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Lilian Aldewinkle, eine reiche Dame aus London, hat ein Schloß in Italien erworben, aus dem sie um jeden Preis einen Treffpunkt der Musen machen will. Deshalb lädt sie alle dorthin ein, die ihrer Meinung nach künstlerische Genalität besitzen: ihren ehemaligen Liebhaber Tom Cardan, den Arbeiterführer Mr. Falx oder den vom gesellschaftlichen Leben angewiderten Calamy, der aus Langeweile ein Verhältnis mit der Schriftstellerin Mary Thriplow anfängt. Aber auch Francis Chelifer kommt auf das Schloß, ein nicht unbedeutender Lyriker, der das Mittelmaß für den einzig erträglichen Zustand hält und von Mrs. Aledwinkle hartnäckiger Liebe verfolgt wird. Und so beginnt ein Reigen um Liebe, Verrat und Leidenschaft. »Parallelen der Liebe« ist ein Feuerwerk funkelnder Gedanken und Einfälle über die Liebe, das Leben und die Kunst präsentiert mit Leichtigkeit und Virtuosität.
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Das Städtchen Vezza liegt am Zusammenfluss zweier Wildbäche, die durch zwei tiefe Täler aus den Apuanischen Bergen kommen. Mit Getöse – denn sie erinnern sich noch ihres Ursprungs im Gebirge – durchfließen sie vereint den Ort. Stille bedeutet hier: unaufhörliches Rauschen fließenden Wassers. Dann ändert der kleine Fluss allmählich seinen Charakter; das Tal weitet sich, bald bleiben die Berge zurück, und das Gewässer, friedlich geworden wie ein holländischer Kanal, gleitet langsam durch die Wiesen der Küstenebene und vermischt sich mit dem gezeitenlosen Mittelmeer.
Das Städtchen beherrschend, springt ein steiler Bergrücken wie ein Keil zwischen den beiden Tälern vor. Fast auf seinem Grat, inmitten von Steineichen und hohen Zypressen, die schwärzlich aus den nebelgrauen Ölbäumen ragen, steht ein mächtiges Haus. Eine feierlich regelmäßige Fassade, zwanzig Fenster breit, blickt über die terrassierten Zypressen und Ölbäume auf die Stadt hinab. Hinter und über dieser Fassade sieht man unregelmäßige Gruppen von Häusern die Hänge emporklettern. Und das Ganze wird von einem hohen, schlanken Turm beherrscht, der sich oben, nach der Art italienischer Türme, zu überhängenden Wehrgängen öffnet. Es ist der Sommersitz der Cybo Malaspina, der einstigen Fürsten von Massa und Carrara, Herzöge von Vezza und Markgrafen, Grafen und Barone etlicher anderer Ortschaften in der unmittelbaren Umgebung.
Die Straße, die zum Palast der Cybo Malaspina hinaufführt, der auf dem Berg über der Stadt thront, ist steil. Die italienische Sonne kann auch noch im September sehr kräftig scheinen, und Ölbäume geben nur wenig Schatten. Der junge Mann mit der Schirmmütze und der über die Schulter gehängten Ledertasche schob sein Fahrrad langsam und missmutig bergauf. Dann und wann blieb er stehen, trocknete sich das Gesicht und seufzte. Ein Unglückstag war das gewesen, dachte er, ein schwarzer, schwarzer Tag für die armen Briefträger von Vezza, als die verrückte alte Engländerin mit dem unaussprechlichen Namen dieses Schloss kaufte; und ein noch schwärzerer, als es ihr beliebte, herzukommen und darin zu wohnen. In den guten alten Zeiten hatte das Haus ganz leer gestanden. Zwei Bauernfamilien in den Wirtschaftsgebäuden, sonst niemand. Selten mehr als ein Brief im Monat für beide zusammen; und gar Telegramme – seit Menschengedenken war kein Telegramm für das Schloss gekommen! Aber diese glücklichen Zeiten waren nun vorbei, und Briefe, Pakete, Bündel von Zeitungen, Eilsendungen und Depeschen – kein Tag, ja, kaum eine Stunde, wo sich nicht einer vom Postamt zu diesem verwünschten Haus hinaufschinden musste.
Freilich, überlegte der junge Mann, man bekam ein gutes Trinkgeld, wenn man ein Telegramm oder einen Eilbrief brachte. Doch da er ein vernünftiger junger Mann war, zog er, wenn er die Wahl hatte, Muße dem Geld vor. Der Aufwand an Energie konnte durch die drei Lire, die er am Ende des Anstiegs erhielte, nicht aufgewogen werden. Geld allein machte einen nicht zufrieden, denn wenn man dafür arbeiten musste, hatte man keine Zeit, es auszugeben.
Das Ideal, so überlegte er weiter, als er die Mütze von Neuem aufsetzte und sein Fahrrad wiederum langsam bergauf schob, das Ideal wäre, einen großen Gewinn in der Lotterie zu machen, einen ganz großen Gewinn.
Er holte einen kleinen Zettel aus der Rocktasche, den ihm erst heute Vormittag ein Bettler als Dank für ein paar soldi gegeben hatte. Das Papier war mit gereimten Glücksprophezeiungen bedruckt – und welch großen Glücks! Der Bettler war durchaus nicht kleinlich gewesen. Er würde die Erwählte seines Herzens heiraten, zwei Kinder haben, einer der wohlhabendsten Kaufleute seiner Stadt und dreiundachtzig Jahre alt werden. Diesem Teil des Orakels schenkte er wenig Glauben. Nur die letzte Strophe schien ihm – obgleich es ihm schwergefallen wäre zu erklären, warum – ernster Beachtung wert. Die letzte Strophe enthielt einen besonders guten Rat.
Intanto se vuoi vincere
Un bel ternone al Lotto,
Giuoca il sette e il sedici,
Uniti al cinquantotto.
Er las den Vierzeiler mehrmals, bis er ihn auswendig wusste; dann faltete er den Zettel und steckte ihn ein. Sieben, sechzehn und achtundfünfzig – diese Zahlen hatten entschieden etwas sehr Anziehendes.
Giuoca il sette e il sedici,
Uniti al cinquantotto.
