Park Avenue Player - Vi Keeland - E-Book

Park Avenue Player E-Book

Vi Keeland

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Beschreibung

Er glaubt nicht mehr an die Liebe. Bis er sie trifft ...

Auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch passiert es: Elodie erwischt mit ihrem alten Jeep den glänzenden Mercedes eines reichen Schnösels. Es ist Abneigung auf den ersten Blick, als ihr der arrogante - wenn auch leider attraktive - Geschäftsmann die alleinige Schuld an dem Unfall gibt. Nach einem hitzigen Wortgefecht muss die temperamentvolle New Yorkerin sich sputen, um noch pünktlich zu ihrem Termin zu erscheinen - und staunt nicht schlecht, als sich ihr Unfallgegner als ihr zukünftiger Chef entpuppt ...

"Welch. Ein. Spaß!!! Ich habe dieses Buch von Anfang bis Ende einfach nur geliebt!" Maryse’s Book Blog

Der neue Bestseller des Erfolgsduos Vi Keeland und Penelope Ward

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Seitenzahl: 494

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorinnen

Die Romane von Vi Keeland und Penelope Ward bei LYX

Impressum

Vi Keeland / Penelope Ward

Park Avenue Player

Roman

Ins Deutsche übertragen von Antje Görnig

Zu diesem Buch

Auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch passt Elodie Atlier nur einen Moment nicht auf, und schon ist es passiert: Mit ihrem alten Jeep erwischt sie den glänzenden Mercedes eines reichen Schnösels im Anzug. Doch als der arrogante – wenn auch leider attraktive – Geschäftsmann sich nicht nur unmöglich verhält, sondern ihr auch sofort die Schuld gibt, schaltet die temperamentvolle New Yorkerin auf stur. Als die Polizei den Schaden schließlich aufgenommen hat, muss Elodie sich sputen, um noch halbwegs pünktlich zu ihrem Termin zu erscheinen – und staunt nicht schlecht, als sich ihr zukünftiger Arbeitgeber ausgerechnet als ihr Unfallgegner entpuppt! Nur weil sie den Job unbedingt braucht, dreht Elodie sich nicht auf dem Absatz um. Auch Hollis LaCroix ist wenig begeistert, als er sieht, wer sich für die Stelle als Nanny für seine Nichte beworben hat. Doch schnell findet Elodie einen Draht zu dem Mädchen – und auch zu Hollis. Elodie stellt fest, dass sich hinter der verschlossenen und abweisenden Fassade des erfolgreichen CEOs ein freundlicher und humorvoller Mann verbirgt, den sie unbedingt näher kennenlernen möchte. Aber auch wenn schon bald heftig die Funken zwischen ihnen sprühen, steht die Liebe für Hollis zurzeit an letzter Stelle, wurde ihm doch schon einmal das Herz gebrochen …

1. KAPITEL

Elodie

Manchmal wünschte ich, ich wäre hässlich. Nicht unbedingt potthässlich mit einer Warze auf der Nase, drei schwarzen Zähnen im Mund, einer Narbe auf der Wange und schütterem Haar – denn ab und zu musste ich ja auch selbst in den Spiegel schauen –, aber es wäre schön, wenn mich beim Betreten einer Bar nicht gleich jeder Anzug tragende Idiot von der Börse mit Blicken ausziehen würde.

Klinge ich verbittert? Tut mir leid. Aber die Börsenmaklerbars in der City hingen mir zum Hals raus. Eigentlich waren Broker nur Gebrauchtwagenhändler mit schickeren Anzügen, oder? Wenn sie sich angeblich so gut aufs Aktiengeschäft verstanden, warum saßen sie dann nicht zu Hause und zählten ihre mit lukrativen Investitionen verdienten Scheinchen, statt anderen Tipps zu verkaufen? Ich war also froh, dass es bei meinem heutigen Einsatz nicht um einen Börsenmakler ging.

Apropos … Meine Zielperson hatte mich gerade bemerkt. Das lüsterne Schwein taxierte eine ganze Minute lang meinen Körper, bevor er mir ins Gesicht schaute. Immerhin sah dieser Fremdgänger genauso aus wie auf dem Foto, das wir bekommen hatten: groß, durchtrainiert, zurückgegeltes pechschwarzes Haar, kantiges Kinn, mächtige Nase. Schmale Augen. Ein Blick genügte, und ich wusste, dass ich auf dem Absatz kehrtgemacht hätte, wenn es kein Auftrag gewesen wäre.

Mein ahnungsloser Gegenspieler an diesem Abend war ein Jurist von der Upper West Side – ein Anwalt für Medienrecht mit einer Schwäche für Filmsternchen, die noch nicht gelernt hatten, unter dem Dreitausend-Dollar-Anzug den Wolf zu erkennen.

Im Rahmen unseres nicht erstattungsfähigen Honorarvorschusses waren vierzig Stunden für diesen Job angesetzt worden. Ich würde viel Geld darauf wetten, dass ich nur einen Bruchteil dieser Zeit brauchte.

Hmmm … vielleicht sollte ich das wirklich tun. Soren war immer für eine kleine Wette zu haben. Für ihn wäre es natürlich ein Win-win-Geschäft, denn es motivierte mich, den Job zügig zu erledigen, wodurch ich schneller wieder einen neuen übernehmen konnte.

Allerdings hoffte ich, dass es bald keine dieser Aufträge mehr für mich geben würde. Am nächsten Tag hatte ich ein Bewerbungsgespräch für einen richtigen Job – für einen, bei dem ich nicht tagtäglich angegrapscht wurde. Mit ein bisschen Glück war dieser Scheiß also bald vorbei.

Als ich spürte, dass Anwalt Larry mich wieder anglotzte, klimperte ich mit den Wimpern und schenkte ihm mein bestes Du bist ein starker, reicher, tougher Kerl, und ich bin nur ein kleines dummes Mädchen-Lächeln. Spaßeshalber warf ich noch mein von Natur aus platinblondes Haar nach hinten und streckte meine D-Körbchen leicht vor. Seine flachbrüstige brünette Frau hatte uns darauf hingewiesen, dass er auf Blondinen mit großen Brüsten stand.

Du hast Glück, Larry. Komm her, du Hund, und hol dir dein Leckerli!

Ich hatte Soren gerade eine Nachricht mit meinem Wettangebot geschickt, da stand der Rechtsverdreher auch schon neben mir.

»Sie sehen aus, als könnten Sie einen Drink vertragen«, sagte er.

Ich biss mir auf die Unterlippe und spielte mit gesenktem Blick die Schüchterne, bevor ich mit meinen großen himmelblauen Augen zu ihm aufsah.

»Ich trinke normalerweise nicht mit Fremden.«

Er reichte mir die Hand. »Garrett Lopresti.«

Los geht’s! Lüge Nummer eins, Larry Mercer!

Ich erwiderte den Händedruck. »Sienna Bancroft.«

Er ließ nicht wieder los. »Jetzt sind wir keine Fremden mehr, nicht wahr, Sienna?«

Ich lächelte, als fühlte ich mich von seiner Aufmerksamkeit geschmeichelt. Dabei waren Männer, die auf lange Beine und große Brüste abfuhren, der Fluch meines Lebens. In dem Moment vibrierte mein Telefon. Ich wusste, dass es Soren war.

»Entschuldigen Sie mich kurz.«

Soren: Leo hat gerade geparkt. Er kommt gleich rein.

Elodie: Sehr gut. Larry glaubt nämlich, er könnte heute Abend bei Sienna landen. Was sagst du zu der Wette?

Soren antwortete umgehend.

Soren: Wenn du den Job in vier Stunden oder weniger erledigst, verdoppele ich dein Honorar. Sorry, Larry, heute hast du nicht die geringste Chance! Aber du bekommst genau das, was du verdient hast.

