hatten. Wenn ich dann aus dem Fenster sah, konnte ich die großen weißen Gebäude des Handelsplatzes erkennen, die Landungsbrücke von Sirilund, den Kramladen, wo ich mein Brot kaufte, und ich blieb eine Weile liegen, verwundert darüber, dass ich mich hier in einer Hütte im Nordland befand, am Rande des Waldes.
Dann schüttelte Äsop seinen langen schmalen Körper dort bei der Feuerstätte, es klirrte in seinem Halsband, er gähnte und wedelte, und ich sprang nach diesen drei, vier Stunden Schlaf auf, ausgeruht und voller Freude über alles, alles. So ging manche Nacht.
2
Es kann regnen und stürmen, nicht darauf kommt es an, oft kann eine kleine Freude sich an einem Regentag eines Menschen bemächtigen und ihn mit seinem Glück abseits treiben. Man stellt sich hin und beginnt geradeaus zu sehen, hin und wieder lacht man leise und sieht sich um. Woran denkt man? An eine klare Scheibe in einem Fenster, einen Sonnenstrahl in der Scheibe, eine Aussicht auf einen kleinen Bach oder vielleicht an einen blauen Spalt im Himmel. Es braucht nicht mehr zu sein.
Zu anderen Zeiten vermögen selbst ungewöhnliche Ereignisse nicht, uns aus einer gleichmäßigen und armseligen Stimmung aufzurütteln; mitten in einem Ballsaal kann man gleichgültig, sicher und unbeeinflusst dasitzen. Denn das eigene Innere des Einzelnen ist die Quelle der Trauer oder der Freude.
Ich erinnere mich eines bestimmten Tages. Ich war an die Küste heruntergekommen. Der Regen überraschte mich, und ich ging in einen offenen Bootsschuppen und setzte mich einstweilen. Ich summte ein wenig, aber ohne Freude und ohne Laut, nur um die Zeit zu vertreiben. Äsop war dabei, er setzte sich, um zu horchen, ich halte mit dem Summen inne und lausche auch, man hört Stimmen draußen, es nähern sich Menschen. Ein Zufall, ein sehr natürlicher Zufall! Eine Gesellschaft von zwei Herren und einem Mädchen kam Hals über Kopf zu mir herein. Sie riefen einander lachend zu:
Schnell! Hier finden wir so lange Unterschlupf! Ich erhob mich.
Der eine Herr hatte ein weißes, ungestärktes Vorhemd an, das nun obendrein vom Regen aufgeweicht war und in Falten herabhing; in diesem nassen Vorhemd saß eine Diamantspange. Er hatte an den Füßen lange spitze Schuhe, die etwas geckenhaft aussahen. Ich grüßte den Mann, es war Herr Mack, der Kaufmann, ich erkannte ihn wieder, vom Handelsplatz her, wo ich Brot gekauft hatte. Er hatte mich sogar einmal in die Familie eingeladen, ohne dass ich bis jetzt dort gewesen war.
Ah, ein Bekannter!, sagte er, als er meiner ansichtig wurde. Wir waren auf dem Weg zur Mühle hinaus, da mussten wir umkehren. So ein Wetter, was? Aber wann kommen Sie endlich nach Sirilund, Herr Leutnant? Er stellte den kleinen schwarzbärtigen Herrn vor, der dabei war, einen Doktor, der bei der Kirche wohnte.
Das Mädchen schob den Schleier ein wenig über die Nase und begann gedämpft mit Äsop zu plaudern. Ihre Jacke fiel mir auf, am Futter und an den Knopflöchern konnte ich sehen, dass sie aufgefärbt war. Herr Mack stellte auch sie vor, sie war seine Tochter und hieß Edvarda.
Edvarda gab mir einen Blick durch den Schleier, dann flüsterte sie weiter mit dem Hund und las auf seinem Halsband:
Soso, du heißt Äsop … Doktor, wer war Äsop? Das einzige, woran ich mich erinnere, ist, dass er Fabeln verfasste. War er nicht Phrygier? Nein, ich weiß nicht. Ein Kind, ein Schulmädchen. Ich betrachtete sie, sie war groß, aber ohne Formen, ungefähr fünfzehn, sechzehn Jahre, mit langen, dunklen Händen ohne Handschuhe. Sie hatte vielleicht an diesem Nachmittag in einem Lexikon bei Äsop nachgeschlagen, um dies gleich zur Hand zu haben.