Er hatte nicht übel Lust, zu tun, wie das Orakel befahl. Es war ein Zauberspruch, eine Formel, um das Schicksal zu zwingen. Unmöglich, mit diesen drei Zahlen nicht zu gewinnen. Er überlegte, was er mit dem Gewinn täte. Eben hatte er sich für die Marke des Autos, das er sich kaufen würde, entschieden – einer von diesen neuen 14–40 PS Lancia wäre eleganter als ein Fiat und weniger kostspielig, dachte er (denn er hatte seinen gesunden Menschenverstand und Sparsinn auch inmitten des überströmenden Reichtums bewahrt), als ein Isotta Fraschini oder ein Nazzaro –, da stand er bereits am Fuß der Stufen, die zum Tor des Schlosses hinaufführten. Er lehnte das Rad an die Mauer und zog mit einem tiefen Aufseufzen die Glocke. Diesmal gab ihm der Diener bloß zwei Lire statt drei. So geht’s im Leben, dachte er, während er mit Freilauf durch den Wald silberiger Ölbäume bergab surrte.
Das Telegramm war an Mrs. Aldwinkle gerichtet, aber in Abwesenheit der Dame des Hauses, die mit allen ihren anderen Gästen über den Tag zum Baden nach Marina di Vezza hinuntergefahren war, brachte der Butler es Miss Thriplow.
Miss Thriplow saß in einem dunklen kleinen gotischen Zimmer im ältesten Teil des Schlosses und verfasste auf einer Corona-Schreibmaschine das vierzehnte Kapitel ihres neuen Romans. Sie trug ein bedrucktes Kattunkleid – riesige blaue schottische Karos auf weißem Grund – die Taille sehr hoch und der Rock sehr weit und lang; ein Kleid, das zugleich altmodisch und unerhört zeitgemäß war, schulmädchenhaft und fortschrittlich, sittsam und überaus bohemehaft emanzipiert. Das Gesicht, das sie dem eintretenden Butler zuwandte, war sehr glatt und rund und blass, so glatt und rund, dass ihr niemand die ganzen dreißig Jahre, die sie alt war, geglaubt hätte. Die Züge waren zart und regelmäßig, die Augen dunkelbraun; und die gewölbten Brauen sahen aus wie mit einem Tuschpinsel auf eine Porzellanmaske gemalt. Ihr Haar war fast schwarz, und sie trug es glatt von der Stirn zurückgestrichen und tief im Nacken zu einem großen Knoten gewunden. Ihre unbedeckten Ohren waren fast weiß und sehr klein. Ein ausdrucksloses Gesicht, das Gesicht einer Puppe, aber einer äußerst intelligenten.
Sie nahm das Telegramm und öffnete es.
»Von Mr. Calamy«, erklärte sie dem Butler. »Er wird mit dem Zug um drei Uhr zwanzig ankommen und will zu Fuß heraufgehen. Ich glaube, es wäre gut, wenn Sie gleich sein Zimmer zurechtmachen ließen.«
Der Butler ging; aber statt weiterzuarbeiten, lehnte sich Miss Thriplow im Sessel zurück und zündete sich nachdenklich eine Zigarette an.
Um vier Uhr, nach ihrer Siesta, kam Miss Thriplow nicht mehr im Blauweißen vom Vormittag, sondern in ihrem besten Nachmittagskleid herunter – dem Schwarzseidenen mit den weiß eingefassten Falbeln. Von diesem dunklen Hintergrund hoben sich ihre Perlen besonders leuchtend ab. Auch in den kleinen Ohren hatte sie Perlen, und ihre Hände waren schwer beringt. Nach allem, was sie von ihrer Gastgeberin über Calamy gehört hatte, waren ihr diese Vorbereitungen als notwendig erschienen, und sie war froh, dass sie durch seine unerwartete Ankunft bei der ersten Begegnung allein mit ihm sein würde. So wäre es für sie leichter, den richtigen, den günstigen ersten Eindruck zu machen, der immer so wichtig war.
In Anbetracht von allem, was Mrs. Aldwinkle über ihn gesagt hatte, bildete sich Miss Thriplow ein, gerade den Typ von Mann, der er war, zu kennen. Reich, gut aussehend, und was für ein Liebeskünstler! Mrs. Aldwinkle hatte natürlich sehr lange und bewundernd bei diesem letzten Vorzug verweilt. Die mondänsten Gastgeberinnen rissen sich um Calamy; er war in den besten und glänzendsten Kreisen beliebt. Aber nicht ein bloßer Salonfalter, das hatte Mrs. Aldwinkle betont. Im Gegenteil, intelligent, eigentlich ernst, mit einem Interesse für Kunst und dergleichen. Überdies hatte er auf dem Gipfel seiner Erfolge London den Rücken gekehrt und sich zu seiner geistigen Fortbildung auf eine Weltreise begeben. Ja, Calamy sei ein durchaus ernst zu nehmender Mensch. Miss Thriplow hatte das alles mit einem Körnchen Salz aufgenommen; sie kannte Mrs. Aldwinkles Hang, in Ermanglung anerkannter Persönlichkeiten ihre gewöhnlichen Bekannten in den Rang von Größen zu erheben. Indem sie also die üblichen fünfundsiebzig Prozent von Mrs. Aldwinkles Lobpreisungen abzog, stellte sie sich Calamy als einen dieser Gardeoffiziere von Natur vor, mit einem Zug ehrfürchtiger, schlichter Verehrung für die Mysterien der Künste, wie Gardeoffiziere sie mitunter hegen, was diese aristokratischen Autodidakten veranlasst, die Salons, wo Intellektuelle anzutreffen sind, aufzusuchen, Dichter zu kostspieligen Mahlzeiten in Restaurants einzuladen, kubistische Bilder zu kaufen und sogar insgeheim zu versuchen, selber zu malen oder Verse zu schreiben. O ja, sie kannte diesen Typ durch und durch, dachte Miss Thriplow. Deshalb hatte sie all diese Vorbereitungen getroffen – hatte dieses Meisterstück eines eleganten schwarzen Kleides, diese Perlen und Ringe angelegt; deshalb hatte sie gleichzeitig das flotte Wesen dieser blendenden, zweideutig aussehenden aristokratischen jungen Damen angenommen, auf deren Kosten er, nach Mrs. Aldwinkles Bericht, seine größten amourösen Triumphe geerntet hatte. Miss Thriplow nämlich wollte ihren Erfolg bei diesem jungen Mann – und sie wollte bei allen Menschen Erfolg haben – nicht dem Umstand verdanken, dass sie eine anerkannt gute Romanschriftstellerin war. Da er einer der Gardisten von Natur mit einer zufälligen Schwäche für Künstler war, wollte sie sich ihm als eine der Gardistinnen von Natur, mit einem ebenso zufälligen und unwichtigen Talent zur Schriftstellerei, zeigen. Sie wollte ihm zeigen, dass sie schließlich allem Gesellschaftlichen gewachsen sei, wenn sie auch einstmals arm und zudem Gouvernante gewesen (und sie war überzeugt, dass Mrs. Aldwinkle, so wie sie sie kannte, ihm das nicht verschwiegen hatte). Sie wollte ihm auf gleich und gleich begegnen: die Gardistin dem Gardisten. Später, wenn er ob ihrer gardistischen Qualitäten Gefallen an ihr gefunden hätte, könnten sie sich mit Kunst befassen, und dann mochte er sie ebenso als Stilistin wie als brillante junge Dame seines Schlags bewundern.
