Paradise Valley - Carlo Meier - E-Book

Paradise Valley E-Book

Carlo Meier

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Beschreibung

Lena kriegt von einem Anwalt etwas Rätselhaftes ausgehändigt. Doch bevor sie das Rätsel lösen kann, wird es ihr gestohlen. Lena will es um jeden Preis zurück: Nur so kann sie herausfinden, warum vor zwölf Jahren ihre Mutter plötzlich verschwand und seither nie mehr auftauchte. Lena macht sich mithilfe ihrer Freunde von der ZoomCrew auf die Suche. Dabei kommt sie auf die Spur eines gefährlichen Geheimnisses - und ihr Leben wird nie mehr das gleiche sein …

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CARLO MEIER

&

ZOOMCREW

PARADISE VALLEY

© 2017 by Carlo Meier Text Atelier & Verlag – Zug

Umschlag und Satz: © ZOOMCREW | Sidi Meier, SteinhausenFoto Umschlagseite 1: Trekandshoot/ShutterstockFotos auf der Umschlagseite 4 und auf den Klappen des Covers:© ZOOMCREW | Sidi Meier, Steinhausen

ISBN 978-3-9524797-0-4

PARADISEVALLEY

TRILOGIE – BAND 1

CARLO MEIER

&

ZOOMCREW

Freitag

7:52 abends

Weiß. In dem Moment ist das ganze Bild weiß.

Sie spürt die ekligen Hände dieses Typen an ihrer Schulter.

«Lass das», sagt sie. «Nimm die Finger weg!»

Er drängt sich näher an sie ran.

Im blendenden Weiß taucht langsam die Umgebung wieder auf. Eine schmutzige Gasse zwischen Graffiti-Mauern, ein Hinterhof mit Müll-Containern.

Der Typ hat eine dieser Stachelfrisuren. Schwarze Schlangen am Hals. Tattoos. «Ach, komm schon, Kleine!»

Ein schmieriges Grinsen. Bildfüllend.

«Nein, ich will nicht. VERSCHWINDE!»

Sie fühlt ein leichtes Zupfen am Nacken. Ganz leicht.

Ein zweiter Typ lauert blass daneben. Kauend.

Panik steigt in ihr auf.

Dann irgendwo eine laute Stimme. «Was soll das!?»

Die Stimme kommt näher. «Lass das Mädchen in Ruhe!»

Der Stacheltyp huscht davon. Schaut sie noch mal an.

Diese Augen. Unberechenbar. Wie seine schwarzen Schlangen. Gefährlich.

Was ist das nur für eine furchtbare Nachbarschaft hier?

Vielleicht hätte sie doch besser nicht die Abkürzung genommen.

4 Stunden zuvor

Freitag

3:52 nachmittags

Lena macht die Augen zu. Wünscht sich was. Bläst die Kerzen auf ihrer Geburtstagstorte aus. Ihr Dad und ihre jüngere Schwester Toyah applaudieren. Mehr Leute sind nicht da. Schöne Party. Abends nach der Theaterprobe würde sie mit ihren Freunden feiern. Sie hat Cupcakes gebacken und hübsch verziert. Alles schon bereit zum Mitnehmen.

Schade bloß, dass es gar nie zu dieser Party kommen würde.

An der Tür schrillt die Klingel.

«Bestimmt für dich», meint Toyah.

Wer kann das sein? Vielleicht eine Freundin mit einem Geburtstagsgeschenk? Lena geht öffnen.

Draußen steht ein Eilbote. Er liefert einen Brief ab und hastet durch den Vorgarten zurück zu seinem gelben Transporter am Straßenrand.

Lena mustert den Umschlag, die goldene Anschrift des Absenders. Ein Anwalt in der Stadt. Was hat das wohl zu bedeuten? Hat sie vielleicht was falsch gemacht, irgendein Gesetz übertreten, ohne es zu merken?

Sie reißt den Brief auf. Edles Papier, ebenfalls mit Goldprägung.

«Was steht denn drin?» Ihr Dad und Toyah schauen ihr über die Schulter.

Lena überfliegt das Schreiben.

Der Anwalt fordert sie auf, bei ihm etwas abzuholen. Noch am selben Tag. Jemand hat ihn beauftragt, dem Mädchen an ihrem 16. Geburtstag diesen Gegenstand zu übergeben. Lenas Mutter.

