Pansy Grove Tale - Ellie Daylin - E-Book
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Pansy Grove Tale E-Book

Ellie Daylin

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Beschreibung

Am Valentinstag endet eine ausgelassene Party in einer schrecklichen Tragödie, als Meghan das Feuer eröffnet und eine Spur der Verwüstung hinterlässt. Was folgt, sind nicht nur polizeiliche Ermittlungen und ein Medienspektakel, sondern auch die Frage nach den Hintergründen, die ein Mädchen zu solch einer Tat trieben. Während die Stadt Pansy Grove vom Schock gelähmt ist, kommen dunkle Geheimnisse ans Licht und Ashton, der die Nacht überlebt hat, muss sich mit den tiefen Folgen des Vorfalls auseinandersetzen.

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Seitenzahl: 351

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ellie Daylin wurde 1992 in Thüringen geboren. Das Lehramtstudium verschlug sie 2011 nach Frankfurt am Main, wo sie seither lebt. Mehrere Aufenthalte in den USA und im UK haben ihre Faszination für die englische Sprache und Kultur geweckt, was nun zu den Handlungsorten ihrer Romane wurde. Zurzeit ist sie als Lehrerin tätig. Schon während ihrer eigenen Schulzeit schrieb sie kürzere Geschichten und erfüllt sich nun mit ihrer Pansy Grove Tale-Reihe den Traum vom Autorinnenleben.

Warning!

DIESES BUCH IST DEFINITIV NICHT FÜR KINDERHÄNDE GEEIGNET.

Wenn du erst vierzehn bist, empfehle ich dir eher meinen ersten Band zu lesen: Pansy Grove Tale- FALLING. Darin begibt sich Wyatt von Pansy Grove nach New York und gerät dabei in ziemliche Schwierigkeiten, sodass er sich letztlich vor Gericht behaupten muss. Schau dir lieber dieses Werk an.

HATING befasst sich nämlich mit Themen, wie

Esstörung

Verlust, Trauer, Tod und Suizidversuch

Mobbing und Catfishing

expliziter Gewaltdarstellung

blutigen Verletzungen

Mord

Demnach solltest du dich nur damit auseinandersetzen, wenn du dich dazu bereit fühlst und mit einer erwachsenen Person vorab oder während des Lesens über die Inhalte sprechen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel eins

VALENTINSTAG, PANSY GROVE, USA

Meghan

Veronica

Mister Finnegan

Lieutenant Leeroy

Ashton

Mister Finnegan

Ashton

Ashton

Lieutenant Leeroy

Lieutenant Leeroy

Veronica

Conrad

Kapitel zwei

FRESHMAN YEAR - DREI JAHRE VOR DER TAT

Meghan

Veronica

Ashton

Mister Finnegan

Conrad und Meghan

Kapitel drei

EINEN TAG NACH DER TAT

Mister Finnegan

Ashton

Veronica

Conrad

Lieutenant Leeroy

Conrad

Ashton

Lieutenant Leeroy und Ashton

Kapitel vier

FRESHMAN YEAR - DREI JAHRE VOR DER TAT

Meghan

Veronica

Meghan

Ashton

Ashton

Mister Finnegan

Meghan

Meghan

Kapitel fünf

EINE WOCHE NACH DER TAT

Meghan

Ashton

Mister Finnegan und Ashton

Veronica

Lieutenant Leeroy

Conrad

Ashton

Kapitel sechs

SOPHOMORE YEAR - ZWEI JAHRE VOR DER TAT

Meghan

Ashton

Mister Finnegan und Conrad

Conrad und Meghan

Veronica

Mister Finnegan

Kapitel sieben

DREI WOCHEN NACH DER TAT

Veronica

Veronica

Meghan

Lieutenant Leeroy Veronica und Ashton

Conrad

Kapitel acht

JUNIOR YEAR – EIN JAHR VOR DER TAT

Mister Finnegan

Conrad

Meghan

Lieutenant Leeroy und Conrad

Veronica

Veronica und Meghan

Kapitel neun

FREITAG - ZWEI MONATE NACH DER TAT

Veronica

Ashton

Lieutenant Leeroy

Conrad

Mister Finnegan und Ashton

Mister Finnegan

Gerichtsverbandlung

Kapitel zehn

SENIOR YEAR - DREI MONATE VOR DER TAT

Conrad und Meghan

Ashton

Meghan

Kapitel elf

DREI MONATE NACH DER TAT

Gerichtsverbandlung

Lieutenant Leeroy und Veronica

Ashton

Kapitel zwölf

EINE WOCHE VOR DER TAT

Mister Finnegan

Conrad

Ashton

Meghan und Ashton

Ashton

Ashton

Kapitel dreizehn

VALENTINSTAC

Kapitel vierzehn

DREI JAHRE NACH DER TAT

Ashton

Mister Finnegan und Ashton

Lieutenant Leeroy und Veronica

Ashton

Conrad

Meghan und Ashton

Kapitel eins

VALENTINSTAG, PANSY GROVE, USA

Meghan

Meghan lag in ihrem Bett und überflog die Hasskommentare auf ihrem Handy, die sich über Nacht unter ihrem letzten Post angesammelt hatten. Durch die Wände drang eine dumpfe Stimme.

„Jetzt mach schon, Meghan! Du kommst sonst zu spät zur Schule! Ich muss dringend ins Krankenhaus.“ Conrad klopfte beherzt an die Zimmertür seiner siebzehnjährigen Tochter. Gerade weil eine lange Schicht als Pfleger im Pansy Grove City Hospital vor ihm lag, fühlte er sich schon am Morgen angespannt. Momentan half er, aufgrund des hohen Personalmangels nach der Pandemie, in der Notfallambulanz aus,obwohl er eigentlich jahrelang auf der Kinderstation in Charlotte, North Carolina, gearbeitet hatte.

Kurz wartete Conrad und legte dann sein Ohr an Meghans Zimmertür, doch nichts regte sich. Vor wenigen Jahren noch hatte er sein kleines Mädchen mit einem Kuss auf die Stirn geweckt, jetzt traute er sich nicht einmal mehr, die Zimmertür seiner Tochter zu öffnen.

„Meghan!“ Dieses Mal war Conrads Ton rauer.

Er wollte gerade erneut an die hölzerne Tür hämmern, als diese sich schwungvoll öffnete.

„Dir auch einen schönen Valentinstag, Dad!“ Meghan verdrehte dabei ihre braunen Augen und quetschte sich an ihm vorbei, um schnurstracks ins Badezimmer zu verschwinden, ohne dass Conrad die Möglichkeit bekam, mit ihr zu reden. Dabei hatte sich in den letzten Monaten einiges zwischen den beiden angestaut.

Nachdem Meghan die Tür hinter sich zugeschmissen hatte und das Schloss derb einrastete, seufzte Conrad und fragte sich, ob alle Teenie-Eltern ähnliche Probleme hatten. Nicht nur er allein.