Sein erster Anblick bestärkte sie in dem Glauben, dass sie recht daran getan hatte, all ihren Schmuck und ihr flottestes Wesen anzulegen. Denn der Butler öffnet die Tür wahrhaftig dem jungen Mann, der auf den Titelblättern der Illustrierten seine roten Lippen auf die seiner Erwählten drückt. Nein, das war ein wenig ungerecht. Er sah nicht ganz so unerträglich hübsch und albern aus. Er war einfach einer dieser wohlerzogenen, riesig netten, gebildeten jungen Menschen, die manchmal eine solche Erlösung sind nach einem Zu viel an hochgeistiger Gesellschaft. Brünett, blauäugig, soldatisch und hochgewachsen. Schrecklich hochklassig und mit all dem herrlichen Selbstvertrauen, das einem das Geborensein in Reichtum und sicherer und bevorrechteter Stellung verleiht; ein wenig anmaßend, vielleicht, im Bewusstsein seiner guten Erscheinung, in der Erinnerung an seine amourösen Erfolge. Aber auf eine lässige Weise anmaßend; die gebratenen Tauben flogen ihm in den Mund; er hatte es nicht nötig, sich zu bemühen. Seine Lider waren schwer von einer schläfrigen Arroganz. Sie wusste alles über ihn, beim bloßen Hinsehen; oh, sie kannte ihn durch und durch.
Er stand vor ihr und sah lächelnd, mit fragend hochgezogenen Brauen und ganz und gar nicht verlegen in ihr Gesicht hinab. Miss Thriplow gab seinen Blick ebenso unverfroren zurück. Auch sie konnte anmaßend sein, wenn sie wollte.
»Sie sind Mr. Calamy«, teilte sie ihm schließlich mit.
Er neigte den Kopf.
»Ich bin Mary Thriplow. Die anderen sind alle nicht zu Hause. Ich werde mich bemühen, Sie zu unterhalten.«
Er verneigte sich abermals und ergriff ihre dargebotene Hand. »Ich habe von Lilian Aldwinkle schon viel über Sie gehört.«
Dass sie Gouvernante gewesen war? fragte sich Miss Thriplow.
»Und von einer Menge andrer Leute auch«, fuhr er fort. »Ihre Bücher gar nicht zu erwähnen.«
»Ach, über die wollen wir aber nicht reden.« Sie schob sie leichthin beiseite. »Sie sind unwesentlich, diese Bücher, die man einmal geschrieben hat – unwesentlich, weil sie von jemand geschrieben wurden, der aufgehört hat zu existieren. Lasst die Toten ihre Toten begraben! Das einzige Buch, das zählt, ist das, an dem man gerade schreibt. Und wenn es einmal geschrieben ist und andre Leute es zu lesen begonnen haben, ist auch dieses unwesentlich geworden. So dass es eigentlich kein Buch von einem gibt, über das zu reden interessant wäre.« Miss Thriplow sprach lässig, ein wenig gedehnt, lächelte dabei und sah Calamy unter gesenkten Lidern hervor an. »Sprechen wir von etwas Interessanterem«, schloss sie.
»Vom Wetter?«, schlug er vor.
»Warum nicht?«
»Jedenfalls ist das ein Thema«, sagte Calamy, »über das ich tatsächlich mit Interesse sprechen kann – ich möchte beinahe sagen, mit Wärme.« Er zog ein großes buntes Seidentaschentuch hervor und trocknete sich das Gesicht. »Durch so ein Inferno wie diese staubigen Straßen in der Ebene bin ich noch nie gegangen. Ehrlich gesagt, manchmal sehene ich mich in diesem italienischen Sonnenglast nach der Düsternis Londons, dem Parasol von Rauch, dem Nebeldunst, der auf hundert Schritte den Gebäuden die Kanten nimmt und jeden Durchblick zur Hälfte mit Moskitonetzen verhängt.«
»Ich erinnere mich, einmal einen sizilianischen Dichter getroffen zu haben«, sagte Miss Thriplow, die diesen Nachfolger Theokrits der Eingebung des Augenblicks verdankte, »der genau dasselbe sagte. Nur dass er Manchester vorzog. Bellissima Manchester!« Sie wandte die Augen nach oben und schlug die Hände zusammen. »Er war ein Exemplar der herrlichen Menagerie, die man bei Lady Trunion antrifft.« Das war ein guter Name, um seiner beiläufig Erwähnung zu tun. Lady Trunions Haus war eins von jenen, wo die Gardisten und Gardistinnen von Natur mit den kuriosen Käuzen und verrückten Hühnern – kurz, den Künstlern – zusammentrafen. Indem sie das Wort »Menagerie« gebrauchte, stellte sich Miss Thriplow auf die Gardeseite des Gitters.
Aber der zauberkräftige Name hatte auf Calamy nicht die erwartete Wirkung. »Funktioniert denn diese grässliche Person noch immer?«, fragte er. »Sie müssen bedenken, dass ich ein Jahr lang weg war; ich bin nicht auf dem Laufenden.«
Miss Thriplow brachte hastig ihren Gesichtsausdruck und den Ton ihrer Stimme wieder in Ordnung. Mit einem wissenden, verächtlichen Lächeln sagte sie: »Aber gegen Lady Giblet ist sie noch gar nichts, nicht wahr? Bei der kann man wirklich Horribles erleben. Ihr Haus ist geradezu ein mauvais lieu.« Sie bewegte ihre ringgeschmückte Hand mit der Geste eines Connoisseurs in Horror.