Dad und Toyah starren sie an. «Von Mutter?»

Lena schluckt. Mustert die ruhige Straße mit den Bäumen beidseits und den gepflegten Gärten vor den Häusern.

Sie überlegt.

Aber nicht lange. Dann nimmt sie ihre Handtasche und macht sich auf den Weg.

Freitag

4:42 nachmittags

Vor dem Kanzleigebäude bleibt Lena stehen und schaut die eindrückliche Fassade hoch. Ein hohes Stadthaus mit vielen Stockwerken voller Notarkanzleien und Anwaltsbüros.

Hinter ihrem Rücken brummt der Nachmittagsverkehr. Ein Streifenwagen fährt mit heulender Sirene Richtung Downtown.

Davon bekommt Lena nicht viel mit. Sie fragt sich, was das Ganze soll. Zwölf Jahre hat sie ihre Mutter nicht mehr gesehen. Gerade mal vier war sie, als Mom die Familie verließ, im Stich ließ. All die Jahre hat sie sich nie gemeldet.

Welche Mutter tut so was? Welche Mutter, die ihre Kinder liebt, lässt ihre Mädchen einfach zurück und meldet sich nie wieder, kein einziges Mal?

Warum hat sie das getan? Gab es einen Grund dafür?

Jemand wüsste es.

Aber der will nicht drüber sprechen.

Dad.

Jedes Mal, wenn die Sprache darauf kommt, blockt er ab. Eisern. Er behält es für sich. Das, was damals war.

Bloß was?

Keine Ahnung.

Lena hat es aufgegeben, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.

Sie hat abgeschlossen mit der Sache.

Bis zu diesem Moment.

Jetzt kocht alles wieder hoch.

Wie ein Geist taucht dieses Wesen aus dem Nichts auf und beordert sie zu einem besonderen Ort, wo sie an ihrem 16. Geburtstag etwas Geheimnisvolles abholen soll.

Na toll. Das muss ja was ungeheuer Wichtiges sein …

Okay, dann wollen wir mal sehen, was das Ganze soll.

Freitag

4:43 nachmittags

An der Ecke 7. Straße und Vermont Avenue steht ein Typ und blickt zum Kanzleigebäude hinüber. Irgendwie wirkt er etwas fremd hier. Seine schwarzen Haare sind zu einem langen Zopf geflochten, seine Gesichtshaut rötlichbraun gegerbt. Er trägt ein Jackett, eine Schnürsenkelkrawatte mit indianischem Motiv auf der Brosche, dazu gepflegte Jeans und Lederstiefel.

Mit regloser Miene mustert er das Foto in seiner Hand. Es zeigt ein 4-jähriges Mädchen mit leuchtend grünen Augen.

Genau dasselbe Smaragdgrün leuchtet in den Augen des jungen Mädchens drüben auf der Treppe vor dem Kanzleigebäude. So was sieht er sogar aus einer Meile Entfernung.

Er kennt dieses Grün. Aus der Tiefe der Zeit. Aus dem Kern des Lebens. Aus dem Innern der Erde.

Kein Zweifel, das ist sie.

Er beobachtet, wie sie durchatmet, bevor sie die steinerne Treppe zu der Doppeltür hochsteigt und in dem Gebäude verschwindet.

Seine Hand gleitet in die Innentasche seines Jacketts. Geschmeidig holt er etwas hervor. Einen Beutel Tabak, eigenhändig gepflückt, naturbelassen.

Mit geübten Griffen dreht er sich eine Zigarette.

Das goldene Zippo-Feuerzeug betrachtet er einen Moment lang, bevor er die Zigarette ansteckt.

Das Zeichen darauf erfüllt ihn mit Stolz. Es ist dasselbe wie auf der Brosche seiner Westernkrawatte.

Das Symbol des Yawani-Stammes.

Sie sind zwar nicht mehr viele.

Aber die Yawani werden nie aussterben.

Nie. Und wenn doch, dann soll es so sein.

Freitag

5:02 nachmittags

Lena kommt mit einem Holzkästchen in der Hand aus dem Kanzleigebäude und bleibt auf der breiten Treppe stehen.

Neugierig öffnet sie das Kästchen.

Darin befindet sich obenauf eine klotzige Videokassette.

