Papier und Feuer – Die Magische Bibliothek - Rachel Caine - E-Book

Papier und Feuer – Die Magische Bibliothek E-Book

Rachel Caine

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Beschreibung

Die Dark-Academia-Sensation
Mit farbig gestaltetem Buchschnitt – nur in limitierter Erstauflage der gedruckten Ausgabe (Lieferung je nach Verfügbarkeit)


Die Bibliothek von Alexandria ist die mächtigste Organisation der Welt. In jeder Stadt gibt es eine Zweigstelle, und die Bibliothekare sind einflussreiche Männer und Frauen, die über das Wissen der Menschheit herrschen. Der private Besitz von Büchern ist strengstens verboten. Jess Brightwell, Sohn eines Bücherschmugglers, hat sein erstes Jahr als Lehrling in der Großen Bibliothek nur knapp überlebt. Sein Freund Thomas ist verschwunden, und Morgan, das Mädchen, in das er sich verliebt hat, ist auf der Flucht vor den Bibliothekaren. Jess und seine Freunde beschließen, Thomas zu retten. Als sie erwischt werden, müssen sie aus Alexandria fliehen. Sie reisen in Jess‘ alte Heimat London – und schon bald muss sich Jess zwischen seiner Familie und der Bibliothek entscheiden …

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Seitenzahl: 604

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Das Buch

Die Bibliothek von Alexandria ist die mächtigste Organisation der Welt. In jeder Stadt gibt es eine Zweigstelle, der private Besitz von Büchern ist strengstens verboten. Jeder kann sich Bücher ausleihen – doch die Bibliothekare, einflussreiche Männer und Frauen, die über das Wissen der gesamten Menschheit herrschen, entscheiden, wer was lesen darf. Jess Brightwell, Sohn eines Bücherschmugglers, hat sein erstes Jahr als Lehrling in der Großen Bibliothek nur knapp überlebt. Sein Freund Thomas ist verschwunden, und Morgan, das Mädchen, in das er sich verliebt hat, ist auf der Flucht vor den Bibliothekaren. Jess und seine Freunde beschließen, Thomas zu suchen. Als sie beim Herumschnüffeln erwischt werden, müssen sie aus Alexandria fliehen. Sie reisen in Jess’ alte Heimat London – und schon bald muss sich Jess zwischen seiner Familie und der Bibliothek entscheiden …

Rachel Caines Dark-Academia-Saga um die MAGISCHEBIBLIOTHEK:

Band 1: Tinte und Knochen

Band 2: Papier und Feuer

Band 3: Asche und Feder

Die Autorin

Rachel Caine, New York Times- und internationale Bestsellerautorin, hat als Buchhalterin, professionelle Musikerin und Schadensermittlerin gearbeitet und war Geschäftsführerin in einem großen Unternehmen, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete und mit zahlreichen Fantasy- und Mysteryserien große Erfolge feierte. Sie lebte mit ihrem Mann, dem Künstler R. Cat Conrad, in Texas. Rachel Caine verstarb 2020.

RACHEL CAINE

DIE MAGISCHE BIBLIOTHEK

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Maike Hallmann

Titel der Originalausgabe:

THEGREATLIBRARY – PAPERANDFIRE

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 05/2024

Redaktion: Sabine Kranzow

Copyright © 2016 by Rachel Caine LLC

Copyright © 2024 dieser Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,unter Verwendung des Originalmotivs vonArcangel (Evelina Kremsdorf)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-31518-4V001

Für die Gelehrten. Für die Studenten. Für die Bibliothekare.

Für all jene, die tagtäglich im Namen des Wissens kämpfen.

Entzündet das Licht.

Ephemera

Auszug aus einem Bericht des Artifex, durch verschlüsselte Nachricht übermittelt an den Archivar Magister.

Ich hielt Sie für zu weichherzig, als Sie angeordnet haben, den Jungen am Leben zu lassen, aber er war bereits jetzt von ungeheurem Nutzen. Ein brillanter Verstand, ganz wie Sie gesagt haben. Wenn wir ihm Zugang zu Büchern und Schriftrollen gewähren, wie wir es zu seiner Belohnung gestatten, sind seine Betrachtungen zu Problemen der Ingenieurskunst bahnbrechend. Nachdem wir ihn mithilfe der üblichen Mittel überzeugt hatten, stellten wir ihm Kreide zur Verfügung, und er schrieb einige bemerkenswerte Berechnungen und Diagramme an die Wände seiner Zelle. Ich habe sie Ihnen zur Ansicht beigefügt.

Zudem hat er einem Wärter, den ich angewiesen hatte, freundlich zu ihm zu sein, einige Beobachtungen mitgeteilt, die die Wartung der Gefängnis-Automaten betreffen. Kluger Junge. Und gefährlich. Hielten wir ihn nicht unter ständiger Beobachtung, so hätte er wohl durchaus einen der Wärter für seine eigenen Zwecke instrumentalisieren können.

Ich weiß, Sie wollen ihn weiterhin am Leben lassen, aber selbst nach dieser langen Zeit ist er, so kooperativ er sich auch gibt, von außerordentlicher Sturheit beseelt. So etwas habe ich nicht mehr erlebt seit … nun, seit seinem Mentor. Dem Gelehrten Christopher Wolfe.

Angesichts seines hellen Verstandes vermag ich nicht zu sagen, ob wir ihn je ganz unter Kontrolle bringen können. Es wäre weitaus gnädiger, ihn jetzt zu töten.

Antwort des Archivar Magister, übermittelt durch abgesicherte Nachricht

Sie dürfen den Jungen unter keinen Umständen töten.

Ich habe große Pläne mit ihm.

1

Tagtäglich kam Jess Brightwell auf dem Weg aus seinem Quartier und zurück an der Statue des spartanischen Kriegers vorbei. Ein wunderschön gearbeiteter Automat, geschmeidig und tödlich, mit einer Haut aus brüniertem Kupfer. Er stand in dynamischer Pose auf seinem Podest, den Speer wurfbereit in der Hand, Dekoration und Schutz gegen Eindringlinge zugleich.

Für jene, die hierhergehörten, war er keine Bedrohung.

Als Jess an ihm vorbeiging, flackerten die im Schatten des Helms liegenden Augen rot auf, und der Kopf des Spartaners drehte sich, um seinen Weg zu verfolgen. Jess spürte den brennenden Blick auf sich, aber er sah weiter stur geradeaus. Jede Sekunde würde sich die Gestalt bewegen, der Speer ihn durchbohren. Er spürte die Stelle kribbeln, in die die Spitze eindringen würde, wie eine rote Zielscheibe auf seinem Rücken.

Nicht jetzt! Jess schwitzte. Das lederne Schmugglergeschirr, das er sich um die Brust geschnallt hatte, und das darin versteckte schmale Originalbuch waren ihm schrecklich bewusst. Ruhig. Bleib ganz ruhig. Aber es war unglaublich schwer, nicht nur wegen des bedrohlichen Automaten, sondern auch, weil er vor Wut innerlich loderte.

Das Kribbeln in seinem Rücken wurde zu einem heißen Brennen, und er wartete auf die plötzliche Bewegung hinter sich und den schrecklichen Schmerz des Speers, der seinen Körper durchdrang … aber er kam einen Schritt weiter, zwei Schritte, und es gab keinen Angriff.

Als er zurückblickte, war die Statue wieder in den Ruhezustand übergegangen und starrte reglos geradeaus. Es sah aus, als sei Jess in Sicherheit. War er aber nicht. Jess Brightwell hatte es allein seinem Glück zu verdanken, dass er noch lebte, und der schieren Duldung der Großen Bibliothek von Alexandria.

Wäre er nur halb so schlau wie sein Freund Thomas Schreiber, hätte er schon längst herausgefunden, wie man diese Dinger ausschalten konnte …

Denk nicht an Thomas. Thomas ist tot. Behalte das immer im Hinterkopf, vergiss es keine Sekunde lang, sonst wirst du das hier nicht überstehen.

Erst in dem dunklen, kühlen Tunnel, der vom spartanerbewachten Eingang in den ausgedehnteren Bereich des Komplexes führte, in dem sich die Rekrutenquartiere befanden, blieb er stehen. Niemand beobachtete ihn, im Tunnel befand sich außer ihm gerade keine Seele, und der Automat konnte ihn hier nicht sehen. Für diesen kurzen Moment konnte er es sich erlauben, sich sicher zu fühlen.

Wieder loderte die Wut in ihm auf, rot und beißend, seine Haut wurde heiß, und sämtliche Muskeln spannten sich. Tränen brannten ihm in den Augen, ebenso aus Wut wie aus Trauer. Du hast gelogen, Artifex, dachte er. Du verlogener, grausamer, bösartiger Bastard. Das Buch in dem um seine Brust geschnallten Gurt war der Beweis, nach dem er sechs Monate lang gesucht hatte. Aber Hoffnung war heimtückisch, voller Stacheln und Rasierklingen, die sich tief in die Eingeweide bohrten und schnitten. Hoffnung war der Angst sehr ähnlich.

