Paradise City - Jens Lapidus - E-Book

Paradise City E-Book

Jens Lapidus

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Beschreibung

Der Nummer-1-Bestseller aus Schweden - »Jens Lapdius besticht durch seine einzigartige Mischung aus packender Spannung, reichhaltigen Charakterdarstellungen und einem ungeschönten Bild dessen, was aus der heutigen Gesellschaft geworden ist.« Yrsa Sigurðardóttir

Schweden in naher Zukunft. Die Polarisierung der Gesellschaft hat neue, beispiellose Ebenen erreicht. Zum Schutz der Privilegierten wurden Mauern errichtet, um die Bewegungen der Menschen in der sogenannten Sonderzone, einer Art No-Go-Area, einzuschränken. Es ist Wahljahr und obgleich Gefahr droht, beschließt die Innenministerin eine politische Kundgebung in Järva, einer dieser Zonen abzuhalten. Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen gerät sie in einen Hinterhalt und wird entführt. Daraufhin setzt die machtlose Polizei auf einen unorthodoxen Plan: Sie wollen Emir, einen verurteilten Verbrecher, der sich derzeit im Gefängnis befindet, undercover hinter die Mauern von Järva schicken, um die Innenministerin zu retten.

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Seitenzahl: 538

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Zum Buch

Schweden in der nahen Zukunft: Die Gesellschaft hat sich zusehends gespalten. In Stockholm leben Menschen mit Migrationshintergrund, sozial Schwache, Arbeitslose und andere Bürger am Rand der Gesellschaft in abgeriegelten Sonderzonen, in denen eigene Gesetze herrschen. Im Zuge des Wahlkampfs entschließt sich die amtierende Innenministerin Eva Basarto Henriksson, in Järva, dem größten dieser Gettos, das sonst kaum ein Mensch der Mittel- und Oberschicht betritt, zu Wahlkampfzwecken eine Rede zu halten.

Entgegen allen Sicherheitsmaßnahmen mit entsprechendem Security-Aufgebot kommt es zum Tumult. Die Lage eskaliert, und die Ministerin wird gekidnappt. Auch die Personenschützerin Fredrika Falck wird gefangen genommen, von den Entführern aber wieder freigelassen. Doch die Ministerin bleibt verschwunden. Stockholms Polizeibehörden sind verzweifelt, der öffentliche Druck wächst. Sie brauchen jemanden, der sich in der Zone auskennt. So kommen sie ausgerechnet auf den lebenslänglich verurteilten Kriminellen und ehemaligen Boxer Emir Lund, der ihnen bei der Suche helfen soll. Für Lund ist es vielleicht seine letzte Chance: Er ist nierenkrank und kann nur überleben, wenn ihm die Polizei seine teure Dialysebehandlung finanziert. Emir und Fredrika machen sich gemeinsam daran, die Ministerin lebendig zu finden.

Zum Autor

JENSLAPIDUS, geboren 1974, hat eine der erstaunlichsten Karrieren Schwedens hinter sich. Er ist nicht nur einer der angesehensten Strafverteidiger des Landes, sondern auch einer der erfolgreichsten Autoren. Durch seine anwaltliche Tätigkeit verfügt er über mannigfaltige Kontakte zu Schwerverbrechern und genuine Einblicke in die schwedische Unterwelt, die Normalsterblichen normalerweise verwehrt bleiben. Die Authentizität, Schnelligkeit und Direktheit seiner Romane suchen ihresgleichen. Seine Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt, vielfach preisgekrönt und mehrfach verfilmt.

JENS LAPIDUS

PARADISE CITY

THRILLER

Aus dem Schwedischen von Max Stadler

Die schwedische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Paradis City« im Albert Bonniers Förlag, Stockholm.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Dies ist eine Fiktion. Alle Verweise auf reale Begebenheiten, Institutionen, Orte oder Personen dienen lediglich dazu, ein fiktives Universum zu erschaffen.

Deutsche Erstausgabe Juli 2024

Copyright © Jens Lapidus 2021

© der deutschsprachigen Ausgabe 2024 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile nach einem Entwurf von Terese Moe Leiner

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

mn · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-28548-7V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

We believed in this place

like we believed in God, the King.

So we thumbed the rosary,

forgot about the colour of our skin.

But belonging in your folkhem

for us that’s still taboo.

You said: it’s us versus them,

now we pack AK47s too.

Aus »ArmaLite« von ResistanX, einem der in Schweden am häufigsten gestreamten Songs der letzten Jahre.

Gesetz über Sonderzonen (2025:1252)

Zweck

§ 1 Dieses Gesetz legt spezifische Maßnahmen fest, die in einer Sonderzone (gemeinhin als Zone oder die Zone bezeichnet) im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit des Landes angewendet werden können.

Definitionen

§ 2 Unter einer Sonderzone versteht man ein Wohngebiet mit mindestens 5000 Einwohnern, in dem der Anteil von Zuwanderern und Nachkommen von Zuwanderern aus nicht-westlichen Ländern mehr als 50 Prozent beträgt und in dem mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt ist:

Der Anteil der Einwohner im Alter von 18 bis 64 Jahren, die keine Ausbildung oder Beschäftigung haben, liegt bei über 40 Prozent.Der Anteil der Einwohner, die wegen einer Straftat verurteilt wurden, war in den letzten zwei Jahren mindestens dreimal so hoch wie der nationale Durchschnitt.

§ 3 Der Begriff Bandenmäßig organisierte Person (BOP) bezeichnet Bewohner/innen einer Sonderzone, die mindestens dreimal wegen Straftaten verurteilt wurden, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwölf Monaten geahndet wurden, und bei denen davon ausgegangen werden kann, dass sie an der organisierten Kriminalität beteiligt sind oder eine besondere Gefahr für die Allgemeinheit darstellen.

§ 4 Unter einem Sperrgürtel versteht man eine um eine Sonderzone herum errichtete Barriere, die den unkontrollierten Übertritt verhindert.

Spezifische Maßnahmen

§ 5 Wenn eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit des Landes besteht, ist das Amt für Sonderzonen befugt:

Identitäts- und Sicherheitskontrollen beim Betreten und Verlassen einer Sonderzone anzuordnen.Spezielle Anweisungen für als BOP eingestufte Bewohner zu erlassen, darunter fallen u. a.: Meldepflichten, Aussetzung von Krankenversicherungsleistungen und verschärfte Strafen bei Wiederholungstaten.Errichtung eines Sperrgürtels um die betreffende Sonderzone.

ERSTER TAG

6. Juni

1

Die Fahrstuhltüren öffneten sich mit einem Quietschen. Emir und Isak betraten die Kabine und fuhren in den dritten Stock hinauf. Laut Gerüchten spielten dort mehrere Leute in einer Wohnung Poker und hatten immer viel Geld auf ihren Zahlungs-Apps. Ihr Plan lautete, einfach hineinzumarschieren, sich das Geld zu schnappen und wieder zu verschwinden – ein schneller, unproblematischer Job.

Emir betrachtete sein Gesicht im zerbrochenen Spiegel an der Wand der Fahrstuhlkabine: die Boxernase, das markante Kinn und die Bartstoppeln. Früher hatte er dank der breiten Schultern, des kräftigen Nackens und des ernsten Blicks eine gewisse Autorität ausgestrahlt. Doch jetzt wirkte seine Haut schlaff und eingesunken entlang zweier Linien an seinem Hals, als hätte er eine Krankheit oder wäre ein Flüchtling aus Pakistan oder Weißrussland. Sein Blick kam nie zur Ruhe, als wäre er nervös oder ängstlich.

Er war sechsundzwanzig Jahre alt, fühlte sich wie zwanzig und benahm sich wie siebzehn. Manchmal hatte er das Gefühl, im Leben nicht so recht voranzukommen, andererseits stand er gerade kurz davor, groß abzusahnen. Er hätte bessere Laune haben müssen.

Aber ehrlich gesagt war durch Järva zu laufen, Leute zu bedrohen und sie dazu zu zwingen, ihr Geld herauszugeben, für einen Shuno wie ihn unter seiner Würde. Wobei die Würde nicht das eigentliche Problem war, sondern dass er sich bei jeder solchen Aktion fühlte wie ein Kind, das etwas falsch gemacht hatte und von seiner Mutter geschimpft wurde. Was er tat, machte ihn krank. Er wollte mit dem ganzen Scheiß nichts mehr zu tun haben.

Emir hätte niemals offen zugegeben, dass er es mit seinen sechsundzwanzig Jahren immer noch kaum fertigbrachte, den Leuten ein bisschen Geld abzuknöpfen – dabei hatte ihn der Staat als BOP eingestuft, also als jemand, der Verbindungen zu einer Gang hatte.

Irgendwann sollte er es echt mal mit etwas anderem versuchen, doch auf seinem Gebiet war er so gut, dass ihm sein Ruf vorauseilte. Emir, der Prinz: ein gefährlicher Shuno, ein Mann mit Neigung zur Gewalt und ein Spezialist für Raubüberfälle. Außerdem hätte er gar nicht aufhören können: Emir brauchte die Kohle. Er hatte keinen Appetit, sondern Hunger. Krumme Dinger hatte er ja schon immer gedreht, aber seit ein paar Jahren war alles anders: Er litt unter Nierenversagen und musste mindestens zweimal pro Woche zur Dialyse. Das kostete so viel Geld, dass er gar nicht erst dran denken wollte. Und der Staat weigerte sich, auch nur eine Krone zu zahlen.

Die Aufzugstüren öffneten sich langsam unter einem weiteren Quietschen. Sie waren oben.

Nun zählten nur noch drei Dinge: sich die Kohle schnappen. Sich die Kohle schnappen. Überleben. Aber das stimmte nicht ganz, denn es gab noch eine weitere Sache, die ihm wirklich wichtig war: seine kleine Perle, die das Leben lebenswert machte.