Herr Mack fragte mich nach meiner Jagd aus. Was ich am meisten schösse? Ich könne jederzeit eines seiner Boote zu meiner Verfügung haben, ich brauche es nur zu sagen. Der Doktor sprach kein Wort. Als die Gesellschaft ging, fiel mir auf, dass der Doktor etwas hinkte und den Stock gebrauchte.
Ich wanderte heim, in der gleichen leeren Stimmung wie vorher und summend vor Gleichgültigkeit. Diese Begegnung im Bootsschuppen berührte mich in keiner Weise; an was ich mich am besten von der ganzen Sache erinnerte, war Herrn Macks durchweichtes Vorhemd, worin eine Diamantspange saß, auch diese nass und ohne stärkeren Glanz.
3
Es stand ein Stein draußen vor meiner Hütte, ein hoher, grauer Stein. Er hatte einen Ausdruck des Wohlwollens für mich; es war, als sähe er mich, wenn ich gegangen kam, und erkenne mich wieder. Ich nahm gerne meinen Weg an diesem Stein vorbei, wenn ich im Morgendämmern ausging, und es war geradeso, als wenn ich einen guten Freund dort hinterließe, der auf mich wartete, bis ich zurückkäme.
Und droben im Wald begann die Jagd. Vielleicht schoss ich etwas und vielleicht nicht. Außerhalb der Inseln lag das Meer in schwerer Ruhe. Ich stand da und sah darauf hin, von den Höhen, oft, wenn ich hoch oben war; an stillen Tagen kamen die Schiffe fast gar nicht vorwärts, ich konnte das gleiche Segel drei Tage lang sehen, klein und weiß wie eine Möwe auf dem Wasser. Aber manchmal, wenn der Wind umsprang, konnten die Berge in der Ferne fast verschwinden, ein Unwetter zog auf, Südweststurm, ein Schauspiel, bei dem ich Zuschauer war. Alles stand in Rauch. Die Erde und der Himmel wurden vermengt, das Meer tummelte sich in verrenkten Lufttänzen, bildete Männer, Pferde und zerfetzte Fahnen. Ich stand im Windschutz unter einem Felsen und dachte mir allerhand Dinge, meine Seele war gespannt. Gott weiß, dachte ich, wessen ich heute Zeuge bin und weshalb sich das Meer vor meinen Augen öffnet. Vielleicht schaue ich in dieser Stunde das Innere des Gehirns der Erde, wie dort gearbeitet wird, wie alles siedet. Äsop war unruhig, hier und da streckte er die Schnauze aufwärts und witterte, wetterkrank, bebend, empfindlich in den Beinen; da ich nicht zu ihm sprach, legte er sich zwischen meine Füße und starrte wie ich über das Meer hinaus. Und kein Ruf, keines Menschen Wort, war von irgendwo zu hören, nichts, nur das schwere Sausen rings um meinen Kopf. Es lag eine Schäre weit draußen, die lag allein; wenn sich die See an dieser Klippe brach, steilte sie sich auf wie eine wahnwitzige Schraube, nein, wie ein Meergott, der sich nass in die Luft erhob und über die Welt hinsah, schnaubend, dass Haar und Bart wie ein Rad um sein Haupt standen. Dann tauchte er wieder in die Brandung nieder.
Und mitten im Sturm schlug sich ein kleines kohlschwarzes Dampfschiff vom Meer herein durch …
Als ich am Nachmittag zur Landungsbrücke hinunterging, war das kleine kohlschwarze Dampfschiff in den Hafen gekommen; es war das Postschiff. Viele Menschen waren auf dem Kai anwesend, um den seltenen Gast zu betrachten; ich bemerkte, dass alle miteinander ohne Ausnahme blaue Augen hatten, wie verschieden sie sonst auch sein mochten. Ein junges Mädchen mit einem weißen Wolltuch um den Kopf stand ein Stück weit entfernt; sie hatte sehr dunkles Haar, und das weiße Tuch stach seltsam gegen das Haar ab. Sie sah neugierig auf mich, auf meinen Lederanzug, mein Gewehr; als ich zu ihr sprach, wurde sie verlegen und wandte den Kopf ab. Ich sagte: Du solltest immer dieses weiße Tuch tragen, das kleidet dich. In diesem Augenblick schloss sich ihr ein grobgliederiger Mann im Islandjanker an, er nannte sie Eva. Sie war offenbar seine Tochter. Ich kannte den grobgliederigen Mann, es war der Schmied, der Schmied des Platzes. Er hatte vor einigen Tagen auf eine meiner Büchsen ein neues Zündrohr gesetzt …
Und Regen und Wind taten ihre Arbeit und schmolzen allen Schnee weg. Einige Tage lang trieb eine unfreundliche und kalte Stimmung über die Erde hin, morsche Äste brachen, und die Krähen sammelten sich in Scharen und schrien. Dies dauerte nicht lange, die Sonne war nahe, eines Morgens stand sie oben hinter dem Wald. Es durchfährt mich ein süßes Ziehen von oben bis unten, wenn die Sonne aufgeht; in einem stillen Jubel werfe ich die Büchse auf die Schulter.