Jess schlug den Hinterkopf gegen die Steine, wieder und wieder, bis er die Wut endlich unter Kontrolle bekam. Er zwang sie zurück in eine tief vergrabene schwarze Kiste und sicherte sie mit Ketten aus schierer Willenskraft, dann wischte er sich die Tränen vom Gesicht. Es war noch früh, gerade erst ließ die Morgendämmerung den Horizont erröten, und er war todmüde. Seit Wochen war er hinter diesem Buch her gewesen, hatte auf Mahlzeiten, auf Schlaf verzichtet, und jetzt hatte er es endlich gefunden. Er hatte die ganze Nacht lang nicht geschlafen, nichts gegessen bis auf ein schnelles Gyros von einem griechischen Straßenhändler. Das allerdings war schon fast acht Stunden her. Seitdem hatte er sich in einem verlassenen Gebäude versteckt gehalten und das Buch dreimal von vorn bis hinten durchgelesen, sich jedes Detail eingeprägt.

Jess war vollkommen zermürbt vor Erschöpfung und zitterte vor Hunger, aber er wusste, was er zu tun hatte.

Er musste Glain die Wahrheit sagen.

Darauf freute er sich kein Stück, und bei dem Gedanken daran schlug er noch mal den Schädel gegen die Steine, diesmal allerdings etwas sanfter. Dann stieß er sich von der Wand ab, überprüfte rasch, ob sein Puls wieder halbwegs ruhig war, und ging aus dem Tunnel hinaus in den Innenhof – hier waren keine Automaten stationiert, dafür streiften Sphinxe über das Gelände. Froh, dass gerade keine in Sicht war, wandte er sich nach links in Richtung seiner Kaserne.

Nach einer kurzen Pause, in der er ein Stück Brot verschlang und einen ganzen Krug Wasser herunterstürzte, brach er wieder auf und machte in den Fluren einen großen Bogen um alle Frühaufsteher, die sich vielleicht unterhalten wollten. Ihm stand der Sinn mehr nach einer Dusche und traumlosem Schlaf als nach Gesprächen.

Er bekam weder das eine noch das andere. Als er die Tür aufschloss und eintrat, sah er Glain Wathen – Freundin, Mitüberlebende, Klassenkameradin, vorgesetzte Offizierin –; sie saß mit kerzengeradem Rücken auf dem Stuhl neben seinem kleinen Schreibtisch. Ein großes Mädchen, schlank und muskulös. Er würde sie nie als hübsch bezeichnen, aber sie strahlte eine angenehme, lässige Selbstsicherheit aus, die sie sich in den letzten Monaten hart erarbeitet hatte und die sie auf gewisse Weise fast schön machte. Eine starke Persönlichkeit.

Das walisische Mädchen las in aller Ruhe in einem Blanko-Buch, aber als er hereinkam und die Tür hinter sich schloss, klappte sie es zu und stellte es ins Regal zurück.

»Die Leute werden reden, Glain«, sagte er. Er war nicht in der rechten Stimmung, dieses Gespräch jetzt schon zu führen. Zwar brannte er darauf, ihr zu erzählen, was er erfahren hatte, aber im Augenblick war er völlig durch den Wind, und er wollte nicht, dass ausgerechnet sie sah, wie er die Kontrolle verlor. Er wollte ihr frisch und ausgeruht gegenübertreten, um nicht vor ihren Augen einen Wutanfall zu bekommen oder einfach zusammenzubrechen.

»Als Mädchen lernt man früh, dass die Leute immer reden, ganz gleich, was man tut«, sagte Glain. »Wie schön es sein muss, ein Mann zu sein.« Ihr gereizter Ton passte zu ihrer Miene. »Wo bist du gewesen? Fast hätte ich einen Suchtrupp losgeschickt.«

»Du weißt verdammt gut, dass du das nicht tun solltest«, erwiderte er. Na schön. Wenn sie bleiben wollte, auch gut. Er hatte keine Skrupel, die Uniformjacke auszuziehen und das Hemd aufzuknöpfen. Sie hatten als Postulanten darum gekämpft, in Wolfes Klasse zu überleben, und einander bereits in allen denkbaren Zuständen erlebt, und überhaupt war die Hohe Garda kein Umfeld, das sonderlich zu Höflichkeiten ermunterte.

Offenbar war er so müde, dass er nicht mehr klar denken konnte, denn seine Finger waren schon auf halbem Weg zu den Hemdknöpfen, als ihm klar wurde: Wenn er das Hemd jetzt auszog, würde sie das Schmugglergeschirr sehen … ein Geheimnis, das er noch nicht zu teilen bereit war. »Ein bisschen Privatsphäre?«, fragte er. Sie hob die dunklen Brauen, stand aber auf und drehte ihm den Rücken zu. Er ließ sie nicht aus den Augen, während er das Hemd auszog und nach den Schnallen des Ledergeschirrs griff, das das Buch an seiner Brust hielt. »Ich brauche Schlaf, keine Unterhaltung.«

»Schade. Ersteres kannst du dir abschminken«, sagte sie. »In einer halben Stunde ist eine Übung angesetzt. Deshalb habe ich nach dir gesucht. Der Befehl kam, nachdem du dich in die Nacht rausgeschlichen hattest. Wo genau warst du, Jess?«

Jess. Also bestand sie jetzt nicht mehr auf militärische Förmlichkeit. Nicht dass er das wirklich gedacht hätte. Er seufzte, ließ den Gurt an und ersetzte das alte Hemd durch ein neues. »Du kannst dich umdrehen«, sagte er und schloss die letzten Knöpfe. Sie wandte sich um, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und musterte ihn mit viel zu scharfen Augen.

»Wenn dieses kleine Theater der vorgetäuschten Schamhaftigkeit mich davon ablenken sollte, dass du unter dem Hemd eine Art Schmuggelausrüstung trägst … das war wohl nichts«, sagte sie. »Bist du wieder ins Familiengeschäft eingestiegen?«

Die Brightwells hielten den Londoner Buchhandel im Würgegriff und hatten ihre Finger in jedem Schwarzmarkt der Welt. Glain wusste gern alles über die Menschen, die ihr nahestanden. Eine kluge Strategie, und er hatte nachgezogen und sich ebenfalls über sie informiert – die einzige Tochter eines mäßig erfolgreichen Kaufmanns, der sich fast ruiniert hatte, um ihr einen Platz in der Bibliothek zu verschaffen. Sie war mit sechs Brüdern aufgewachsen, allesamt ebenfalls kräftig und hochgewachsen, aber keiner ihrer Brüder war dem Militärleben zugeneigt. Glain war genau so, wie sie aussah: eine starke, begabte, der Gewalt nicht abgeneigte junge Frau, der ihre Fähigkeiten deutlich wichtiger waren als ihr Aussehen.

»Als Brightwell ist man nie wirklich aus dem Familiengeschäft raus.« Er setzte sich aufs Bett. Die Matratze gab unter seinem Gewicht nach. Nur allzu gern hätte er sich hineinsinken lassen, aber wenn er das tat, würde er in Sekundenschnelle einschlafen. »Du bist doch nicht nur hier reingeplatzt, um dich zu vergewissern, dass ich noch lebe, oder?«

»Nein.« Sie klang amüsiert und wieder völlig entspannt. »Ich muss dich was fragen.«

»Und zwar? Wie du schon sagtest, wir haben nur eine halbe Stunde Zeit …«

»Jetzt etwas weniger«, sagte sie. »Wir reden ja schon eine Weile. Was weißt du über das Schwarze Archiv?«

Ihre Frage erwischte ihn kalt. Er hatte etwas anderes erwartet, etwas … Militärischeres. Sein müdes Gehirn brauchte einen Moment, um umzudenken. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Dass es ein Mythos ist.«

»Ach, wirklich.« Ihre Stimme troff vor Spott, und sie lehnte sich gegen die Wand. »Und wenn ich dir sage, dass ich von einer zuverlässigen Quelle gehört habe, dass das kein Mythos ist?«

»Du hast als Kind wohl im Unterricht geschlafen.« In kindlichem Singsang rezitierte er: »Im Archiv der Großen Bibliothek ruh’n die Bücher wie in der Wiege …«

»Nichts kann sie berühren, nichts kann sie vernichten, weder Feuer noch Schwert, nicht mal Kriege«, vollendete Glain. »Ich habe die gleichen Kinderreime auswendig gelernt wie du. Aber ich spreche von dem anderen Archiv. Dem verbotenen.«

»Das Schwarze Archiv ist eine Geschichte, um Kinder zu erschrecken – mehr nicht. Voller gefährlicher Bücher … als ob Bücher gefährlich sein könnten.«

»Einige sind es womöglich durchaus«, sagte sie. »Und Dario glaubt nicht, dass es ein Mythos ist.«

»Dario?«, sagte Jess. »Seit wann glaubst du alles, was Dario Santiago sagt? Und warum redet er überhaupt mit dir?«

Sie bedachte ihn mit einem langen, undeutbaren Lächeln. »Vielleicht will er nur auf dem Laufenden bleiben, was du so treibst«, sagte sie. »Aber zurück zum Thema. Wenn es dort gefährliche Informationen gibt, dann würde ich sagen, dass wir genau dort nach Hinweisen suchen sollten, wie es zu Thomas’ Tod kam. Und wen wir uns deshalb vorknöpfen müssen. Meinst du nicht auch?«

Thomas. Beim Klang des Namens seines besten Freundes sah Jess ihn sofort lebhaft vor sich: ein fröhlich-optimistisches Genie im Körper eines deutschen Bauernjungen. Er vermisste Thomas mit all seiner Wärme und dem Verständnis für andere, das Jess oft fehlte. Ich will nicht an ihn denken. Einen Moment lang dachte er, er würde sie anschreien oder anfangen zu weinen, aber irgendwie schaffte er es, sich zu beherrschen, und fragte ganz ruhig: »Wenn es das Schwarze Archiv wirklich geben sollte … wie kommen wir dann hinein? Ich hoffe, Dario hat eine Idee. Ich hab jedenfalls keine.«

»Du kennst Dario – er hat immer eine Idee«, entgegnete Glain. »Oder zumindest den Ansatz einer Idee, über die es sich nachzudenken lohnt. Etwas, das wir tun können. Ich weiß, dass du genauso dringend wie ich herausfinden willst, wie und weshalb Thomas gestorben ist.«

»Der Archivar hat uns gesagt, warum«, sagte er. »Thomas wurde wegen Ketzerei gegen die Bibliothek verurteilt.«

Sag ihr, was du weißt, um Himmels willen. Der Gedanke hämmerte gegen seine Schädeldecke wie ein Gefangener gegen eine Tür, aber er war nicht bereit, es laut auszusprechen. Er wusste nicht, was dann geschehen würde, was es in ihm auslösen würde, wenn es derart real wurde.