Na super – das Teil kann sie nicht mal abspielen, sie hat ja keinen dieser uralten Videoplayer! Gibt’s die überhaupt noch?

Danke, Mom, das hat sich ja voll gelohnt, herzukommen! Vielen, vielen Dank!

Unter der Steinzeitkassette liegt noch was anderes.

Lena klaubt es hervor.

Ein Amulett.

An einem ledernen Halsband.

Was soll das?

Sie mustert es. Das Amulett trägt seltsame Zeichen, die sie nicht kennt. Zwar schön und irgendwie geheimnisvoll, aber keine Ahnung, was das bedeuten soll.

Doch es gefällt ihr. Sie fährt sich beidseits unter ihre langen schwarzen Haare und hakt den Verschluss des Lederbandes am Nacken ein.

Das Amulett liegt perfekt auf der Haut unterhalb ihres Halses. Nicht zu tief, nicht zu hoch. Nicht zu schwer, nicht zu leicht.

Ganz genau richtig. Wie angegossen.

Lena steckt die Videokassette in die Handtasche.

Das leere Holzkästchen lässt sie auf der Treppe liegen.

Mit leichten Schritten geht sie davon.

Seltsam beschwingt.

Sie weiß zwar nicht, warum. Aber irgendwie fühlt sich das gut an.

Freitag

5:06 nachmittags

Der Yawani folgt Lena unauffällig. Trotz seiner außergewöhnlichen Erscheinung verschmilzt er mit der Umgebung. Er wird ein Teil von ihr. Ein Teil des großen Ganzen. Unsichtbar.

Langsam holt er zu Lena auf.

Als er auf gleicher Höhe ist, spricht er sie an. «Entschuldigen Sie, kennen Sie den Weg zum Busbahnhof?»

Lena bleibt stehen. Mustert ihn kurz. Erklärt ihm den Weg, während er ihre grünen Augen fasziniert betrachtet.

Plötzlich beugt er sich vor und umarmt sie, bedankt sich tausendmal, endlos.

Lena ist einen Moment verblüfft. Vielleicht ist das eine Sitte in dem Volk, wo der herkommt?

Sie ist derart perplex durch die überraschende Umarmung, dass sie gar nicht merkt, wie der Mann in ihrem Nacken nach dem Lederband tastet.

Dann setzt Lenas Denken wieder ein. Sie schiebt den fremden Mann weg. Sitte hin oder her, das kommt ihr jetzt zu nahe, entschieden zu nahe.

«Jetzt reicht’s aber.» Sie geht entschlossen weiter.

Der Yawani bleibt stehen. Blickt ihr hinterher. Mit ausdrucksloser Miene betrachtet er das Amulett, das unterhalb ihres Halses im Sonnenlicht funkelt.

Der Busbahnhof liegt im Süden. Gelassen schlendert der Yawani Richtung Norden. Er lässt ein schönes Stück Entfernung zwischen sich und Lena entstehen.

Das Mädchen dreht sich um und überprüft, ob er ihr folgt.

Sie kann ihn nicht entdecken. Er ist ein Teil des großen Ganzen. Unsichtbar.

Lena bleibt an einer Straßenecke stehen. Öffnet ihre Handtasche und blickt hinein. Anscheinend kommt ihr die Sache im Nachhinein doch ein bisschen merkwürdig vor. Sie überprüft, ob ihr der seltsame Fremde bei der Umarmung vielleicht etwas gestohlen hat. Doch alles ist noch da.

Sie kennt jetzt sein Gesicht – das ist natürlich ein Nachteil. Einen zweiten solchen Versuch wird er nicht bekommen. Er muss sich was anderes einfallen lassen. Was Besseres.

In der Ferne sieht er Lena weitergehen.

Er gibt ihr noch mehr Abstand.

In dem Getümmel aus Menschen und Autos und Bussen verliert er sie nicht aus den Augen.

Nie. Und wenn doch, dann weiß er, wo sie wohnt.

Freitag

5:57 nachmittags

Lena geht die Zufahrt zum Haus ihrer Familie hoch. Der Yawani mustert das einstöckige Gebäude von weitem. L-förmiger Grundriss, gemütliche Veranda, angebaute Doppelgarage. Im Backyard vermutlich ein Swimmingpool. Üppig bewachsener Garten.