Hier und jetzt spielte das jedoch keine Rolle. Jetzt ging es nur darum, sich die Kohle zu schnappen.

Manche Leute nannten diese Gegend Paradise City.

In Wirklichkeit war es das genaue Gegenteil von Dschanna. Die Sonderzone von Järva war Dschahannam: die Hölle auf Erden.

Aber nun Schluss mit dem Gejammere. Stattdessen: ein paar tiefe Atemzüge und das Ding durchziehen. Pokerchips und Konten voller Geld – bald würde der Zaster ihm gehören.

Einfach nur rein und wieder raus.

Im Flur roch es nach Pisse und Gras, es war so warm wie in einem thailändischen Bordell.

Isak kaute Kaugummi wie eine Kuh. »Mann, ich glaube, wir sollten das Ganze lassen. Ich hab ein schlechtes Gefühl dabei.«

Das Gesicht seines Freundes war blass, sein T-Shirt zerrissen und seine Adidas-Hose an den Taschen ausgefranst. Seine Gucci-Mütze hatte ihre besten Tage längst hinter sich, aber Isak trug sie immer noch, als wäre sie ein Kufi oder so. Die Wahrheit war: Isak sah aus wie ein Opa. All die Sorgen und das viele Tramadol hatten den Alterungsprozess um ein Zehnfaches beschleunigt – die Schultern seines Kumpels waren krumm wie ein S, sein Rücken verbogen wie ein Z.

»Ganz ruhig, Bruder«, sagte Emir. »Wir lassen sie ein paar Überweisungen machen, das ist alles. Kurz rein und wieder raus.«

An der Tür war keine Klingel. Emir klopfte.

Niemand machte auf.

Er klopfte fester. Drinnen rief jemand etwas.

Er zog seine Pistole aus der Tasche und hielt sie gesenkt.

»Ich gehe nicht mit rein«, sagte Isak plötzlich.

Jetzt zu kneifen war ganz und gar nicht okay, aber ihnen blieb keine Zeit zum Streiten. Sein Freund würde stattdessen einfach draußen Wache halten. Emir wusste: Isak hasste Ärger, obwohl er genauso dringend Geld brauchte wie jeder andere.

»Aufmachen«, rief Emir.

Er hörte Schritte in der Wohnung. Der Deckel des Spions wurde klappernd zur Seite geschoben.

Die Tür flog auf: Ein Shuno mit blutunterlaufenen Augen und kahlgeschorenem Kopf stand in der Tür. »Was willst du?«

»Kann ich mitspielen?«

»Verpiss dich.«

Aggressives Gehabe. Schlechte Vibes. Es roch nach Ärger.

Emir hatte keinen Bock auf diesen Scheiß – er hob seine 9 mm und drückte sie gegen die Brust des kahlen Bastards.

Der Boden im Flur, durch den Emir den Kerl vor sich herschob, war schmutzig. Der Geruch von Bratfett und Gras schlug ihm entgegen. Der kahlköpfige Shuno war für jemanden, der eine Waffe im Rücken hatte, erstaunlich ruhig.

Als sie das Wohnzimmer betraten, drehten sich drei Gesichter zu ihnen um. Es war wie das Standbild eines Films: Der grüne Filztisch zwischen den drei Männern war mit Spielkarten und Pokerchips bedeckt. Alle starrten auf die Waffe in Emirs Hand.

Einer von ihnen sah aus wie jemand, den Emir hier nie erwartet hätte. Mahmoud Gharib.

Konnte das sein?

Mahmoud hatte irre Tätowierungen auf den Oberarmen, einen ungewöhnlich gut gepflegten Bart und eine Narbe quer über seiner Wange, so scharf wie von einem Laserstrahl. Auf seinem Bizeps stand: .

Ja. Er war es. Scheiße.

Mahmoud Gharib: der Sicherheitschef der Muslimbruderschaft. Ehemaliger Anführer der Lazcanos. Einer der härtesten Kerle in der gesamten Sonderzone Järva. Wegen seiner Brutalität eine Legende des Gettos, ein verrückter Shurda, über den Emir schon als Kind Gerüchte gehört hatte. Die Leute in der Gegend zitterten wie Vibratoren, sobald sie seinen Namen hörten. Es hieß, dass sich sogar die Kerle von der Zonen-Polizei in die Hose machten, wenn der Boss auftauchte. Hierzulande war er besser bekannt als Abu Gharib.

Und jetzt zielte Emir mit einer 9 mm direkt auf ihn und seine Leute.

Verdammt.

Abu Gharibs Augen waren dunkel wie eine mondlose Nacht. Wenn Emir das gewusst hätte, hätte er es nicht einmal gewagt, mit einem Blumenstrauß in der Hand an der Tür zu klopfen. Er sah Pistolen auf dem Tisch hinter den Männern – man spielte immer unbewaffnet –, ihre Schutzwesten lehnten an der Wand. Bei Hold’em oder Omaha schwitzte man auch so schon genug. Er musste sich jetzt etwas Gutes einfallen lassen, um sich aus dieser Situation zu befreien.

»Wer bist du?« Abu Gharibs Stimme war übertrieben ruhig, übertrieben langsam – übertrieben bedrohlich. Emir sollte einfach abhauen. Rein und raus – langsam rückwärtsgehen und losrennen. Doch genau in diesem Moment ertönte hinter ihm ein Krachen. Er drehte sich um. Es war zu spät: Die Tür zum Flur wurde eingetreten. Drei uniformierte Männer stürmten mit gezogenen Waffen herein. »POLIZEI«, brüllten sie.

Abu Gharib und die anderen sprangen auf. Der Tisch kippte um, die Karten flogen durch die Gegend. Emir schaltete rasch.

»Runter auf den Boden! Waffe fallen lassen!«, schrien die Bullen.

Die Männer am Tisch stürzten in Richtung Schlafzimmer.

»Halt!«, schrien die Bullen.

Es hörte sich so an, als würde Isak draußen an der Tür schluchzen. Emir durfte auf keinen Fall in den Knast wandern, dort wäre er erledigt. Er sollte diese Bullen abknallen – ihnen ein Loch nach dem anderen verpassen. Niemand wusste, dass sie hier waren, und wenn er sich richtig erinnerte, waren sie auf dem Weg hierher an keiner funktionierenden Überwachungskamera vorbeigekommen.

Es kam oft vor, dass er irgendwelchen Idioten wehtat – das hier ging jedoch einen Schritt weiter. Trotzdem: Als ehemaliger MMA-Star spürte Emir gern die Haut, auf die er einschlug. Mit einer Schießerei dagegen war er überfordert. »Lauf!«, rief er Isak zu, dann rannte er den anderen hinterher. Das Fenster im Schlafzimmer war offen. Abu Gharibs Arsch war schon halb draußen, die anderen waren ihm voraus. Die schmale Galerie vor der Wohnung war wie ein langer Balkon mit einem einzigen Ausgang – eine Rennstrecke für Menschen auf der Flucht.

Die Bullen brüllten.

Das Bett war ungemacht, die Laken grau vor Dreck. Emir hechtete hinter Gharib aus dem Fenster und landete zwischen Fahrrädern und Skateboards. Auf dem Absatz lagen zwei wimmernde und stöhnende Bullen – Abu Gharibs Jungs hatten sich schon um sie gekümmert. Und da war Isak: Er blickte drein wie ein verdammter Esel. Emir rannte los, Isak ein paar Meter vor ihm. Sein Kumpel wollte kein Gangster sein, aber jetzt war er gezwungen, wie einer abzuhauen. Die anderen waren noch weiter vorne und bereits auf dem Weg zum Treppenhaus. Nike Air Max auf der Flucht. Die Treppe hinauf, nicht hinunter – wahrscheinlich warteten draußen noch mehr Bullen. »Habt ihr Knarren?«, rief Abu Gharib seinen Männern zu.

»La, la«, riefen sie auf Arabisch zurück – keiner von ihnen hatte es geschafft, sich vor der Flucht seine Waffe zu schnappen. Im Moment war Emir die einzige bewaffnete Person. Bis auf die Bullen, die hatten Gewehre.

Gharib drehte sich zu ihm um: »Was bist du denn für ein verdammter Idiot?« Sie hörten die Schritte der Bullen weiter unten auf der Treppe. »Sie müssen dir gefolgt sein«, zischte der Boss. Emir nahm fünf Treppenstufen auf einmal. Seine Lunge drohte zu platzen. Gharib irrte sich: Emir hatte sie nicht hierhergeführt.

Vom Flachdach des Gebäudes sah Järva wie eine große Betonwüste aus. Gharibs Männer standen am äußersten Rand: Sackgasse. Was wollte der Boss hier oben? In diesem Moment überfielen ihn die Kopfschmerzen. Es war so schlimm, dass Emir kaum noch den Schädel bewegen konnte. Für einen Anfall war das der denkbar schlechteste Moment. Der neurologische Tribut, den die Kämpfe gefordert hatten, hatten die Ärzte gesagt.

In diesem Moment begriff er Abu Gharibs Plan.

»Springt!«, rief der Chef.

Genial.