»Das glaube ich keinen Augenblick lang«, sagte Glain leise, die dunklen Augen geweitet und traurig. »Thomas hätte nie etwas getan oder gesagt, um das zu verdienen. Er war der Beste von uns.«

Sag es ihr einfach. Sie verdient es zu wissen!

Er raffte all seinen Mut zusammen und atmete tief und langsam ein, dann blickte er auf, sah ihr in die Augen. »Glain, wegen Thomas …«

Ein unvermitteltes hartes Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Es klang dringend, und Jess sprang vom Bett auf und ging zur Tür. Fast war er erleichtert über die Unterbrechung … bis er die Tür öffnete und sein Kamerad Tariq Oduya ins Zimmer stürmte. Er hielt zwei dampfende Tassen in der Hand und reichte Jess eine. »Und ich dachte, du liegst noch im Bett …« Er verstummte, als er Glain erblickte, die mit verschränkten Armen an der Wand lehnte. Sie sah völlig normal und gelassen aus, aber Tariq grinste trotzdem und zog die Brauen hoch. »Oder vielleicht bist du gerade erst aufgestanden!«

»Klappe«, sagte Glain, nicht den kleinsten Funken Humor in Miene oder Stimme. Sie trat vor, um Tariq die zweite Tasse abzunehmen, die er wahrscheinlich für sich selbst mitgebracht hatte, und nippte ungerührt daran. »Danke. Und jetzt mach dich an die Arbeit, Soldat.«

»Stets gern zu Diensten, Truppführerin«, sagte er und salutierte spöttisch. Technisch gesehen waren sie nicht im Dienst, aber er bewegte sich auf einem schmalen Grat, und Jess beobachtete Glains Gesicht, um abzuschätzen, ob sie ihm wegen seiner Respektlosigkeit eins reinwürgen wollte. Aber sie nippte nur an dem heißen Getränk und starrte Tariq an, ohne zu blinzeln, bis er zur Tür ging.

»Rekrut Oduya«, sagte sie, als er über die Schwelle trat. »Du begreifst doch sicherlich, dass mir besser nicht mal der Hauch eines Gerüchts über diese Situation zu Ohren kommen sollte, weil ich dich dann bewusstlos schlage und aus dem Trupp und der Hohen Garda rauswerfe.«

Er drehte sich um und salutierte, diesmal mustergültig. Sein hübsches Gesicht war zu einer höflichen Maske erstarrt. »Jawohl, Truppführerin. Verstanden.«

Er schloss die Tür hinter sich. Jess trank einen Schluck Kaffee und schloss erleichtert die Augen, als das Koffein seine Wirkung entfaltete. »Er ist ein guter Kerl. Er wird keine Gerüchte verbreiten.«

Glain starrte ihn ungläubig an. »Du kennst ihn wirklich überhaupt nicht, oder?«

Das tat er tatsächlich nicht. Die Truppe war inzwischen ein fest zusammengeschweißter Haufen, aber er wahrte bewusst eine gewisse Distanz zu den anderen. In seiner Postulantenklasse hatte er enge Freundschaften geschlossen und dann miterlebt, wie einige seiner Freunde entlassen oder verletzt worden waren … oder starben. Diesem Schmerz wollte er sich nicht noch mal aussetzen.

Tariq kam von allen einem Freund am nächsten, abgesehen von Glain. Glain vertraute er.

Seine Uniformjacke war noch sauber. Er zog sie an und trank seinen Kaffee aus. Glain beobachtete ihn einen Moment lang schweigend, bevor sie sagte: »Du wolltest mir gerade etwas erzählen.«

»Später«, sagte er. »Nach der Übung. Das wird ein längeres Gespräch.«

»In Ordnung.« Als er seine Uniform vor dem Spiegel überprüfte, verdrehte sie die Augen. »Du bist hübsch genug für uns beide, Brightwell.«

»Es schmeichelt mir sehr, dass du das findest, Truppführerin. Du siehst heute selbst ziemlich gut aus.« Gut aussehend war eine passende Beschreibung für sie. Glain hatte ihr dunkles Haar der Einfachheit halber kurz geschnitten; es stand ihr, fand er, und passte gut zu ihrem ganz auf Ausdauer und Kraft ausgelegten Körper. Sie fühlten sich nicht zueinander hingezogen, aber sie respektierten sich – heute mehr als früher. Manch einer könnte das vielleicht mit etwas anderem verwechseln, so wie Oduya. Möglicherweise war ihre Sorge wegen eventueller Gerüchte berechtigt.

Jess begegnete ihrem Blick im Spiegel. »Das Kompliment verlässt natürlich niemals dieses Zimmer.«

Sie nickte. Es wirkte forsch, aber er glaubte Dankbarkeit in ihren Augen zu sehen. »Hör auf, dich herauszuputzen, und lass uns gehen.«

Gemeinsam verließen sie sein Zimmer. Zum Glück war niemand auf dem Flur, der es hätte sehen können.

Die Truppe hatte sich versammelt, alle plauderten zwanglos miteinander, aber als Glain sich näherte, verstummten sämtliche Gespräche. Jess stellte sich schweigend zu den anderen, und Glain führte sie im schnellen Schritt zum Exerzierplatz hinaus. Trotz seiner Müdigkeit freute er sich auf die Gelegenheit, gleich ein wenig Wut aus der verschlossenen, mit Ketten gesicherten Kiste herauslassen zu können. Es würde keine großen Überraschungen geben. Es war schließlich nur eine Übung.

Mit seiner Einschätzung lag er völlig falsch, und dieser Fehler kam ihn teuer zu stehen.

Sie waren bereits in der zehnten langen Stunde auf dem Übungsplatz, als Jess aus dem Augenwinkel eine blitzschnelle Bewegung sah. Er versuchte noch, sich umzudrehen, aber die dicken Stoffschichten und die flexible Rüstung behinderten ihn, und er war zu langsam, zu müde und reagierte zu spät.

Ein Schuss traf ihn direkt in den Rücken.

Im nächsten Moment lag er rücklings auf dem Boden, blickte in einen unbarmherzigen, von der Hitze ausgeblichenen alexandrinischen Himmel und konnte nicht atmen. Der Schmerz presste die gesamte Luft aus seiner Brust, und für den Bruchteil einer Sekunde fragte er sich, ob irgendwas ernstlich schiefgelaufen war, ob alle Sicherheitsmaßnahmen versagt hatten, ob er jetzt sterben würde … Dann löste sich sein verkrampfter Solarplexus, und er schnappte rau und mit einem Japsen einen Mundvoll Luft.

Ein Schatten verdunkelte die brennende Sonne, und er erkannte sie an dem kurzen Haarschopf – es sah aus, als umgäbe ein Heiligenschein ihren Kopf. Er blinzelte ein paarmal und begriff, dass Glain ihm eine Hand hinhielt. Er überwand seinen Stolz, ergriff sie, und sie zog ihn auf die wackligen Füße.

»Was zum Teufel machst du denn da, Brightwell?«, fragte sie ihn. Es lag kein Mitleid in ihrer Stimme. Er schüttelte den Kopf, immer noch mühsam darauf bedacht, wieder Luft in seine Lungen zu zwingen. »Ich habe euch doch allen gesagt, ihr sollt aufpassen. Du hast mir offenbar nicht zugehört. Wären diese Waffen mit echter Munition geladen, wärst du jetzt eine ganz schöne Sauerei, die deine Kameraden aufräumen müssten.«

Er fühlte sich fast wie tot. Die Trainingswaffen der Hohen Garda der Großen Bibliothek waren keine Spielzeuge; sie trafen hart und hinterließen beachtliche Blutergüsse. »Tut mir leid«, murmelte er, und dann, eine Sekunde zu spät: »Sir.«

Jetzt, wo sie nicht mehr nur eine Silhouette in der Sonne war, konnte er das warnende Aufblitzen in ihren Augen sehen. Du bist mir nicht gleichgestellt. Das durfte er nicht vergessen, das musste er in den Griff bekommen, und zwar schnell; sie konnte es sich nicht leisten, es lange schleifen zu lassen, sonst würde es den Anschein erwecken, als würde sie es in ihrer Truppe an Disziplin mangeln lassen.

Freundschaft war eine hartnäckige Gewohnheit.