Sehr gut.

Das einzige Anwesen in der ganzen Straße, das nicht wie geleckt aussieht.

Zur Straße hin fehlen im Holzzaun mehrere Latten. Eine schwarze Katze huscht vom schattigen Bürgersteig durch eine Lücke in den Garten und wuselt um Lenas Beine.

Lena maunzt ihr zu und bemerkt nicht, dass der Yawani sie von der Straße her beobachtet.

Sie tritt ins Haus.

Im Flur steht ein Mann. «Was hat Mutter dir hinterlegt?»

Lena atmet tief ein. «Dad, das sag ich dir, wenn du mir erzählst, was damals los war. Warum Mom uns verlassen hat.»

Der Mann schaut sie wortlos an. Dann senkt er stumm den Blick.

Lena geht an ihm vorbei und verschwindet im Innern des Hauses.

Der Mann schließt die Tür.

Okay.

Zeit für eine kleine Erkundungstour.

Der Yawani erforscht die Zugänge zum Haus.

Vorne die Tür. Sieht teuer aus, stabil.

Von der offenstehenden Doppelgarage daneben führt eine weitere Tür ins Haus. Die bessere Möglichkeit. Solange das Garagentor offen ist.

An der Längsseite des flachen Gebäudes keine Türen. Dafür Fenster ohne Gitter. Gut.

Und dann noch hinten. Tatsächlich, mitten im Vogelgezwitscher ein Swimmingpool samt hübscher Hollywood-Schaukel. Nett.

Über einem der rückwärtigen Fenster hängt eine ausgebleichte Peace-Fahne – nicht seit Desert Storm, aber schon ein paar Jährchen dem Sonnenlicht ausgesetzt.

Die dichte Bepflanzung auf dem ganzen Gelände wird anständig bewässert und ansonsten sich selbst überlassen. Sehr wild.

Sehr gut.

Der Yawani prägt sich jede Einzelheit ein. Er wird nichts davon vergessen.

Entspannt stellt er sich vorne an die Ecke der Straße und zündet sich eine Zigarette an.

Denkt nach. Lässt die Erde sich ein Stück weiterdrehen.

Als er das Gefühl hat, dass das Mädchen vorläufig nicht mehr aus dem Haus kommt, schlendert er davon.

Er hat keine Eile. Er lässt die Kräfte des Planeten für sich fließen. So trägt ihn die Erde fast von selbst zu seinem Ziel.

Freitag

6:13 abends

Lena liegt auf ihrem Bett und betrachtet das Amulett. Die Zeichen vorne drauf sind nach wie vor ein Rätsel für sie.

Oben geschwungene Linien, unten gezackte. Rundherum ein Kreis. Dazwischen so was wie ein Himmel mit fliegenden Vögeln.

Und in der Mitte ein grüner funkelnder Stein.

Sieht irgendwie aus wie ein Auge.

Aber was das ganze Zeichen zu bedeuten hat – keine Ahnung.

Sie legt sich das Amulett am Lederband wieder um den Hals.

Und hier sitzt es wieder wie angegossen.

Nicht zu tief, nicht zu hoch, nicht zu schwer, nicht zu leicht.

Auf eine geheimnisvolle Weise fühlt es sich an, als hätte es schon immer hierhergehört.

Wie ein Teil von ihr, der erst jetzt zu ihr gefunden hat.

Freitag

6:36 abends

Der Busbahnhof. Ein Ort für die ausgefalleneren Seiten der Gesellschaft. Buslinien, die hier starten und enden, aber noch viel, viel mehr.

Der Yawani lässt den Blick aus der Ferne über das Gelände schweifen. Staubige Reisende mit Gepäck, Durchsagen über Verspätungen, Aktentaschenträger mit Handy am Ohr, dröhnende Abfahrten, stinkende Schwaden in der Luft.

Die Menschen sehen ihn nicht. Alle sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Bei der Treppe lungern Obdachlose und Arbeitslose herum, die auf einen Job warten. Auf irgendeinen. Manchmal auch was Illegales. Nicht alle, die hier rumhängen, aber ein paar. Der Yawani hat ein Auge dafür.

Er schlendert in kerzengerader Haltung zu zwei jungen Typen, die etwas abseits sitzen. In der Nähe der Unterführung, bei einem Fluchtweg also. Wozu braucht man einen Fluchtweg? Alles klar.