4
In dieser Zeit litt ich keine Not an Wild, ich schoss, was ich wollte, einen Hasen, einen Spielhahn, ein Schneehuhn, und wenn es sich traf, dass ich unten an der Küste war und dem einen oder dem anderen Seevogel nahekam, schoss ich auch den. Das waren gute Zeiten, die Tage wurden länger und die Luft reiner, ich rüstete mich für zwei Tage aus und trieb in die Berge hinein, zu den Gipfeln. Ich traf Renlappen und bekam Käse von ihnen, kleinen fetten Käse mit einem kräuterartigen Geschmack. Ich war dort mehr als einmal. Wenn ich wieder heimging, schoss ich immer irgendeinen Vogel und steckte ihn in die Jagdtasche. Ich setzte mich und koppelte Äsop an. Eine Meile unter mir sah ich das Meer; die Bergseiten waren nass und schwarz vom Wasser, das an ihnen herunterrieselte, tropfte und rieselte mit der gleichen winzigen Melodie. Diese kleinen Melodien weit drinnen in den Bergen verkürzten mir manche Stunde, wenn ich dasaß und um mich blickte. Nun rieselt dieser kleine endlose Ton hier in seiner Einsamkeit, dachte ich, und niemand hört ihn, und niemand denkt an ihn, aber trotzdem rieselt er hier für sich die ganze Zeit, die ganze Zeit! Und es schien mir nicht mehr, dass das Gebirge so vollkommen öde war, wenn ich dieses Rieseln hörte. Ab und zu geschah etwas: Ein Donner erschütterte die Erde, ein Felsblock löste sich und stürzte hinunter zum Meer, einen Weg von Steinrauch hinterlassend; im selben Augenblick hob Äsop die Schnauze gegen den Wind und schnupperte verwundert den versengten Geruch ein, den er nicht verstand. Wo das Schneewasser Sprünge in die Felsen gebrochen hatte, war ein Schuss oder sogar nur ein scharfer Ruf genug, um einen großen Block loszureißen und ihn zum Stürzen zu bringen. Eine Stunde konnte vergehen, vielleicht mehr, die Zeit ging so schnell. Ich band Äsop los, warf die Tasche über meine andere Schulter und begab mich nach Hause. Der Tag neigte sich. Unten im Wald stieß ich unausweichbar auf meinen alten bekannten Steig, ein schmales Band von einem Steig, mit den sonderbarsten Windungen. Ich folgte jeder Windung und ließ mir gute Weile, es eilte nicht, es gab niemand, der daheim auf mich wartete; frei wie ein Herrscher ging ich da und trieb durch einen friedlichen Wald, genauso langsam, wie ich wollte. Alle Vögel schwiegen, nur der Spielhahn spielte weit weg, der spielte immer.
Ich kam aus dem Wald heraus und sah zwei Menschen vor mir, zwei wandernde Menschen, ich holte sie ein, der eine war Jungfer Edvarda, ich erkannte sie und grüßte; der Doktor begleitete sie. Ich musste ihnen meine Büchse zeigen, sie besahen meinen Kompass, meine Tasche; ich lud sie in meine Hütte ein, und sie versprachen, einmal zu kommen.