Der Rest der Truppe versammelte sich an den Ecken der Gebäudeattrappen, die ihnen als Übungsgelände dienten. Es war erbarmungslos heiß wie immer, und seine Kameraden waren genauso erschöpft und schweißgebadet wie er. Glain wischte sich ungeduldig mit dem Ärmel übers Gesicht und blaffte so laut, dass der Rest der Truppe es ebenfalls hörte: »Berichte, was du falsch gemacht hast, Soldat!«

»Truppführerin, Sir, ich habe nicht auf meine Rückendeckung geachtet«, sagte Jess. Seine Stimme klang angestrengt, und der brennende Schmerz in seinem Rücken verriet ihm, dass ein spektakulärer Bluterguss im Anmarsch war. »Aber …«

Ihr Gesicht wurde hart wie Beton. »Willst du etwa dein Versagen rechtfertigen, Brightwell?«

»Nein, Sir!« Er warf einen Blick auf Tariq, der unverhohlen grinste. »Es war sozusagen freundliches Feuer, Sir!«

»Oh, ach was. So freundlich bin ich gar nicht«, sagte Tariq. »Und ich habe es auf Anweisung getan.«

»Auf Anweisung?« Jess sah Glain an, deren Gesicht so unleserlich war wie die Wand hinter ihr. »Sie haben ihm befohlen, mir in den Rücken zu schießen?«

Glains Gesichtsausdruck blieb vollkommen ungerührt. »In der realen Welt sollte man sich vor seinen Freunden genauso in Acht nehmen wie vor seinen Feinden. Verbündete können sich gegen dich wenden, wenn du es am wenigsten erwartest. Ich hoffe, die blauen Flecken erinnern dich daran.«

Er war der Letzte, der diesen Rat nötig hatte, und das wusste sie. Er war kein Narr; er hatte seine ganze Jugend hindurch niemals jemandem vertraut. Vertrauen war eine Fähigkeit, die er erst kürzlich erworben hatte, in der Gesellschaft seiner Freunde und Mitpostulanten. So wie Glain. Und jetzt ermahnte ausgerechnet sie ihn, sich nicht darauf zu verlassen.

Jess schluckte einen bitteren Schluck Wut hinunter und erwiderte: »Keine Rechtfertigung, Sir. Tariq kam mir schon immer recht verschlagen vor.«

»Und warum hast du dann nicht auf deine Deckung geachtet, du Blitzbirne?«, sagte Tariq. »Ich gebe zu, ich spiele gern den abscheulichen Bösewicht, Sir.«

»Spielen?«, murmelte eine Soldatin, und Tariq deutete mit der Hand einen Schuss in ihre Richtung an, ehe er einen Schluck aus seiner Feldflasche nahm. Würde sein Rücken nicht so schmerzen, hätte Jess gelacht. Glains Lektion war hart, aber sie kam zum richtigen Zeitpunkt. Ich kann es mir nicht leisten, nachlässig zu sein, dachte er. Daswusste ich von Anfang an. Glain versucht nur, mich daran zu erinnern. Leider mit dem für Glain typischen Feingefühl.

»Konzentriert euch«, sagte Glain schlicht, und die Gruppe gehorchte. Auf der Stelle. Niemand stellte sie infrage – jedenfalls nicht lange. Jess schon gar nicht. »Wir sind fast durch mit dem Training.« Sie marschierte vor ihnen auf und ab mit jener geschmeidigen, rastlosen Energie, die sie nie zu verlieren schien, ganz gleich, wie lang der Tag gewesen war. »Wir werden als bester Trupp abschneiden. Wenn einer von euch das vermasselt, verabschiede ich ihn mit einem derartigen Tritt in den Allerwertesten aus der Truppe, dass ihn noch seine Großmutter spürt. Verstanden?«

»Verstanden, Sir«, antworteten sie sofort wie mit einer Stimme. In all den langen, schmerzhaften Monaten hatten sie gelernt, sich im Einklang zu bewegen und zu sprechen. Das war Glains Werk. Eines Tages würde sie Oberkommandant der Garda sein … oder tot. Aber sie würde sich niemals mit weniger als Perfektion zufriedengeben.

»Ich bin versucht, euch noch mal von vorn anfangen zu lassen«, sagte Glain, und ein kaum wahrnehmbares Stöhnen ging durch die Truppe. Sie achtete nicht darauf. »Aber für heute habt ihr genug geblutet. Ihr wart nicht übel. Seht zu, dass ihr das nächste Mal besser seid. Duscht, trinkt, esst, ruht euch aus. Wegtreten.«

Deshalb, dachte Jess, ist sie so gut darin. Sie hatte sie alle bis zum Anschlag gefordert, aber sie wusste, wann sie ein wenig Ermutigung brauchten. Und vor allem wusste sie, wann es genug war. Keiner von ihnen, nicht mal Jess, musste zu den Medica-Zelten getragen werden. Das sah in vielen anderen Trupps, die nicht so erstklassige Ergebnisse ablieferten wie ihrer, ganz anders aus.

Bis auf sie war dieser Teil des Trainingsgeländes der Hohen Garda menschenleer; er war für die Soldaten in Ausbildung reserviert. Alle anderen hatten schon längst Feierabend gemacht, seit die Messeglocken vor einer halben Stunde geläutet hatten. Sobald Jess daran dachte, knurrte sein Magen heftig. Er hatte sein leichtes Frühstück schon vor Stunden verbrannt.

Er ging im Gleichschritt mit Shi Zheng und Tariq, blieb aber stehen, als Glain sagte: »Brightwell. Auf ein Wort.«

Andere warfen ihm mitfühlende Blicke zu, hielten aber nicht inne; sie gingen an ihm vorbei, als er stehen blieb und sich umdrehte. Glain marschierte immer noch auf und ab, mitten in der prallen Sonne; die sengende Hitze Alexandriens hatte ihr noch nie etwas ausgemacht. Die Sonne erwiderte diese Liebe und hatte ihre Haut im Laufe der Monate zu einem warmen, holzigen Braun verdunkelt. Jess, genauso lange in diesem Klima, hatte es nur zu einer durchscheinenden Schicht leichter Bräune über lauter bemerkenswerten Verbrennungen gebracht. »Sir?«

Sie starrte über seine Schulter hinweg zum Horizont. »Ich habe vorhin eine Nachricht von Kommandant Santi erhalten. Er sagt, ich soll dir ausrichten: Nein.« Plötzlich sah sie ihn direkt an. »Nein zu was, Jess?«

»Glain …«

»Für dich Truppführerin Wathen. Nein zu was?«

»Ich wollte mit Wolfe sprechen. Sir.«

»Warum?«

So feige es auch war, er nannte ihr einfach den zweiten Grund, weshalb er ein Treffen mit ihrem alten Gelehrten Christopher Wolfe wollte, der sie als Postulanten durch die denkwürdigsten Abgründe der Hölle gehetzt hatte. »Ich wollte wissen, ob er etwas über das Schwarze Archiv weiß.«

Sie blinzelte und ihr Blick veränderte sich – war immer noch misstrauisch und dunkel, aber viel besorgter. »Du hast mir heute Morgen erst gesagt, dass du es für einen Mythos hältst. Nach einem Treffen mit Wolfe musst du schon vor Tagen gefragt haben.«

»Das habe ich. Aus demselben Grund, den du genannt hast. Ich dachte mir, wenn das Schwarze Archiv existiert – und ich habe nie gesagt, dass ich das glaube –, dann könnte es sein, dass wir dort Hinweise finden, die den Tod von Thomas betreffen.« Er sah zu Boden. »Ich habe einen Brief von seinem Vater erhalten, in dem er mir dafür dankt, dass ich sein Freund war. Er fragte mich, ob ich wüsste, wie sein Sohn gestorben ist.«

Glain sagte nichts dazu, aber nach einem Moment nickte sie. »Du wolltest nicht, dass ich mich mit dem Thema befasse, weil du es bereits selbst getan hast.«

»Und sie beobachten uns, Glain«, sagte er. »Uns alle.« Die Wahrheit brannte ihm auf der Zunge, aber er wusste, wie sie darauf reagieren würde. Und er war zu müde. Er wollte es ihr unter geeigneteren Umständen sagen, wenn gerade Zeit dafür war. Bei den Übungen war sie noch mehr darauf angewiesen als er, ihre volle Konzentration aufbringen zu können … oder zumindest redete er sich das ein.

»Womit wir beim Thema wären: Halte dich von Wolfe fern. Du weißt, dass es nicht sicher ist, weder für ihn noch für dich.«

»Ich werde nicht noch einmal fragen.«

»Dann sind wir hier fertig, Brightwell. Wir sprechen uns später.«

Er nickte und trabte los, um zügig Distanz zwischen sie beide zu bringen. Seltsam, dass Kommandant Niccolo Santi die Nachricht geschickt hatte, nicht Wolfe selbst. Aber ihr Lehrer war von Anfang an ein Rätsel gewesen, und zwar eins mit unzähligen Widerhaken.

Wolfe war kein freundlicher Mann und auch nicht gerade der geborene Lehrer, aber er hatte sein Bestes getan, um seine Schüler zu retten. Das machte ihn nicht automatisch zu einem Freund, aber auch Wolfe würde die Wahrheit über Thomas erfahren wollen. Und sobald er sie erfuhr …

Kein Wunder, dass Kommandant Santi mich von ihm fernhalten wollte, dachte Jess. Wolfe würde es niemals einfach gut sein lassen.

Genauso wenig wie Jess das konnte. Oder Glain, sobald er es ihr gesagt hatte. Gut, dass er noch ein wenig Zeit zum Nachdenken hatte. Er brauchte einen Plan, bevor er die Katze aus dem Sack ließ.