Entspannt tritt er vor die beiden hin.

Einer von ihnen trägt eine Armyhose und Igelstacheln als Frisur. Tattoos schlängeln sich seinen Hals hoch bis zum Ohr.

Der andere ist blass. Halblange Haare. Kaugummi im Mund. Schaut kaum auf.

Der Yawani fragt den Stachelkopf nach seinem Namen.

Der Typ blickt aus schmalen Augen hoch. «Wer will das wissen?»

«Jemand, der vielleicht einen Job hat.»

«Alles klar. Ich bin Alec.»

Gut, die Rangordnung wäre damit geklärt.

Jetzt lässt er den Jungen ein wenig warten.

Wer bewegt sich zuerst?

Der Junge. Keine Überraschung. «Und was für ein Job soll das sein?»

«Kleine Sache. Kaum der Rede wert. Aber sehr gut bezahlt.»

Alec kann seine Neugier kaum bezwingen. Sein Blick verrät ihn – die Neugier ist nicht seine einzige Gier. Das ist unübersehbar.

Gut. Sehr gut sogar. Leichtes Spiel.

«Was für eine Sache denn?», will Alec wissen. «Um was geht’s da genau?»

Der Yawani sagt es ihm und steckt dem Jungen ein gerolltes Dollarbündel zu. «Den zweiten Teil bekommst du bei Ablieferung der Ware. Bis dann.»

Abgang.

Gelassen, ohne Eile.

Hinter einer Säule wartet der Yawani einen Moment, dann blickt er zurück.

Alec und sein blasser Kumpel klatschen sich ab. Zählen die Dollars, grinsen übers ganze Gesicht. Sie haben soeben den Deal ihres Lebens gemacht.

Na, dann mal viel Glück.

Freitag

7:48 abends

Sonnenuntergang. Die Fassaden, Mauern und Wände sind in blutrotes Licht getaucht. Auf Hinterhöfe und schmale Durchgänge senkt sich rasch die Dunkelheit.

Lena ist auf dem Weg zur Theaterprobe. Die Haare hat sie hochgesteckt, damit das goldene Amulett perfekt auf ihrer braunen Haut zur Geltung kommt. In ihrer Tasche trägt sie die Cupcakes stoßsicher verpackt. Auf die Geburtstagsparty freut sie sich mehr als auf die Probe davor.

Sie ist spät dran. Sieht kurz auf die Uhr. Oh-oh, das wird knapp.

Macht keinen guten Eindruck, wenn die Regisseurin zu spät kommt. Von wegen Vorbild und so.

Mit der Abkürzung würde sie es rechtzeitig schaffen. Aber die ist ihr unheimlich.

Eng, übelriechend, finster. Oft einsam und verlassen.

Ein Alptraum eigentlich. Sie hasst diese schmutzige Gasse. Aber … auch diesmal wird ihr wohl keiner auflauern. Höchstwahrscheinlich nicht.

Sie gibt sich einen Ruck, verdrängt ihre Angst und betritt den dunklen Durchgang.

Schnell, damit es bald ausgestanden ist. Das Geräusch ihrer Absätze auf dem Asphalt hallt durch die Dunkelheit.

Eine flackernde Straßenlaterne auf halber Strecke ist die einzige Lichtquelle.

Rechts steile Hausmauern mit schäbigen Graffiti anstelle von Fenstern, links ein Hinterhof mit Müll-Containern und leeren Laderampen.

Lena blickt sich um. Beklommen, einen dicken Kloß im Hals.

Plötzlich sind zwei Typen hinter ihr.

Ihre Nackenhaare sträuben sich.

Sie geht noch schneller. Die Typen kommen trotzdem näher.

Zurück kann sie nicht, sonst läuft sie denen direkt in die Arme. Um an denen vorbeizukommen, ist der Weg viel zu schmal.

Also vorwärts.

Schnell!

Das Herz macht pam-pam-pam.

Sie schaut zurück. Die Typen sind schon ganz nah. Einer hat stachelschwarze Haare, der andere halblange Strähnen, beide ein Grinsen im Gesicht.

Lena beginnt zu rennen.

Freitag

7:50 abends

Tom dreht eine Video-Doku über die Essensverschwendung in der Stadt. Mia betreut als Kamera-Assistentin das Licht.