„Ich muss los! Sehen wir uns morgen früh? Ich habe wieder eine vierundzwanzig-Stunden-Schicht. Ich schlafe im Krankenhaus. Machst du dir dann heute Abend selbst was zu essen?“ Conrad rief vom Flur aus durch die abgeschlossene Badezimmertür, erhielt jedoch keine Antwort. Nach einem schnellen Blick auf seine Armbanduhr eilte er die Treppe hinunter in den ersten Stock ihres Hauses.

Noch einmal rief er hinauf zu Meghan, während er sich die Schuhe hastig zuband. „Du kannst dir auch einfach wieder eine Pizza bestellen.“

Er griff in die hintere Tasche seiner Jeans, zog seinen Geldbeutel hervor und legte den letzten zwanzig-Dollar-Schein auf die Kommode. „Aber ruf rechtzeitig in der Pizzeria an. Am Valentinstag ist im Mezzanotte bestimmt die Hölle los.“

Meghan putzte sich derweil die Zähne und dachte nicht einmal im Traum daran, sich eine Pizza zu bestellen. Nicht, nachdem sie den ganzen letzten Abend damit beschäftigt war, die Hasskommentare zu verdauen, die sich unter ihrem neuen YouTube-Video sammelten.

Sie wartete nur darauf, dass ihr Vater endlich das Haus verlassen würde, um sich wie jeden Morgen über die Kloschüssel zu beugen und die Zahnbürste noch etwas tiefer in ihren Hals zu stecken, damit sie ein Würgen provozierte. Auch an diesem Tag spuckte Meghan mehrmals in die Toilette, obwohl sich frühmorgens lediglich der bittere Geschmack von Gallenflüssigkeit in ihrem Mund sammelte. Das Kratzen, das ihre Kehle einnahm, erfüllte sie mit Leben. Die Leere, die ihr grummelnder Magen ausstrahlte, sorgte für eine Erleichterung in ihr. Erst wenn sie sich sicher fühlte, dass alles raus war, hörte sie auf, mit der Zahnbürste weiter in ihrem Rachen herumzustochern. Jedes Mal tränten dabei ihre Augen, und auf ihrer Stirn sammelte sich der Schweiß.

Ihr Dad hatte es mittlerweile aufgegeben, ein ausgewogenes Frühstück vorzubereiten. Conrad hatte dafür seit der Pandemie keine Zeit und Meghan galt seit etwa drei Jahren als fett, zumindest nach den Aussagen der Hater.

Deshalb umklammerte sie nach ihrer Reinigungsprozedur an diesem Freitagmorgen auch nur ein Glas Wasser mit der einen Hand und scrollte mit der anderen über die neuesten Social-Media-Posts.

Nach nur wenigen Sekunden wurde sie von einem schlanken, großen Mädchen mit seidenglatten und glänzenden Haaren angelächelt, deren Beauty-Filter und Weichmacher auf Stufe zehn eingestellt sein mussten, so makellos, wie ihre Haut aussah. Während Meghan jeden Abend starke Aknecreme auftragen musste, um gegen ihre hormonellen Pickel anzukämpfen, sah die Haut der brünetten Schönheit wie von der Sonne geküsst aus. Und das, obwohl es Februar war und sich die Sonnenstunden in Pansy Grove in Grenzen hielten.

Demnach verkörperte Lindsay Sawyer nicht nur das komplette Gegenteil von Meghan, sondern auch alle erdenklichen Klischees und Teenie-Träume. Das wohl beliebteste Mädchen ihrer Highschool, natürlich auch Cheerleaderin und anstrebende Prom-Queen, formte mit ihren Händen ein Herz in die Luft. Die Caption unter ihrem Post lautete: Happy Valentine‘s Day! Darunter einhundert Likes, obwohl es erst vor einer knappen Stunde hochgeladen wurde.

Sie hasste den Anblick von Lindsay Sawyer so sehr, dass sie am liebsten ihr Smartphone mit voller Wucht auf den Teppichboden geknallt hätte. Lindsays perfekte Figur, ihre weißen Zähne und ihre großen Brüste führten dazu, dass Meghan sich am liebsten erneut über die Kloschüssel gebeugt hätte. Leider wusste sie, dass ihr Magen komplett leer war.

Noch übler traf sie jedoch, was sie danach in den weiteren Social-Media-Beiträgen entdeckte:

Ein schwarzer Rahmen, verschnörkelte Schrift. Ein Geburtsdatum und das aktuelle Datum. Daneben ein Kreuz und eine Rose in schwarz-weiß.

Eine Todesanzeige.

Diese verdammten Pisser!

Ruckartig legte sie ihr Handy beiseite, stopfte ihre Mappe und ihr Tablet in den ausgewaschenen Rucksack.

Die sind so abartig und durchgedreht!

Nichtsdestotrotz schlüpfte sie in ihre Vans und wartete auf den gelben Schulbus vor ihrem idyllischen Einfamilienhaus am Stadtrand von Pansy Grove.

Von außen betrachtet, würde jeder vorbeilaufende Spaziergänger eine harmonische Familie in dem Haus vermuten, dessen Veranda sich entlang der Vorderseite erstreckte und eine einladende Wärme ausstrahlte. In dieser malerischen Nachbarschaft, voller gepflegter Vorgärten, ahnte gewiss niemand, welche Abgründe sich hinter den doppeltürigen Holzfassaden verbargen.

Die Straßen waren nass und die kleinen Kieselsteinchen vermischten sich unter Meghans Schuhsohlen mit dem Matsch, den der Winter hinterlassen hatte. Genau in diese friedvolle Umgebung fuhr nun der gelbe Schulbus ein, der sie geradewegs in die Hölle chauffieren würde – die Pansy Grove High.

Meghan war wie immer bei Weitem die Älteste im Bus, als sie sich achtsam durch die Reihen quetschte und dabei die Blicke aller anderen Teenager auf ihrer Stirn oder in ihrem Nacken spürte. Ziemlich alle ihrer Mitschülerinnen im Senior Year fuhren mit ihrem eigenen Auto in die Schule. Außer Meghan. Zwar sagte im Bus niemand etwas, doch das brauchten sie auch nicht. Die zusammengezogenen Augenbrauen der Hater, ihr hämisches Grinsen oder ihr Tuscheln verrieten Meghan mehr, als ihr lieb war.

Das Einzige, das ihr an diesem Tag Trost spendete, war der Gedanke, dass es ihr letzter sein würde. Ein letztes Mal in die PG-High, dann hatte alles ein Ende.

Ein für alle Mal.

Danach müsste sie nie wieder Lindsay Sawyers perfekte Visage ertragen, Ashtons Ignoranz, Levis und Erics Sprüche oder die Inkompetenz ihres Lehrers Finnegan.

Nur noch diesen einen Schultag überleben, dachte sie, während sich der Bus der PG-High näherte, dann würde all das Drama endlich verstummen. Für immer und ewig.