Calamy teilte ihre Ansicht nicht ganz. »Vulgärer mag es vielleicht bei der Giblet zugehen, aber nicht ärger«, sagte er – und in einem Tonfall, mit einer Miene, die Miss Thriplow zeigten, dass er meinte, was er sagte, und nicht im Grund seiner Seele heimlich diese gesellschaftlichen Wonnen verhimmelte. »Wenn man, wie ich, nach einem Jahr oder mehr in die Zivilisation zurückkehrt und sieht, dass dieselben idiotischen Leute dieselben idiotischen Dinge treiben – es ist erstaunlich! Man erwartet, es sei alles ganz anders geworden. Ich weiß nicht, warum; vielleicht weil man selber sich ziemlich verändert hat. Aber alles ist ganz genau so, wie es war. Die Giblet, die Trunion und sogar, seien wir ehrlich, unsere liebe Gastgeberin – obgleich ich die gute Lilian aufrichtig gern habe. Nicht die geringste Veränderung! Es ist mehr als erstaunlich – es ist geradezu erschreckend.«
An diesem Punkt des Gesprächs wurde Miss Thriplow gewahr, dass sie einen ungeheuren Fehler gemacht hatte, einen ganz falschen Kurs segelte. Noch eine Sekunde – und sie hätte einen schrecklichen Irrtum gesellschaftlicher Einschätzung begangen, hätte, wie sie es in ihren burschikosen Augenblicken nannte, einen nie wiedergutzumachenden Bock geschossen. Miss Thriplow war sehr empfindlich, was ihre Böcke betraf. Solche Erinnerungen konnten tief in ihrem Gemüt haften bleiben und Wunden verursachen, die nie völlig heilten. Längst vernarbt, schmerzten sie gelegentlich immer noch. Plötzlich, ohne Ursache, mitten in der Nacht oder auch im Kreis der vergnügtesten Gesellschaft, konnte sie sich eines bejahrten Bocks erinnern – einfach so – und von einem Gefühl des Selbstvorwurfs und retrospektiver Scham überwältigt werden. Und dagegen gab es kein Heilmittel, keine seelische Prophylaxe. Man mochte tun, was man wollte, um triumphierend richtige und taktvolle Alternativen für den Bock zu erfinden – mochte sich zum Beispiel einbilden, der kleinen Schwester beruhigende Worte statt der bitteren, verletzenden zugeflüstert zu haben oder mit leichtherziger Würde aus Bardolphs Atelier hinaus und die verwahrloste enge Gasse entlanggegangen zu sein, an dem Haus vorbei, wo ein Kanarienvogel im Fenster hing (ein feines Detail, dieser Kanarienvogel), weg, weg – während man in Wirklichkeit (o Gott, wie dumm war man gewesen und wie unglücklich nachher!) wahrhaftig dort blieb. Man mochte tun, was man wollte, man konnte sich selbst niemals völlig einreden, dass der Bock nicht geschossen worden sei. Die Fantasie mochte sich abmühen, die verhasste Erinnerung zu vernichten, aber sie hatte nie Kraft genug, einen entscheidenden Sieg zu erringen.
Und jetzt würde, wenn sie nicht achtgäbe, wiederum ein Bock in ihren Erinnerungen verwesen und die verpesten. »Wie konnte ich nur so dumm sein«, dachte sie, »wie konnte ich nur?« Denn nun war es offenbar, dass bei dieser Gelegenheit flottes Wesen und modische Verkleidung gänzlich unangebracht waren. Calamy schätzte so etwas unverkennbarerweise gar nicht; vielleicht früher einmal, aber jetzt nicht mehr. Wenn sie so fortfuhr, könnte es ihr geschehen, dass er sie für bloß frivol, für weltlich, für snobistisch hielte; und es würde lange dauern und große Anstrengungen erfordern, den vernichtenden ersten Eindruck zu verwischen.
Verstohlen streifte Miss Thriplow den Opalring vom kleinen Finger ihrer rechten Hand und hielt ihn einen Augenblick in der linken verborgen; dann, sobald Calamy nicht hersah, steckte sie ihn zwischen den gepolsterten Sitz und die Rückenlehne des chintzüberzogenen Fauteuils.
»Erschreckend!«, echote sie. »Ja, das ist das richtige Wort. So etwas ist erschreckend. Schon das Format der Bedienten!« Sie hielt die eine Hand hoch über den Kopf. »Der Durchmesser der Erdbeeren!« Sie hielt beide Hände (die noch immer mit ihrer Last von Ringen viel zu sehr glitzerten, wie sie mit Bedauern bemerkte) spannenweit voneinander. »Die Geistlosigkeit der Löwenjäger. Und das Gebrüll der Löwen!« Es war augenblicklich nicht nötig, mit den Händen zu agieren; sie ließ sie in den Schoß sinken und benützte die Gelegenheit, sich des Skarabäus’ und des Brillantrings zu entledigen. Und wie ein Taschenspieler, der die Aufmerksamkeit von der Ausführung seines Tricks mit seinem Geplapper ablenken will, neigte sie sich vor und begann sehr schnell und eindringlich zu reden. »Und dann«, sie verlieh ihrer Stimme einen ernsten Klang und glättete das Lächeln in ihrem Gesicht, das jetzt wundervoll rund, sinnend und naiv wurde, »was für dummes Zeug diese Löwen brüllen! Ich glaube, es war schrecklich kindisch von mir, aber ich stellte mir immer vor, dass berühmte Leute interessanter sein müßten als andre. Das sind sie aber nicht!« Sie ließ sich recht dramatisch in den Fauteuil zurückfallen. Dabei schien eine ihrer Hände hinter ihrem Rücken stecken geblieben zu sein. Sie zog sie wieder hervor, aber nicht ehe der Skarabäus und der Brillantring in das Versteck hineingeschoben worden waren. Nun blieb nur noch der Smaragd; der mochte bleiben. Er sah sehr keusch und schlicht aus. Aber sie könnte unmöglich die Perlen abnehmen, ohne dass Calamy es merkte. Unmöglich, obgleich Männer so unglaublich schlechte Beobachter waren; aber eine Perlenschnur … Und es waren nicht einmal echte Perlen.
Calamy lachte indessen. »Ich erinnere mich, dass ich die gleiche Entdeckung machte«, sagte er. »Anfangs ist es sehr peinlich. Als wäre man irgendwie geprellt oder hereingelegt worden. Sie erinnern sich, was Beethoven sagte: dass er selten im Spiel der hervorragendsten Virtuosen die Vortrefflichkeit fand, die er seiner Meinung nach mit Recht erwarten konnte. Man hat das Recht, von berühmten Leuten zu erwarten, dass sie ihrem Ruf nichts nachgeben; von Rechts wegen sollten sie interessant sein.«
Miss Thriplow neigte sich wieder vor und stimmte ihm mit kindhaftem Eifer bei. »Ich kenne eine Menge unbekannter kleiner Leute«, sagte sie, »bei denen man irgendwie fühlt, dass sie viel interessanter und viel echter sind als die berühmten. Echtheit, darauf kommt es an, nicht wahr?«
Calamy war derselben Ansicht.