Sein Rücken tat weh und sein Kopf pochte von der Hitze und der Anstrengung. Das Abendessen ging genauso an ihm vorbei wie das Frühstück, er aß, ohne es wirklich zu bemerken, und danach fiel er für ein paar kurze Stunden ins Bett – weit weniger, als er brauchte –, bevor er sich wieder hochquälte. Er hatte etwas zu erledigen, das besser niemand mitbekam.

Er duschte, zog sich zivile Kleidung an, schaufelte seine Ration im Speisesaal hinunter und verließ das Gelände der Hohen Garda, um sich in die Umarmung eines vom Meer gekühlten alexandrinischen Abends unter einem blauschwarzen, mit kalt glitzernden Sternen übersäten Himmel zu stürzen.

Dies war ein Vorhaben, das man besser im Schutz der Dunkelheit erledigte.

Ephemera

Auszug aus dem Bericht von Obskurist Gregory Valdosta an Obskurist Magnus Keria Morning.

… was unser neues Sorgenkind Morgan Hault betrifft, so habe ich kaum Verbesserungen festgestellt und mache mir große Sorgen. Ich hätte gedacht, sechs Monate intensives Training und Überwachung hier im Eisenturm würden deutliche Veränderungen bei ihr bewirken, aber sie ist nach wie vor stur, verschlagen und unangenehm schlau. Erst heute Morgen habe ich festgestellt, dass sie, von mir mit der Ausarbeitung von Standardformeln für Änderungen im Kodex beauftragt, stattdessen ein System entwickelt hat, um Einträge zu verschleiern, ja, zu verstecken. Ich gab ihr eine einfache Aufgabe zur alchemistischen Aufbereitung eines Goldkelchs, und stattdessen ergriff sie die Gelegenheit, um Quecksilber, Vitriol, Kochsalz und Salmiakgeist zu einer bösartigen Mixtur zu kombinieren, mit der sie den dünnsten Teil ihres Kragens zu schmelzen versuchte. Sie hatte natürlich keinen Erfolg und wird jetzt wegen einer Verbrennung behandelt, aber ich befürchte ernstlich, dass sie um ein Haar eine Mischung entdeckt hätte, die funktionieren könnte.

Ich habe sie unter Aufsicht mit der langweiligen Aufgabe betraut, offizielle Nachrichten zu transkribieren, aber ich wage es nicht, jemanden allzu lange ihrer Gegenwart auszusetzen. Diese kleine Kriminelle kann recht charmant sein. Mir ist klar, dass es Gefahren birgt, ihr Zugang zu diesen Nachrichten zu gewähren; soweit ich es beurteilen kann, ist sie immer noch dem Gelehrten Wolfe und ihren Mitschülern treu ergeben. Aber glauben Sie mir, sie wird mit Stift und Papier weit weniger Schaden anrichten als mit alchemistischen Substanzen.

Und um Himmels willen, halten Sie sie von allem fern, was mit Translation zu tun hat. Mich schaudert es bei der Frage, wie wir das Mädchen festhalten sollten, wenn sie in der Lage wäre, per Translation zu fliehen.

Sie widersetzt sich nach wie vor den Regeln des Turms, aber ich habe mit Hilfe der entsprechenden Karten und Analysen festgestellt, dass ihr idealer Zeitpunkt für die Fortpflanzung bald kommen wird. Ich habe sie nicht darauf vorbereitet. Nur die Götter wissen, was sie dann tun würde, um der Erfüllung ihrer Pflicht zu entkommen.

Mir ist bewusst, Obskuristin, dass Sie bei diesem Thema sensibel sind, verzeihen Sie mir also meine Offenheit, aber ich finde, dass Sie den Mädchen in dieser Angelegenheit zu viel Freiheit lassen, indem Sie ihnen drei Ablehnungen erlauben, ehe sie sich unausweichlich dem obligatorischen Verfahren unterziehen müssen.

Sie hat, natürlich, alle drei Ablehnungen bereits ausgeschöpft.

Ihr treuer Diener Gregory

2

Der alexandrinische Schwarzmarkt hatte zwei Gesichter. Auf dem bekannteren, dem sogenannten Schattenmarkt, wurden illegale, aber harmlose Kopien der üblichen Bibliotheksbände verkauft – ein Vergehen, das im schlimmsten Fall mit Geldstrafen und kurzen Gefängnisaufenthalten geahndet wurde. Hier sahen sich jene Leute um, die um des kriminellen Kitzels willen ein Buch kaufen wollten, selbst wenn es schlecht transkribiert und unvollständig war.

Der zweite, sehr viel besser verborgene Markt lag in der Hand eines Schmugglers namens Red Ibrahim, eine legendäre Gestalt weit über die Stadtgrenzen hinaus; selbst in Jess’ Elternhaus in London kannte man seinen Namen. Er war ein Cousin, jemand, auf den man sich in der Not verlassen konnte, wenn man seinen Preis zahlte. Jess hatte in der Branche den einen oder anderen blutsverwandten Cousin, aber um ein Cousin im Handelssinne zu werden, musste man langfristigen Erfolg und eine gewisse rücksichtslose Loyalität gegenüber anderen Schmugglern vorzuweisen haben. Diese Verbindung war keine des Bluts, sondern entstand durch das gemeinsame Geschäft mit Büchern, mit der in Leder und Papier festgehaltenen Geschichte.

Verbotene Früchte.

Monatelang hatte Jess mit Red Ibrahims Untergebenen zu tun gehabt – er verfügte über ein Netzwerk von mindestens dreißig Leuten – und festgestellt, dass sie alle gleichermaßen kaltblütig wie fähig waren. Immer wieder war seine Vertrauenswürdigkeit auf den Prüfstand gestellt worden, denn schließlich war er Soldat der Hohen Garda und trug das kupferne Armband eines Dieners der Bibliothek, obwohl er in eine Schmugglerfamilie hineingeboren worden war. Beides unter einen Hut zu bringen und sich Vertrauen zu erarbeiten, war, selbst mit dem Namen Brightwell, eine schwierige Aufgabe.

Als er unterwegs war, gingen die ersten Anweisungen in seinem Kodex ein, im familieneigenen Geheimcode. Er löschte sie sofort und suchte einen Marktstand auf, wo ihm mündlich mitgeteilt wurde, er solle zu einem anderen Stand gehen, und von dort aus wurde er zu einer dunklen Bar weitergeschickt, in der sich lauter Matrosen beim Würfelspiel gegenseitig verfluchten. Der Besitzer steckte ihm einen Zettel zu. Der Weg führte ihn durch die halbe Stadt, und seine Beine schmerzten schon, als endlich fünf Worte in seinem Kodex erschienen: Klopf an die blaue Tür.

Er blieb stehen, steckte den Kodex weg und betrachtete die Häuser ringsum, lauter saubere, rechteckige Gebäude, die in hellen Farbtönen gestrichen waren, mit ägyptischen Verzierungen auf den Dächern und Säuleneingängen. Ansehnliche Häuser für Familien von bescheidenem Wohlstand, etwa das, was ein Gelehrter mit Silberarmband besitzen könnte.

Auf der rechten Seite befand sich ein Haus mit einer dunkelblauen Tür. Er trat durch das eckige Tor und ging durch einen Kräutergarten, der von einer ausladenden Akazie beschattet wurde. In einem Zierteich tummelten sich träge Fische zwischen großen Lotuspflanzen. Es war ein traditioneller Haushalt mit ägyptischen Götterstatuen in einer Nische neben der Tür, und er erwies ihnen seinen Respekt, bevor er klopfte.

Der Mann, der ihm öffnete, war unauffällig – weder jung noch alt, weder groß noch klein, weder dünn noch dick. Mit ziemlicher Sicherheit war er gebürtiger Ägypter mit den scharfen, dunklen Augen und der in einem satten Kupferton schimmernden Haut. Hier in der Gegend war es Sitte, sämtliche Körperhaare zu entfernen, sogar die Augenbrauen, und dieser Mann hielt sich offenbar strikt daran.

»Jess Brightwell«, sagte er lächelnd. »Ich fühle mich geehrt. Sei willkommen in meinem Haus.« Er trat zurück, um Jess Einlass zu gewähren, und schloss die Tür hinter ihnen. Sie hatte ein imposantes Schloss, das Red Ibrahim sogleich einrasten ließ. »Wir haben bestimmt schon viel voneinander gehört.«

»Ich hatte einen Ginger erwartet«, sagte Jess. Der Mann hob seine nicht vorhandenen Augenbrauen. »Sorry. Englischer Ausdruck. Jemanden mit rotem Haar, meine ich.«

»Meine Haarfarbe ist nicht der Grund für den Beinamen Red.«

»Was denn dann?«

Ibrahim lächelte, und bei diesem Lächeln lief Jess ein Schauer über den Rücken. »Das ist eine Geschichte für eine andere Gelegenheit, denke ich. Bitte.« Der Mann – Jess schätzte ihn auf etwa vierzig, aber er hätte auch jünger oder älter sein können – deutete auf einen kleinen, zierlichen Diwan, und Jess setzte sich. Ein junges Mädchen mit glattem, schwarzem, schulterlangem Haar kam herein, in den Händen ein Tablett mit zierlichen Kaffeetassen und einer silbernen Karaffe. Sie war vielleicht vierzehn Jahre alt, zierlich und hübsch, und lächelte Jess an, als sie den beiden Männern einschenkte. Zu seiner Überraschung nahm sie auf dem Diwan gegenüber Platz.