Veronica

Veronica Wagner öffnete die Tür zu ihrem Büro der Pansy-Grove-Gazette, dem Stadtmagazin, für das sie zu ihrer eigenen Enttäuschung schreiben musste. Vor der Geburt ihrer Zwillinge hatte sie nach einer journalistischen Karriere im TV gestrebt. Sie wollte die landesweiten News für die Abendnachrichten recherchieren oder zumindest für ein renommiertes Klatschblatt schreiben. Doch nicht einmal das war ihr nach der Elternzeit vergönnt. Sie konnte nun als Mutter nicht mehr jeden Morgen nach Charlotte, die Hauptstadt North Carolinas, pendeln. Und hier in Pansy Grove blieb ihr kaum eine andere Option als die Gazette, die mit Abstand langweiligste Zeitung, die jemals auf Veronicas Schreibtisch gelandet war.

Sie hängte ihren roten Mantel über die Kleiderstange, strich ihre Seidenbluse glatt und griff nach der druckfrischen Ausgabe. Auf der Titelseite war das Bild des städtischen Pavillons zu sehen, der mit Kunstrosen geschmückt wurde. Darüber prangte die Headline: Valentinstag erfüllt die Herzen in Pansy Grove. Veronica blätterte weiter zum Kulturteil: Grundschüler der PG-Elementary basteln Herzen aus Filz. Da sie den sinnleeren Artikel selbst geschrieben hatte, sparte sie sich das Lesen.

Direkt schlug Veronica die Seite mit den Polizeiberichten auf, die allerdings genauso ernüchternd waren.

Das PGPD meldete einen Fahrraddiebstahl am Donnerstagvormittag auf dem Parkplatz vor der Kirche. Außerdem wurde ein neues Graffito unter der Brücke an der Busstation entdeckt. Die Polizei suchte nach Zeugen.

Unspektakulär, dachte Veronica und wollte gerade die Zeitung zuschlagen, um sich an die Arbeit zu machen, als ihr Blick an Todesanzeigen hängen blieb. Selten las Veronica überhaupt die in schwarz eingerahmten Kästchen. Als Zugezogene aus der Großstadt kannte sie die meisten alten Leute in Pansy Grove ohnehin nicht. Doch dieses Mal war es keine ältere Person, die durch liebevolle Worte verabschiedet wurde. Es war eine Siebzehnjährige. Sie ging auf die Pansy Grove High, wie Veronica den Worten der Trauernden entnehmen konnte.

Komisch, dachte sie. Wenn so ein junges Leben in Pansy Grove verstirbt, musste es dazu eigentlich mehr Informationen geben. Darüber würden sich die Leute doch unterhalten.

Veronica hatte nichts von einer Trauerfeier mitbekommen, dabei hatte sie ihre Augen und Ohren als Journalistin überall. Pansy Grove war klein genug, um den Überblick zu behalten.

Tragisch, dachte sie und strich mit ihrem Finger über den Namen der verstorbenen Person und las ihn Buchstabe für Buchstabe.

Er kam ihr so bekannt vor. Irgendwo hatte sie den Namen bereits aufgeschnappt. Oft stand sie mit der PG-High in Kontakt, um über die Basketballsaison, die Schulfeste oder die Abschlussklasse zu berichten. Doch nirgendwo konnte sie den Namen auf die Schnelle zuordnen, obwohl tief in ihr etwas klingelte.

Mister Finnegan

Der klapprige Fiat von Mr. Finnegan kam mit quietschenden Reifen auf dem Schulparkplatz zum Stehen. Hastig zog er die Handbremse an, griff nach seiner Ledertasche, die sich vor lauter Klausuren nicht ganz schließen ließ, und warf hinter sich die Wagentür zu.

Danach eilte er durch die langen Gänge der Pansy Grove High, sodass er vollkommen verschwitzt im Lehrerzimmer ankam. Jeden Morgen nahm sich Mr. Finnegan vor, früher an der Arbeit anzukommen, doch wie immer kam ihm die Rushhour zwischen der Stadt Charlotte und Pansy Grove in die Quere.

Genervt reihte er sich in die lange Schlange vor dem Kopierer ein, immer mit einem Blick auf seine Armbanduhr. Seit er für das neue Konzept des Medienunterrichts verantwortlich war, kam er mit seinem Workload nicht mehr hinterher.

„Guten Morgen, Finnegan.“ Sofort drehte sich Mr. Finnegan um, denn die tiefe Stimme des Schulleiters, Principal Milton, war unverkennbar.

„Principal Milton.“ Finnegan zwang sich ein Lächeln ab. Für Smalltalk hatte er nicht den Kopf frei. Er musste noch den Vertretungsplan checken, seine Arbeitsblätter kopieren, das digitale Klassenbuch aktualisieren und die E-Mails bearbeiten. Und das alles in fünf Minuten bis zum Klingeln. Wem machte er eigentlich etwas vor?

„Das Pilotprojekt Medienkunde kommt nun bald zu seinem Ende, wie ich sehe. Ihr Kurs wird im Sommer seinen Abschluss machen. Um das Projekt zu evaluieren und ein kompetenzbasiertes Curriculum für die nachfolgenden Jahre zu entwickeln, müssten wir uns einmal zusammensetzen.“

Wieder warf Finnegan einen Blick auf seine Uhr. Die Schlange vor ihm wurde nicht kürzer, da die Mathelehrerin einen ganzen Klassensatz Tests durch den Kopierer rattern ließ. „Nächste Woche eventuell? Vielleicht direkt am Montag nach dem Unterricht?“

„Fabelhaft!“ Milton nickte Finnegan bestimmt zu. „Sie wissen ja, Kollaboration und Transformation im digitalen Zeitalter stehen ganz oben auf meiner Agenda für die Pansy Grove High.“

Lieutenant Leeroy

„Morgen.“ Lieutenant Daniel Leeroy betrat mit einem langgezogenen Gruß an diesem Freitag pünktlich um neun Uhr das überschaubare Pansy Grove Police Department.

„Guten Morgen, Lieutenant!“

Weshalb das PGPD überhaupt eine Rezeptionistin hatte, war Leeroy zwar schleierhaft, da es nur sehr selten Zeugen in Empfang zu nehmen gab, dennoch freute er sich jeden Morgen über Britneys fröhliche Singsang-Stimme.

„Gibt’s was Neues, Brit?“ Sie arbeiteten seit drei Jahren zusammen, weshalb Britney inzwischen mehr war als eine Rezeptionistin, vielmehr wurde sie für Lieutenant Leeroy zu einer persönlichen Assistentin. Er lehnte sich über den Schalter und nahm den Kaffee entgegen, den sie wie jeden Morgen aus der Bäckerei mitgebracht hatte.

„Der Geschädigte des Fahrraddiebstahls hat angerufen und fordert eine zügigere Aufklärung. Keine weiteren Zeugenhinweise zum Fall Graffito. Gestern Abend hat die Streife…“ Sie deutete auf Michael und George, die sich im Büro nebenan angeregt unterhielten. „…in der Nähe der Grundschule zwei Jugendliche erwischt, die im Besitz von Marihuana waren. Sie wurden wegen der geringen Menge jedoch wieder laufen gelassen. Ich habe dennoch die Namen auf einen Notizzettel geschrieben. Levi Montgomery und Eric Palmer-Huxton. Man weiß ja nie.“ Damit lächelte Britney ihren Chef breit an.