Ich warf das Telefon in meine Handtasche und legte kokett den Kopf schräg. »Wie war das mit dem Drink?«

Manchmal regte sich bei mir das schlechte Gewissen. Jede Geschichte hatte zwei Seiten, und wir bekamen nur eine zu hören. Einige Frauen, die uns engagierten, waren garstige Biester. Trotzdem gab das ihren Männern noch lange nicht das Recht, sie zu betrügen. Der potenzielle Fremdgänger hatte immer die Möglichkeit zu gehen.

Wir erhielten aber auch Aufträge von gehässigen Frauen, bei denen wir Wochen brauchten, um den kleinsten Hinweis auf Untreue der Ehemänner mit der Kamera festzuhalten. Da konnte man durchaus Gewissensbisse bekommen. Aber an diesem Abend hatte ich absolut keine.

Eine halbe Stunde, nachdem »Garrett« mich zu einem Ecktisch geführt hatte, wo wir ungestört waren, hatte ich seine Hand mit dem Abdruck des Eherings auf meinem Knie. Was für ein widerlicher Schleimbeutel! Aber ich musste mitspielen, denn Leo konnte die Hand von der anderen Seite der Bar aus nicht mit der Videokamera einfangen.

Ich wollte seine Hand loswerden.

Ich wollte ihn loswerden.

Also musste ich ihn austricksen. Die Kamera konnte aus dieser Entfernung nicht aufnehmen, was ich sagte.

In den letzten Minuten hatte er meine Lippen angestarrt, als wollte er sie verschlingen. Ich hasste es, von meinen Zielpersonen auf den Mund – oder überhaupt – geküsst zu werden. Ein kleiner Schubs in die richtige Richtung war also notwendig. Als der Dreckskerl mir eine Gelegenheit bot, nutzte ich sie sofort.

»Was hältst du davon, wenn wir von hier verschwinden und zu dir gehen?«, fragte er.

Ich beugte mich vor und senkte die Stimme. »Bekomme ich keine Kostprobe der Ware, bevor ich sie mit nach Hause nehme?«

»Du kannst alles haben, was du willst, Süße. Was schwebt dir denn vor?«

»Nun …« Ich presste meine Arme fest an meine Seiten, sodass meine Brüste fast aus meiner tief ausgeschnittenen Bluse heraussprangen, und präsentierte ihm mein Dekolleté. Er fiel förmlich hinein. »Mein Hals ist sehr empfindsam. Ich steh drauf, wenn du an der Stelle unter meinem Ohr saugst.«

»Nichts lieber als das. Und woran saugst du dann im Gegenzug bei mir?«

Mir kam die Galle hoch. Ich schluckte und setzte ein Lächeln auf. »Kannst du dir aussuchen.«

In der nächsten Sekunde stürzte er sich auch schon auf mich, und sein Mund wanderte zielstrebig über meinen Hals. Ich gestattete ihm ein paar ekelerregende saugende Küsse, dann schaute ich in Leos Richtung. Nachdem er mir kurz zugenickt hatte, schob ich Larry von mir weg und log das Blaue vom Himmel herunter.

»Oh, das fühlt sich gut an! Gehen wir zu mir. Ich kann es nicht erwarten, mich bei dir zu revanchieren.«

»Ich folge dir.«

»Warte. Ich gehe noch schnell zur Toilette, um mich frisch zu machen.«

Er nahm meine Hand und legte sie auf die Beule in seiner Hose. »Und ob wir warten! Beeil dich!«

»Bin sofort wieder da.«

Meinen Abgang plante ich immer sorgfältig im Voraus. Ich war schon vor ein paar Tagen in der Bar gewesen und hatte am Ende des Flurs, der zu den Toiletten führte, einen Notausgang entdeckt. Da er auf der Rückseite des Gebäudes lag, hatte ich mein Auto in der Straße hinter der Bar abgestellt.

Ich stieß die Tür auf, ging nach draußen und atmete tief durch. Nachdem mich der Typ besabbert hatte, wollte ich nur noch nach Hause fahren und duschen. Mein Job hier war erledigt. Auf dem Weg zum Auto schrieb ich Soren.

Elodie: Fertig! Die Dummen sterben nie aus.

Soren reagierte prompt.

Soren: Meinst du mich, wegen der Wette? Oder Anwalt Larry?

Elodie: Sowohl als auch. Danke für die Extrakohle. Wir sehen uns am Zahltag!

Rums!

Verflixt.

Ich schloss die Augen. Das hatte mir gerade noch gefehlt! Ich war zwar eine Dreiviertelstunde zu früh dran für mein Bewerbungsgespräch, doch die Zeit reichte nicht aus, um einen Unfall abzuwickeln. Ich achtete darauf, mein Auto keinen Zentimeter mehr von der Stelle zu bewegen, schaltete auf Parken und stieg aus. Der vordere Kotflügel meines alten Jeep Wrangler hatte eine Delle und ein paar Kratzer abbekommen, aber der andere Wagen war wesentlich stärker beschädigt. Ein Hinterreifen zischte und war schon halb platt. Der Radkasten war verbogen und drückte gegen den Reifen. Der schicke neue Mercedes schien beim Aufprall fast implodiert zu sein.

»Was zum Teufel …? Das darf ja wohl nicht wahr sein!« Der Fahrer stieg aus, sah sich den Schaden an und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Haben Sie mich denn nicht gesehen? Ich wollte gerade rückwärts in die Parklücke fahren.«

Natürlich. Ich war auf einen Hunderttausend-Dollar-Wagen aufgefahren – und der Besitzer hatte obendrein die Gesichtszüge eines griechischen Gottes. Logisch, dass ein bildschöner Mann am Steuer dieser Protzkarre saß. Er war mir auf Anhieb unsympathisch.

»Ich war zuerst da! Sie haben zurückgesetzt, als ich schon eingebogen war.«

»Schon eingebogen? Das sehe ich anders. Sie wollten noch schnell reinhuschen, während ich schon halb in der Parklücke war! Als ich anfing zurückzusetzen, war niemand hinter mir.«

Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Oh doch! Ich war hinter Ihnen! Sie haben mich nur nicht gesehen. Ich habe hinter Ihnen gewartet, und als Sie nicht gefahren sind, habe ich sogar gehupt. Also dachte ich, Sie parken in zweiter Reihe, und ich kann den freien Platz benutzen. Wenn Sie nicht so aufs Gas getreten hätten, hätten Sie genug Zeit gehabt, mich zu sehen und zu bremsen, statt mir reinzufahren!«

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ich Ihnen?« Er zeigte auf seinen Wagen. »Anhand des Schadens ist ja wohl leicht zu erkennen, wer hier wem reingefahren ist.«

Ich ignorierte seine Worte. »Haben Sie etwa Ihr Handy am Ohr gehabt oder so?«

Er sah mich finster an. »Hoffentlich sind Sie versichert.«

»Nein, ich fahre ohne Versicherung durch die Gegend.« Ich verdrehte die Augen. »Nur weil ich nicht so ein schickes Auto fahre wie Sie, bin ich noch lange keine Kriminelle!«

Der Mercedes-Mann war verärgert. »Ich habe es eilig, ich habe einen Termin. Lassen Sie uns schnell unsere Daten austauschen, damit ich weiterkann.«

Ich nahm mein Telefon aus der Tasche und fotografierte die Unfallschäden. »Nein, wir rufen die Polizei.«

»Dann dauert es mindestens ein bis zwei Stunden! Bei so einem eindeutigen Unfall braucht man keine Polizei!«

»Werden Sie Ihrer Versicherung melden, dass Sie schuld sind? Im Gegensatz zu Ihnen kann ich mir nämlich keine Beitragserhöhung leisten.«

»Ich werde nicht sagen, dass ich schuld bin, weil ich nicht schuld bin.«

»Deshalb brauchen wir die Polizei!«

Der Mercedes-Mann brummelte etwas, was ich nicht verstand, und zog sein Telefon aus der Tasche – um bei der Polizei anzurufen, dachte ich, aber da lag ich falsch.