Nun war der Abend da. Ich ging heim und machte Feuer, briet einen Vogel und hielt Mahlzeit. Morgen kommt wieder ein Tag … Stille und Schweigen überall. Ich liege in den Abend hinein und sehe zum Fenster hinaus. Ein Feenglanz weilte um diese Zeit über Land und Wald, die Sonne war untergegangen und färbte den Horizont mit einem fetten, roten Licht, das still stand wie Öl. Der Himmel war überall offen und rein, ich starrte in dieses klare Meer, und es war, als läge ich von Angesicht zu Angesicht dem Grund der Welt gegenüber und als schlüge mein Herz innig diesem nackten Grund entgegen und wäre dort daheim. Gott weiß, dachte ich bei mir selbst, warum sich der Horizont heute Abend in Lila und Gold kleidet, ob das nicht ein Fest ist, droben in der Welt, ein Fest im großen Stil, mit Musik von den Sternen und mit Bootsfahrten über die Ströme herab. Es sieht so aus! Und ich schloss die Augen und war mit dabei auf dieser Bootsfahrt, und Gedanken auf Gedanken segelten durch mein Gehirn …
So ging mehr als ein Tag.
Ich streifte umher und beobachtete, wie der Schnee zu Wasser wurde und wie das Eis sich löste. An manchem Tage, wenn ich schon Essen genug in meiner Hütte hatte, schoss ich nicht einmal meine Büchse ab; ich trieb nur so umher in meiner Freiheit und ließ die Zeit gehen. Wohin ich mich wandte, war gleichviel zu sehen und zu hören, alles veränderte sich an jedem Tag ein wenig, selbst Weidengestrüpp und Wacholder standen da und warteten auf den Frühling. Ich ging zum Beispiel zur Mühle hinaus, die lag noch eingeeist; aber die Erde ringsherum war seit manchem Jahr des Herrn zertreten worden und zeugte davon, dass Menschen mit Kornsäcken auf dem Rücken hierhergekommen waren, um das Korn zu mahlen.
Ich ging wie unter Menschen dort, an den Wänden waren auch viele Buchstaben und Jahreszahlen eingeschnitten. Nun wohl.
5
Soll ich mehr schreiben? Nein, nein. Nur ein wenig um meines Vergnügens willen und weil es mir die Zeit verkürzt zu erzählen, wie der Frühling kam, vor zwei Jahren, und wie das Land aussah. Die Erde und das Meer begannen ein wenig zu riechen, es roch süßlich nach Schwefelwasserstoff von dem alten Laub, das im Walde faulte, und die Elstern flogen mit Zweigen im Schnabel und bauten Nester. Ein paar Tage noch, und die Bäche schwollen an und begannen zu schäumen; hier und da sah man einen Kohlweißling, und die Fischer kamen von ihren Fangplätzen heim. Die beiden Segelschiffe des Kaufmanns kamen zurück, vollbeladen mit Fischen, und ankerten bei den Trockenplätzen; da war plötzlich Leben und Bewegung draußen auf der größten der Inseln, wo der Fisch auf den Klippen getrocknet werden sollte. Ich sah alles von meinem Fenster aus.
Aber zur Hütte drang kein Lärm, ich war und blieb allein. Dann und wann kam ein Mensch vorbei, ich sah Eva, die Tochter des Schmieds, sie hatte auf der Nase ein paar Sommersprossen bekommen.
Wo willst du hin?, fragte ich.
In den Wald und Holz holen, antwortete sie still. Sie hielt einen Strick in der Hand, um das Holz damit zu tragen, und sie hatte ihr weißes Tuch auf dem Kopf. Ich sah ihr nach, aber sie wandte sich nicht um.
Dann vergingen viele Tage, bis ich wieder jemand sah. Der Frühling drang vor, und der Wald wurde heller; es war ein großes Vergnügen, die Drosseln zu beobachten, die in den Baumspitzen saßen, der Sonne entgegenstarrten und schrien; bisweilen war ich schon gegen zwei Uhr im Morgendämmern auf, um an der freudigen Stimmung teilzuhaben, die von Vögeln und Tieren ausging, wenn die Sonne emporstieg.
Der Frühling war wohl auch zu mir gekommen, und mein Blut klopfte zeitweise wie von Schritten. Ich saß in der Hütte und dachte daran, meine Angelruten und Schleppangeln nachzusehen, aber ich rührte nicht einen Finger, um etwas zu tun, eine frohe und dunkle Unruhe ging in meinem Herzen aus und ein. Da sprang Äsop plötzlich auf, blieb auf steifen Beinen stehen und gab einen kurzen Laut. Es kamen Leute zur Hütte, ich nahm schnell die Mütze vom Kopf und hörte bereits Jungfer Edvardas Stimme in der Tür. Freundlich und anspruchslos kamen sie und der Doktor mich zu besuchen, wie sie es gesagt hatten.