„Kein Wunder. Das erklärt die vielen komischen Filzherzen rund um die Grundschule. Da mussten Drogen im Spiel sein.“ Leeroy grinste Britney verschmitzt über den Rand seines Kaffeebechers zu und genoss den ersten Schluck. „Eric Palmer-Huxton und Levi Montgomery? Die Bengel hat die Streife schon mehrmals nach Hause bringen müssen. Halten sich einfach nicht an die Ausgangssperren für Jugendliche. Wären sie und Ashton James nicht die Stars der Pansy Grove Basketballmannschaft, hätten die Ganoven gewiss mehr Konsequenzen in ihrem Leben zu befürchten.“ Leeroy seufzte und schüttelte den Kopf. „Wie auch immer.“

Er wollte sich gerade den zwei Kollegen im Gemeinschaftsraum anschließen, als Britney ihm über ihren Tresen hinweg hinterherrief. „Und deine Frau hat angerufen.“

Leeroy atmete schwerfällig aus und drehte sich zu seiner selbst ernannten Assistentin um. „Scheiße, das hatte ich bei dem ganzen Papierkram komplett vergessen.“

„Heute ist Valentinstag und sie wird heute Abend zurück sein.“

„Verdammt.“ Leeroy fasste sich an die Stirn.

„Deine Frau klang fröhlicher.“

„Nicht missverstehen!“ Leeroy näherte sich wieder dem Tresen und beugte sich Britney entgegen. Es war ihm unangenehm, wenn die Jungs nebenan mitbekamen, dass er kein guter Ehemann war. „Ich habe total vergessen, dass heute Valentinstag ist!“

Britney lächelte bis über beide Ohren.

„Das ist nicht witzig!“ Leeroy lugte über seine Schulter, um sicherzugehen, dass Michael und George weiter in ihr Gespräch vertieft waren.

„Ist es auch nicht. Aber dafür hast du ja mich.“ Flott griff Britney unter den Tresen und holte ein liebevoll verpacktes Geschenk hervor. Leeroy sah sie fragend an.

„Das neue Yves Saint Laurent Parfum. Das wird Caprice gefallen“, erklärte sie.

„Wie machst du das, Brit?“

Britney winkte lässig ab, das breite Lächeln hielt jedoch weiter an. „Unter uns …“ Britney flüsterte. „George und Michael hatten auch keines. Das war mir irgendwie klar.“ Sie deutete auf die Kollegen, die für Leeroys Geschmack die Frühstückspause etwas zu weit ausreizten. Gleich würde er sie zurück an die Arbeit schicken, denn obwohl in Pansy Grove, kriminell betrachtet, wenig los war, war Leeroy immer noch der Lieutenant.

„Du bist ein Engel!“ Leeroy kramte in seinem Geldbeutel, holte einen zwanzig-Dollar-Schein hervor und legte ihn auf den Tresen. Britney schüttelte lächelnd den Kopf und nickte zu seinem Portemonnaie, das er gerade wieder wegpacken wollte. Leeroy verdrehte die Augen und legte weitere zwanzig hinzu.

Wieder schüttelte Britney den Kopf. „Jetzt noch fünfzig.“

„Insgesamt neunzig Dollar für dieses winzige Geschenk?“

Brit grinste ihn süß an. „Sie müssen es nicht nehmen.“

„Schon gut.“ Widerwillig legte er den Restbetrag hinzu und verstaute die kleine Box in der Innentasche seines Jacketts. „Wenn Caprice endlich nach zwei Wochen von ihrer Dokumentarrecherche wiederkommt, dann soll sie nicht enttäuscht werden.“

Ashton

Jede Mittagspause an der Pansy Grove High lief nach Schema F ab. Ob Valentinstag oder nicht, spielte dabei keine Rolle.

Ashton James ließ sich lässig auf den freien Stuhl neben Lindsay Sawyer fallen, zog seine Freundin dicht an sich heran und steckte ihr seine Zunge in den Mund. Jedes Mal, wenn Lindsays Zungenspitze seine streifte, kribbelte Ashtons Bauch umso mehr. Als sie den Kuss lösten, spielte er mit einer von Lindsays braunen, glänzenden Haarsträhnen und sah ihr dabei tief in die Augen.

Ashton war mehr als froh darüber, dass sie endlich ihren Streit beendet hatten, der sich über Wochen hingezogen hatte und am letzten Wochenende seinen Höhepunkt fand. Nun brachte ihr Lächeln sein Herz endlich wieder zum Rasen. Dabei zeichneten sich kleine Grübchen auf ihren Wangen ab, die Ashton über alles vergötterte.

„Nur weil Valentinstag ist, müsst ihr nicht allen Singles dieser Welt ein schlechtes Gewissen machen!“ Melissa Tasbasi saß ihrer besten Freundin gegenüber und stocherte in ihrem Salat herum.

„Spricht da der Neid?“ Levi Montgomery war, genauso wie Ashton, im Basketball-Team und trug seine College-Jacke auch an Tagen, an denen kein Spiel stattfand. Einfach, damit niemand aus der Schule vergaß, wie beliebt und wichtig er war.

Ohne sich von den Kommentaren seiner Freunde beirren zu lassen, strich Ashton sanft Lindsays glatte Haarsträhne über ihre Schulter und flüsterte in ihr Ohr. „Darf ich die schönste Cheerleaderin der Welt heute Abend ins Mezzanotte einladen?“

„Heute Abend ist doch Erics Party! Schon vergessen?“

Lindsay tippte dabei mit dem Zeigefinger an seine Stirn.

Eric Palmer-Huxton näherte sich schwungvoll dem Tisch und stellte sein voll bestücktes Tablett ab. „Habe ich da etwa Vorfreude auf meine Party des Jahres gehört?“

„War nicht die Winter-Party Ende Januar nach deinen Aussagen schon die Party des Jahres?“, fragte Melissa.

„Dann warte mal ab!“

„Hört, hört!“ Levi hob seine Trinkflasche, als sei sie ein Bier.

Plötzlich blitzte ein grelles Licht über den Tisch, was alle kurzzeitig irritierte. Amy Rodriguez stand mit ihrem Smartphone in der Hand neben der Gruppe. „Cheeeese!“

„Hast du nicht schon genug Bilder von uns?“ Eric zupfte dabei seine dunklen Locken in Form.

Amy war die Leiterin des Yearbooks und nahm ihre Rolle sehr ernst. Vor einer Weile hatte sie sogar ein Praktikum bei der PG-Gazette machen dürfen, um echte Journalistenluft zu schnuppern. Inzwischen hatte sie sich dort einen Mini-Job ergattert.

„Es ist Valentinstag und dazu noch euer letztes Jahr an der Highschool. Da muss jede Sekunde dokumentiert werden.“

„Stimmt! So jung kommen wir nicht mehr zusammen.“

Wieder hob Levi seine Wasserflasche zu einem Toast.