»Ich verspäte mich. Addison soll schon mal ohne mich anfangen«, blaffte er.

Kein »Hallo« oder »Guten Tag«. Der Kerl sah zwar gut aus und fuhr ein nettes Auto, aber er besaß keinerlei Manieren. Und dann beendete er das Telefonat auch noch, ohne sich zu verabschieden.

Mir war meine Missbilligung offenbar anzusehen.

Er starrte mich an. »Was?«

»Hoffentlich war das nicht Ihre Frau. Sie waren nicht sehr freundlich.«

Er kniff die Augen zusammen. »Ich muss noch mal telefonieren. Wie wäre es, wenn Sie sich inzwischen nützlich machen, indem Sie die Polizei rufen.«

Was für ein Arschloch! Ich ging auf die andere Seite meines Autos, um meinen Fahrzeugschein und den Versicherungsschein aus dem Handschuhfach zu holen. Als ich mich dem unhöflichen Mercedes-Mann zuwandte, der abermals in sein Telefon bellte, klebte sein Blick an meinen Beinen. Ich wählte kopfschüttelnd die 9-1-1.

»Hier ist die Notrufzentrale«, meldete sich eine Telefonistin. »Um welche Art Notfall handelt es sich?«

»Hallo! Ich hatte gerade einen Unfall an der Ecke Park Avenue und 24th Street.«

»Okay, ist jemand verletzt und muss medizinisch versorgt werden?«

Ich deckte das Telefon ab und fragte den Mercedes-Mann: »Sind Sie verletzt? Die wollen wissen, ob wir medizinische Versorgung brauchen.«

»Mir fehlt nichts«, antwortete er schroff. »Sagen Sie denen nur, sie sollen sich beeilen.«

»Nein, danke«, sagte ich zu der Telefonistin. »Wir sind beide okay. Wie es aussieht, sind nur unsere Fahrzeuge beschädigt und die Manieren des Unfallgegners.«

Er sah mich böse an.

Ich erwiderte seinen Blick genauso böse.

Nach dem Telefonat hielt ich ihm meine Papiere hin. »Wir können unsere Versicherungsdaten schon mal austauschen, bevor die Polizei kommt. Ich habe nämlich auch einen wichtigen Termin.«

Er holte seine Papiere aus dem Wagen und zog den Führerschein aus seiner Brieftasche. Ich fotografierte den Ausweis von Hollis LaCroix. Natürlich wohnte er in der Park Avenue – das passte zum Gesamtpaket. Nachdem ich auch seinen Versicherungsbrief und die Zulassung abgelichtet hatte, sah ich, dass er meinen Führerschein immer noch studierte.

»Ich kann Ihnen versichern, dass er echt ist, falls Sie sich das fragen.«

Er machte ein Foto von meinem Führerschein und hielt ihn mir mit den anderen Papieren hin. »Connecticut, hm? Das erklärt einiges.«

Ich riss ihm meine Sachen aus der Hand. »Wieso?«

»Sie können nicht rückwärts einparken.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Ich bin eine gute Autofahrerin, damit Sie es wissen!«

Er wies mit dem Kopf auf seinen Wagen. »Ich habe einen Zehntausend-Dollar-Schaden, der das Gegenteil beweist.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wissen Sie was? Sie sind ein Arsch.«

Ich hätte schwören können, dass seine Mundwinkel zuckten, als hätte er Spaß daran, mich auf die Palme zu bringen. Zum Glück kam die Polizei in dem Moment, und ich musste mich nicht länger mit ihm herumschlagen. Nachdem ich dem Beamten meine Version der Geschichte erzählt hatte, setzte ich mich in mein Auto. Dann sprach der Polizist mit Hollis. Mir knurrte der Magen, während ich die beiden Männer beobachtete. Ich schnappte mir kurzerhand die Tüte mit den Knabbereien, die ich für meinen morgigen Filmabend mit Bree besorgt hatte, und öffnete eine Packung Minzpralinen. Während ich sie wegfutterte, fühlte ich mich wie im Kino – mit einem extrem gut aussehenden Hauptdarsteller auf der Leinwand.

Hollis war wirklich ein Hingucker: groß, breite Schultern, schmale Hüften, braun gebrannt, dunkle Haare, die am Kragen etwas zu lang waren, was eigentlich nicht zu seinem makellosen maßgeschneiderten Anzug passte. Aber absolut atemberaubend waren seine knallgrünen Augen und seine dichten dunklen Wimpern.

Als hätte er gespürt, dass ich ihn anstarrte, schaute er zu mir herüber, und unsere Blicke kreuzten sich. Ich machte mir nicht die Mühe, wegzusehen und so zu tun, als hätte ich ihn nicht beobachtet. Scheiß drauf! Wenn er meine Beine abchecken konnte, konnte ich mir auch sein göttliches Gesicht ansehen. Als er den Blick nicht abwendete, warf ich ihm ein übertriebenes, eindeutig unechtes Lächeln zu.

Diesmal war das Zucken seiner Mundwinkel unverkennbar, zumal er danach breit grinste. Dann wandte sich Hollis wieder dem Polizeibeamten zu, und ich hatte das Gefühl, unser kleines Wettstarren gewonnen zu haben. Als sie fertig waren und der Polizist zu mir herüberkam, hatte ich die komplette Pralinenpackung verdrückt.

»So, Ms Atlier, auf diesem Formular steht die Nummer Ihres Polizeiberichts. Den Bericht können Sie in vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden online abrufen, oder Sie kommen auf die Wache und holen ihn ab.«

Ich nahm das Formular entgegen. »Danke. Haben Sie notiert, dass ich nicht schuld bin?«

»Ich habe alle Fakten zusammengetragen. Es obliegt der Versicherung, den jeweiligen Anteil der Schuld zu bestimmen.«

Ich seufzte. »Okay. Vielen Dank. Ist sonst noch etwas? Ich habe nämlich einen Termin und muss dringend los.«

»Nein, wenn Ihr Wagen fahrtüchtig ist, können Sie wegfahren. Mr LaCroix muss auf den Abschleppwagen warten.«

»Okay, super! Einen schönen Tag noch, Officer.«

»Ihnen auch. Und fahren Sie vorsichtig!«

Es kam mir komisch vor, ohne ein weiteres Wort zu Hollis einfach so wegzufahren. Daher wartete ich, bis der Polizist mit seinem Wagen davonfuhr. Dann stieg ich aus und ging auf den Mercedes zu. Hollis hatte sich an den Kofferraum angelehnt und spielte mit seinem Telefon.

»Ähm … kann ich noch etwas für Sie tun?«, fragte ich. »Soll ich Sie irgendwohin mitnehmen oder so?«

»Für heute haben Sie genug getan. Danke.«

Gott, warum habe ich überhaupt gefragt?

»Okay.« Ich lächelte künstlich. »Schönes Leben noch!«

2. KAPITEL

Hollis

Addison würde mir den Kopf abreißen, weil ich zu spät kam. Ich hatte sie gebeten, bei den Bewerbungsgesprächen dabei zu sein, und nun hatte ich das erste verpasst. Ich sah auf meine Uhr. Das zweite war bestimmt auch schon halb vorüber.

Im fünfzehnten Stock verließ ich den Aufzug, ging durch die gläserne Flügeltür und warf meine Aktentasche auf den Empfangstresen. Fast alle hatten schon Feierabend gemacht, aber aus dem Konferenzraum waren Stimmen zu hören. Da ich eh schon zu spät war, konnte ich ruhig noch zur Toilette gehen.

»Addison! Ich bin’s, Hollis!«, rief ich den Gang hinunter. »Ich komme gleich!«

»Schön, dass du es einrichten konntest!«, schrie sie. »Vielleicht solltest du deine protzige Rolex gegen eine Timex austauschen!«

Ich ignorierte ihren Kommentar und ging zur Toilette. Ich musste schon seit einer Stunde pinkeln – seit ich auf den verdammten Abschleppwagen gewartet hatte. Nach dem Händewaschen zog ich meine Jacke aus und machte mich auf den Weg zu dem Bewerbungsgespräch. Nach dem Tag, den ich hinter mir hatte, hoffte ich zumindest auf eine gute Bewerberin. Ich brauchte dringend Unterstützung.