»Das ist meine Tochter Anit. Die Götter haben mein Haus gesegnet, sie ist ein intelligentes Mädchen, das den Beruf erlernen möchte. Darf sie zuhören?«

»Ich habe nichts dagegen«, sagte Jess. Er erinnerte sich daran, wie er und sein Zwillingsbruder Brendan ebenfalls Treffen seines Vaters beigewohnt hatten, aber ihnen blieb kaum eine andere Wahl. »Es hat eine ganze Weile gedauert, bis wir uns treffen konnten.«

»Ja, natürlich, und ich will dich mit meiner Vorsicht nicht kränken. Empfängt denn dein Vater, der herausragende Callum, jeden Fremden, der behauptet, in der Branche tätig zu sein?« Red Ibrahim reichte ihm eine Tasse, so klein wie ein Kinderspielzeug, aber der Kaffee darin war süß und so stark, dass sein Herz schon nach dem ersten Schluck loshämmerte. »Oder sorgt er für die Sicherheit seines Geschäfts – und seiner Familie –, indem er vorsichtig ist?«

»Er ist ein vorsichtiger Mann«, stimmte Jess zu, obwohl er sich gut daran erinnerte, wie sein Vater ihn und seine Brüder mehrmals rücksichtslos in Gefahr gebracht hatte, ohne großartig über die Konsequenzen nachzudenken. Sein älterer Bruder Liam war wegen der vorsichtigen Geschäftspraktiken des Vaters am Galgen geendet. »Er möchte gern einige Informationen einholen, und Sie sind in der besten Position, um sie zu erhalten. Es ist natürlich eine heikle Angelegenheit.«

»Natürlich«, stimmte Ibrahim zu. »Natürlich.« Er wartete in höflicher Aufmerksamkeit.

»Automaten«, sagte Jess.

»Es gibt keine wirklich seltenen Ausgaben von Herons Werk, wie du sicher weißt …«

»Wir sind nicht an seltenen Büchern interessiert«, sagte Jess. »Wir suchen nach Büchern, die das Innenleben der Kreaturen beschreiben. Und wie man sie ausschaltet.«

Red Ibrahim hatte gerade seine Tasse zum Mund gehoben, und jetzt trank er einen Schluck, so geschmeidig, dass Jess beinahe entgangen wäre, wie er kurz stockte. Beinahe. Dann lachte er, und es klang ganz natürlich. »Weißt du, wie oft diese Bitte geäußert wird, junger Brightwell? Die Automaten sind die Feinde sämtlicher Schmuggler und Brandschatzer in jeder Stadt der Welt! Glaubst du nicht, wir hätten solche Informationen, wenn es sie denn gäbe, schon längst erbeutet und ein gewaltiges Vermögen damit gemacht?«

»So ein einzigartiger Schatz ist nützlicher, wenn man ihn strategisch einsetzt.« Jess legte eine Spur Schärfe in seine Stimme. »Nirgendwo auf der Welt ist es für Bücherschmuggler so gefährlich wie in dieser Stadt und doch haben Sie sich hier eine Art Imperium aufgebaut. Sie würden es sich gewiss zur Aufgabe machen, über solche Informationen zu verfügen, und zwar allein.«

»Niemand kann diese Kreaturen ausschalten. Es ist unmöglich.«

»Nichts auf dieser Welt ist unmöglich«, sagte Jess. »Es sind mechanische Kreaturen. Sie werden hergestellt. Jemand kennt ihre Geheimnisse, und Geheimnisse sind immer käuflich, wenn man nur genau genug hinschaut. Und wenn ich etwas über Sie weiß, Sir, dann, dass Sie sehr genau hinschauen.«

»Bei jedem«, stimmte Red Ibrahim zu. Mit äußerst präzisen Bewegungen stellte er seine Kaffeetasse ab. »Was bietet dein Vater denn als Gegenleistung für dieses Geschenk aller Geschenke? Vorausgesetzt, es gibt so etwas überhaupt.«

Jess versuchte, ebenso ausdruckslos dreinzublicken wie Ibrahim. Er blinzelte nicht. »Ich habe ein Exemplar von Das Erste Buch von Urizen von William Blake.«

Ibrahim rührte sich nicht. »Es gibt weltweit acht Exemplare dieses Buchs«, sagte er. »Ich bräuchte etwas viel Selteneres. Wie du sagtest – eine solche Information wäre ein unglaublich wertvoller Schatz.«

»Es gab acht Exemplare«, sagte Jess. »Sechs davon wurden von Tintenlutschern gekauft, die sie vor vier Monaten bei irgendeinem kranken Ritual verspeist haben. Wie Sie sicherlich bereits wissen. Bleiben noch zwei: eins im Gewölbe meines Vaters … und ein zweites, das ich hier in Alexandria versteckt habe. Es gehört Ihnen, wenn Sie haben, was ich will.«

»Ah«, sagte Ibrahim leise. »Jetzt verstehe ich. Was du willst, sagst du. Also steckt nicht dein Vater dahinter. Er würde niemals zulassen, dass du ein so wichtiges und wertvolles Buch weggibst. Er kommt gut genug ohne eine solche Information aus, trotz aller Bemühungen der Londoner Garda. Nein, ich glaube, du bist es, der darauf so erpicht ist.«

Jess antwortete nicht gleich. Er spürte, wie ihm im Nacken der Schweiß ausbrach, und hoffte, dass sein Gesicht unleserlich blieb. Nach einem Moment sagte er: »Es ist eines von zwei Exemplaren auf der Welt. Ich biete Ihnen einen fairen Tausch an. Dieses Buch ist von unschätzbarem Wert.«

Ibrahim wechselte einen Blick mit seiner Tochter. Anit sagte: »Es ist ein guter Preis, nicht wahr?«

»Ja«, stimmte Ibrahim zu. »Aber das ist nicht der Punkt. Es geht darum, dass der junge Brightwell hier gegen die Interessen seiner Familie handelt, und zwar aus persönlichen Gründen. Sag mir, hat dieses Ansinnen etwas mit dem Buch zu tun, das du unter so viel Aufwand von Zeit und Geneih aufgespürt und erst gestern erworben hast? Das Buch über die Gefangenen des Archivars?«

Jetzt wurde es gefährlich. Sehr gefährlich. Jess sagte nichts. Ibrahim lehnte sich gegen die Kissen und stützte das Kinn auf eine Hand. An einem Finger trug er einen Rubinring, der Stein sah aus wie ein frischer Blutstropfen. »Ich will mich nicht in die Angelegenheiten der Bibliothek einmischen«, fuhr er fort. »Und auch nicht in den privaten Kreuzzug eines forschen jungen Mannes. Das ist nicht unser Metier.«

»Ich suche nach Informationen, und Informationen sind Ihr Geschäft«, schoss Jess zurück. »Haben wir einen Deal oder nicht?«

Ibrahim starrte ihn so lange mit seinen beunruhigend dunklen Augen an, dass Jess spürte, wie Worte in ihm hochkochten und zu entweichen versuchten – zornige Worte. Er schluckte sie hinunter und wartete. Endlich rührte sich der Mann, stand auf und sah seine Tochter an, die immer noch still dasaß. »Anit. Ich überlasse es dir.«

»Was?« Jess sprang auf, aber Red Ibrahim war bereits auf dem Weg zu einer Tür, die tiefer ins Haus führte. Kurz überlegte Jess, ob er ihm hinterherlaufen sollte, aber er wusste, dass ein Mann wie Ibrahim ohne entsprechende Umsicht nicht so lange überlebt hätte. Wenn er einem den Rücken zukehrte, dann nur, wenn im Verborgenen jemand bereitstand, ihn zu beschützen.

»Setz dich«, sagte Anit und in ihrer Stimme lag unerwartet eine eiserne Härte. »Setz dich, Jess.« Sie mochte jung und zierlich sein, aber sie war auch hart auf eine Weise, die er noch nie gesehen hatte – es sei denn, er betrachtete sich selbst im Spiegel. Sie legte die Hand an eine Kette um ihren Hals, an der ein Ring baumelte – ein großer, geschnitzter Ring mit einer ägyptischen Hieroglyphe, die einen Vogel darstellte.

Er blickte ihrem Vater nach, der die Tür hinter sich schloss, sank dann aber wieder in die Kissen. »Was will er dir denn heute für eine Lektion erteilen? Wie man sich weigert zu helfen und trotzdem die Brightwells als Verbündete behält?«

»Er hat ernst gemeint, was er gesagt hat. Es ist meine Entscheidung. Er hat sie mir überlassen.«

Jess musterte sie und stellte fest, dass ihre Miene fast ebenso unleserlich war wie die ihres Vaters, aber ihre Mundwinkel hoben sich ein wenig. Sie war belustigt.