Amy checkte das entstandene Foto auf ihrem Handy und hielt es der Clique entgegen. „Anjing hat aber eine bessere Figur gemacht.“

„Anjing hat sowieso die geilste Figur.“ Melissa schaute dabei verschmitzt zu Anjing hinüber, dem Schönling der Schule, der nur wenige Tische weiter saß und sich angeregt mit seinen Freunden unterhielt. „Wird er heute Abend auch dabei sein?“

„Wobei?“, wollte Amy wissen.

„Eric schmeißt wieder eine Party.“

Die Aufregung in Melissas Stimme war unüberhörbar.

„Ich komme auch. Das muss dokumentiert werden. Ich bringe Carla von der Theatergruppe mit, okay?“

Eric schüttelte vehement den Kopf. „Keine Presse! Du darfst nur als Privatperson kommen. Carla ist in Ordnung, aber sag ihr, sie soll auf keinen Fall die ganzen Loser von der Theater-AG anschleppen.“

Während die Freunde sich weiter über den bevorstehenden Abend austauschten, wandte sich Ashton wieder seiner Freundin zu. „Aber heute Abend ist Valentinstag, Lin. Da hatten wir doch eigentlich etwas ganz Besonderes vor. Wenn du verstehst, was ich meine.“ Ashton nuschelte durch seine zusammengebissenen Zähne und zog verschwörerisch eine Augenbraue hoch.

„Mezzanotte versus Erics Party? Sorry, aber dagegen gewinnt die Party.“ Lindsay gab ihm einen Kuss auf die Wange.

„Was kann ich denn dafür, dass Pansy Grove keine guten Restaurants hat?“

„Ash! Deine Kleine will feiern. Ein bisschen shaken.“ Levi boxte ihm leicht gegen die Schulter. „Langweil sie nicht mit einem herkömmlichen Date.“

„Shaken ist wohl das Stichwort.“ Melissa deutete dabei über Ashtons Schulter. „Bei der wackelt auch einiges.“

Hinter Ashton lief Meghan mit ihrem Tablett in der Hand den Gang der Mensa entlang, auf der Suche nach einem freien Sitzplatz. Auf Meghans Teller stapelten sich die Kartoffel-Wedges. Nachdem sie sich am Morgen erbrochen und kein Frühstück zu sich genommen hatte, überkam sie jede Mittagspause ein derartiges Schwindelgefühl und eine Energielosigkeit, dass sie nicht anders konnte, als ihren Hunger zu stillen. Sie wusste, dass sie sich spätestens vor dem Medienunterricht wieder übergeben würde. Deshalb konnten es auch mehr Kalorien für den Moment sein.

Als Meghan am Tisch der Basketballer und Cheerleader vorbei trottete, trällerte Eric lauthals ein Lied, das nach Meghans Internetauftritt viral gegangen war.

Melissa und Levi stimmten mit ein, sodass sich nun alle in der Mensa nach Meghan umdrehten und anfingen zu lachen oder wenigstens zu grinsen.

„Das Leben endet, die Liebe nicht“, sagte Lindsay, als Meghan genau auf ihrer Höhe angekommen war.

Für eine Millisekunde trafen sich dabei Meghans und Ashtons Augen. Unvermittelt schaute er weg.

Ashton konnte es nicht ertragen. Er hielt es kaum aus. Und trotzdem fühlte er sich wie gelähmt. Einschreiten war unmöglich. Levi und Eric waren nicht zu stoppen. Egal, was Ashton gegen die Hänseleien sagen würde, es würde Meghan weder helfen noch seinen eigenen Stand im Team verbessern. Es würde nur einen weiteren Streit zwischen ihm und Lindsay provozieren. Und darauf konnte er nach ihrer Aktion Meghan gegenüber mehr als verzichten. Es durfte auf gar keinen Fall wieder so eskalieren wie letztes Mal. Auf eine weitere Sitzung in Principal Miltons Büro konnte er verzichten.

Die ungeheure Last der Schuld wog schwer auf seinen Schultern, gleichzeitig konnte er nichts tun. Es war zu spät. Meghan war und blieb das Opfer der Schule, nein, das Opfer überhaupt.

Meghan hingegen zuckte nicht einmal. Sie tat so, als würde sie die hämische Bloßstellung gar nicht wahrnehmen, als hätte sie Lindsays Kommentar überhört und spazierte weiter in den Essenssaal hinein, bis sie sich schließlich allein in eine der hintersten Ecken setzte.

„Wartet nur mal, bis sie ihre Valentinstagskarte in ihrem Spind findet. Von Mr. Loverboy, Levi Montgomery, höchstpersönlich!“

„Welche zauberhaften Worte hast du dir dieses Jahr einfallen lassen?“, fragte Melissa und schob sich daraufhin ein Salatblatt in den Mund.

Levi zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück. „Wie jedes Jahr. Dass ihre Augen dieselbe Farbe haben wie ein Haufen Scheiße und dass die fette Sau aufhören soll, uns mit ihrer YouTube-Rotze zu belästigen.“

Eric und Levi klatschten einander ab.

Obwohl Levis Kommentar nichts mit Ashton direkt zu tun hatte, zog sich sein Magen zusammen.

Doch was sollte er dagegen tun?

Sie würden ihn doch eh nur auslachen und nicht ernst nehmen.

Daher ignorierte Ashton seine Freunde und wandte sich wieder Lindsay zu. „Wenn dir das Mezzanotte nicht gut genug ist, wieso gehen wir dann nicht ins Kino und danach zu mir?“

Noch ehe Lindsay antworten konnte, lehnte sich Eric über den Tisch. „Vergiss es, Bro! Heute Abend wird gefeiert!“

Mister Finnegan

„Ich weiß, für die meisten von euch ist es die letzte Stunde am Freitag, am Valentinstag, und dazu ist es auch noch ein recht emotionales Thema, aber denkt doch bitte an die gängigen Gesprächsregeln, die wir zu Beginn des Semesters festgehalten haben.“ Mr. Finnegan gab sein Bestes, die hitzig diskutierenden Teenager unter Kontrolle zu bringen.

Das Klassenzimmer war extra für den Medienkundeunterricht mit modernster Technologie ausgestattet worden. Anstatt mit Papier und Bleistiften, arbeiteten die Schülerinnen und Schüler mit Tablets. Darauf waren Mr. Finnegan und Principal Milton besonders stolz. Finnegan konnte auf dem interaktiven Whiteboard Dokumente, Videos und Bilder mit einem Fingertipp teilen. Auch die Möbel in diesem Raum waren besonders. Ergonomische Stühle und einfach verschiebbare Tische boten den idealen Unterrichtsraum an.

Finnegan erhoffte sich von dem Pilotprojekt nicht nur, die Lernenden angemessen auf die Herausforderungen der modernen Welt vorzubereiten, sondern auch eine ansehnliche Promotion, sollte das Projekt vom Vorstand gut angenommen werden.