Der erste Typ nahm Anlauf und sprang mit den Beinen ins Leere tretend durch die Luft. Er landete auf dem Dach des nächsten Gebäudes. Scheiße, das waren mindestens vier Meter. Aber der Typ war vor den Bullen in Sicherheit. In Emirs Kopf blitzte es ununterbrochen. Isak keuchte. Der nächste Typ tat dasselbe: Er sprang auf die andere Seite und rannte davon. Dann war der Glatzkopf an der Reihe. Er machte sich bereit, sein schweißnasser Schädel glitzerte im Sonnenlicht. Er flog durch die Luft, die Arme vor sich, die Hände ausgestreckt. Er kam nicht weit genug, rutschte ab, hatte keinen Boden unter den Füßen, aber es gelang ihm, sich an der Kante des Gebäudes festzuhalten. Einen Zentimeter vom Tod entfernt. Er zog sich hoch und war frei wie ein Vogel. Emir, Abu Gharib und Isak noch auf der anderen Seite. Emir wusste, was Isak dachte. Sein Kumpel hielt sich für nicht fit genug, um den Sprung zu schaffen – »Training war noch nie mein Ding«, sagte er immer. Sie hörten die Schritte der Bullen – in ein paar Sekunden würden sie hier sein. Ich werde es auch nicht schaffen, dachte Emir durch seine Kopfschmerzen hindurch.

Isak schien seine Gedanken zu lesen. »Doch, das schaffst du, Bruder«, sagte er. »Du bist ein Athlet. Du kannst es schaffen.«

Ich war ein Athlet.

Gharibs Augen verengten sich zu Schlitzen. »Die Polizisten werden in fünf Sekunden hier sein«, sagte er. »Wirst du dann tun, was du tun musst?«

Emir spürte die Pistole in seiner Hand. Die Kopfschmerzen verhinderten jeden klaren Gedanken. Er konnte die Frage des Chefs nicht beantworten.

Plötzlich veränderte sich Gharibs Gesichtsausdruck: Er starrte Emirs Tätowierung an.

9KO – neun Knockouts. Der Boss wirkte interessiert, neugierig.

»Ich kenn dich doch«, sagte er. »Du warst der Prinz. Ich habe dich immer angefeuert.«

Die Kopfschmerzen fraßen Emir von innen auf.

»Gib mir die Waffe«, sagte Abu Gharib und streckte eine Hand aus. »Dann übernehme ich das.«

Die Tür zum Treppenhaus hinter ihnen flog auf, und die Polizisten schwärmten aus. Sie fuchtelten mit ihren Gewehren. Sie brüllten. Versperrten die Fluchtwege. Einer packte Isak.

Abu Gharib hielt immer noch die Hand auf. Gib mir die Pistole, sagte sein Blick.

»Waffe fallen lassen!«, brüllten die Polizisten.

Isak riss sich los.

Emir hob die Makarow, aber er gab sie nicht dem Boss. Er drückte ab. PENG. Der Rückstoß war gewaltig.

PENG.

Die Polizisten warfen sich zu Boden, während Gharib Anlauf nahm. Westjärvas mächtigster Mann sprang los, schwebte unwirklich lange durch die Luft und landete wie ein schwerer Sack voll Presskoks auf der anderen Seite. Emir musste hinterher, aber es war zu weit. Er würde es nicht schaffen. Er hatte geglaubt, er wäre über solche Selbstzweifel hinaus, aber er war ein Idiot. Ein Verlierer, der jeden Glauben verloren hatte. Er warf seine Waffe weg und hob die Hände. In diesem Moment sah er Isak. Sein Freund lag auf dem Boden, seine Lippen zitterten, und an seiner Schläfe klebte Blut. Die brüllenden Polizisten waren verschwommene, surreale Gestalten im Hintergrund.

Emir stürzte auf ihn zu. »Bruder«, flüsterte Isak. »Du hättest es geschafft. Du hättest springen sollen.« Sein Kaugummi lag wie ein Häufchen weißer Vogelscheiße neben ihm.

Die Polizisten hatten keine Schüsse abgegeben. Nur eine einzige Person auf dem Dach hatte seine Waffe abgefeuert. Emir hatte seinen besten Freund angeschossen.

Das hier war kein rein und raus.

Es war einfach nur raus. Isak war jetzt auf dem Weg ins wahre Paradies.

2

Fredrika blickte hinaus auf die Menschenmenge. Es war ein heißer Tag, über 35 Grad. Der Platz war trotzdem gerammelt voll. Ihrer Schätzung nach waren es mehr als zwanzigtausend Teilnehmer, das größte Publikum des Jahrzehnts. Das schwedische Volk hatte sich ganz eindeutig an die Hitze gewöhnt.

Innenministerin Eva Basarto Henriksson wartete im gepanzerten Volvo. In genau elf Minuten würde Fredrika sie auf die behelfsmäßige Bühne begleiten, wo sie ihre Rede halten würde. Der Gruppenführer stand vor dem Wagen und gab Befehle, wobei er mit dem ausgestreckten Arm gestikulierte. Der Hörer steckte wie ein Klumpen Wachs in seinem Ohr. Fredrika wusste, dass die Vorbereitungen abgeschlossen waren, da sie besser informiert war als der Einsatzleiter selbst. Die Agenten des Personenschutzes waren in Position. Jeder, der an der heutigen Operation beteiligt war, hatte im Hauptquartier die nötigen Informationen und Anweisungen erhalten. Das kugelsichere Glas war angebracht, die technischen Sicherheitsmaßnahmen in Betrieb. Mikrofon und Lautsprecheranlage waren installiert, das Podium auf Sprengstoff untersucht und die Waffen überprüft.

Trotzdem konnte sie das Unbehagen nicht abschütteln, das sie schon den ganzen Tag quälte. Es gab keinen gefährlicheren Ort für eine schwedische Politikerin als die Järva-Sonderzone mit ihren vielen verschiedenen Gruppen – die Gangs, die islamischen Organisationen und die Bewegung. Aber es war Wahljahr, und viele Menschen würden sich nicht die Mühe machen, wählen zu gehen, wenn ihnen niemand Hoffnung einhauchte. Außerdem hatte der Personenschutz seine Präsenz durch sieben zusätzliche Scharfschützen auf dem Dach erhöht.

Fredrika hatte sich vorgenommen, ihre Arbeit heute besonders gut zu erledigen.

Wobei: Das tat sie immer. So war sie einfach.

Arthurs Leinenjacke war zu zerknittert, um den Vorschriften zu entsprechen, seine Haare standen wie immer wirr vom Kopf ab, und seine Schuhe waren staubig. Er hätte bereits auf dem Dach sein sollen, das Ziel im Visier und das Gewehr schussbereit.

»Ich weiß, dass du es für unnötig hältst, dass sie ausgerechnet hier spricht«, zischte er gerade leise genug, dass der Gruppenführer es nicht hören konnte.

Fredrika nickte. Arthur hatte recht.

»Auf den Dächern von Paradise City gibt es keinen Schatten«, fuhr er fort. »Die sind alle gleich trist und flach. Ich werde gegrillt.«

Arthur war nicht der einzige Kollege, der die Umgebung sarkastisch als »Paradise City« bezeichnete. Wie allen anderen Kollegen war ihm selbstverständlich klar, dass das Stockholmer Viertel Järva höchstens ein Paradies für Ganoven war. Einige sahen in dem Stadtteil das ins Gegenteil verkehrte alte sozialdemokratische Ideal des Folkhems: ein Ort, an dem die Kriminellen schalten und walten konnten und die Polizei so viel Autorität besaß wie ein Vertretungslehrer in einer achten Klasse. Vielleicht war damit auch gemeint, dass die übrige Stadt das Paradies dagegen war. Paradise City sollte die übrige Stadt entlasten, da die Kriminellen in einem abgeschlossenen Bereich konzentriert waren. Das Problem war jedoch, dass hier auch andere Menschen lebten und unter den Konsequenzen litten.

Auf einem der Bildschirme wurde das Gesichtserkennungsprogramm einem letzten Test unterzogen, indem die Kamera auf Fredrika selbst gerichtet war. Es fühlte sich seltsam an, das eigene Gesicht zu sehen – ihr Kinn erschien ihr kantiger als gewöhnlich, dabei hatte sie noch nicht einmal die Zähne zusammengebissen. Außerdem fand sie, dass sie älter aussah, als sie war, aber vielleicht lag das auch an ihrem Blazer und dem ernsten Ausdruck auf ihren Lippen. Oder daran, dass sie ihr straßenköterblondes Haar hochgesteckt hatte, um den Vorschriften zu entsprechen, die ein offenes Tragen nur bis zu einer Länge von 150 Millimetern erlaubten.

Der FR-Scanner wurde auf die Menge gerichtet. Es war so weit.

EBH trug ein grünes Kostüm und dazu passende Schuhe, als sie das Podium betrat, dazu eine große Schmuckkette mit einem Bernstein um den Hals. Sie war gut gekleidet, aber nicht zu protzig. Für viele war Eva Basarto Henriksson ein Vorbild, oder wie es in Järva hieß: eine »Batallah«, eine Heldin. Sie ließ sich nichts gefallen und schämte sich auch nicht, offen zuzugeben, die nächste Premierministerin des Landes werden zu wollen. Dies war der Auftakt ihres Wahlkampfes.

Basarto Henriksson hielt sich mit beiden Händen an den Seiten des Podiums fest, das Plexiglas vor ihr glitzerte im Sonnenlicht. Die Musik wurde leiser. Der Beifall ebbte ab.

Sie holte tief Luft und begann zu sprechen. »Freunde und Einwohner von Järva, ich möchte mich zuallererst bei allen bedanken, die es ermöglicht haben, dass wir heute hier versammelt sind. Allen Organisatoren und Freiwilligen. Es ist wunderbar, wieder hier zu sein, und es freut mich, dass trotz der Hitze so viele von euch gekommen sind.«

Fredrika blickte auf die Menge vor sich. Palästinensische und salafistische Fahnen wehten neben roten Bannern mit einer grünen Faust – dem Symbol der Bewegung. Sie sah handgemalte Plakate mit den Porträts von Basarto Henriksson sowie Imamen und Clanchefs aus dem Libanon und Deutschland darauf.