Ja, er ist daheim, hörte ich sie sagen. Und sie trat ein und reichte mir, ganz wie ein kleines Mädchen, die Hand. Wir waren auch gestern hier, aber da waren Sie nicht zu Hause, erklärte sie.
Sie setzte sich auf meine Pritsche, auf die Decke, und sah sich in der Hütte um; der Doktor nahm neben mir auf der langen Bank Platz. Wir sprachen zusammen, wir schwätzten frischweg, ich erzählte ihnen unter anderem, welche Arten von Tieren im Walde waren und welches Wild ich nicht mehr länger schießen dürfe, da es Schonzeit habe. Nun hatte der Spielhahn Schonzeit.
Der Doktor machte auch jetzt nicht viel Worte; aber als sein Blick auf mein Pulverhorn fiel, auf dem eine Panfigur war, fing er an, den Mythus von Pan zu erklären.
Aber, sagte Edvarda plötzlich, wovon leben Sie, wenn nun alles Wild geschont wird?
Von Fischen, antwortete ich. Meistens von Fischen. Es gibt immer etwas zu essen.
Aber Sie können ja zu uns zum Essen kommen, sagte sie. Voriges Jahr hatte ein Engländer Ihre Hütte, er kam auch oft zu uns zum Essen.
Edvarda sah mich an, und ich sah sie an. Ich fühlte in diesem Augenblick etwas an mein Herz rühren wie ein kleiner, flüchtiger, freundlicher Gruß. Das kam vom Frühling und dem hellen Tag; ich habe seitdem darüber nachgedacht. Ich bewunderte außerdem ihre gewölbten Augenbrauen.
Sie sagte einige Worte über meine Behausung. Ich hatte die Wände mit verschiedenen Fellen und Vogelflügeln behängt; die Hütte glich innen einer zottigen Bärenhöhle. Das weckte ihren Beifall. Ja, das ist eine Bärenhöhle, sagte sie.
Ich hatte den Fremden nichts zu geben, was sie wohl hätten mögen können. Ich dachte daran und wollte spaßeshalber einen Vogel braten; sie sollten ihn auf Jägerweise essen, mit den Fingern. Das konnte ein kleiner Zeitvertreib sein.
Und ich briet den Vogel.
Edvarda erzählte von dem Engländer. Es war ein alter und eigener Mann gewesen, er sprach laut mit sich selbst. Er war Katholik, und wo er ging und stand, hatte er ein kleines Gebetbuch mit schwarzen und roten Buchstaben in der Tasche.
Da war er vielleicht Irländer?, fragte der Doktor. Irländer? Ja, nicht wahr, wenn er Katholik war? Edvarda errötete, sie stammelte und sah weg:
Na ja, vielleicht war er Irländer.
Von nun an verlor sie ihre Munterkeit. Sie tat mir leid, und ich wollte es wiedergutmachen. Ich sagte:
Nein, natürlich haben Sie Recht damit, dass er Engländer war; Irländer reisen nicht nach Norwegen.
Wir machten aus, dass wir eines Tages hinausrudern und die Klippfischfelsen besehen wollten …
Nachdem ich meine Gäste ein wenig auf dem Weg begleitet hatte, ging ich wieder zurück und setzte mich hin, um an meinen Fischgeräten zu arbeiten. Mein Kescher hatte an einem Nagel bei der Tür gehangen, und mehrere Maschen waren vom Rost schadhaft geworden; ich schärfte einige Angeln, knüpfte sie ein, sah die Angelschnüre nach. Wie schwer fiel es doch heute, etwas anzupacken? Störende Gedanken kamen und gingen in meinem Kopf; es kam mir vor, als hätte ich einen Fehler begangen, indem ich Jungfer Edvarda die ganze Zeit auf der Pritsche hatte sitzen lassen, anstatt ihr auf der Bank Platz anzubieten. Ich sah plötzlich ihr braunes Gesicht und ihren braunen Hals vor mir; die Schürze hatte sie ein wenig tiefer gebunden, um eine lange Taille zu haben, wie es Mode war; der keusche Mädchenausdruck ihres Daumens wirkte zärtlich auf mich und die Runzeln über dem Knöchel waren voller Freundlichkeit. Sie hatte einen großen Mund, der leuchtete.