Nachdem die Klasse etwas ruhiger geworden war, übernahm Finnegan wieder die Gesprächsführung.

„Eric, du meldest dich schon die ganze Zeit!“

Erics Arm, den er bereits mehrere Minuten in die Luft gestreckt hatte, fiel ermüdet auf seinen Schoß. „Meiner Meinung nach sind diejenigen, die online gemobbt werden, also die Opfer von Cyber-Bullying, auch irgendwie selbst dran schuld. Sie produzieren furchtbaren Content und belästigen damit alle anderen.“

„Du musst es dir doch nicht ansehen. Schau doch einfach was anderes!“ Als Ashton sprach, war seine sonst so selbstbewusste Stimme von einem Hauch Unsicherheit durchzogen. Niemals hätte er vor allen anderen zugegeben, dass das, was er in der Vergangenheit angestellt hatte, falsch war. Das hätte an der PG-High seinen sozialen Ruin bedeutet und für erneuten Krach zwischen ihm und Lindsay gesorgt. Unter dem Deckmantel des Unterrichts könnte er wenigstens ein bisschen wiedergutmachen, was er vor drei Jahren verbockt hatte.

„Ausreden lassen!“ Mr. Finnegan warf Ashton einen strengen Blick zu. „Melissa, was denkst du?“

„Ich finde, dass es nicht richtig ist, Hass im Netz zu verbreiten. Wie Ashton sagt, das Internet ist riesig. Wenn einem der Podcast, das Video oder der Stream nicht passen, dann wird man ja auch nicht gezwungen, diesem Creator zu folgen.“

„Lindsay, siehst du das genauso?“

Lin hatte die ganze Zeit in ihrem Tablet den bereits schlafenden Levi neben sich abgemalt, stattdessen aber so getan, als würde sie sich Notizen anfertigen. Zum Glück hatte sie Melissa zugehört und konnte schnell antworten. „Ich bin auch viel auf Social Media unterwegs. Natürlich bekomme ich auch negative Reaktionen und komische Meinungen. Aber ganz ehrlich, Haters gonna hate. Die sind doch nur neidisch.“

„Aber ab wann schwappt es um, ist die Frage. Ab wann ist Neid plötzlich Hass und ein Kommentar keine freie Meinung mehr, sondern ein Angriff, eine Beleidigung?“ Auf Finnegans Frage hin gingen viele Hände runter. Er schaute in ratlose Gesichter. „Erste Ideen?“

Eric meldete sich. „Wir hatten ja zu Beginn der Stunde definiert, dass Online-Mobbing, also Cyber-Bullying, über einen langen Zeitraum anhält und dabei mehrere gegen einen vorgehen. Demnach wäre ein einziger Hate-Kommentar kein Mobbing.“ Erics Aussage klang dabei wie eine Frage.

Finnegan setzte sich mit einem Bein auf die Tischkante seines Lehrerpultes. „Dann lasst euch mal auf diesen Fall ein. Ein Zwölfjähriger wurde vor dem Zivilgericht zu einer Geldstrafe von über tausend Dollar als Schadensersatz verurteilt, weil er einen Mitschüler damals noch auf Facebook beleidigt hat. Das ist ein offizielles Urteil, nicht ausgedacht. Ist das angebracht?“

„Auf jeden Fall. Sowas gehört sich auch nicht und der kleine Junge sollte früh lernen, was richtig ist und was nicht.“ Wieder redete Ashton, ohne sich vorher gemeldet zu haben, wofür er von seinem Lehrer einen erneuten bösen Blick erhielt.

„Dann wäre ich ja bald Millionärin!“ Nun sah Lindsay von ihrem Tablet auf. „Die sollen sich nicht immer von den Kommentaren beeinflussen lassen. Scheiß drauf, was andere denken. Das ist eben nur eine Meinung.“

„Ist es das? Oder ist es keine Meinung mehr? Wo hört Meinungsfreiheit im Netz auf und wo fängt Hass an?“ Gerade als Finnegan seine Frage in den Raum stellte, klingelte es zum Stundenende, weshalb alle schlagartig ihre Notizblöcke und Tablets in ihre Rucksäcke warfen.

„Verdammt! Ich habe das Register zu Beginn der Stunde vergessen. Hat heute jemand gefehlt?“ Finnegan versuchte, sich einen Überblick über seine Schülerinnen und Schüler zu verschaffen, doch die Hälfte hatte den Kurs bereits verlassen und strömte quatschend und lachend in die Gänge.

„Ne, alle da, Mister F. Schönes Wochenende!“

Levi schulterte seinen Rucksack über seine College-Jacke und verließ den Raum. Ashton und Lindsay liefen Hand in Hand nach draußen.

Mr. Finnegan wollte gerade einen Haken ins digitale Klassenbuch setzen, als Levi noch einmal in den Raum hineinrief. „Die Fette hinten links hat gefehlt.“

„Wie bitte?“ Finnegan schaute perplex vom Klassenbuch auf.

„Na, die Komische, die immer so einen Quatsch auf YouTube macht und damit die ganze Welt nervt.“ Damit wurde Levi von Eric unter dem Arm gepackt und in den Gang hineingezogen. „Party-Time!“

Finnegan starrte verdutzt auf seine Kursliste und wühlte in seinem Gedächtnis.

Wen hat Levi gemeint? Nach drei Jahren in diesem Kurs muss ich doch alle Namen kennen.

Er ging die Namen der Reihe nach durch.

Nicht Melissa, nicht Lindsay.

Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Meghan. Meghan Craft.

Da hatte er das unscheinbare Mädchen doch für einen Moment glatt vergessen.

Ashton

Alle Schülerinnen und Schüler liefen wild durch die Gänge auf dem Weg zur nächsten Unterrichtsstunde oder hinaus auf den Parkplatz und Ashton nutzte die Gelegenheit, um Lin in den etwas abgelegenen Gang vor die Umkleidekabinen der Sporthalle zu ziehen. Er drückte sie sanft gegen die Wand und presste seine Lippen auf ihre, während vereinzelte Mitschüler plaudernd an ihnen vorbeizogen. Dabei legte er seine Hand auf ihre Wange und genoss das Gefühl ihrer weichen Lippen.

Die Welt schien für einen Moment stillzustehen.

Ashton bereute den Streit der letzten Wochen und probierte krampfhaft, alles wiedergutzumachen. Nie wieder wollte er Lin verlieren.

Doch ihre immer wilder werdenden Küsse wurden plötzlich durch ein Summen unterbrochen. Ashton und Lindsay zuckten zurück und griffen gleichzeitig nach ihren Handys.

Der schwarze Rahmen und das dazugehörige Datum in verschnörkelter Schrift ließen beide stutzen.

„Was zur Hölle?“ Ashton traute seinen Augen kaum. Er wollte auf gar keinen Fall einen erneuten Streit mit Lindsay provozieren, doch das ging wirklich zu weit.

„Damit hab ich nichts am Hut! Wirklich.“ Lindsay hob dabei ihre Hände, als sei sie unbewaffnet.