Ein paar Fotografen hatten die Erlaubnis, vorne bei den Absperrungen zu stehen und mit grellem Blitzlicht Bilder zu machen.

Fredrika hielt nach auffälligen Personen in der Masse Ausschau. Arthur hatte sich gemeldet. Er befand sich jetzt auf dem Dach. »Es ist verdammt heiß hier oben«, sprach er in ihr Ohr. »Das Gegenteil von Paradies.«

Basarto Henrikssons Füße bewegten sich hinter dem Podium, als wollte sie eine Reihe von kleinen Ballettschritten ausführen, erste, zweite, dritte Position. Fredrika versuchte, sich die Ministerin als Balletttänzerin vorzustellen. Es war absurd – die Frau war fünfundvierzig und strahlte nichts als pure Macht aus.

Die Szenerie erinnerte sie an die Rede, die EBH einige Monate zuvor auf dem Göran-Perssons-Platz gehalten hatte – mit dem entscheidenden Unterschied, dass die achtstöckigen Hochhäuser hier unangenehm nahe waren und etwa fünfzehn Prozent der Zuschauer Niqabs oder Burkas trugen, was die Identifikation durch die automatische Gesichtserkennung deutlich erschwerte.

Die Stimme der Ministerin hallte über den Platz: »Heute ist unser Nationalfeiertag, ein Tag, an dem wir Schweden feiern, und für mich persönlich ist es auch ein sehr besonderer Tag. Mein Vater floh vor Krieg, Angst und Armut in dieses Land. Er hat mich gelehrt, das zu schätzen, was wir hier gemeinsam haben.« Sie machte eine Pause, um ihre Worte wirken zu lassen. »Dies ist ein fantastisches Land, aber das bedeutet nicht, dass es keine Herausforderungen gibt. Wir dürfen nicht zulassen, dass Kriminelle unsere Demokratie unterwandern. Wir müssen uns schützen.«

Fredrika hörte Arthurs Stimme. »Was ist denn da los?«

Er war am schnellsten von Begriff. Fredrika realisierte einen Sekundenbruchteil später, was er meinte: Einige Leute im hinteren Bereich fingen an, Lärm zu machen. Es hörte sich so an, als würden sie schreien, auch wenn Fredrika kein Wort verstehen konnte. Die aus den Lautsprechern dröhnende Stimme von Basarto Henriksson übertönte alles. »Wir müssen unser Schwedentum bejahen. Und dazu gehört auch, Unterschiede zu akzeptieren.«

Die Stimmen im hinteren Bereich wurden immer lauter – es waren ein paar Dutzend Menschen, vielleicht um die fünfzig. Fredrika hielt sich das Ohr zu, das näher am Lautsprecher war, um die Rede auszublenden, aber sie konnte immer noch nicht verstehen, was sie riefen.

Fredrikas hünenhafter Kollege Niemi stand auf der anderen Seite des Podiums. »Kann jemand sehen, was da los ist?«, fragte Fredrika über Funk. »Es sind nur ein paar Schreihälse«, antwortete Arthur. »Keine ungewöhnlichen Bewegungen in der Menge. Wahrscheinlich ist es gleich wieder vorbei.«

Basarto Henriksson hielt inne und bewegte den Kopf langsam von links nach rechts, wie ein lauernder Tyrannosaurus Rex, der darauf wartet, dass sich seine Beute beruhigt. Aber niemand beruhigte sich.

Schließlich verstand Fredrika, was die Leute riefen: »Freiheit!«

Basarto Henriksson schien davon unbeeindruckt. Sie sprach einfach langsamer. »Abbruch«, befahl der Gruppenleiter über Funk. »Es ist zu unruhig da unten, wir müssen abbrechen.«

Fredrika nickte Niemi auf der anderen Seite des Podiums zu, dann trat sie einen Schritt vor und klopfte Basarto Henriksson auf die Schulter. Die Ministerin drehte sich nicht einmal um.

»Wir müssen mehr Arbeitsplätze schaffen. Aber wir müssen auch diejenigen von uns fernhalten, die Verbrechen begehen. Manche Leute sind der Meinung, dass der Sperrgürtel die Probleme verstärkt, dass es schwieriger wird, außerhalb davon zu arbeiten …«

Fredrika beugte sich zu ihr vor, ohne den Platz aus den Augen zu lassen. »Es tut mir leid, aber Sie müssen jetzt aufhören«, flüsterte sie.

Die Ministerin schüttelte den Kopf, beugte sich stattdessen zum Mikrofon herab und holte tief Luft. Doch dann hielt sie inne. Ein Gegenstand flog durch die Luft, ein Turnschuh. Fredrika versuchte, sich vor die Ministerin zu schieben, aber es war zu spät. Der Schuh traf Basarto Henriksson am Kopf, sie taumelte, die bernsteinfarbene Halskette schlug gegen ihre Brust.

Fredrika stieß die Ministerin nach hinten und stellte sich vor sie, um sie mit dem eigenen Körper zu schützen. »Alles okay?«

Basarto Henriksson nickte.

Fredrika, Niemi und ein dritter Kollege gingen in Position. Es war höchste Zeit, die Ministerin von der Bühne zu geleiten. Fredrika machte sich so breit wie möglich, Niemi tat es ihr gleich. Der dritte Kollege stand am Bühnenrand und hatte die Anweisung, den Platz nicht aus den Augen zu lassen.

»Freiheit, Freiheit, Freiheit«, skandierten immer mehr Menschen.

Fredrika drückte Basarto Henrikssons Kopf nach unten.

»Ich weiß nicht, wie Sie heißen, aber Sie sind viel zu nervös«, zischte die Ministerin. »Ich werde keine Angst zeigen.«

Fredrika und Niemi hatten die Arme um die Ministerin gelegt. Ein paar Sekunden lang standen sie da wie ein tanzendes Trio. Die Menge brüllte.

Da zuckte Niemi zusammen.

Fredrika sah auf.

Ihr Kollege umklammerte mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Schulter.

In Fredrikas Kopf herrschte Stille. Keine Schreie. Kein Gebrüll.

Der Platz hielt den Atem an.

»Ich wurde getroffen«, sagte Niemi mit belegter Stimme.

Blut sickerte am Rand der schusssicheren Weste durch sein Jackett.

»Niemi wurde angeschossen. Er ist verwundet«, rief Fredrika ihren Kollegen zu.

Das Publikum hörte es auch – und das Tosen, das sich nun auf dem Platz ausbreitete, ähnelte ihrer Vorstellung von einem Tsunami.

Dann sah sie, wie der Bauzaun schwankte und fiel. Die Absperrung war an mehreren Stellen durchbrochen, was eigentlich nicht möglich sein sollte.

Es war verrückt. Die Menge drängte nach vorne, etwa zwanzig Personen kletterten bereits auf die Bühne. Fredrika schob eine Hand unter ihre Jacke. Sie musste jeden Augenblick in der Lage sein, die Waffe zu ziehen.

Der Teamleiter brüllte ihr ins Ohr: »Holt sie da raus, verdammt noch mal, holt sie da raus.«

Niemi krümmte sich vor Schmerzen. Er hielt sich die Schulter und keuchte schwer. Fredrika und der dritte Kollege schoben die Ministerin vor sich her. Hunderte von Menschen strömten nun auf die Bühne und schrien und brüllten.

»Zurück«, rief Fredrika, aber es war zu spät.

Niemand reagierte. Niemand blieb stehen.

Die Leute zerrten an ihnen. Einige versuchten, die Ministerin zu packen, andere fuchtelten wild mit den Händen.

EBH atmete sehr schnell.

Fredrika deckte sie von hinten und bugsierte sie zum Ausgang. Der Kollege auf der anderen Seite tat dasselbe. Niemi hingegen war zurückgefallen.

Alles ging blitzschnell. Jemand packte die Ministerin, Fredrika hielt sie ebenfalls fest, aber Basarto Henrikssons Arm war unglücklich verdreht. Wenn Fredrika nicht losließ, würde sie der Ministerin die Schulter brechen. Menschen drängten sich zwischen sie, Menschen brüllten, Menschen zerrten an ihnen. Ein wogendes Meer, eine riesige Amöbe aus Körpern. Basarto Henriksson wurde aus Fredrikas Griff gerissen und weggezerrt.

Es war zu spät – für einen kurzen Moment schien es, als würde die Ministerin über der Menge schweben, auf ihr surfen wie ein Rockstar, der von den begeisterten Fans auf Händen getragen wird. Doch dann fiel sie.

Fredrika stieß jemanden zu Boden, schlug jemandem ins Gesicht und sprang dann selbst hinterher.

»Sie wurde von der Bühne gezerrt«, rief sie.

Der Einsatzleiter bellte Befehle: Der verletzte Kollege Niemi müsse versorgt werden, Basarto Henriksson müsse zurückgeholt werden.

Eine gleichförmige Menschenmasse. Ein feindlicher Organismus.

Die Scharfschützen waren so positioniert, dass sie die Ministerin absichern konnten, während sie ihre Rede hielt, aber nicht für eine solche Situation, wo sie sich inmitten eines Menschenmeers befand. Fredrika zog ihre P226. Die Ministerin war ein paar Meter von ihr entfernt, doch es kam nicht infrage, die Waffe zu benutzen. Da waren die polizeilichen Vorschriften eindeutig: Der Einsatz von Schusswaffen ist grundsätzlich nur in Situationen vorgesehen, in denen es keine Alternative dazu gibt.

Sie senkte die Sig Sauer. Ihre Kollegen machten sich manchmal über sie lustig, nannten sie die Prinzipienreiterin, aber sie war eben der Ansicht, dass eine gute Polizistin die Vorschriften zu befolgen hatte.

»Fredrika, schieß! Schieß dir den Weg frei«, rief ihr der Einsatzleiter ins Ohr.