Das Bild zeigt in Großaufnahme den Müll-Container hinter einem Supermarkt, überquellend von eingeschweißten Lebensmitteln.

Tom zoomt auf die Etiketten an den Verpackungen. Ablaufdatum heute, gut und gerne noch mehrere Tage essbar.

Im Schwenk zu einem zweiten Container erfasst die Kamera im Hintergrund ein schwarzhaariges Mädchen, das von zwei Jungs verfolgt wird. Die zwei holen auf, einer packt sie an der Schulter.

«Mia», murmelt Tom. «Leuchte bitte mal da rüber.»

Tom zoomt auf das schwarzhaarige Mädchen. Mia zieht den Scheinwerfer auf die Gasse.

Das Mädchen steht jetzt im grellen Licht, geblendet. Der Typ in der Armyhose drängt sich an sie ran, beginnt sie zu befingern.

Tom zoomt noch näher.

Das hübsche Mädchen sagt etwas. Unhörbar.

Dann, lauter: «VERSCHWINDE!»

Freitag

7:53 abends

Lena hält im Scheinwerferlicht dem gefährlichen Blick des Stacheltypen stand. Doch innerlich zittert sie. Ihre Knie sind weich wie Gummi.

Schritte nähern sich. «Was soll das?! … Lass das Mädchen in Ruhe!»

Der Typ mit der Igelfrisur dreht sich ab, schaut im Weghuschen noch mal kurz zurück. Hat der ein Grinsen im Gesicht?

Der blasse Kauz daneben folgt ihm. Die beiden tauchen in die Dunkelheit der Gasse und werden von der Schwärze aufgesogen.

Erst jetzt merkt Lena, wie heftig sie atmet.

Tom sieht sie an. «Bist du okay?»

Okay ist anders. Sie lässt sich an der Graffitimauer hinabsinken und bleibt auf dem dreckigen Boden sitzen.

Tom kauert sich vor ihr nieder. «Alles in Ordnung? Brauchst du Hilfe?»

«Geht schon …» Sie atmet tief durch.

«Bist du wirklich okay?» Mia streicht sich eine lange blonde Strähne hinters Ohr. «Das muss doch ein ganz schöner Schock sein!»

«Nichts passiert», murmelt Lena. «Zum Glück seid ihr gekommen.»

«Gut, dann …» Mia schaut Tom an. «Ich müsste allmählich los. Wenn ich die Arbeit nicht rechtzeitig fertig kriege …»

«Geh ruhig», sagt Tom. «Ich bleib noch ein bisschen.»

«Okay. Die Lichtausrüstung …»

«Die pack ich nachher ein, kein Problem.» Tom steht auf und verabschiedet sich mit einem Drücker von dem blonden Mädchen. «Bis morgen.»

Mia eilt zu einem bunt bemalten Fahrrad und schließt die riesige Kette auf, mit der es am Zaun befestigt ist. Sie wirft die Kette in den Korb am Lenker, steigt in den Sattel und blickt noch mal zurück. «Tschüss!»

Ist das eine Kusshand, ehe sie davonradelt?

Freitag

8:01 abends

Alec klopft seinem Begleiter auf die Schulter. «Mensch, Billy, als dieser Scheinwerfer anging, dachte ich, jetzt haben uns die Cops am Wickel.»

«Dachte ich auch», kaut der Blasse. «Zum Glück war’s falscher Alarm.»

«Super gelaufen. Noch leichter, als der Typ gesagt hat.» Alec zieht die Nase hoch. «Und dieser Erfolg muss was?»

«Was?»

«Gefeiert werden muss er, liegt doch auf der Hand.»

Billy zögert. «Lass uns erst wie vereinbart das Teil bei diesem Indianer im Hotel abliefern und die Kohle klarmachen.»

«Das hat noch Zeit. Wenn’s ein bisschen länger dauert, denkt der Kerl, wir hätten länger für den Job gebraucht. Mehr geleistet fürs Geld. Verstehst du?» Alec spuckt auf den Boden. «Und das bedeutet was?»

«Tja …»

«Wichtige Regel, Billy, pass auf: Größerer Einsatz gleich größere Kundenzufriedenheit. Verstehst du?» Alec grinst. «Bringt uns vielleicht einen neuen Job von dem Kerl ein.»