»Ich kann mir vorstellen, dass du es als grausames Schicksal empfindest, den Launen eines unerfahrenen Mädchens ausgeliefert zu sein.«

»Möglich.«

Sie spielte versonnen mit dem Ring an der Kette. »Wir beide sind Kämpfer, Jess«, sagte sie. »Du und ich. Wir stammen aus den gleichen dunklen Winkeln. Glaube nicht, dass ich dich nicht verstehe … Aber sag mir eins: Warum bist du mit deinem Ansinnen nicht zu deinem Bruder gegangen? Das wäre doch sicher einfacher gewesen – und billiger?«

»Brendan?« Jess runzelte die Stirn. »Er ist nicht in Alexandria. Er ist wieder abgereist. Zurück nach London.«

»Nein«, sagte Anit. »Vielleicht solltest du deinen Zwillingsbruder ein bisschen besser im Auge behalten. Ich möchte dich nicht beleidigen, aber er kann ein fieser Kerl sein.«

»Klingt ganz nach meinem Bruder. Warum ist er noch hier?«

Sie hob die Hände, die Handflächen nach oben gekehrt. »Frag ihn selbst. Ich sage dir, wo er wohnt.«

»Und ihr wollt ihn loswerden, ist es das?«

»Ein Brightwell in Alexandria ist mehr als ausreichend. Uns wäre es lieber, wenn du dieser Brightwell wärst.« Sie ließ die Hände in den Schoß sinken und legte den Kopf schief. Ein echtes Lächeln huschte über ihre Lippen. »Ich hatte selbst zwei Brüder. Ich weiß, wie es manchmal sein kann.«

Jess räusperte sich. »Also, wie hast du dich entschieden? Dein Vater hat es dir überlassen.«

»Das hat er.« Sie musterte ihn lange, dann sagte sie: »Schwörst du, dass du niemals verraten wirst, woher du diese Informationen hast?«

»Ich schwöre es auf – auf was soll ich schwören?«

»Auf die Seele deines Erstgeborenen.« Jetzt grinste sie ganz unverhohlen. »So ist es Tradition.«

»So wie es aussieht, könnte es ein leeres Versprechen sein. Aber gut: Ich schwöre bei der Seele meines Erstgeborenen, dass ich niemandem erzählen werde, woher ich diese Informationen habe. Nicht meinen Freunden, nicht meiner Familie. Ich werde niemals das Haus des Red Ibrahim verraten.«

»Ich glaube dir«, sagte sie. »Und ehe du diesen Schwur brichst, Jess, denk daran, dass ägyptische Flüche grausam sind. Und schnell. Vergiss das nicht.« Sie erhob sich und ging auf die Tür zu.

»Warte! Wo willst du hin?«

»Ich hole das Buch, um das du gebeten hast«, sagte sie.

»Ich habe mein Buch nicht …«

»Ich vertraue dir«, sagte Anit. »Wenn ich es nicht täte, wärst du schon tot.«

Es dauerte nicht lange, was ihn überraschte; sie bewahrten diese unglaublich gefährlichen Informationen offenbar hier in ihrem Haus auf. Sein Vater wäre zutiefst schockiert. Das Geschäft der Brightwells war strikt getrennt vom Zuhause der Brightwells. Allerdings hatte Jess damals oft Bücher eingeschmuggelt – zum Lesen, nicht zum Handeln.

Gleich darauf war sie auch schon zurück und trug lässig ein kleines, in Leder gebundenes Buch bei sich. Es sah abgenutzt und schlicht aus, offensichtlich ein persönliches Notizbuch. Als er ihr den Band abnahm, fühlte er unter den Fingern eine raue Stelle auf dem Leder, und als er genauer hinsah, entdeckte er dunkle Flecken. Blut.

Er klappte das Büchlein auf, starrte hinein und sah Anit an. »Es ist verschlüsselt.«

»Natürlich«, sagte sie. »Und ich gebe dir den Dechiffriercode, wenn du mir die versprochene Zahlung bringst. Ich sagte, ich vertraue dir. Aber ich bin keine komplette Idiotin.« Sie zögerte einen Moment lang. »Jess, ich sagte doch, ich hatte zwei Brüder.«

Er war damit beschäftigt, die Seiten umzublättern und zu versuchen, ein Muster zu erkennen – eine nutzlose Anstrengung, natürlich, aber besser, als sich der Frustration hinzugeben. »Drohst du mir damit, sie auf mich zu hetzen, wenn ich nicht liefere? Ich werde liefern, versprochen.«

»Ich hatte zwei Brüder«, sagte Anit und legte die Hand an die Kette um ihren Hals und den eingravierten Ring, der daran hing. »Sie sind tot. Der Grund, weshalb sie tot sind, ist das Buch, das du in deinen Händen hältst.« Der Ring, stellte Jess fest, war für größere Finger gemacht als ihre. Für die Finger eines jungen Mannes.

Das traf ihn hart, ebenso wie die Erkenntnis, dass die dunklen Flecken auf dem Umschlag das Blut ihres Bruders sein mochten. Er sah auf und in ihre Augen. Sie waren genauso unleserlich wie die ihres Vaters.

»Wenn du versuchst, diese Informationen zu nutzen«, sagte sie, »wirst du sterben. Das würde ich nur ungern sehen. Du lässt dich auf einen schlechten Handel ein, Jess. Mein Vater hat viel für dieses Buch bezahlt, und am Ende hat es uns mehr gekostet, als es je wert sein könnte. Ich will dich nur warnen.«

Seine Kehle fühlte sich plötzlich zu eng an. Er zwang sich zu einem Lächeln und sagte: »Ich bin in einer Stunde mit dem Blake zurück.«

Sie nickte. »Ich werde warten.« Irgendwo hinter dem Haus begann ein Vogel laut und musikalisch zu singen und Anit wandte lächelnd den Kopf. »Das ist unsere zahme Feldlerche«, sagte sie. »Mein kleiner Bruder hat ein Haus für sie gebaut. Ihr Gesang ist wunderschön, findest du nicht auch?«

Jess hielt das blutverschmierte Buch in der Hand. »Ja, wirklich.«

Wenn das hier übel für ihn enden sollte, konnte er sich ja wenigstens jetzt noch einmal an dem fröhlichen, vertrauten Gesang eines Vogels erfreuen, den er auch zu Hause oft gehört hatte.

Ephemera

Text einer Nachricht des Artifex Magnus, Leiter der Artifex-Schule der Großen Bibliothek, an einen ungenannten Empfänger.

Ich grüße dich und wünsche dir alles Gute, tapferer Soldat. Du wurdest bereits über deine Mission ins Bild gesetzt, und ich weiß, dass du moralische Zweifel haben wirst. Doch mach dir keine Sorgen. Wenn du diesen Schuss abgibst, entfernst du damit einen der gefährlichsten Verräter aus den Reihen der Bibliothek. Einen Menschen, gegen den es kein anderes Mittel gibt als den Tod.

Ich gebe diesen Befehl nicht leichtfertig, und ich weiß, dass du ihn nicht leichtfertig ausführen wirst. Die Brandschatzer behaupten, ein Leben sei mehr wert als ein Buch, aber wir kennen die Wahrheit: Das Wissen lebt ewig, was man von keinem Menschen auf der Welt behaupten kann.

Also muss jemand, der das Wissen bedroht, aufgehalten werden – durch Überredung, durch Gewalt oder, wenn alles andere versagt, durch den Tod.

Sei gesegnet von deinem Gott oder deinen Göttern und von den Händen des Archivar Magister selbst, der diesen Befehl genehmigt hat.

SEINSIEGEL.

3

Als er den Blake aus seinem persönlichen Vorrat an seltenen Büchern geholt hatte und ihn Anit im Tausch gegen den Dechiffriercode übergab, war es noch immer dunkel, aber die Nacht neigte sich schon beinahe dem frühen Morgen. Wieder in seiner Unterkunft, verbrachte Jess Stunden damit, den Inhalt des Buchs zu studieren und Seite für Seite eine Übersetzung anzufertigen.

Die Ergebnisse waren höchst erstaunlich, und er wollte unbedingt weitermachen, aber um drei Uhr morgens schließlich waren seine Augen zu müde, um noch etwas klar zu fokussieren, und sein Gehirn zu betäubt, um zu denken. Jess gab sich geschlagen und fiel ins Bett, wo er schlief wie ein Toter … bis ein Klopfen an seiner Tür ihn weckte.

»Mpfh«, machte er und rollte sich seitwärts von seiner Pritsche. Am liebsten hätte er sich wieder hingelegt, um einfach zu sterben; nach der Übung am Vortag und den Abenteuern der Nacht fühlte er sich völlig zerschlagen. Er hatte nicht annähernd genug geschlafen. Das Buch, dachte er und griff danach und nach dem Bündel übersetzter Seiten. Sicherheitshalber stopfte er es in das Schmugglergeschirr, das langsam zu eng wurde, und warf sich dann einen Mantel über, um nachzusehen, wer vor seiner Tür stand.

Es war Glain in einer frischen Uniform. »Unangekündigte Übung. Mach dich bereit. Ist unsere letzte. Dreißig Minuten.«

»Glain …« Aber sie war schon weitergegangen, um an die nächste Tür zu klopfen. Er hatte gehofft, mit ihr reden zu können, aber dies war nicht der richtige Moment. Vielleicht war es besser, sich das für später aufzusparen, wenn alles vorbei war und er sie sanfter durch die Stadien von Schock, Trauer und Wut führen konnte, die er bereits hinter sich hatte.

Angezogen und mit einer Tasse süßen ägyptischen Kaffees gestärkt, joggte er mit seiner Gruppe zum Trainingsgelände und auf den ihnen zugewiesenen Platz, wo sie sich auf dem Feld formierten. Weitere Trupps sammelten sich ebenfalls, aber keiner, stellte Jess fest, hatte ihre Ergebnisse übertroffen.

Glain war nicht mit ihnen gekommen.

Sie ist nicht hier.

Das wurde ihm erst bewusst, als sie sich aufstellten und strammstanden. Es war nicht nur ungewöhnlich, dass Glain fehlte, es war noch nie vorgekommen, und er wechselte unauffällig einen raschen Blick mit seinem Nebenmann – Tariq, der ihn am Vortag angeschossen hatte. Tariq wirkte ruhig, schwitzte aber bereits. Von der Spitze des hohen Wachturms der Garda ertönte das Morgensignal … aber Glain war immer noch nicht da. Andere Trupps wurden inspiziert und durften abtreten. Jess’ Trupp hingegen stand immer noch stumm und stramm in der heißen Sonne. Falls die anderen sich genau wie er Sorgen machten, hatten sie ebenfalls gelernt, sich das nicht anmerken zu lassen.