Es war, als würde Basarto Henriksson von einer Welle davongetragen. Weg von Fredrika, Meter für Meter.

Es waren zu viele Menschen. Es war zu eng.

»Schieß!«, rief der Einsatzleiter erneut.

»Das geht nicht, da sind zu viele Leute im Weg«, keuchte Fredrika.

Offenbar waren keine Kollegen in der Nähe. Und auch keine regulären Polizeibeamten.

Dann sah sie die Ministerin wieder, neun, zehn, zwölf Meter vor sich. EBH wurde nicht planlos durch die Menge getragen – drei halbmaskierte Männer zerrten an ihr und schleppten sie davon. Die Menschen rundherum schienen immer noch nicht verstanden zu haben, was hier vor sich ging. Fredrika schon. Das Ganze war geplant.

»Sie wird von drei Männern verschleppt«, rief sie ins Funkgerät.

»Folg ihr«, brüllte der Einsatzleiter.

Fredrika spähte durch die Menge.

So viele blockierten den Weg. Ein junger Mann mit einer Kappe stellte sich vor sie.

Er starrte ihr direkt in die Augen und rief etwas.

Sein Gesicht explodierte.

Blut und Hirnmasse regneten auf Fredrikas Oberkörper.

Er brach zusammen.

Eine Stimme in ihrem Ohr. »Treffer.« Es war einer der Scharfschützen.

»Vorwärts, Fredrika«, brüllte der Einsatzleiter erneut.

Ein weiterer Schuss. Eine verschleierte Frau sank zu Boden.

Die Ministerin war etwa zwanzig Meter entfernt.

Ein Mann mit kahlgeschorenem Kopf bekam einen Schuss ins Bein ab, das einknickte wie ein abgebrochenes Streichholz.

Eine Frau in einer Weste schrie und duckte sich.

Ein bärtiger Mann geriet ins Stolpern.

Fredrika drängte sich durch einen Pfad aus am Boden liegenden Körpern und schreienden, am Boden kauernden Menschen.

Das war völlig irre, die Scharfschützen mussten sofort aufhören. Die Menge war bereits in Aufruhr gewesen, nun aber brach allgemeine Panik aus, und der Tumult wurde noch größer. Wut und Schrecken.

Die Angreifer bewegten sich schnell, und jetzt sah sie auch, warum: Sie waren ebenfalls bewaffnet, Mini-Uzis – die Menge teilte sich vor ihnen wie das Rote Meer.

Die Ministerin wehrte sich, die Männer zerrten brutal an ihr, trotzdem kamen sie jetzt langsamer voran als Fredrika. Sie waren fünfzehn Meter vor ihr. Die Leute warfen sich zur Seite, ob aus Angst oder weil die Scharfschützen sie wirklich getroffen hatten, wusste sie nicht.

Fredrika hob die Pistole zum zweiten Mal in die Luft.

Wenn man eine Waffe abfeuert, dann um das Ziel vorübergehend unschädlich zu machen. Daher sollte der Schuss möglichst auf die Beine gerichtet sein.

Ein Auto brauste heran und bahnte eine Schneise durch die Menschenmassen. Ein kleiner Fiat. Die Männer rissen die Türen auf und warfen Basarto Henriksson auf den Rücksitz.

Fredrikas Finger krümmte sich um den Abzug, sie drückte aber nicht ab.

Sie sah weinende Kinder. Blutende Männer. Auf dem Boden liegende Frauen.

Die Scharfschützen versuchten, das Fahrzeug zu stoppen. Kugeln bohrten sich in den Wagen.

Es half nichts. Die Autotüren knallten zu.

Der Wagen startete und fuhr im Slalom zwischen den Menschen hindurch, noch mit relativ niedriger Geschwindigkeit.

Fredrika sprintete hinterher, so schnell sie konnte.

»Schießt auf die verdammten Reifen!«, brüllte der Einsatzleiter.

Sie war die Einzige, die nahe genug war. Sie musste einen Treffer landen, um den Wagen zu stoppen. Fünf Meter.

Sie stellte sich breitbeinig hin. Hob erneut ihre Waffe. Sie hatte einen Reifen genau im Visier. Sie konnte den Wagen stoppen. Kein Problem für eine Elitesoldatin.

In diesem Augenblick traf etwas Hartes ihren Kopf, ein Stein fiel neben ihr zu Boden, sie spürte, wie ihre Knie nachgaben. Sie durfte nicht umfallen, sie hatte einen Befehl auszuführen.

Die Welt drehte sich, sie schnappte nach Luft.

Der Junge, der nur ein paar Meter von ihr entfernt stand, war vielleicht zehn Jahre alt. Er grinste, hob die Hand – Fredrika sah einen weiteren Stein. Er war bereit, sie umzubringen.

Bereit, einer Unbefugten den Zutritt zu verweigern. Polizisten aufzuhalten. Dafür zu sorgen, dass die Schweden nicht in sein Territorium eindrangen.

Prinzipienreiterin: eine Polizistin, die ihre Waffe aufgrund der Vorschriften nicht abgefeuert hatte. Und kurz bevor sie doch so weit gewesen war, hatte man sie außer Gefecht gesetzt.

Das Letzte, was sie hörte, waren die Rufe der Menge auf dem Platz.

»FREI-HEIT!«

3

Die Shoken Awards wurden während einer großen Gala verliehen, und Nova war in der wichtigsten Kategorie nominiert. Sie wollte unbedingt gewinnen.

Der Mann, der den Preis überreichte, war offenbar Schriftsteller. Aber mal ehrlich, was war das für ein Beruf? Schriftsteller? Sie konnte sich nicht einmal an seinen Namen erinnern. Man hatte ihn ihr vorhin gesagt, aber sie hatte ihn sich nicht gemerkt.

»Er ist eigentlich Journalist«, hatte Jonas gesagt, als sie sich darüber beschwert hatte. »Aber er hat auch ein paar Bücher geschrieben und einen Dokumentarfilm über Influencer in China gedreht, Ayching Jynly – Love Rhythm auf Englisch. Ich glaube, deshalb wollte Shoken, dass er dabei ist.«

Nova hatte tatsächlich von dem Dokumentarfilm gehört – chinesische Influencer waren immer noch sehr angesagt. Angeblich war dieser Journalist, Dokumentarfilmer oder was auch immer einer der meistgelesenen und angesehensten Menschen des Landes. Er wurde für seine umfangreichen Bücher und seinen investigativen Journalismus gelobt. Er war ein Mann mit Tiefgang – mit anderen Worten, das genaue Gegenteil von ihr.

Aber es war Nova, die an diesem Abend am richtigen Ort war. Sie würde hier gewinnen. Sie bedachte immer den kommerziellen Aspekt kreativer Arbeit und war eine echte Geschäftsfrau: selfmade, Generation Z de luxe. Nova verkörperte das neue Frauenideal: Sie hatte ihr Image unter Kontrolle und verdiente ihr Geld damit, offen über die Herausforderungen zu sprechen, mit denen junge Frauen heute konfrontiert waren. Sie nannte sich #Novalife, denn genau das war sie – ein leuchtender Stern im Leben ihrer Menschen.

Aber warum war ein Dokumentarfilmer für die Verleihung des Hauptpreises der Shoken Awards engagiert worden? Journalisten waren keine Stars. Es war nicht geschäftsfördernd, lange Texte zu schreiben, sondern altmodisch und patriarchalisch.

Gleichzeitig war die Ähnlichkeit mit ihrer eigenen Position offensichtlich: Oldschool-Influencer waren ebenfalls out. So passé wie Bücherschreiben.

Oben auf der Bühne hielt ein Journalist den Umschlag in seinen langen Fingern. Die Scheinwerfer waren wirklich grell, das helle Licht betonte jede feine Linie und jede Falte in seinem Gesicht. Sie hätten ihn besser schminken oder gleich etwas Gescheites in die Stirn spritzen sollen.

Influencer des Jahres hieß der Preis, der soeben verliehen wurde, und Shoken war das, was YouTube vor zehn Jahren gewesen war, nur mit noch besseren Algorithmen, um die Zuschauer bei Laune zu halten, und mit noch schärferen Analytikern, um ihnen zielgerichtete Werbung zu präsentieren.

Jonas reichte Nova diskret einen Zettel: Simon Holmberg. So arbeiteten sie – mit guten, altmodischen Zetteln, damit Nova nichts vergaß.

Der Journalist, der den Preis überreichte, war ein schlechter Schauspieler. Er öffnete den Umschlag viel zu langsam und trug hässliche Schuhe mit dicken Sohlen, die anscheinend noch aus den 2010er-Jahren waren.

»Dann wollen wir mal sehen.« Er grinste und ließ den Umschlag rascheln. Simon Holmberg war ein Loser, der das Konzept von Shoken nicht begriffen hatte. Das durchschnittliche Teenagergehirn konnte sich nicht allzu lange konzentrieren, und es war bekannt, dass keine Rede, keine Sequenz, kein »Beat« – wie Jonas es so gerne nannte – länger als dreißig Sekunden dauern durfte, bei Autoren mittleren Alters eher nur halb so lange.

Schließlich faltete er das Blatt auf, auf dem der Gewinnername stand, aber Novas Blick war auf den glitzernden Gegenstand an seinem Handgelenk gerichtet. Simon Holmberg trug eine schöne Uhr, eine sehr schöne sogar.

Jonas filmte gerade, deshalb war es wichtig, dass Nova angespannt und erwartungsvoll, aber auch stolz und selbstbewusst aussah. Diesen Gesichtsausdruck hatte sie im Laufe des Tages geübt. Nova öffnete ihre Augen so weit wie möglich und versuchte, ihre Lippen zu einem schiefen, fast unsichtbaren Lächeln zu formen.