»Ich glaube, es ist schwer, echt zu sein«, fuhr Miss Thriplow fort, »wenn man eine Berühmtheit oder eine Gestalt des öffentlichen Lebens oder dergleichen ist.« Sie wurde nun sehr vertraulich. »Mir wird richtig bange, wenn ich meinen Namen in der Zeitung lese und man mich fotografieren will und die Leute mich zum Dinner einladen. Ich fürchte, mein Unbekanntsein zu verlieren. Echtheit gedeiht nur in der Dunkelheit. Wie Spargel.« Wie unbedeutend und unbekannt sie doch war! Wie arm und ehrlich, sozusagen. Die brüllenden Löwen bei Lady Trunion, die langweiligen Löwenjägerinnen … die konnten nicht hoffen, durch das Nadelöhr zu gehen.
»Ich bin sehr erfreut, Sie so sprechen zu hören«, sagte Calamy.
»Wenn nur alle Schriftsteller so dächten wie Sie!«
Mit einem Kopfschütteln lehnte Miss Thriplow das angedeutete Kompliment ab. »Ich bin wie Jehova«, sagte sie. »Ich bin nur, die ich bin. Das ist alles. Warum sollte ich vorgeben, eine andere zu sein? Obwohl ich gestehen muss«, fügte sie mit sehr gewagter Aufrichtigkeit hinzu, »ich war durch den Ruf, der Ihnen voranging, so eingeschüchtert, dass ich mich mondäner gab, als ich wirklich bin. Ich hatte Sie mir so ungeheuer weltlich und smart vorgestellt. Was für eine Erleichterung, zu finden, dass Sie es nicht sind.«
»Smart?«, wiederholte Calamy und schnitt ein Gesicht.
»In Mrs. Aldwinkles Schilderungen erschienen Sie als ein so blendender Gesellschaftsmensch.« Und bei diesen Worten kam sie sich entsprechend unbedeutender und geringer vor.
Calamy lachte. »Vielleicht war ich einmal so einfältig«, sagte er. »Aber heute – na, ich hoffe, das ist jetzt vorbei.«
»Ich dachte Sie mir«, fuhr Miss Thriplow fort und bemühte sich, trotz ihres Schattendaseins zu glänzen, »wie jemand von diesen Leuten im Sketch – ›mit einer Freundin im Hydepark promenierend‹, wissen Sie; eine Freundin, die sich zumindest als eine Herzogin oder eine berühmte Schauspielerin entpuppen würde. Kann es Sie wundern, dass ich nervös war?« Sie sank wieder tief in ihren Fauteuil zurück. Armes kleines Ding! Aber die Perlen waren, obgleich nicht schaumgeboren, noch immer eine recht arge Verlegenheit.
Als Mrs. Aldwinkle zurückkam, fand sie die beiden auf der oberen Terrasse, wo sie die Aussicht bewunderten. Es war schon beinahe die Stunde des Sonnenuntergangs. Die Stadt Vezza ihnen zu Füßen war bereits von den Schatten des großen Bergsporns eingehüllt, der auf der anderen Seite des westlicher gelegenen Tals steil zur Ebene abfiel. Die aber war noch hell beleuchtet. Sie lag dort unter ihnen ausgebreitet wie eine Landkarte ihrer selbst – die Straßen weiß eingezeichnet, die Pinienwälder grünlich schwarz, die Flüsse als silberne Fäden, Äcker und Wiesen smaragdgrün und halb gewürfelt, die Bahnstrecke dunkelbraun liniert – und, jenseits des fernsten Saums von Pinienwald und Sand, dunkelnd, in stumpfem Blau, das Meer. Zu diesem umfassenden, von den vorspringenden Bergen eingerahmten Bild – der östliche noch rosig von Licht übergossen, der westliche schon in tiefem Dunkel – senkte sich eine breite Treppenflucht auf eine untere Terrasse hinab und noch weiter, zwischen säulengleichen Zypressen, bis zu einem mit Skulpturen geschmückten Einfahrtstor auf halber Höhe des Abhangs.
Die beiden standen schweigend da, die Ellbogen auf die Balustrade gestützt. Seit sie die Gardistin über Bord geworfen hatte, waren sie, wie Miss Thriplow fand, überaus gut miteinander ausgekommen. Sie konnte sehen, dass ihm die Verbindung von naiver Seele und geistiger Kompliziertheit, von Raffinement und Echtheit an ihr gefiel. Es war ihr jetzt unverständlich, warum sie sich anders als einfach und natürlich hatte geben wollen. Schließlich war sie das doch wirklich – oder hatte zumindest entschieden, dass sie es sein sollte.
Vom Vorhof an der Westseite tönte eine Hupe und der Klang von Stimmen.
»Da sind sie«, sagte Miss Thriplow.
»Ich wollte eigentlich, sie wären’s noch nicht«, sagte Calamy, richtete sich seufzend auf und wandte sich, der Aussicht den Rücken kehrend, dem Haus zu. »Wie wenn man einen großen Stein in einen stillen Teich wirft – ich meine, dieser ganze Lärm.«
Indem sie sich im Geist den friedlichen Reizen des Abends beizählte, fasste Miss Thriplow die Bemerkung als Kompliment auf. »Wie oft wir uns damit abfinden müssen, dass uns kostbares Kristall zertrümmert wird«, sagte sie. »Jeden zweiten Augenblick sozusagen, wenn man überhaupt sensibel ist.«
Durch die riesigen, hallenden Säle des Schlosses näherte sich der Klang einer Stimme. »Calamy«, rief sie, »Calamy!«, und stieg mit den Silben des Namens von einer tiefen zu einer viel höheren Note, aber nicht in Intervallen, wie die Musik sie kennt, sondern in einer Folge unreiner und gar nicht miteinander verwandter Töne. »Calamy!« Es klang so unbestimmt und unmelodisch, als rufe der Wind einem etwas zu. Dann eilige Schritte, das Rascheln eines Kleids. In dem riesigen, pompösen Tor, von dem Treppenstufen zu der Terrasse hinunterführten, erschien die Gestalt Mrs. Aldwinkles.
»Da sind Sie ja!«, rief sie entzückt. Calamy ging ihr entgegen.