«Das wär natürlich hammer.»

«Genau. Und jetzt gehen wir was trinken. Auf die erfolgreiche Arbeit und auf die erfolgreiche Zukunft.»

«Deal. Aber nur ein, zwei Drinks, dann liefern wir das Teil ab.»

«Ja, ja, ja.» Alec biegt in eine heruntergekommene Seitenstraße ein. Hält zielstrebig auf ein flackerndes Neonschild zu. Bar24.

Aus offenen Fenstern der Häuser an der Straße dringt Gelächter, Gezanke, Hip-Hop-Gedröhn, Babygebrüll. Auf dem Bürgersteig liegen leere Fastfood-Schachteln und zerdrückte Pappbecher.

Alec mag diesen Ort nicht besonders. Er würde lieber anderswo wohnen, wenn er die Wahl hätte. Doch die hat er im Augenblick nicht. Nicht wirklich.

Vor der Bar gegenüber seinem Wohnhaus hält er an.

Er legt Billy die Hand auf die Schulter und schaut ihn aus schmalen Augen ernst an. «Weißt du, was, Billy? Heute ist unser Glückstag.»

Damit tritt Alec ein. Drinnen schlendert er zur Theke und bestellt zwei Bier und zwei Whiskey.

Als Billy neben ihm ist, kommt gleich noch mal der schmal-ernste Blick zum Einsatz. «Eins musst du wissen, Billy. Alte Lebensweisheit. Du musst die Feste feiern, so oft du nur kannst. Darauf kommt’s an im Leben, Billy, verstehst du?»

Freitag

8:04 abends

Lena fühlt sich allmählich besser. Sie sitzt noch an die Graffitimauer gelehnt auf dem Boden, aber ihr Herzschlag ist jetzt wieder einigermaßen normal. Dass ihr so was derart in die Knochen fahren würde, das hätte sie also echt nicht gedacht.

«Ich bin okay», sagt sie zu dem Jungen. «Mach dir keine Gedanken.»

Tom schaut sich um. Niemand unterwegs in der Gasse. «Soll ich dich irgendwo hinbringen? Mein Auto steht gleich da drüben in dem Hinterhof.»

«Danke, ich hab’s nicht mehr weit.»

Irgendwas ist anders.

Irgendwas fehlt.

Was denn?

Was fehlt?

Lena fasst sich an den Hals. Die Stelle darunter ist leer.

Nicht zu tief, nicht zu hoch, nicht zu schwer, nicht zu leicht.

«Es ist weg», murmelt sie und tastet den Boden neben sich ab.

Tom sieht sie an. «Was ist weg?»

«Das Amulett. Ich hab’s heute bekommen. Von meiner Mutter. Und jetzt ist es weg.»

Lena weiß nicht wirklich, warum sie ihm das erzählt. Es kommt einfach aus ihr raus. Es erzählt sich irgendwie von selbst.

Tom bückt sich. «Ist es vielleicht bei dem Angriff vorhin runtergefallen?» Er mustert den dunklen Boden.

«Weiß nicht. Vielleicht.» Sie nimmt ihr Handy, schaltet die Taschenlampe ein und leuchtet in der näheren Umgebung herum. Da liegt bloß Müll. Das Amulett ist nicht zu sehen.

«Warte.» Der Junge eilt davon. «Ich hol was von unserem Filmlicht.»

Filmlicht? «Okay …» Lena stützt sich mit einer Hand am Boden ab. Ihre Beine fühlen sich immer noch gummiweich an.

Tom kommt mit einem Handscheinwerfer zurück und macht ihn an. Leuchtet mit dem gleißenden Strahl die Gasse hoch.

Geblendet schließt Lena die Augen.

Was tust du eigentlich hier, Lena, warum sitzt du auf dem Boden? Warum rührst du dich nicht vom Fleck? Du sitzt einfach hier, mit geschlossenen Augen.

Irgendwie ein gutes Gefühl. Jemand kümmert sich um dich, und du lässt es einfach geschehen.

Wann hast du dieses Gefühl zum letzten Mal gehabt?

Lange her.

Tom sucht immer weiter die Gasse runter. Irgendwann kommt er zurück. «Nichts. Tut mir leid.»

Der Scheinwerfer geht aus.