»Und der Gewinner ist …«, rief Simon, während die Musik im Hintergrund immer lauter wurde.

Novas Beine zitterten, ihr Fuß stampfte in einem Rhythmus, der nicht zur Musik passte. Total peinlich, wenn das jemand merken würde.

Simon zog es in die Länge, wartete, bis das Publikum ruhig war und ihm seine Aufmerksamkeit schenkte. Dann rief er die Worte, auf die alle gewartet hatten: »Nova – Novalife!«

Nova sprang auf und schrie: »WOAH!«

Sie presste die Hände an die Wangen und sah aufgeregt, glücklich und sogar gerührt aus. Sie rechnete damit, dass sie die eine oder andere Träne vergießen würde.

»Noooova, komm auf die Bühne!«, rief Simon.

Jonas neben ihr schien sich aufrichtig zu freuen, seine Augen funkelten, als hätte ihm Shoken einen Glam-Filter über das Gesicht gelegt. Vielleicht war er doch kein so übler Kerl.

Nova kletterte mit langen Schritten auf die Bühne – in der Hoffnung, dass die Werbepartner ihre langen Beine bemerken würden.

Sie griff nach dem Mikrofon und wartete, bis das allgemeine Gemurmel verstummt war.

»Wow, das bedeutet mir sehr, sehr viel.« Sie setzte ein bezauberndes Lächeln auf, das ihre Zähne zum Strahlen brachte. »Aber eigentlich ist es egal, wie viele Preise ich gewinne. Das Einzige, was zählt, ist, dass ihr – jeder Einzelne von euch – ihr selbst sein könnt.«

Es war eine perfekte Rede. »Ihr seid frei, ihr seid klug, ihr seid stark!«, rief sie dem Publikum zu und hob die Finger zum Victory-Zeichen. »Zusammen können wir die Welt verändern!«

Die Menge jubelte vor Begeisterung. Novalife war echt.

Sie sprach tiefe, reine Worte der Wahrheit.

Der Strom der Gratulanten nahm kein Ende. Sie war schweißgebadet.

Wangenkuss. Umarmung. Blumenstrauß. Wangenkuss.

Ihr Magen knurrte.

Weitere Wangenküsse. Weitere Umarmungen. Weiteres falsches Lächeln.

Jonas strahlte immer noch.

Bei jeder Umarmung, bei jedem Wangenkuss erfasste sie Übelkeit. Sie wollte weg von hier, atmen, sich übergeben.

Wangenkuss. Umarmung. Wangenkuss.

Am Ende verkündete der Moderator, dass die Preisverleihungsgala zu Ende sei.

Die Musik setzte ein.

»Ich brauche eine Pause«, keuchte Nova.

Die Toilette war leer.

Sie spülte sich das Gesicht ab und tat so, als müsse sie ihren Lippenstift nachziehen. Jeden Moment konnte jemand hereinplatzen und ihr wieder einen Wangenkuss geben wollen.

Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was ihr Physiotherapeut über Achtsamkeit und Bauchatmung gesagt hatte.

Die Kerzen auf den Waschbecken dufteten nach Kiefer und Harz. Der Spiegel bedeckte die ganze Wand. Nova nestelte an ihrem Puderdöschen. Auf dem Deckel stand YSL, und darin war ein spezielles Fach, in dem sie eine kleine Apotheke aufbewahrte.

Sie schluckte zwei Pillen.

In den Kabinen hinter ihr war niemand. Alle standen jetzt draußen herum und bemühten sich um einen interessierten, positiven Eindruck. Sie beteiligten sich mit Feuereifer an der Selfie-Orgie, diesem Bewertungsfest.

Ihr Haar sah trocken und strähnig aus, dabei war sie vorhin noch so zufrieden damit gewesen. Sie vermisste Fivel – Jonas hatte ihn gefeuert. Die neue Visagistin hatte es versäumt, Novas markantes Kinn zu betonen. Die künstlichen Wimpern waren extra in New York angefertigt worden, verloren aber jetzt schon an Schwung.

Die Tür ging auf, und herein kam – Jonas.

So tuntig wie immer, aber so war er eben. Damals, ganz am Anfang, hatte er in sie investiert. Das waren die Spielregeln: Entweder konnte man mit seinem tollen Lebensstil angeben, weil man reich geboren oder reich geheiratet hatte – einen Fußballspieler, einen Eishockeyspieler oder einen Tech-Milliardär –, oder man brauchte jemanden, der in einem frühen Stadium Geld mitbrachte. Jonas bezeichnete sich selbst als Geschäftsentwickler und Unternehmer. Er hatte ein Vermögen gemacht, indem er die Zahnkliniken seines Vaters verkauft hatte.

»Willst du dich nicht bei mir bedanken?«, fragte er.

»Wir haben es gemeinsam geschafft«, antwortete sie. Sie fühlte sich, als hätte sie ein Loch im Bauch – die Tabletten fingen an zu wirken.

»Aber ich bin derjenige, der alles möglich gemacht hat.«

Nova machte eine übertrieben tiefe Verbeugung. »Danke für alles, Jonas. Aber was macht das schon für einen Unterschied?«

Er lächelte immer noch, aber Nova wusste, dass er im Grunde genauso besorgt war wie sie, wenn nicht sogar noch stärker. Er hatte in ein Dutzend Jungen und Mädchen wie sie investiert, und die meisten von ihnen waren von der Bildfläche verschwunden. Sie war der einzige Promi, der noch übrig war.

»Es macht einen großen Unterschied, denn ich bin derjenige, der dich geschaffen hat. Und wir sind immer noch im Geschäft, trotz der vierten industriellen Revolution.« Jonas machte sich mit Vorliebe über alle lustig, die die Interaktion zwischen Mensch und Maschine als vierte industrielle Revolution bezeichneten.

Nova war sich stets der Bedrohung durch Brainy bewusst, das Neuro-Netzwerk, das die Smartphones und Computer mit den Gehirnen der Menschen verband. Synapsen, Gehirnchirurgie, elektrophysiologische Aktivität: Sie hatte keine Ahnung von der Wissenschaft, die dahintersteckte, aber anscheinend war es völlig sicher und wohl auch erschwinglich – zumindest die Version mit Werbung. Auch wenn Jonas einen Anteil an ihrem Erfolg haben mochte: Das Problem war, dass es im Moment nicht viel zu teilen gab. Sie spielten sozusagen in der falschen Liga. Mittlerweile musste Jonas sogar die Kamera bedienen, weil sie den Rest des Teams gefeuert hatten.

»Das ist die letzte größere Investition, die ich für dich tätige«, sagte er.

Nova wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Ihr ausweichender Blick in den Spiegel kam ihr selbst nicht wie Nova vor, nicht wie die Frau, die immer auf alles eine Antwort hatte.

Dieser Erfolg war ihr nicht in die Wiege gelegt worden. Als Fünfzehnjährige hatte sie sich oft ängstlich auf dem Bett zusammengerollt, war in der Schule schüchtern und nicht gerade beliebt gewesen, hatte kaum Selbstvertrauen besessen. »Sozialphobie«, hatte ihr Vater einmal gesagt, als sie lieber zu Hause bleiben als ein Referat über die Akropolis hatte halten wollen. Aber er hatte sich geirrt, wie immer. Sie hatte ihren eigenen Wert nicht erkannt, das war das Problem gewesen. Warum sollte ihr jemand zuhören wollen? Novalife zu werden, hatte ihr das Leben gerettet.

Sie wusste genau, was Jonas mit der »letzten größeren Investition« meinte. Er hatte ihr den Award gekauft – und das war selbst für Novas Verhältnisse eine ziemlich große Sache.

Ganz zu Beginn hatte sie sich nicht verstellt. Damals hatte sie die Posts und die Follower gebraucht; ihre Videos hatten eine Leere in ihr gefüllt, und sie war zu ihren Zuschauern so ehrlich gewesen wie zu ihren besten Freunden. Aber das war lange her. Heute war alles, was sie tat, Schauspielerei – und nicht nur die übliche Schauspielerei. Nicht einmal ihre Assistentin Hedvig wusste, was sie umtrieb.

Die Tür öffnete sich, und eine ihrer Konkurrentinnen stakste auf Stöckelschuhen in den Raum. Es war Husseyn, Schwedens Nummer eins mit über dreieinhalb Millionen Followern auf Shoken.

Wangenkuss, Umarmung, Wangenkuss: »Du bist die Beste, Nova. Herzlichen Glückwunsch! Influencerin des Jahres hast du total verdient, im Ernst.«

Nova blickte zu Jonas und dann wieder zurück zu Husseyn. Sie lächelte und nickte mit strahlenden Augen. »Danke, Süße. Ich bin so stolz.«

Sie hoffte, dass man ihr nicht ansah, wie sehr sie sich schämte. Der Preis, den sie gerade erhalten hatte, war gekauft. Jonas hatte ihn arrangiert. Er hatte eine Abmachung mit Shoken getroffen.

Es war ein Sieg, der auf Korruption beruhte, auf einer Bestechung, von der sie nichts wissen wollte.

Nova drehte sich um und blickte in die flackernde Kerzenflamme.

Sie fragte sich, ob sie die Einzige war, die ein Pfeifen im Ohr hatte.

4

Der Mann, der Emir gegenübersaß, brüllte vor Lachen über den Witz, den er gerade erzählt hatte. Seine kleine, runde, hellbraune Brille ließ sein Gesicht viel schmaler erscheinen, als es in Wirklichkeit war. Er trug einen dunkelblauen Anzug, keine Krawatte, die beiden obersten Knöpfe seines Hemdes standen wie immer offen. Er sah aus wie ein Financier oder ein amerikanischer Galerist.