Addison hatte ihren Stuhl zurückgeschoben, um in den Flur zu schauen, und sah mich kommen. Sie tippte auf ihre Uhr. »Meine habe ich schon seit fünfzehn Jahren. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich nur fünfzig Dollar dafür bezahlt. Und trotzdem geht sie bis heute auf die Minute genau.«

»Tut mir leid, dass ich zu spät bin.« Ich betrat den Konferenzraum und entschuldigte mich bei der Bewerberin, die mit dem Rücken zu mir saß. »Mir ist beim Einparken jemand reingefahren.«

Die Frau drehte sich um. »Ist ja witzig … Ich …« Sie hielt inne, und ich sah sie verblüfft an.

Das soll wohl ein Scherz sein! Ich schüttelte fassungslos den Kopf. »Sie?«

Ihr Lächeln schwand ebenso schnell wie meins. Sie schloss die Augen und seufzte. »Hallo Hollis!«

Elodie.

Nein.

Verdammt, nein.

Ich hob die Hände. »Okay, ich bedauere, aber das wird wohl nichts. Ich möchte weder Ihre Zeit vergeuden noch meine. Also schlage ich vor …«

»Im Ernst? Sie geben mir nicht mal eine Chance, weil Sie meinen, ich hätte einen Unfall verursacht, an dem Sie die Schuld tragen?«

»Schon die Tatsache, dass Sie immer noch glauben, Sie hätten nichts damit zu tun, zeigt, dass Sie zu Realitätsverlust neigen, Elodie. Und diese Eigenschaft ist absolut unerwünscht bei der Position, um die es hier geht.«

Addison unterbrach unsere Zankerei. »Also, es ist schon ein erstaunlicher Zufall, dass ihr beide einen Unfall hattet und Elodie eine unserer Bewerberinnen ist. Aber vergessen wir das. Offensichtlich bist du zu voreingenommen, um eine faire Entscheidung zu treffen, Hollis. Ich denke, du solltest Ms Atlier wenigstens die Möglichkeit zu diesem Bewerbungsgespräch geben, wie es geplant war, und sie nicht aufgrund einer Sache beurteilen, die nichts mit dem Job zu tun hat.«

Ich schloss die Augen und schnaufte entnervt. Es war ein langer Tag gewesen, und zum Protestieren fehlte mir die Kraft.

Bringen wir es hinter uns!

Ich rieb mir die Schläfen und hatte das Gefühl, dass jeden Moment eine Ader in meinem Hals platzen würde. »Also gut.« Ich setzte mich und streckte die Hand aus. »Gib mir ihren Lebenslauf, Addison.«

Sie reichte mir das Papier, und ich las ihn durch. Elodie Atlier aus Connecticut hatte zwei Jahre als Nanny gearbeitet, aber das war lange her. Danach gab es eine ziemlich große Lücke in ihrem beruflichen Werdegang, und seit zwei Jahren war sie für einen Privatdetektiv tätig.

»Was genau machen Sie bei dem Privatdetektiv?«

»Ach … dies und das, ein bisschen von allem.«

Ich schnaubte. »Wie aufschlussreich. Sie klingen wirklich sehr qualifiziert.«

Sie funkelte mich böse an. »Ich habe zwei Jahre lang Zwillinge betreut!«

»Schön, und was machen Sie jetzt? ›Ein bisschen von allem‹ bei Ihrer aktuellen Tätigkeit befähigt Sie nicht automatisch, sich um ein Kind zu kümmern.«

»Nun, bei meiner Arbeit ist Multitasking gefragt. Und ich muss … mich auf viele verschiedene Menschen einstellen. Das sind beides wichtige Eigenschaften, wenn man Kinder betreut.«

Mein Bauchgefühl sagte mir, dass sie etwas verbarg. »Geben Sie mir ein Beispiel für Ihr Multitasking.«

Sie schlug die Augen nieder. »Also … manchmal habe ich bei der Observation assistiert und dem Fotografen ausgeholfen.«

Ich warf den Lebenslauf zur Seite. »Sie haben also beim Herumspitzeln geholfen und … was? Selfies gemacht? Welche relevanten Arbeitserfahrungen haben Sie in Ihrem jetzigen Job gesammelt, Ms Atlier?« Am Ende meiner Frage konnte ich mir ein kleines Lachen nicht verkneifen.

»Wenn Sie sich die Mühe machen würden weiterzulesen, könnten Sie sehen, dass ich ein Diplom in Kleinkindpädagogik habe, und in der Highschool habe ich auf ein Zwillingspaar aufgepasst.«

»In der Highschool. Großartig.« Ich seufzte frustriert. »Sie haben leider nicht den Background, der Sie zu einer geeigneten Betreuerin für eine Elfjährige macht.«

»Da bin ich anderer Ansicht. Ich denke, dass meine derzeitige Tätigkeit eine gute Vorbereitung auf diese Stelle ist.«

Ihre Behauptung machte mich neugierig. Ich sah sie mit geneigtem Kopf an. »Tatsächlich? Inwiefern, Ms Atlier? Erklären Sie mir das bitte. Aus irgendeinem Grund habe ich nämlich das Gefühl, Sie weichen mir aus und wollen mir gar nichts Genaues über Ihre Tätigkeit erzählen.«

Sie wurde rot. »Mein Job hat mich darauf vorbereitet, mit so ziemlich allem zurechtzukommen. Ich hatte mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun und kann mich selbst verteidigen. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen nur zu gern eine Kostprobe. Und … ich habe darüber hinaus gelernt, in Drucksituationen immer die Ruhe zu bewahren. Das alles finde ich sehr nützlich für die angebotene Stelle. Addison hat mir ein bisschen über Hailey erzählt. Ich bin außerdem für diese Stelle geeignet, weil ich das eine oder andere über Problemkinder weiß. Ich war selbst eins.«

Ich sah sie durchdringend an. »Sie wollen mich also davon überzeugen, dass eine Frau mit einer schwierigen Kindheit, die nicht fahren kann und die vergangenen Jahre weitgehend damit verbracht hat, für einen Privatdetektiv zu arbeiten und Gott weiß was zu tun, die Richtige für diesen Job ist?«

Sie straffte die Schultern. »Wissen Sie, Gleich und Gleich gesellt sich gern. Deshalb bin ich besser als jede andere dafür geeignet, eine Verbindung zu einem jungen Mädchen mit familiären Problemen herzustellen. Damit kenne ich mich aus. Haileys Geschichte hat große Ähnlichkeiten mit meiner eigenen. Und darf ich Sie daran erinnern, dass nicht Fahren mein Defizit ist, sondern Parken? Ich bin nämlich eine verdammt gute Fahrerin!«

»Ist das hier ein Bewerbungsgespräch oder ein Rededuell?«, fragte Addison dazwischen. »Mannomann, ich weiß gar nicht, wer von euch beiden schlimmer ist!«

Sie hatte recht. Es war wirklich albern. Ich musste das Theater sofort beenden. »Mit Verlaub, Ms Atlier, ich denke, wir sind hier fertig.«

Elodie kniff die Augen zusammen. »Wissen Sie, was Ihr Problem ist? Sie glauben, dass Sie das Recht haben, über andere zu urteilen, nur weil Sie reich und mächtig sind.«

»Selbstverständlich habe ich das Recht, über Leute zu urteilen – das hier ist ein Bewerbungsgespräch. Und da urteilt man über die Bewerber.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

Ich stand auf. Das Ganze war von Anfang an reine Zeitverschwendung. »Danke, dass Sie gekommen sind, aber Sie bieten nicht die besten Voraussetzungen als Nanny, egal wie Sie es drehen.«

Sie machte ein langes Gesicht. Ihre Enttäuschung war offensichtlich. »Okay, ich werde nicht hier sitzen und um eine Chance betteln, wenn Sie mich gar nicht in Erwägung ziehen.« Sie wandte sich Addison zu. »Er hat sich schon in dem Moment gegen mich entschieden, als er mich gesehen hat.«

»Da stimme ich Ihnen zu«, sagte Addison.