Mrs. Aldwinkle war eine dieser großen, stattlichen, wie von einem der Alten Meister gemalten Frauen, die aussehen, als wären sie aus Teilen zweier verschiedener Personen zusammengesetzt – sie haben so breite Schultern, so junonische Formen; und auf diesen Schultern einen so schlanken Hals, einen so kleinen, runden Kinderkopf. Solche Frauen sehen am besten aus zwischen achtundzwanzig und, sagen wir, fünfunddreißig, wenn der Körper seine volle Reife erlangt hat und der Hals, der kleine Kopf, die unversehrten Züge noch einem jungen Mädchen anzugehören scheinen. Da ist ihre Schönheit durch die wunderliche Unstimmigkeit der Komponenten umso eindrucksvoller, umso anziehender.
»Mit dreiunddreißig«, pflegte Mr. Cardan von ihr zu sagen, »weckte Lilian in einem alle latenten bigamistischen Instinkte. Sie war achtzehn in den Dachräumen und Witwe Dido in den Stockwerken darunter. Man hatte den Eindruck, gewissermaßen mit zwei Frauen gleichzeitig beisammen zu sein. Es war höchst anregend.«
Er sprach leider nicht in der Gegenwartsform; denn Mrs. Aldwinkle war nicht länger dreiunddreißig, noch war sie es die letzten zwölf, fünfzehn oder mehr Jahre gewesen. Die junonische Statur – die war noch immer stattlich und nicht zu üppig. Und von hinten sah auf diesen breiten Schultern der Kopf wirklich noch immer kindhaft aus. Das Gesicht aber, einst der umso viel jüngere Partner in dieser Gemeinschaft, hatte den Körper im Wettlauf durch die Zeit überholt und war über die Jahre hinaus alt und verlebt. Die Augen waren noch das Jüngste darin. Groß, blau und etwas vorgewölbt, sahen sie sehr glitzernd und eindringlich daraus hervor. Ihre Einfassung wies jedoch Säckchen und Krähenfüße auf. Über die breite Stirn zogen sich ein paar waagrechte Falten. Zwei tiefe Einschnitte liefen von den Nasenflügeln abwärts am Mund vorbei, wo sie teilweise durch ein anderes System von Falten, welches sich den Bewegungen der Lippen anpasste, unterbrochen wurden, und erreichten den unteren Rand der Backen als scharfe Trennungslinie zwischen den schlaffen Wangen und dem kräftigen, vorspringenden Kinn. Der Mund war groß, die Lippen hatten ziemlich unscharfe Umrisse, und ihre Unbestimmtheit wurde dadurch erhöht, dass Mrs. Aldwinkle sie mit sehr geringer Sorgfalt schminkte. Denn sie war Impressionistin; die Wirkung aus der Entfernung, der großartige theatralische Schwung, die waren, was sie interessierte. Sie hatte keine Geduld, nicht einmal am Toilettentisch, an präraffaelitischen Details herumzustricheln.
Einen Augenblick blieb sie dort oben auf dem Kopf des Treppenabsatzes stehen, eine imposante, majestätische Gestalt. Ihr langes weites Kleid aus blassgrünem Leinen fiel in steifen, geraden Falten. Der grüne, um den breitrandigen Strohhut gewundene Schleier wallte luftig auf ihre Schultern. Über dem Arm trug sie einen großen Ridikül, und von ihrer Taille baumelte an kurzen Kettchen ein ganzer Hort von goldenen und silbernen Kinkerlitzchen.
»Da sind Sie ja!« Sie lächelte dem näher kommenden Calamy zu, mit einem Lächeln, das einst von bestrickender Süße, voll bezaubernder Lockung gewesen sein musste. Jetzt war es leider bloß von historischem Interesse. Mit einer Gebärde, die zugleich theatralisch und ausdruckslos war, streckte Mrs. Aldwinkle plötzlich beide Hände zum Willkommen aus und lief die Stufen hinab, ihm entgegen. Ihre Bewegungen waren ebenso unharmonisch und unsicher wie ihre Stimme, wirkten ungeschickt und steif. Das Majestätische ihrer Ruhehaltung hatte sich verflüchtigt.
»Lieber Calamy«, rief sie und umarmte ihn, »ich muss Ihnen einen Kuss geben. Es ist eine Ewigkeit, seit ich Sie gesehen habe.« Dann wandte sie sich mit einem argwöhnischen Blick an Miss Thriplow. »Wie lange ist er schon hier?«, fragte sie.
»Seit halb fünf«, erwiderte Miss Thriplow.
»Seit halb fünf?«, wiederholte Mrs. Aldwinkle schrill und gleichsam empört. »Warum haben Sie mich nicht rechtzeitig wissen lassen, wann Sie kommen würden?«, wandte sie sich an Calamy. Der Gedanke, dass er während ihrer Abwesenheit angekommen war und überdies die ganze Zeit im Gespräch mit Miss Thriplow verbracht hatte, ärgerte sie. Mrs. Aldwinkle wurde unaufhörlich von der Furcht geplagt, etwas zu versäumen. Schon seit einer Reihe von Jahren schien das Weltall sich verschworen zu haben, sie von den Orten, wo sich die aufregenden Dinge ereigneten und die wunderbaren Worte gesprochen wurden, fernzuhalten. Es war ihr an diesem Vormittag schwer genug gefallen, Miss Thriplow im Schloss zurückzulassen; Mrs. Aldwinkle wünschte nicht, dass ihre Gäste außerhalb ihres Gesichtskreises ein unabhängiges Dasein führten. Aber hätte sie gewusst, hätte sie nur den geringsten Verdacht gehegt, dass Calamy ankäme, während sie nicht zu Hause wäre, dass er viele Stunden im Tête-à-tête mit Mary Thriplow verbringen werde – also, dann wäre sie überhaupt nicht ans Meer hinuntergefahren. Sie wäre zu Hause geblieben, trotz der verlockenden Aussicht aufs Baden.
»Sie scheinen sich ja für diese Gelegenheit besonders elegant gemacht zu haben«, setzte Mrs. Aldwinkle hinzu, mit einem Blick auf Miss Thriplows Perlen und das Schwarzseidene mit den weiß eingefassten Falbeln.
Miss Thriplow besah sich die Aussicht und tat, als hätte sie nicht gehört. Sie wollte sich nicht in eine Unterhaltung über eben dieses Thema einlassen.
»Aber jetzt«, sagte Mrs. Aldwinkle zu ihrem neuen Besuch, »muss ich Ihnen die Aussicht und das Haus und alles zeigen.«
»Miss Thriplow war bereits so liebenswürdig, das zu tun«, erwiderte Calamy.