In Wirklichkeit war er Anwalt – und seit vielen Jahren schon Emirs Pflichtverteidiger, wenn der mal wieder einen brauchte. Abgesehen von Isak und seiner Mutter war Payam Nikbin wahrscheinlich die Person, die Emir am längsten kannte. Der Anwalt erzählte in praktisch jeder Situation Witze. Emir fragte sich, ob Nikbin ein Freund war.

»Kennst du den schon?«, fragte der Anwalt grinsend. »Der Richter fragt die Angeklagte: Ihr Alter?« Nikbin konnte nicht an sich halten und brach in schallendes Gelächter aus, noch bevor er die Pointe ausgesprochen hatte. »Sagt die Angeklagte: Der wartet draußen.«

Der Raum hatte keine Fenster. An der Decke verlief ein graues Rohr.

Déjà-vu: Seit der Privatisierung der Gefängnisse waren die Möbel in den Besucherzimmern immer gleich. Die Räume ähnelten sich wie ein Ei dem anderen, egal in welchem Gefängnis man sich befand. Ein Metalltisch und Stühle, alle grün lackiert – und alle im exakt gleichen Winkel zueinander am Boden festgeschraubt. Seine Kumpels nannten es manchmal das Fermob-Zimmer, nach den teuren Gartenmöbeln, die sie aus den Gärten in den wohlhabenderen Vierteln zu stehlen pflegten.

Emir tat alles weh. Die verdammten Bullen hatten ihn auf dem Dach erkannt und sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, einen ehemaligen MMA-Star niederzuprügeln. Doch die Schürfwunden und Prellungen waren nicht das eigentliche Problem – viel schlimmer war die Ungewissheit darüber, was mit Isak geschehen war. Emir musste wissen, ob sein Freund noch lebte. Schließlich war er derjenige, der den verdammten Abzug gedrückt hatte.

Er war der König aller Idioten. Er hatte es verdient, weggesperrt zu werden.

»Isak ist im Karolinska«, sagte Nikbin. »Sie operieren ihn gerade.«

»Hamdullah.« Emir wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

»Deine Kugel hat ihm ein Stück von der Schläfe weggerissen.«

»Wird er durchkommen?«

Nikbin nahm die Brille ab und räusperte sich. »Das weiß ich nicht.«

Die Last auf Emirs Brustkorb war so schwer, dass er kaum noch Luft bekam. Die Dunkelheit umfing ihn, und der Beton hier drin drohte seinen Kopf zu zerquetschen. Er hätte auf Isak hören sollen: Sein Freund hatte die Wohnung nicht betreten wollen.

»Und wie geht es dir?«, fragte der Anwalt nach einer Weile.

»Ich hasse es, in einer Zelle zu sitzen. Und ich hasse die Bullenschweine.«

»Schon klar. Aber ich meinte die Geschichte mit deinen Nieren und so weiter.«

»Das hatte ich völlig vergessen. Irgendwann in den nächsten Tagen muss ich zur Dialyse.«

»Ich werde dafür sorgen, dass das veranlasst wird.«

»Aber ich habe kein Geld.«

»Ich weiß, dass man dort gezwungen wird, selbst zu zahlen, aber irgendwann ist das Maß voll. Nur weil sie dich hier festhalten, haben sie noch lange nicht das Recht, dich umzubringen. Noch sind wir nicht so weit, noch nicht. Ich werde eine nette kleine Blutwäscheparty für dich organisieren.«

Emir musste lachen.

»Und wie geht es deinem Kopf?«, fragte Nikbin.

»Ich hatte einen Anfall auf dem Dach, aber jetzt ist es schon besser.«

»Du hattest Pech.«

»Mit den Kopfschmerzen?«

»Mit allem.«

Sie saßen eine Weile schweigend da.

»Warum haben sie mich in die Stadt gebracht?«

»In den Zellen in Järva herrscht das blanke Chaos.«

»Was ist passiert?«

»Ein Aufstand. Die Scharfschützen der Polizei sind komplett durchgedreht. Alle möglichen Verrücktheiten.« Nikbin grinste. »Nicht, dass ich mich beschweren würde – das bedeutet mehr Arbeit für mich.«

»Was wirft man mir vor?«

»Versuchten Mord.«

»An Isak?«

»An den Polizeibeamten. Außerdem wirst du der Fluchthilfe bezichtigt, weil du die Jagd nach den anderen Verdächtigen verzögert hast.«

Verzögert – was für ein Wort. Die Polizei dachte, er hätte sich gegen die Flucht entschieden, weil er Abu Gharib und seinen Männern hatte helfen wollen. Dass er so mutig gewesen und mit der Waffe zurückgeblieben war, um sie aufzuhalten. Sie hatten keine Ahnung, aber gleichzeitig hatten sie recht – ohne ihn wäre Abu Gharib nicht entkommen.

»Wir wissen beide, wohin deine Reise geht.« Nikbins Augen waren braun wie Vollmilchschokolade. Die feinen Linien, die sie umgaben, standen im Widerspruch zu seiner glatten Stirn, sodass es schwierig war, sein Alter zu schätzen.

Ja, Emir wusste, wohin die Reise ging. Vier Verurteilungen, dann lebenslänglich – das war die Regel für BOP aus einem sozialen Brennpunkt. Sie nannten es die »Vier-Verstöße-Regel«. Wenn ein Bewohner eines sozialen Brennpunkts drei Verbrechen mit einem Mindeststrafmaß von jeweils einem Jahr begangen hatte, galt er als bekannter Wiederholungstäter. Wenn er dann ein viertes Verbrechen in derselben Zone beging, lautete die Strafe lebenslänglich – unabhängig von der Schwere des Verbrechens.

Er würde lebenslänglich bekommen, weil er vier Shunos geholfen hatte, die er nicht einmal kannte. Allesamt Gangster, die wahrscheinlich sowieso bald geschnappt würden.

»Die Bullen sind alle Huren.«

Nikbin räusperte sich. »Ich kann nachvollziehen, warum du das im Moment für die angebrachte Art und Weise hältst, deine Gefühle auszudrücken.«

Er stand auf und legte Emir eine Hand auf die Schulter. »Lass dich davon nicht unterkriegen, Lund. Du bist ein Kämpfer.«

Emir starrte an die Decke. Er war ganz allein im Raum.

Er sollte ein Kleidungsstück ausziehen und versuchen, es an das Rohr dort oben zu knoten.

Rein und raus – alles schien so einfach. So wie es im Achteck gewesen war, bevor alles vor die Hunde gegangen war. Als er noch auf dem Weg nach oben gewesen war. Rein und raus: In seiner Karriere hatte er über zwanzig Kämpfe durch Jury-Entscheidung und neun durch K.o. gewonnen. Seine Spezialität war es, in der letzten Runde noch einmal aufzustehen, wenn der Gegner ihn schon ausgezählt glaubte. Er hatte sogar einen Spitznamen: Le Prince. Emir »Prinz« Lund – schwedischer Thronfolger, Mad Dog und The Mauler.

Der Prinz: Sie versprachen ihm eine Karriere in der UFC und eine permanente Suite auf Yas Island in Abu Dhabi. Man würde ihn als Experten bei Kimura News anstellen, er würde seine eigene Modelinie haben und Millionen an Preisgeldern verdienen. Sogar die spießigen Mainstream-Medien hatten ihn gefeiert. Zeitungen mit langen Namen hatten über seinen Weg zum Thron berichtet.

Der Prinz: Eines Tages würde er die Krone übernehmen.

Nach zwei Minuten und siebzehn Sekunden in seinem letzten Kampf war alles vorbei gewesen – aber das war eine andere Geschichte. Emir hatte damit abgeschlossen.

Wobei, nicht wirklich. Sie hatten dem Schwachsinn einen schönen Namen gegeben: Chronische Niereninsuffizienz. Seine Nieren konnten ihre Aufgabe nicht mehr richtig erfüllen, sie konnten die Abfallprodukte und die überschüssige Flüssigkeit nicht mehr aus seinem Blut entfernen. Die Ärzte, mit denen er sprach, waren sich über die Ursache einig: Trauma durch stumpfe Gewalteinwirkung auf die Körperseiten – aber nur Emir wusste genau, wann es passiert war. Beim letzten Kampf: Sein Gegner hatte ihm dreiunddreißig harte Schläge verpasst. Emir hatte sich nicht gewehrt.

Das Ende der Geschichte, hätte man meinen sollen. Doch seine Pechsträhne war noch nicht vorbei gewesen: Der Sport hatte weitere Spuren hinterlassen. Unheimlich starke Kopfschmerzen wie jene, die ihn auf dem Dach gelähmt hatten. Einige Ärzte nannten es: langfristige Ermüdung des Gehirns, das Fatigue-Syndrom. Andere sagten, sie wüssten nicht, warum die Kopfschmerzen so heftig waren, aber sie seien der Preis, den er für die Jahre im Achteck zahlen müsse. Der neurologische Tribut. Emir selbst nannte es Schwachsinn. Gegen die Schmerzen nahm er Tabletten und rauchte Gras.

Zu allem Überfluss wurde er auch noch von Schweden verarscht. Mit der Einstufung als BOP war er mehr oder weniger vom System ausgeschlossen. Ihr allgemeiner Krankenversicherungsschutz ist nicht mehr gültig, hatte es in dem beschissenen Brief von der Sozialversicherung geheißen. Von diesem Tag an hatte er jede ärztliche Behandlung aus eigener Tasche bezahlen müssen.

Er musste aufhören, über das Scheitern seiner Kämpferkarriere nachzugrübeln.

Aber damals hatte er alles gehabt: MMA, Hayat, ein Leben.

Und jetzt: vier Verurteilungen und lebenslänglich.

Er zog seine Jogginghose aus und warf sie nach oben in Richtung des Rohrs.