»Danke für deine Unterstützung, Addison!«, fuhr ich sie an. »Vielleicht solltest du mal nachhören, ob Elodies jetziger Arbeitgeber noch jemanden gebrauchen kann, der dies und das und ein bisschen von allem macht.«

»Es würde mir ziemlich gut gefallen, eine Weile woanders zu arbeiten. Vielleicht kann ich für einen Tag mit ihr tauschen. Danach wird sie sich die Kugel geben wollen.« Addison lachte. »Ich bitte dich, Hollis, im Ernst. Du willst Mary Poppins, und die gibt es nicht. Warum versuchst du es nicht mit Elodie?«

Ich war im Begriff, es in Betracht zu ziehen, als Elodie aufsprang und rief: »Mary Poppins würde Ihnen ihren Schirm in den arroganten Arsch stecken!«

Das war’s dann wohl.

Lebewohl, Elodie!

Ich musste lachen. »Und da fragt sie sich, warum sie keinen vernünftigen Job findet!«

»Auf Wiedersehen, Hollis. War mir ein Vergnügen.« Elodie ging zur Tür. »Ich habe Besseres zu tun, als mich von jemandem verspotten zu lassen, der so von seinem Ego geblendet ist.«

»Etwas Besseres? Essen Sie jetzt die nächste Packung Minzpralinen?«, frotzelte ich.

Elodie warf mir einen eisigen Blick zu – und da regte sich plötzlich mein Schwanz. Machte es mich allen Ernstes an, mit dieser Frau zu streiten?

»Danke für Ihre Mühe, Addison«, sagte Elodie, bevor sie den Flur hinuntereilte.

Meine Belustigung schwand, als ich mich wieder hinsetzte und Addisons finstere Miene sah. Sie warf ihre Mappe nach mir, stürmte davon und ließ mich allein im Konferenzraum zurück.

Ich drehte mich in meinem Stuhl und trommelte nachdenklich mit dem Stift auf die Tischkante. Ich glaubte zwar nicht, dass Elodie die Richtige für den Job war, aber vielleicht war ich etwas zu hart mit ihr umgegangen.

Allerdings hatte sie mir eindeutig etwas verschwiegen, und wenn eine Frau diesen Eindruck auf mich machte, gingen bei mir sämtliche Warnleuchten an. Das hatte ich Anna zu verdanken.

3. KAPITEL

Hollis

Vierzehn Jahre zuvor

»Du hast es echt nicht drauf!«

»Ich habe Krebs, Alter.«

Ich stieß Adam seine verkehrt herum aufgesetzte Baseballkappe vom kahlen Schädel. Er hatte sich kürzlich den Kopf rasiert, weil ihm die ersten Haare während seiner Chemo ausgefallen waren.

»Ja. Aber selbst wenn ich eine Zauberpille finden würde, die dich sofort gesund macht, würdest du das Spiel immer noch nicht auf die Reihe kriegen! Also spiel jetzt nicht die K-Karte. Damit hast du Anna schon zum Narren gehalten.«

Adam wackelte mit seinen nicht vorhandenen Augenbrauen. »Vielleicht täusche ich eine Ohnmacht vor, wenn ich ihr das nächste Mal im Flur begegne, damit sie mir eine Mund-zu-Mund-Beatmung verpasst.«

Ich gab ihm einen Schubs. Er kippte auf der Couch um, doch seinen Gamecontroller behielt er fest in der Hand.

»Finger weg von meinem Mädchen!«

Ich tat so, als wäre ich sauer, aber das war ich natürlich nicht. Adam war erst dreizehn und meine Freundin fast siebzehn. Die Wahrscheinlichkeit, dass er bei ihr landete, war ungefähr so groß wie die eines Schneesturms im Juli in New York. Außerdem waren Adam und ich Kumpel. Er würde mir das niemals antun, selbst wenn er könnte. Er provozierte einfach gern.

Und überhaupt, ich konnte es ihm nicht verübeln, dass er ein Auge auf Anna geworfen hatte, denn sie verdrehte kleinen Jungen und ihren Vätern den Kopf. Es war nicht leicht, mit einem tollen Mädchen zusammen zu sein.

»Machen wir noch ein Spiel? Mit doppeltem Einsatz.«

»Du hast schon zehn Dollar verloren, die du nicht hast. Ich weiß nicht, ob ich meine Finger verschleißen will, um einen Zwanziger zu gewinnen, den ich nie zu Gesicht bekomme.«

»Feigling!«

Ich schüttelte den Kopf und stand auf, um die Reset-Taste zu drücken. Als ich zur Couch zurückging, betrat Schwester Pam den Aufenthaltsraum.

»Hollis, die Pflegerin deiner Mutter hat gerade Bescheid gesagt. Sie ist wach, und du musst gleich zur Schule.«

»Danke, Pam. Ich bin schon unterwegs.«

»Gerettet von deiner Mama«, sagte Adam. »Diesmal hätte ich dich fertiggemacht!«

Ich ging zur Tür. »Ganz bestimmt! Ich komme später vorbei und zeige dir noch mal, wie es geht.«

»Schick mir lieber deine Freundin, damit sie mir zeigt, wie es geht.«

Ich grinste und lief zum Aufzug. Auf der Fahrt zur neunten Etage warf ich einen Blick auf die Uhr des Mannes, der neben mir stand. Schon sechs Uhr. Ich wusste nicht einmal, wann ich nach unten auf die Kinderstation gegangen war. Es musste gegen drei Uhr in der Nacht gewesen sein. Weil Adam der einzige Mensch hier zu sein schien, der noch schlechter schlafen konnte als ich, hatte ich vermutet, dass er wie üblich im Aufenthaltsraum der Kinderonkologie saß und Videospiele spielte.

Ich war vor drei Jahren auf diesen Treffpunkt gestoßen, als meine Mutter zum ersten Mal stationär aufgenommen wurde. Sie hatte immer darauf bestanden, dass ich nach Hause gehe, aber ich wollte sie nicht allein lassen, falls sie etwas brauchte – oder ihr Zustand sich änderte. In den Nächten, in denen ich nicht schlafen konnte, ging ich auf die Kinderstation, weil es dort Snacks und Videospiele gab. So hatte ich Adam kennengelernt. Und Kyle. Und Brenden. Und viele andere Jugendliche, die zu jung für Krebs waren. Zur Hölle, meine Mutter war zu jung dafür!

Nun war Adam schon zum dritten Mal für einen längeren Aufenthalt im Krankenhaus. Ich brachte seine Krankheit nicht gern zur Sprache, weil er mir einmal erzählt hatte, dass ihm unsere Spielsessions das Gefühl gaben, normal zu sein. Im Gegensatz zu den meisten Leuten behandelte ich ihn nicht anders, weil er krank war. Am Anfang war ich auch so mit den Kids umgegangen: Ich hatte sie gewinnen lassen, nicht mit ihnen darüber gestritten, wer anfängt, und ihnen bei Dingen geholfen, die sie lieber selbst machen wollten, auch wenn sie sich damit schwertaten. Aber ich hatte meine Lektion schnell gelernt. Sie wollten so behandelt werden wie jeder andere. Vor allem Adam. Seine Mutter fasste ihn mit Samthandschuhen an, und ich wusste, wie sehr er es hasste. Er war nicht so gebrechlich, wie sie dachte. Aber ich wusste auch, dass es kein gutes Zeichen sein konnte, dass er wieder im Krankenhaus war. Das Gleiche galt für meine Mutter. »Aller guten Dinge sind drei«, heißt es, doch meiner Erfahrung nach traf das auf die dritte Chemo nicht zu. Im Lauf der Zeit hatte ich zwei Freunde, die ich im Krankenhaus kennengelernt hatte, an den Krebs verloren – beide nach der dritten Chemo.