Diese Mitteilung schien Mrs. Aldwinkle außerordentlich zu missfallen. »Sie kann Ihnen nicht alles gezeigt haben«, sagte sie, »denn sie kennt nicht alles, was es zu zeigen gibt. Und außerdem weiß Mary nichts von der Geschichte dieses Orts und von den Künstlern, die an dem Schloss mitgearbeitet haben, und …« Sie schwenkte die Hand – eine Geste, die besagte, dass Mary Thriplow überhaupt nichts wisse und gänzlich unfähig sei, irgendjemand durch das Haus und die Gärten zu führen.
»Jedenfalls«, Calamy bemühte sich, die richtigen Worte zu finden, »habe ich bereits genug gesehen, um es hier wirklich ganz wunderschön zu finden.«
Mrs. Aldwinkle aber war mit dieser spontanen und unabhängig von ihr hervorgerufenen Bewunderung nicht zufrieden. Sie war überzeugt, dass er die Schönheit der Aussicht nicht wirklich gesehen, dass er sie nicht verstanden, sie nicht in ihre einzelnen Reize zu zerlegen gewusst hatte. Sie begann zu erklären, was sich ihren Blicken darbot.
»Die Zypressen bilden einen so wundervollen Kontrast zu den Ölbäumen«, sagte sie und stach mit der Spitze ihres Sonnenschirms in die Landschaft, als hielte sie einen Lichtbildervortrag.
Sie natürlich verstand das alles; sie war vollkommen befähigt, es alles in jeder Einzelheit zu würdigen, denn die Aussicht war jetzt ihr Eigentum und daher die schönste der Welt. Aber nur sie allein hatte das Recht, diese Tatsache zu verkünden.
Wir alle sind geneigt, Dinge, die zufällig uns gehören, über Gebühr zu schätzen. Provinzgalerien sind immer vollgepfropft mit Bildern von Raffael und Giorgione. Die herrlichste Hauptstadt der christlichen Welt ist, nach Ansicht ihrer Bewohner, Dublin. Mein Grammofon und mein Ford sind besser als deine. Und wie rührend langweilig sind diese armen, aber kultivierten Italienreisenden, die uns ihre Ansichtskartensammlung mit ebenso viel Stolz zeigen, als wären es Originalgemälde.
Zugleich mit dem Schloss hatte Mrs. Aldwinkle ungeheure Gebiete erworben, die im Vertrag nicht erwähnt waren. Sie hatte vor allem die Cybo Malaspina und ihre Familiengeschichte gekauft. Dieses Geschlecht, dessen einziger Anspruch auf Berühmtheit darauf beruht, dass es kurz vor seinem Aussterben jenen Fürsten von Massa Carrara hervorbrachte, mit dem die Alte Frau im Candide als junge, hinreißende Tochter eines Papstes einst verlobt gewesen war – dieses Geschlecht war nun für Mrs. Aldwinkle so glanzvoll geworden wie die Gonzaga, die Este, die Medici oder die Visconti. Sogar die langweiligen Herzöge von Modena, die Inhaber des Schlosses in der Zeit zwischen dem Erlöschen der Cybo Malaspina und der Gründung des Königreichs Italien (mit Ausnahme des kurzen napoleonischen Zwischenspiels), hatten durch ihre Verbindung mit dem Ort so gewonnen, dass sie für Mrs. Aldwinkle nun Gönner der Künste und Väter ihres Volkes waren. Und der Schwester Napoleons, Elisa Bacciochi, die als Fürstin von Lucca mehr als einen heißen Sommer hier oben verbracht hatte, war von der gegenwärtigen Besitzerin eine schrankenlose Begeisterung für die Künste und, was in Mrs. Aldwinkles Augen noch glanzvoller war, eine schrankenlose Begeisterung für die Liebe zugeschrieben worden. In Elisa Buonaparte-Bacciochi hatte Mrs. Aldwinkle eine schwesterliche Seele gefunden, die nur von ihr selber verstanden wurde.
Mit der Landschaft war es ebenso. Die gehörte ihr bis hinab zum fernen Horizont, und niemand außer ihr vermochte sie nach Gebühr zu schätzen. Und dann, wie sie die Italiener zu würdigen wusste! Seit sie ein Haus in Italien gekauft hatte, war sie zu der einzigen Ausländerin geworden, die dieses Volk genau kannte. Die ganze Halbinsel und alles, was sie enthielt, war ihr Eigentum und ihr Geheimnis. Sie hatte ihre Kunst, ihre Musik, ihre melodische Sprache, ihre Literatur, ihre Weine und ihre Küche, die Schönheit ihrer Frauen und die Männlichkeit ihrer Faschisten gekauft. Sie hatte italienische Leidenschaftlichkeit erworben: cuore, amore e dolore gehörten ihr; sie hatte auch nicht vergessen, das Klima mitzukaufen – das beste in Europa; und die Fauna – wie stolz war Mrs. Aldwinkle, als sie in der Morgenzeitung las, dass fünfundzwanzig Kilometer von zu Hause ein Wolf einen Jagdpächter aus Pistoia verschlungen hatte! – und die Flora, besonders die roten Anemonen und wilden Tulpen – die Vulkane, die noch immer so wundervoll in Tätigkeit waren – die Erdbeben …
»Und jetzt«, sagte Mrs. Aldwinkle, nachdem sie die Aussicht erledigt hatte, »jetzt müssen wir uns das Haus ansehen.«
Sie kehrte der Aussicht den Rücken. »Dieser Teil des Schlosses«, setzte sie ihren Vortrag fort, »stammt aus der Zeit um 1630.« Sie wies mit dem Sonnenschirm. Die farbigen Lichtbilder zeigten jetzt Architektur. »Ein schönes Beispiel frühen Barocks. Was von der alten Burg übrig ist, mitsamt dem Turm, bildet jetzt den östlichen Flügel …«
Miss Thriplow, die das alles schon mit angehört hatte, lauschte nichtsdestoweniger mit dem verzückten Ausdruck gespannter Anteilnahme, den man auf den Gesichtern von Kindern bei Benefizvorträgen sehen kann; teils um in Mrs. Aldwinkles Augen das Vergehen, bei Calamys Ankunft zu Hause gewesen zu sein, zu sühnen, teils um auf Calamy selbst Eindruck zu machen mit ihrer Fähigkeit, ehrlich und völlig und unkritisch in den geringfügigen Angelegenheiten des Augenblicks aufzugehen.
»Jetzt werde ich Ihnen das Innere des Schlosses zeigen«, sagte Mrs. Aldwinkle und stieg die Stufen hinauf, die von der Terrasse zum Haus führten; die Kleinodien bimmelten an ihren Kettchen. Gehorsam gingen Miss Thriplow und Calamy hinter ihr drein.