Ein Versuch – zehn Versuche.

Jetzt hing sie da oben. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und zog an einem Hosenbein, bis es auf der anderen Seite herunterhing. Dann knotete er die Beine zusammen. Vielleicht konnte er sich damit aufknüpfen.

Schluss mit der Scheiße.

Er hatte nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte.

Nein. Er machte sich etwas vor. Natürlich hatte er das.

Sein größter Fehler war zugleich das Beste, was er je getan hatte.

5

Jemand riss ihr den Stoffsack vom Kopf. Fredrika blinzelte mehrmals. Ihre Hände waren taub, sie waren bereits hinter ihrem Rücken gefesselt gewesen, als sie vor ein paar Stunden zu sich gekommen war.

Vor ihr stand ein Möchtegernterrorist, ein Typ in normaler Kleidung: graues T-Shirt und Jeans, das Gesicht von einer Kufija bedeckt. Unter dem Kopftuch war außer einem dunklen Augenpaar nichts zu erkennen – kleine schwarze, scheinbar leblose Punkte.

»Wer bist du?«, fragte sie.

Ein einfacher Raum, die Jalousien geschlossen, ein paar große Teppiche auf dem Boden. Von der Decke hing eine riesige Lampe an ein paar Drähten. An einer Wand stand ein grünes Sofa mit mehreren Decken darauf.

Der Mann mit der Kufija antwortete nicht. An der anderen Wand hing eine Art glitzernder Vorhang, als müsse die Sonne in die Mitte der Wohnung reflektiert werden. Der Mann bedeutete ihr, sich davor auf einen Stuhl zu setzen, während er selbst auf dem Sofa hinter ihr Platz nahm.

Die Stille wog so schwer wie ein Range Rover.

Fredrikas Kopf pochte immer noch an der Stelle, an der der Stein sie getroffen hatte, aber ihr Puls war ruhig. Sie hatte Eis im Bauch. Sie war an Stresssituationen gewöhnt, und obwohl das alles neu für sie war – sie war noch nie entführt worden –, wusste sie genau, was zu tun war. Ruhe bewahren, möglichst keine Fragen beantworten, Informationen sammeln.

Sie hatte den Wagen verfolgt, mit dem die Ministerin entführt worden war, und dann hatte ihr irgendein kleiner Scheißer nicht nur einen, sondern zwei Steine an den Kopf geworfen. Anscheinend hatte man sie gefunden und weggeschleppt, bevor ihre Kollegen gemerkt hatten, was los war. Die Scharfschützen waren durchgedreht, und die Wut der Menge war bis zum Wahnsinn eskaliert. Ein anderer, noch schlimmerer Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Hätte sie ihre Waffe benutzt, hätten die anderen vielleicht nicht von den Dächern schießen müssen. Hätte sie ihre Befehle befolgt, wäre die Ministerin vielleicht nicht entführt worden.

Einfach ruhig bleiben, dachte sie. Und vor allem: aufpassen. Doch dann kam eine neue Sorge: Wer würde sich um Taco kümmern, wenn sie hier festgehalten wurde? Ihr Schäferhund war in der Hundetagesstätte in Gärdet. Jemand musste ihn abholen.

Nach einer Weile hörte sie eine leise Stimme hinter dem Vorhang. »Steck die Hand durch.«

Der Mann auf der anderen Seite benutzte wahrscheinlich einen Stimmverzerrer.

Fredrika rührte sich nicht.

Der Mann mit der Kufija stand auf, sie sah ein Messer aufblitzen. Die Fesseln um ihre Handgelenke fielen wie schwarze Würmer zu Boden. Ihre Finger kribbelten, als das Blut in sie zurückkehrte.

»Du hast doch gehört, was er gesagt hat. Steck deine Hand durch.«

Eine Bewegung hinter dem Vorhang – er wurde ein paar Zentimeter zur Seite geschoben. Wenn sie ihr etwas antun wollten, hätten sie es längst getan. Fredrika musste die Situation irgendwie in den Griff bekommen. Sie wusste, dass dieser Gedanke nicht besonders spektakulär war, aber was blieb ihr anderes übrig? Sie war, wie sie war. Sie musste ihren Hund vergessen. Schließlich streckte sie langsam die Hand aus und schob sie durch den Vorhang.

Jemand packte sie. Nicht grob, nicht schmerzhaft, es war nur eine Berührung, als interessierte sich die Person auf der anderen Seite für die Beschaffenheit ihrer Haut.

»Du arbeitest für die Personenschutzeinheit des Sicherheitsdienstes, nicht wahr?«

»Kein Kommentar.«

»Wie lange schon?«

»Ich werde keine Fragen beantworten.«

»Du hast hier nichts zu sagen.«

Fredrika atmete tief durch.

»Du warst bei der Abteilung für gefährdete Stadtgebiete, oder?«

Fredrika antwortete nicht.

Ein anderer Ton: »Hol ihr was zu trinken, sie sieht so mürrisch aus. War sicher kein schöner Nachmittag für sie.«

Fredrika atmete aus. »Ich will nichts.«

Ihr Kopf schmerzte.

Der Mann mit dem Tuch um das Gesicht stand auf und ging zu einem Kühlschrank am Fenster. »Magst du Bier, oder trinkst du keinen Alkohol?«

Fredrika antwortete nicht. Sie wollte keine weiteren Fehler machen.

Der Mann mit der Kufija öffnete eine Dose Red Bull, leerte sie in ein Glas und reichte es ihr. Als Fredrika ihre Hand zurückzog, öffnete sich der Vorhang, und sie sah jemanden mit einer Sturmhaube. Keine Handschuhe: Fredrika sah nackte Hände mit schwarzem Lack auf jedem Fingernagel.

»Rote Pille. Rote Pille«, sagte die Stimme hinter dem Vorhang. »Weißt du, was die rote Pille ist? Das kommt aus einem alten Film, wie so viele gute Sachen. Matrix. Die Menschen in diesem Film dürfen die Welt nicht so sehen, wie sie ist, sie werden in einer Art geistigem Gefängnis gefangen gehalten. Sie sehen die Wahrheit nicht, wenn du verstehst, was ich meine. Letztendlich kommen unsere Probleme daher, dass nicht genug Menschen wach sind. Wenn mehr Menschen einfach die rote Pille schlucken würden, wäre unser Kampf nicht der einer Stadtguerilla, sondern einer Massenorganisation. Aber so weit sind wir noch nicht.«

Es hatte keinen Sinn, sich mit einem Mann zu streiten, der vor nichts Respekt hatte, schon gar nicht vor der Polizei.

»Ich nehme an, du hast inzwischen ausgetüftelt, wer ich bin?«

Er konnte zu irgendeiner Gang aus Järva gehören – oder zu einer ganz anderen Gruppierung.

»Ich bin A«, sagte die Stimme.

Fredrika spürte, wie sie ein Schauer durchlief, aber sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Nachzudenken.

A. So nannte sich der Kommandeur des militärischen Arms der Bewegung – der derzeit meistgesuchte und berüchtigtste Mann Schwedens. Vielleicht sogar der mächtigste, je nachdem, wie man es betrachten wollte. Und vor allem: Jeder Polizist hatte die Pflicht, A zu verhaften.

Fredrika erinnerte sich daran, wie sie vor fünf Jahren mitten in der Nacht aufgewacht war. Eine ihrer Siebenkampf-Trophäen war aus dem Regal auf den Boden gefallen, und zuerst hatte sie gedacht, dass Stockholm sein erstes Erdbeben erlebt hatte. Doch in Wirklichkeit war es der erste Anschlag der Bewegung gewesen: Man hatte die Explosion in der Zentrale der Scandinavian Airlines in Frösundavik noch in zwanzig Kilometern Entfernung gehört. Die Organisation selbst war zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt gewesen, aber dann hatte sich ein später an demselben Tag hochgeladenes Video schneller verbreitet als ein Tweet von Husseyn: »Wir werden alles angreifen, was den Zusammenbruch beschleunigt. Scandinavian Airlines ist nur der Anfang.«

Inzwischen wussten sie viel mehr über die Bewegung, die in den letzten Jahren eine Reihe von Bombenanschlägen auf Industrien verübt hatte, die fossile Brennstoffe nutzten, sowie auf Unternehmen, die auf ausgeklügelte Weise Steuervermeidung betrieben. Sie hatte Hunderte von Hackerangriffen auf Behörden und Unternehmen gestartet, die Sommerhäuser verschiedener Aufsichtsratsmitglieder in Brand gesetzt, Flugzeuge sabotiert und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften besetzt; sie hatte die Kinder von Politikern und Vorstandsvorsitzenden entführt und als Gegenleistung für ihre Freilassung Umweltschutz und angemessene Steuerzahlungen gefordert. Bei mehreren dieser Gelegenheiten hatte es Todesfälle gegeben, die die Bewegung als indirekte Schäden bezeichnete: »Wie immer, wenn große Veränderungen bevorstehen, werden einige Menschen dadurch beeinträchtigt werden«, hieß es, »aber das ist nicht unser Ziel. Unsere Bewegung schafft Widerstand, und Widerstand schafft Veränderung.«

Fredrika hatte an mehreren Schulungen über die Bewegung teilgenommen und wusste praktisch alles darüber, was die Polizei für wissenswert hielt. Die Terrororganisation behauptete zwar immer noch, es auf materielle Ziele abgesehen zu haben, aber das Ganze war längst außer Kontrolle geraten.

Sie musste das Schweigen brechen, sie konnte nicht anders: »Wo habt ihr die Innenministerin hingebracht?«

Hinter dem Vorhang war es ganz still.

Nach einigen Sekunden hörte sie wieder As seltsame Stimme. »Ihr habt unschuldige Menschen auf dem Platz erschossen.«