Bei meiner Mutter war es inzwischen die vierte.

Als ich ins Zimmer kam, legte sie das Buch weg, in dem sie gelesen hatte.

»Da bist du ja! Ich hatte schon Angst, dass du unten auf der Couch einschläfst und wieder zu spät zur Schule kommst.«

»Ach was! Ich habe nur mit Adam rumgehangen und ihn vernichtend bei Grand Theft Auto geschlagen.«

»Oh.« Meine Mutter runzelte die Stirn. »Adam ist wieder hier?«

»Ja.«

»Das tut mir leid.«

Ich nickte und nahm meinen Rucksack von dem Liegesessel, der mir oft als Bett diente. »Was hast du für heute geplant, während ich in der Schule bin?«

Sie lächelte. Wenn sie im Krankenhaus war, spielten wir dieses Spiel jeden Morgen. Wir dachten uns alle möglichen Unternehmungen aus.

»Nun, ich habe mir überlegt, Scones zu backen und sie zusammen mit einer Kanne Kaffee in den Central Park mitzunehmen, um dort ein Picknick zu machen. Es ist so schön draußen!«, sagte sie. »Dann gehe ich ins Naturkundemuseum und danach in eine Nachmittagsvorstellung am Broadway, weil heute Mittwoch ist. Und abends fliege ich vielleicht nach Boston zum Hummeressen. Und du?«

Ich gab meiner Mutter einen Kuss auf die Wange. »Ich habe vor, eine Eins in Mathe zu schreiben und den Rest des Tages blauzumachen, um mit Anna an den Strand zu gehen.«

Meine Mutter sah mich misstrauisch an. »Ich hoffe, dass nur das Blaumachen erfunden ist, junger Mann. Ich erwarte von dir eine Eins in Mathe!«

»Ich hab dich lieb! Nach dem Strand komme ich wieder her«, sagte ich augenzwinkernd. »Nach der Schule, meine ich.«

Anna sah mich nicht kommen.

Sie hatte mir nicht gesagt, dass sie mich am Krankenhaus abholen wollte, aber ich erkannte sie sofort, sogar von hinten. Nach dem letzten Monat hätte ich diesen Hintern bei einer Gegenüberstellung identifizieren können. Anna Benson und ich waren seit der Kindheit befreundet. Vor sechs Monaten hatte sich alles verändert. Ich hatte sie immer geliebt, aber so hatte ich nie über sie gedacht – bis wir eines Nachts zwölf Stunden mit meiner Mutter in der Notaufnahme verbracht hatten. Anna war mit dem Kopf an meiner Schulter eingeschlafen, und als sie aufwachte, hatte sie mit ihren honigbraunen Augen zu mir aufgesehen und gelächelt. In dem Moment hatte es bei mir klick gemacht. Es war, als hätte ich eins mit dem Kantholz über den Schädel bekommen. Wie war es möglich, dass ich sie vorher nicht so gesehen hatte? Ich hatte sie auf der Stelle mitten in der verkeimten Notaufnahme geküsst, und seitdem hatten wir nie wieder zurückgeschaut.

Ich liebte sie noch wie in unserer Kindheit, aber jetzt bekam ich sie auch nackt zu sehen. Die Situation hatte sich also verbessert, und zwar erheblich.

Anna stand mit dem Rücken zu der gläsernen Drehtür und blätterte in einem Heft. Ich schlich mich an sie heran und gab ihr einen Kuss auf die nackte Schulter.

Sie schlug das Heft zu. »Bist du das, Kenny?«

Ich umarmte sie und hielt sie fest. »Witzig, wirklich witzig.«

Sie drehte sich zu mir um und legte die Arme um meinen Hals. »Ich habe dir Frühstück mitgebracht und die Kurzgeschichte für dich geschrieben, die wir heute in Englisch abgeben müssen – was du garantiert vergessen hast.«

Die Kurzgeschichte? »Du bist die Beste!«

»Wie geht es deiner Mutter?«

»Besser. Die Anzahl ihrer weißen Blutkörperchen ist etwas gestiegen, und gestern Abend ist sie aufgestanden und ein paar Schritte gegangen. Sie hat auch wieder eine bessere Gesichtsfarbe, sieht nicht mehr so grau aus. Aber der Arzt hat mir gesagt, es wird eine Weile dauern. Die letzte Chemo hat ihrem Immunsystem ganz schön zugesetzt.«

Anna seufzte. »Jede Verbesserung ist gut. Wie kann ich helfen? Vielleicht backe ich ihr nach der Schule Kekse und hole ihr ein paar neue Bücher aus der Bibliothek, bevor ich sie heute Abend besuche.«

»Es gibt da wirklich etwas, was du für sie tun könntest.«

»Was?«

Ich legte meine Stirn an ihre und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. »Du könntest nach der vierten Stunde blaumachen und mit mir an den Strand gehen.«

Sie lachte. »Und wie soll das deiner Mutter helfen?«

»Ich war in letzter Zeit ziemlich gestresst, und das spürt sie. Das stresst sie wiederum, und Stress ist nicht gut für ihr geschwächtes Immunsystem. Ein Tag am Strand mit dir in dem knappen Bikini, der mir so gut gefällt, könnte zu meiner Entspannung beitragen, wodurch sich meine Mutter ebenfalls entspannt, und das hilft ihrem Immunsystem.«

Sie sah mich schräg an. »Was du wieder für einen Blödsinn erzählst!«

»Nein, wirklich!« Ich konnte mir nur mit Mühe ein breites Grinsen verkneifen. »Im Prinzip hängt das Leben meiner Mutter davon ab.«

Anna beugte sich zu mir und gab mir einen Kuss. »Ich mache mit dir blau, aber nur, weil ich finde, dass du in letzter Zeit wirklich gestresst bist und ein paar sorglose Stunden am Strand vertragen könntest – und nicht, weil ich dir diesen Blödsinn abkaufe.«

Ich strahlte sie an. »Du bist die Beste!«

»Aber danach gehst du zum Baseballtraining, und ich gehe nach Hause und backe Kekse für Rose. Dann holst du mich ab, und wir fahren zum Krankenhaus, und unterwegs schauen wir in der Bibliothek vorbei und besorgen ihr neue Bücher.«

»Abgemacht.« Ich küsste sie auf den Mund. »Übrigens mag ich es, wenn du mich rumkommandierst.«

»Gut. Am besten gewöhnst du dich dran.«

4. KAPITEL

Elodie

Nach dem Gespräch mit Hollis war meine Kehle völlig ausgetrocknet. Es hatte mich eine Menge Energie gekostet – für nichts und wieder nichts. Na ja, ich hatte es wenigstens versucht. Eine Eins fürs Bemühen, Elodie. Und eine Sechs dafür, dass du mit deinem hitzigen Temperament alles ruiniert hast.

Ich machte mich auf die Suche nach Wasser und landete in der Cafeteria in der Eingangshalle. Dort standen mehrere Pumpkannen mit Gratiskaffee und ein paar Getränke- und Snackautomaten. Als ich den Wasserspender entdeckte, hielt ich schnurstracks darauf zu.

Ich wollte mir gerade einen Pappbecher nehmen, da bemerkte ich ein Mädchen, das an einem Tisch saß und den Inhalt seines geblümten Rucksacks darauf ausgebreitet hatte. Es wippte nervös mit den Beinen.

»Hallo!« Ich lächelte es an.

Es legte den Zeigefinger an die Lippen. »Pst!«

Ich sah mich um. Hat die Kleine mir etwa den Mund verboten?

»Warum pst?« Ich nahm einen Schluck Wasser.