Kurz suchte Ashton Lindsays Blick nach Anzeichen dafür ab, dass sie die Wahrheit sprach. „Levi und Eric?“

„Quatsch. Nach der Auseinandersetzung letztens haben sie sich sehr zurückgehalten.“

„Zurückgehalten?“ Ashton stützte seine Hände in die Flanken. „Levi hat erst heute wieder eine furchtbare Karte in Meghans Spind gelegt! Das nennst du Zurückhaltung?“

„Aber das würden sie nicht tun. Du kennst doch deine Freunde.“

Ashton zögerte, ehe er antwortete. „Manchmal frage ich mich, ob ich sie überhaupt jemals richtig kannte. Ich will wirklich kein Salz in die Wunde streuen, aber ich hätte ihnen die Live-Stream-Aktion auch nicht zugetraut. Erst recht nicht die Prügelei. Dir übrigens auch nicht.“

„Willst du ernsthaft an Valentinstag alles wieder aufwühlen?“ Lin trat einen Schritt von ihm zurück.

Ashton sah noch einmal auf die schwarzen Buchstaben, die ihm auf seinem Screen entgegenleuchteten. „Das ist wirklich nicht witzig!“

„Jetzt lass das doch einfach ruhen! Ich habe damit nichts zu tun. Und wir haben das Ganze doch schon vor drei Tagen geklärt. Es ist Valentinstag. Also mach dir keinen Kopf über solche Dinge. Lass uns heute Abend einfach feiern und das alles vergessen.“ Sie zog ihm das Handy aus der Hand und legte ihre Arme um seinen Hals.

Obwohl es Ashton innerlich noch beschäftigte, schaffte Lin mit ihren Küssen, sämtliche Sorgen aus seinem Kopf zu verdrängen.

Ashton

„Happy Valentine‘s Day, Bro!“ Eric kam Ashton am Abend mit offenen Armen entgegen und hielt ihm bereits im Hausflur einen dicken Joint unter die Nase.

Ashton hatte das Dröhnen des neuen Drake-Albums schon vernommen, als er seinen Wagen in der Straße parkte.

Er gab Eric den Joint wieder zurück. „Lass mal. Ich wollte heute eigentlich noch was mit Lin starten.“

Eric grinste verschwörerisch. „Warum bist du dann so spät dran? Die Party ist schon in vollem Gange.“

„Mein Dad hat mich Extra-Runden joggen lassen. Weißt ja, wie er ist.“

Der schmale Gang war überfüllt von Freshmen, Sophomores, Juniors und Seniors, die Ashton aus der Pansy Grove High kannte. Auf der Treppe tanzte eine Gruppe Mädchen aus der Theater-AG. Carla Levigne, der Star des letzten Weihnachtsmusicals, war gerade im Begriff ihren fünften Shot zu exen.

Je weiter sich Eric und Ashton in Richtung der Küche durchschoben, desto lauter wurde die Musik, sodass Eric sie mit aller Kraft übertönen musste. „Was denkst du, wie mein Alter reagieren würde, wenn er das hier mitbekäme?“ Dabei deutete er auf all die Mitschülerinnen und Mitschüler, die sich in seinem Haus tummelten. Jeder hielt einen roten Becher in der Hand und bewegte sich rhythmisch zu den Bässen.

In der Küche war ein Beer-Pong-Tisch aufgebaut, an welchem ein aufgeladenes Turnier stattfand. Immer wieder grölten die jeweiligen Mannschaften, wenn der Gegner einen Becher mit dem Tischtennisball traf.

Unter ihnen auch Anjing, der Herzensbrecher der Schule, neben dem sich eine Gruppe von Mädchen angesammelt hatte, die alle lauthals: „Ex, Ex, Ex!“ riefen. Anjing hatte am Valentinstag immer die meisten Karten heimlicher Verehrerinnen und Verehrer in seinem Spind. So auch dieses Jahr, obwohl allen bekannt war, dass er in festen Händen zu sein schien.

„Ashton!“ Levi drängelte sich in seiner College-Jacke durch die jubelnden Leute und klopfte seinem Kumpel zur Begrüßung fest auf die Schulter.

Direkt zückte Eric sein Handy und hielt es in die Luft. „Hoch die Tassen!“

Levi legte einen Arm um Ashton und hielt den Becher mit der anderen Hand hoch. Ashton streckte die Zunge raus und Eric grinste bis zu beiden Ohren.

Dann drückte Eric mehrmals auf den Auslöser-Button und hielt das entstandene Bild seinen beiden Freunden entgegen. „Das Selfie werde ich gleich posten.“

„Um deinen Vater direkt wieder nach Hause zu locken?“

„Guter Punkt“, sagte Levi und bewegte sich dabei im Rhythmus der Musik.

„Als ob mein Dad auf Social Media wäre.“ Damit sendete Eric das Bild ab, was nur Sekunden später auf seinem Profil zu sehen war. Derweil drängelte sich Ashton in der Küche an den anderen Gästen vorbei und zapfte sich ein Bier in einen roten Becher. Dann hielt er nach Lindsay Ausschau. Im Wohnzimmer fand er sie wild tanzend auf dem Couch-Tisch neben Melissa, die von einer Gruppe Basketballern angefeuert wurde. Die Bässe des Drake-Albums wummerten, sodass die Blumenvase auf dem Esstisch vibrierte.

Als Lindsay ihren Freund durch die Menge erkannte, sprang sie auf ihn zu. Sie zog ihn unvermittelt an sich heran und gab ihm einen eindringlichen Kuss.

„Wow. Moment!“ Ashton hielt sie etwas auf Abstand. „Bist du jetzt schon besoffen? Es ist doch gerade mal neun Uhr.“

„Nur etwas angetrunken.“

„Du riechst aber stark nach Alkohol.“

„Jetzt stell dich nicht so an! Was sagst du zu meinem Look?“ Lindsay drehte sich vor Ashton und präsentierte ihr hautenges weißes Kleid, dessen Ausschnitt kaum tiefer und die Saum-länge kaum kürzer hätte sein können. „Was? Nicht begeistert?“

Nun zog Ashton sie wieder an sich heran. „Doch sehr, Lin. Allerdings sehe nicht nur ich, wie geil du aussiehst.“ Dabei schaute er verärgert zu den anderen Jungs aus seinem Team.

„Dann lass uns doch an einen Ort gehen, wo nur du mich sehen kannst.“ Sie zwinkerte ihm zu und zog ihn die Treppe hinauf, an den Theater-AG-Mädchen vorbei, ins Badezimmer auf der oberen Etage.

Levi und Eric hatten sich unterdessen einen Platz auf dem Sofa ergattert und bauten einen weiteren Joint, während Melissa immer noch auf dem Tisch tanzte.

Im oberen Stockwerk angekommen, stieß Lindsay ihren Freund ins Badezimmer hinein und drückte ihn gegen die Fliesenwand. Obwohl Ashton den Alkoholgeschmack in ihrem Mund erneut wahrnahm, raste sein Herz bei ihren wildenKüssen. Schneller als die Bässe, die nun dumpf durch die Wände drangen.