»Die meisten Fresken«, verkündete Mrs. Aldwinkle, »sind von Pasquale da Montecatini. Ein großer Maler – schmählich unterschätzt.« Sie schüttelte den Kopf.
Miss Thriplow wurde einigermaßen verlegen, als sich ihr Begleiter bei dieser Bemerkung ihr zuwandte und eine kaum merkbare Grimasse schnitt. Sollte sie einverständlich und ironisch zurücklächeln oder die Grimasse nicht beachten und die kindlich verzückte Miene beibehalten? Zuletzt entschied sie, die stumme Vertraulichkeit zu übersehen.
Auf der Schwelle des großen Salons kam ihnen ein junges Mädchen in einem blassrosa Leinenkleid entgegen. Das kindlich runde Gesicht (von anderer Naivität als das Miss Thriplows) blickte aus einem rechteckigen Fenster, eingeschnitten in eine kurze glatte Glocke kupferfarbenen Haars. Ein Paar weit offener hellblauer Augen sah unter den geraden, metallisch schimmernden Franse hervor. Eine kleine, zarte Stupsnase und eine kurze Oberlippe gaben ihr ein kindlich rührendes und zugleich fröhliches Aussehen. Es war Irene, Mrs. Aldwinkles Nichte. Sie reichte Calamy die Hand.
»Vermutlich«, sagte er, »sollte ich Ihnen erzählen, dass Sie ungemein erwachsen geworden sind, seit ich Sie letztes Mal sah. Aber ehrlich gesagt, finde ich das gar nicht.«
»Ich kann nichts für mein Äußeres«, entgegnete sie. »Aber innerlich …« Innerlich war Irene steinalt. Dass sie die fünf empfänglichsten Jahre ihres Lebens unter der Vormundschaft ihrer Tante Lilian verbracht hatte, trug seine Früchte.
Mrs. Aldwinkle schnitt ungeduldig das Gespräch ab. »Ich möchte, dass Sie sich diesen Plafond hier ansehen«, sagte sie zu Calamy. Wie trinkende Hühner starrten sie zum Raub der Europa hinauf. Mrs. Aldwinkle senkte den Blick. »Und die rustica mit den Gruppen von Meeresgöttern.« In zwei großen, mit Muschelwerk und Tuffstein ausgekleideten Nischen wanden sich wild zwei fischleibige Gruppen. »Sind sie nicht bezaubernd seicento?«
Irene, die sich durch lange Bekanntschaft einer besondern Aufmerksamkeit für die Meeresgötter enthoben fühlte, hatte unterdessen bemerkt, dass die losen Chintzüberzüge der Fauteuils zerknittert waren. Von Natur ordnungsliebend – und seit sie bei Tante Lilian wohnte, musste sie das für zwei sein –, ging sie auf den Zehenspitzen hin, um sie glattzustreichen. Sie beugte sich über den nächststehenden Fauteuil, fasste den losen Überzug vorn beim Sitz und zog mit einem festen Ruck an, um ihn ganz zu lockern, bevor sie ihn dann sorgfältig an den Rändern hineinstopfte. Der Stoff blähte sich wie ein plötzlich geschwelltes Segel, und mit ihm wurde, von nirgendher, als hätte Irene ein Zauberkunststück ausgeführt, ein Regenbogen von Juwelen hervorgeschnellt. Sie prasselten auf den Boden, rollten über die Fliesen. Das Geräusch störte Miss Thriplow aus ihrer kindlich verzückten Betrachtung der Tuffsteinnischen auf. Sie wandte sich, gerade rechtzeitig, um einen Skarabäusring zu gewahren, der, hinkend wie ein Exzenter, auf sie zurollte. Ein paar Schritte vor ihr verlor er an Schwung, schwankte und fiel um. Miss Thriplow hob ihn auf.
»Ach, es sind bloß meine Ringe«, sagte sie leichthin, als wäre es für ihre Ringe das Natürlichste von der Welt, aus einem Fauteuil hervorzuspringen, wenn Irene den Überzug glattstrich. »Weiter nichts«, fügte sie, zu Irene gewendet, beruhigend hinzu, die wie versteinert vor Überraschung dastand und auf die verstreuten Schmuckstücke hinabschaute. Mrs. Aldwinkle war zum Glück ganz davon in Anspruch genommen, Calamy von Pasquale da Montecatini zu erzählen.
Das Abendessen wurde im Ahnensaal aufgetragen. Was für wundervolle Symposien waren in Mrs. Aldwinkles überschwänglicher Einbildung innerhalb dieser Wände – sogar Jahrhunderte vor ihrer Erbauung – abgehalten worden, wahre Festmähler des Geistes! Thomas von Aquino hatte hier einem frühen Malaspina seine heimlichen Zweifel an der Möglichkeit, Gestirnumläufe zu berechnen, anvertraut, hatte über einem Becher Weins den Raubgrafen mit der Schwäche seiner Prophylaxis geneckt. Dante hatte die Vorteile betont, eine platonische Geliebte zu haben, der man niemals begegnet und die man notfalls mit der Theologie identifizieren kann. Peter von Amiens indessen, nach Rom unterwegs, hatte aus seiner gereimten Fassung des Physiologus die Verse über die Hyäne vorgetragen, ein Tier, das, abgesehen davon, dass es hermaphroditisch ist, in seinem Auge einen Stein trägt, der einen, wenn man ihn in den Mund steckt, die Zukunft sehen lässt, und das überdies Habsucht und Geilheit versinnbildlicht. Der gelehrte Boccaccio hatte über die Genealogie der Götter disputiert; Pico della Mirandola bei einem leckeren Eberkopf die Kabbala zur Stützung der Trinitätslehre zitiert; Michelangelo seine Pläne für die Fassade von San Lorenzo in Florenz dargelegt; Galilei Vermutungen darüber angestellt, warum die Natur nur bis zu zweiunddreißig Fuß den fühlt; Marini durch seine Geistreicheleien verblüfft; Luca Giordano einer Wette wegen, zwischen Braten und Nachtisch, ein lebensgroßes Bild, gemalt … Und was für strahlende Frauen hatten den Glanz dieser Feste erhöht! Liebreizend, ewig jung, von der vielseitigen Ausbildung, die Castiglione in seinem fordert, und äußerst erotisch – inspirierten sie die Männer von Genie zu noch höheren Geistesflügen, übertrumpften sie deren gewagteste Witzigkeiten mit Aussprüchen voll weiblicher Grazie.
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