»Ich will nicht, dass mich jemand bemerkt.«

»Warum versteckst du dich?«

»Weil ich heute den Nachmittagsunterricht geschwänzt und außerdem noch Mist gebaut habe. Und ich bin noch nicht bereit, mich anbrüllen zu lassen.«

»Okay. Was hast du angestellt?«

Sie seufzte. »Ich bin abgehauen und mit dem Bus zu Macy’s gefahren. Da habe ich einen Lippenstift von MAC geklaut und bin erwischt worden.«

Ah. »Das war wirklich nicht in Ordnung. Aber das weißt du bestimmt selbst. Warum hast du den Lippenstift geklaut? Hast du niemanden, den du bitten kannst, dir einen zu kaufen?«

»Es geht nicht ums Geld. Ich hatte genug bei mir.« Sie schloss kurz die Augen. »Ich weiß nicht mal, warum ich es getan habe.«

Oh Gott, ich stehe meinem jüngeren Ich gegenüber!

»Du klaust wegen des Nervenkitzels«, stellte ich nüchtern fest.

Sie stutzte und blinzelte nachdenklich. »Ja. Ich … ich glaube schon.«

Ich setzte mich zu ihr. »Als ich in deinem Alter war, habe ich etwas Ähnliches getan – ich habe bei Claire’s im Einkaufszentrum Haarreifen und all so einen Kram geklaut und wurde auch erwischt. Und ich hatte ebenfalls genug Geld, um mir das alles zu kaufen.«

»Haben Sie Ärger bekommen?«

»Also, mein Vater hatte seine eigenen Probleme. Das war vielleicht einer der Gründe, warum ich es getan habe – warum ich mich so aufgeführt habe. Aber der Laden hat meine Mutter angerufen, und sie war natürlich nicht erfreut.« Ich seufzte. »Wie ist es bei Macy’s gelaufen? Und welche Farbe hast du dir ausgesucht?« Ich zwinkerte ihr zu.

»Ruby Woo Retro Matte.«

»Ah … knallrot. Eine kräftige Farbe.«

»Ja.« Sie lächelte. »Die Frau, von der ich erwischt wurde, hat nicht die Polizei gerufen. Aber als ich ihr gesagt habe, dass ich schwänze, musste ich ihr meine Schule nennen, und dann hat sie den Direktor angerufen. Ich bin mit dem Bus zurück zur Schule gefahren und dann hergekommen.«

Ich trank mein Wasser aus. »Okay, die Sache ist die … Es fühlt sich zwar manchmal gut an, etwas Böses zu tun, aber es hält nur kurz an. Schon bald wirst du den Wunsch haben, noch einmal so etwas zu tun, aber das Verlangen danach wird nur für kurze Zeit gestillt. Wenn du das nächste Mal so etwas abziehst, bekommst du noch größere Schwierigkeiten. Schlussendlich holen dich diese Dinge immer ein, und die Verkäuferin wird beim nächsten Mal nicht mehr so nett sein. Aber ich verstehe es. Deshalb ist es zwar nicht in Ordnung, aber ich verstehe, warum du es getan hast.«

»Danke, dass Sie mich nicht verurteilen.« Sie stand auf und ging zu einem Snackautomaten. Sie trug neonpinkfarbene Chucks und schien zehn, elf Jahre alt zu sein. Während sie überlegte, was sie haben wollte, klopfte sie mit dem Fuß auf den Boden.

»Möchten Sie sich ein Twix mit mir teilen?«

Mir knurrte der Magen. »Oh … nein. Geht nicht. Ich halte Diät.«

»Was für ’ne Diät? Sie sind doch gar nicht dick.«

»Nun ja … vielen Dank! Ich hatte heute schon etwas Süßes, aber eigentlich versuche ich, überwiegend Proteine zu mir zu nehmen. Das nennt sich Keto-Diät.«

Sie machte große Augen und schlug die Hände vor den Mund. »Oh mein Gott. Keto? Niemals!«

»Doch, warum?«, fragte ich verwundert.

»Haben Sie den Keto-Geruch?«

»Was?«

»Riecht Ihre Muschi nach Speck?«

Mir fiel die Kinnlade herunter. »Was? Nein! Wovon redest du überhaupt?«

»Ich habe in den Nachrichten davon gehört. Ich wusste nicht mal, was Keto ist. Aber ich kenne die Nebenwirkungen. Meine Freundinnen in der Schule … wir ziehen uns ständig damit auf. Wir sagen zum Beispiel: ›Haha, du hast ’ne Müffel-Muschi!‹«

»Also, ich habe definitiv keine ›Müffel-Muschi‹. Das halte ich sowieso für einen Mythos.«

»Dann ist ja gut.« Sie kicherte. »Das wäre nämlich ganz schön übel.«

»Total übel.«

»Voll.« Sie schnaubte.

Was für ein sonderbarer Gesprächsverlauf.

Sie riss die Verpackung auf und biss in ihren Schokoriegel. »Sie sind echt hübsch.«

»Danke«, sagte ich verblüfft. »Du auch.«

»Wie heißen Sie?«

»Elodie. Und du bist …?«

»Hailey.«

Hailey.

Hailey?

Oh, Mist. Hailey.

Ich erstarrte. Meine Güte, warum war ich nicht selbst darauf gekommen?

»Dein Onkel weiß nicht, dass du hier unten bist?«

»Nein. Noch nicht. Wenn niemand da ist, der auf mich aufpasst, komme ich nach dem Nachmittagsunterricht sowieso manchmal her und hänge hier ab. Und vielleicht weiß er ja gar nicht, dass ich heute geschwänzt habe. Bitte sagen Sie es ihm nicht … Kann ja sein, dass mein Direktor ihn nicht angerufen hat. Wenn doch, dann bin ich allerdings erledigt.«

»Äh … okay.«

»Sie … kennen also meinen Onkel? Arbeiten Sie hier?«

»Nein. Ich meine, ich arbeite nicht hier. Aber ich kenne ihn.«

»Tut mir leid zu hören«, witzelte sie. »War nur Spaß.«

»Ich wusste, dass er eine Nichte hat, die Hailey heißt, aber dass du diese Nichte bist, ist mir eben erst klar geworden.«

»Wenn Sie nicht hier arbeiten, woher kennen Sie Onkel Hollis dann?«

Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr von meiner Bewerbung als Nanny berichten sollte. Ich wollte vor ihr nicht schlecht über Hollis reden, und es gab keine Möglichkeit, die Geschichte zu erzählen, ohne ihn in ein schlechtes Licht zu stellen.

»Dein Onkel und ich … wir hatten einen Unfall. Ich hatte geschäftlich hier zu tun.«

»Sie haben sein geliebtes Auto verbeult?«

»Ja«, sagte ich und zog eine Grimasse.

»Dann sind Sie in größeren Schwierigkeiten als ich. Hat er Sie angebrüllt?«

»Eigentlich nicht.« Eine glatte Lüge.

Sie nahm noch einen Bissen von ihrem Riegel. »Ich weiß, wie Sie ihn sich vom Hals schaffen.«

»Wie denn?«

»Sagen Sie ihm, er soll Ihnen Maxibinden besorgen. Dann lässt er Sie sofort in Ruhe.«

Ich schmunzelte. »Okay, das werde ich wahrscheinlich nicht tun, aber danke für den Tipp.« Ich musterte sie nachdenklich. »Sag mal, bist du nicht … ein bisschen zu jung, um deine …«

»Ich bin elf. Und ich habe sie … also bin ich nicht zu jung.«

Du lieber Himmel! Jetzt wurde mir erst klar, was für ein Exemplar Hollis geerbt hatte. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie überwältigend es für ihn gewesen sein musste, plötzlich diese Verantwortung zu tragen. Nach dem, was Addison mir erzählt hatte, kümmerte er sich nach besten Kräften um seine Nichte, hatte aber noch einiges zu lernen. Es war verständlicherweise ein ziemlicher Kampf, daher suchte er eine Nanny.