Immer stärker fuhr sie mit ihren langen Nägeln durch seine Haare und leckte seinen Hals hinab. Ashton ließ seine Hand ihren Oberschenkel entlangwandern und kniff in ihren Hintern, wodurch sie ein leichtes Stöhnen von sich gab und ihm sinnlich in die Augen sah.

Dann griff sie zwischen seine Beine. Als Ashton ihre Brüste an seinem Oberkörper spürte, machte sein Herz einen Salto. Er atmete immer kürzer und lauter, während Lin ihn massierte.

Für einen Moment blendete er alles aus. Den Leistungsdruck im Basketball, die Anforderungen seines Vaters und die Schuldgefühle, die seit Wochen in ihm brodelten und nach der Prügelei immer heftiger in ihm aufflammten.

Er gab sich einfach der Situation hin und genoss die Berührungen. Er stöhnte auf, als Lin ihre Hand in seine Unterhose gleiten ließ.

„Hast du ein Kondom?“, fragte sie.

Ashton wollte gerade den Geldbeutel aus seiner Hosentasche ziehen, als die Tür aufflog. „Seid ihr endlich fertig? Hier müssen Leute pinkeln oder kotzen!“ Amy Rodriguez vom Yearbook-Club lallte ins Badezimmer hinein.

„Gleich!“ Ashton stieß die Tür wieder zu, konnte sie aber nicht abschließen, da der Knauf klemmte. Er wandte sich wieder seiner Freundin zu, doch er fühlte sich auf einmal nicht mehr in der Stimmung mit ihr rumzumachen, wenn noch das Bild Amy Rodriguez beim Pinkeln oder Kotzen in seinem Kopf herumschwirrte. Und nicht nur das. Auch die vergangenen Vorfälle und der Streit hingen ihm noch nach.

„Lin? Vielleicht ist das keine gute Idee.“

Sie lehnte sich gegen das Waschbecken und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Durch die wilden Küsse war ihr Make-up nun verschmiert. „Wir hatten doch abgemacht, dass wir es heute tun werden. Ich habe mir extra dieses bitchige Kleid angezogen und mich überall rasiert.“

„Wir wollten Valentinstag zusammen feiern, ja! Wir wollten unser erstes Mal erleben, ja! Aber doch nicht so, Lin!“ Ashton zeigte auf den Fliesenboden, auf dem viele Partygäste vor ihnen mit ihren nassen Schuhen herumgetrampelt waren. „Ich wollte mit dir essen gehen. Dann in meinem Bett liegen. Mir Zeit lassen. Und nicht zwischen Bier-Pong und Kotzen eine schnelle Nummer schieben. Ich wollte den ganzen Kram, der zwischen uns vorgefallen war, vergessen und hinter uns lassen.“

„Fein!“ Lindsay sagte es zwar, es klang aber alles andere als fein. Sie zog die Träger ihres Kleides wieder über ihre Schultern. „Weißt du, Ashton James, wenn du mich nicht hübsch findest, dann sag es einfach!“ Indem sie ihn bei seinem ganzen Namen nannte, wusste er, dass sie sauer war, auch wenn ihr Tonfall kühl klang.

„Was? Das ist es doch gar nicht. Du weißt doch, wie hübsch ich dich finde.“

„Wir haben uns gerade erst wieder versöhnt und nun willst du dich wieder streiten?“

„Ich will mich überhaupt nicht streiten. Glaub mir, der letzte Zoff hat mir gereicht.“ Ashton sah sie eindringlich an. „Ich will es doch nur verschieben. Das ist nicht der richtige Ort.“

Lindsay wollte gerade die Badezimmertür öffnen und in den Gang hinausgehen, als aus dem Nichts ein markerschütternder Knall das Pulsieren der Bässe übertönte.

„Was war das?“ Lindsays Augen, die vorher durch ihren Alkoholkonsum einem leichten Schlafzimmerblick ähnelten, waren nun weit aufgerissen. Pure Angst zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. „War das etwa …?“

„Ein Schuss!“ Ashton spürte das Geräusch in jeder einzelnen Hautzelle. Seine Nackenhaare stellten sich blitzartig auf.Eine fiese Panik kroch von seinen Füßen bis zu seinem Scheitel hinauf.

Lindsay hielt inne. Auch sie verspürte eine bittere Kälte ihren Rücken hinabrinnen.

Dann drang Geschrei durch die Wände.

Fürchterliche Hilferufe.

Wieder ein ohrenbetäubender Knall, der Lindsay und Ashton heftig zusammenzucken ließ.

Beide verharrten in Schockstarre hinter der Tür, als sie plötzlich wieder derselbe Knall aufschrecken ließ, lauter als ein Donnerschlag, direkt neben ihnen.

„Geh auf keinen Fall da raus!“, befahl ihr Ashton.

Lindsay begann am ganzen Körper zu zittern, während er sich vorkam wie in einem surrealen Albtraum.

„Was passiert hier?“ Lindsay schrie. Vermutlich bekam sie gar nicht mit, welchen schrillen Ton ihre Stimme angenommen hatte. Kreidebleich starrte sie Ashton an.

„Geh nicht aus der Tür. Sei still!“

Er hatte keine Ahnung, was gerade passierte, aber er wusste, dass es nichts Gutes sein konnte. Dass etwas Abartiges vor sich ging. Etwas, für das es keine Worte gab. Eine Tat, die sich seiner Vorstellung komplett entzog.

„Sterben wir?“, fragte Lindsay. Draußen klangen chaotische Rufe durch das Haus.

Ashton hatte das Gefühl, dass sein ganzer Körper aus einer Gänsehaut bestand. Dass er fliehen musste, aber es eingesperrt sicherer war. Dann schoss es ihm durch den Kopf. „Scheiße! Die Tür lässt sich nicht verriegeln!“

Wieder ein Knall.

Wieder Geschrei.

Geistesgegenwärtig schob er den Riegel des Fensters beiseite, doch durch seine nervösen Bewegungen konnte er es nicht sofort öffnen. Er ruckelte mehrmals an der dünnen Scheibe, allerdings war ihm klar, selbst wenn er es aufbekäme, wäre ein Sprung hinaus auf den Betonboden der Einfahrt genauso bedrohlich.

„Das kann doch nicht wahr sein.“ Lindsay kauerte inzwischen auf dem Fliesenboden. Sie zog die Knie ganz dicht an ihr Kinn heran und hielt sich die Ohren zu. Dabei kniff sie ihre Augen fest zusammen.

Ashton setzte sich neben sie und hielt sie fest umklammert. Dann ertönte ein weiterer Schuss. Dieses Mal noch lauter als die vorherigen. Der Schütze näherte sich dem Badezimmer.

Eindeutig.

„Uns wird nichts passieren. Ich bin bei dir.“ Ashton glaubte sich selbst nicht. Er wusste nicht, woran er überhaupt noch glauben konnte. Alles um ihn herum schien in einer endlos langen verzogenen Realität zu passieren. Unecht.