Schließlich sah Jess einen der gepanzerten Transporter der Garda quer über das Gelände heranrasen. Glain Wathen sprang heraus, kurz bevor das dampfbetriebene Fahrzeug zischend zum Stehen kam. Ihr folgte ein Mann, den Jess nur flüchtig kannte: Kommandant Feng von der Hohen Garda. Er lächelte, aber seine Augen blieben kalt wie schwarze Eissplitter. Feng war noch nie zuvor auf dem Paradeplatz erschienen. Hatte sich noch nie mit ihrem Trupp abgegeben. Man sagte ihm nach, er sei äußerst schwer zufriedenzustellen.

Aus der Reihe hinter ihm hörte Jess, wie jemand erschrocken Luft holte, aber er konzentrierte sich darauf, so ruhig zu bleiben wie möglich. Fengs Blick – kalt und unbeteiligt – musterte jeden Soldaten. Dabei begutachtete er Jess genauso wie die anderen, nicht länger oder kürzer, und sagte kein Wort, bis er mit seiner Inspektion fertig war und mit Glain zurückkehrte, um sich vor ihnen aufzubauen. Hinter ihm und der jungen Truppführerin ging die unbarmherzig gleißende Sonne auf, im Gegenlicht war ihre Mimik nicht zu erkennen.

»Ergebnisse«, sagte Feng zu Glain. Zügig löste sie ein kleines, wasserdichtes Behältnis von ihrem Gürtel und klappte es auf. Darin befand sich ein Blanko-Buch, das mit den riesigen Archiven der Großen Bibliothek verbunden war. Auf dem Einband schimmerten das goldene Siegel der Bibliothek und die Feder von Ma’at – es war das Aufzeichnungsjournal des Trupps, das seinen Inhalt täglich in ein Blanko kopierte, das irgendwo in den entlegenen Räumen des Büros des Oberkommandanten lag.

Glain reichte es Feng mit beiden Händen, und er nahm es mit beiden Händen entgegen – ein Zeichen des Respekts für das Buch, nicht für sie. Er blätterte es durch, las ihre Berichte und Notizen und reichte es dann mit der gleichen Sorgfalt zurück. »Gut gemacht, Sergeant Wathen«, sagte er. »Gut gemacht, Trupp. Steht bequem.«

Ein erleichtertes Seufzen ging durch die Reihen, als alle das Gewicht verlagerten, sich breiter hinstellten und ihre Wirbelsäulen ein wenig lockerten. Ihre Erleichterung war verfrüht, denn Feng fuhr fort: »Ihr führt die Rangliste nach Punkten an, und deshalb haben wir beschlossen, euch heute einem besonderen Test zu unterziehen, der euch auf das Niveau bringt, das wir uns für euch wünschen. Seid ihr bereit, euch auszuzeichnen, Rekruten?«

»Ja, Sir«, antworteten sie alle wie aus einem Mund. Niemand musste ihnen diese Antwort vorgeben. Jedes Mitglied von Glain Wathens Trupp strebte stets nach Höchstleistungen … die Götter mochten sie schützen, wenn sie es nicht taten. Glain hatte ebenfalls in das »Ja, Sir« eingestimmt. Sie stand noch kerzengerader als alle anderen. Sie war ganz in ihrem Element.

Jess beneidete sie darum. Er selbst vermisste verzweifelt die tröstliche Ruhe in Gegenwart seiner Bücher. Das hier, dachte er, wird schlimm. Feng stellte sie sicherlich nicht vor eine besondere Herausforderung, um ihnen eine Freude zu machen … Jess hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es brutal werden würde.

»Trupp!«, rief Glain, und alle antworteten mit einem inbrünstigen »Sir!«. Sogar Jess. »Wir führen mit zwei Punkten Vorsprung in der Rangliste. Das ist nicht genug. Wir werden diese Übung mit einem respektablen Vorsprung von fünf Punkten abschließen, und zwar mit der höchsten Punktzahl! Ist das klar?«

»Ja,Sir!«, bellte Jess im Einklang mit den anderen. Er wollte diese verdammte Trainingsreihe genauso gern als Sieger abschließen wie Glain, aber die Aufmerksamkeit von Kommandant Feng auf sich gezogen zu haben, war bestenfalls ein zweifelhafter Segen.

Feng ging langsam vor ihnen auf und ab, dann sah er über sie hinweg und sagte: »Euer heutiger Auftrag ist eine Beschlagnahmung. Eure Aufgabe ist es, ein Haus nach geschmuggelten Büchern zu durchsuchen und diese, falls ihr fündig werdet, für die Bibliothek zu beschlagnahmen. Ihr könntet auf Widerstand stoßen. Seid auf alles vorbereitet.«

Das klang trügerisch einfach. Glain und Jess hatten als Postulanten im Rahmen ihrer Bewerbung für ihren jetzigen Posten an echten Beschlagnahmungsmissionen teilgenommen, und jedes Mitglied ihres Trupps hatte sich längst für viel schwierigere Aufgaben qualifiziert. Es hörte sich so einfach an, dass es angesichts ihres Ausbildungsstands fast einer Kränkung gleichkam.

Jess sah nach rechts zu einer Skandinavierin namens Helva, die stocksteif strammstand. Helvas flüchtiger Blick verriet ihm, dass sie sein Unbehagen teilte. Da stimmt was nicht. Wenn Glain dasselbe dachte, ließ sie es sich nicht anmerken, aber sie hatte schon immer das beste Pokerface gehabt, das Jess je gesehen hatte.

Glain drehte sich zu ihrem Trupp um. »In den Transporter«, sagte sie. »Bewegung!«

Sie quetschten sich hinein. Es war eng, aber der Transporter war für einen kompletten Trupp samt Ausrüstung ausgelegt. Jess setzte sich genau in dem Moment hin, als die Dampfmaschine zischte und der Transporter vorwärtsruckte. Auf dem flachen Gelände nahm er rasch Geschwindigkeit auf. Da es keine Fenster gab, konnte Jess nicht erkennen, wohin sie fuhren, nur dass sie schnell waren und eine weite Strecke zurücklegten. Der Paradeplatz war riesig und beherbergte um die zwanzig unterschiedlich gestaltete Umgebungen und Kulissen. In den meisten davon war er schon während der Ausbildung gewesen, auch in dem Areal, das als Kulisse für eine alexandrinische Straße diente. Er nahm an, dass sie dorthin unterwegs waren.

Er irrte sich.

Als der Transporter ruckartig zum Stehen kam und der Trupp hinaussprang, stellte Jess fest, dass sie sich am äußersten westlichen Rand des Übungsgeländes befanden: ein Sperrgebiet in der Nähe des Feldrands, in das sich die Auszubildenden nicht vorwagen durften. Als sich der Trupp hinter Glains kerzengerader Gestalt formierte, beschlich Jess wieder tiefes Unbehagen. Da stimmt was nicht, dachte er. Das vor ihnen liegende Stück Land war von einer hohen Steinmauer umgeben. Er konnte nur ein einziges Tor entdecken.

Hinter ihnen steigerte sich das blubbernde Zischen des Transporters zu einem stürmischen Seufzen, als er wieder anfuhr und davonraste, wobei er den Trupp mit einer langgezogenen Sandfahne bespuckte. Als Jess sich den Sand aus den Augen blinzelte, entdeckte er einen kräftig gebauten Mann in der Uniform der Hohen Garda mit zwei Horus-Augen am Kragen – ein Zenturio. Der Mann begutachtete ihren Trupp mit einem düsteren, unerbittlichen Blick. »In Ordnung«, sagte er. »Ausrüstung liegt zu eurer Rechten. Legt sie an. Ihr habt sechzig Sekunden Zeit.«

Jess und die anderen stürzten sich auf die Ausrüstungsstapel. Ein flexibler Panzermantel der Hohen Garda, auf dessen Rücken das Symbol der Bibliothek prangte, und eine schwere schwarze Waffe. Sie war nicht nachladbar. Jess war mit der Waffe nur allzu vertraut; er kannte sie aus Oxford, aus seiner Zeit als Postulant. Trotz der monatelangen Übung damals fühlte sie sich in seinen Händen wie ein heißes, fremdes Wesen an, ungewohnt und feindlich.

Sie brachte fürchterliche Erinnerungen zurück.

»Scharfe Munition?«, fragte jemand hinter ihm, als Jess seine Waffe überprüfte.

»Ihr habt scharfe Betäubungsmunition und reguläre Munition mit reduzierter Durchschlagskraft«, sagte der Zenturio. Sein Akzent klang nach dem südlichen Afrika, dachte Jess, und passte zu der glatten, dunklen Haut. »Sie ist trotzdem gefährlich, also zielt sorgfältig und versucht, euch nicht gegenseitig umzubringen.«

Jess schüttelte den Kopf; sie waren keine Anfänger, sondern ein eingespieltes Team, und sie alle hatten gelernt, wie sich die anderen bewegten. Er sah aus dem Augenwinkel, was die anderen taten und vorhatten. Seit der ersten gemeinsamen Woche hatten es keinen einzigen Zielfehler mehr gegeben. Nun, abgesehen von dem Zwischenfall mit Tariq, aber das war ein Befehl gewesen, kein Unfall.

Munition mit reduzierter Durchschlagskraft war nicht