»Wollen Sie wirklich nichts abhaben?«, fragte Hailey. »In jeder Packung sind zwei Twix, damit man sie teilen kann.«

Ich war im Begriff, etwas zu sagen, als eine tiefe Männerstimme ertönte. »Wenn es Minzpralinen wären, würde sie sie verschlingen.«

Ich zuckte zusammen und drehte mich mit klopfendem Herzen um. Hollis stand hinter mir in der Cafeteria. Ich fühlte mich irgendwie, als hätte uns ein Lehrer beim Lästern erwischt. Er sah mich mit seinen umwerfenden Augen durchdringend an.

»Wie lange stehen Sie schon da und lauschen?«, fragte ich.

»Seit der Müffel-Muschi.«

Großartig. Einfach großartig. »Ich wollte mir ein Wasser holen. Ich wusste nicht, dass sie Ihre …«

Er fiel mir ins Wort. »Kannst du mir mal verraten, Hailey, warum du heute geschwänzt und ein Make-up-Regal geplündert hast?«

»Der Direx hat dich angerufen?«

»Ja.«

»Okay … Ich weiß, es war total schwachsinnig. Aber Elodie hat mir geholfen herauszufinden, warum ich es getan habe.«

Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Tatsächlich? Hat sie das?«

»Ja. Und ich tue es nie wieder. Das verspreche ich.«

»Und das soll ich glauben?«

»Ich bin nicht wie mein Vater. Wenn ich etwas sage, dann meine ich es auch.«

Die Verärgerung in Hollis’ Gesicht wich einer anderen Empfindung. Traurigkeit? Oder vielleicht Verständnis? Ich wäre gern geblieben, um den Dialog weiterzuverfolgen, aber es stand mir nicht zu.

»Ich verschwinde dann mal und lasse euch allein. Hailey, es war schön, dich kennenzulernen.«

»Dito, M.-M.«, entgegnete sie augenzwinkernd.

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, wofür die Abkürzung stand. Müffel-Muschi.

»Onkel Hollsy, sei nicht sauer auf Elodie, weil sie dein Auto verbeult hat. Es war keine Absicht.«

»Kluges Mädchen! Sie sollten auf sie hören, Hollsy!«, sagte ich und verließ die Cafeteria.

5. KAPITEL

Elodie

Soren vögelte gerade die neue Sekretärin. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, saß er auf seinem Lederchefsessel und hatte die Beine auf dem großen dunklen Holzschreibtisch hochgelegt. Und Bambi (ja, sie behauptete steif und fest, das sei ihr Taufname) saß rittlings auf ihm und kicherte albern.

Sie hörten mich nicht hereinkommen, weil sie so beschäftigt waren.

Ich ließ mich auf den Besucherstuhl plumpsen. »Sehr stilvoll. Kann ich zugucken?«

Soren schmunzelte darüber, wie schnell Bambi von seinem Schoß sprang. Sie entschuldigte sich und eilte zurück an ihren Schreibtisch.

Ich zog eine Feile aus meiner Handtasche und versuchte, einen Nagel zu retten, der mir auf der Fahrt zum Büro eingerissen war. »Weißt du, an meiner Stelle hätte auch eine Kundin hereinkommen können.«

»Ist ja nicht so, als hätten wir einen Teeladen. Die Frauen kommen her, weil ihre Männer fremdgehen. Ich wette, ein paar von ihnen würden gern dabei zusehen, wie ich es Bambi besorge.«

»Du bist ein Schwein! Ich weiß wirklich nicht, warum ich für dich arbeite.«

»Weil ich dich sehr gut bezahle.« Er nahm seine Füße vom Schreibtisch und richtete sich auf. »Und weil ich es ertrage, dass du ein Biest bist. Wenn ich es mir recht überlege, verstehe ich überhaupt nicht, warum ich mit dir arbeite.«

Ich lächelte. »Ich werde dir fehlen, wenn ich weg bin, oder?«

»Du hast den Job? Du passt für diesen Bonzen auf das Kind auf?«

Ich seufzte. »Nein.«

»Warum nicht?«

»Es gab einen kleinen Zwischenfall.«

Soren nahm seinen Kaffeebecher und trank einen Schluck. »Was hast du gemacht? Hast du ihn mit irgendwas bekleckert? Hast du ihn beleidigt?«

»Keins von beiden. Also, nicht so richtig.«

»Warum sitzt du dann hier bei mir und nicht in einer Schickimicki-Penthousewohnung?«

»Ich hatte einen kleinen Unfall.«

»Schon wieder? Der wievielte ist das jetzt? Der dritte innerhalb von anderthalb Jahren? Deine Versicherung muss dich ein Vermögen kosten!«

»Parallel einparken klappt einfach nicht! Und diesmal bin ich nicht mal rückwärtsgefahren. Ich begreife einfach nicht, warum die Parkplätze entlang der Straße nicht größer gemacht werden. Dann wäre es viel leichter.«

»Weil ein Quadratmeter hier gut zehn Riesen kostet, Schätzchen.«

»Ich glaube, ich muss auf die öffentlichen Verkehrsmittel umsteigen.«

»Das predige ich dir, seit du bei mir angefangen hast. Hier fährt keiner Auto. Mach dich endlich mit dem U-Bahn-System vertraut!«

Ich seufzte.

Soren stellte seinen leeren Kaffeebecher auf den Schreibtisch, lehnte sich zurück und verschränkte wieder die Hände hinter dem Kopf.

»Was zur Hölle hat dein Unfall damit zu tun, dass du den Job nicht bekommen hast? Warst du zu spät, oder hast du den Termin verpasst oder was?«

»Oh. Der Unfall ist nur einen Block entfernt von dem Ort passiert, wo das Bewerbungsgespräch stattfand. Und wie sich herausstellte, war der Fahrer, der seine Schuld nicht zugeben wollte, der Typ, bei dem ich mich vorstellen musste.«

Soren bekam einen Lachanfall. Er warf den Kopf in den Nacken und wieherte wie ein Pferd.

»Freut mich, dass du mein desaströses Leben so amüsant findest.«

»Du bist eine echte Chaotin, hast aber das Glück, dass du superheiß bist. Ständig machst du etwas kaputt, verschüttest irgendwas oder nimmst das Leben von irgendeinem Trottel auseinander. Dein Bruder würde dir eine Abreibung verpassen, wenn er wüsste, was für einen Mist du anstellst. Mann, er würde uns beiden eine Abreibung verpassen, wenn er wüsste, was für einen Mist ich dich anstellen lasse. Das Einzige, was ihm gefallen würde, ist dein üppiges Honorar.«

Soren war ein ehemaliger Marinesoldat und ehemaliger Polizist und ein knallharter Typ. Bei der Marine war er der Sergeant meines älteren Bruders gewesen. Er ließ mich meine Aufträge selbst aussuchen und meinen Arbeitsplan selbst gestalten, und er bezahlte mich wirklich hervorragend – drei Dinge, die mir gut an einem Mann gefielen.

Nach meinem letzten Auftrag – Anwalt Larry – hatte ich gehofft, nicht mehr für Soren arbeiten zu müssen. Ich war ihm zwar dankbar, dass er mir einen Job gegeben hatte, als ich den vorherigen ohne einen Cent in der Tasche gekündigt hatte und in seinem Büro aufgetaucht war, aber ich musste selbst eine neue Stelle finden. In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren hatte mir fast immer jemand geholfen. Es war an der Zeit – aber offenbar noch nicht heute.

»Also, was hast du diese Woche im Angebot?«, fragte ich.

Soren setzte sich seine Lesebrille auf. Sie thronte ganz vorn auf seiner Nasenspitze, tat seiner Coolness aber kaum Abbruch.

»Ich habe noch einen Fremdgänger für dich, wenn du willst. Seine Frau ist um fünf hier, du müsstest also noch ein bisschen bleiben.«

»Ich soll bleiben?«

Normalerweise war ich bei den Gesprächen mit den Ehefrauen nicht dabei. In der Regel mochten sie mich nicht besonders, und Soren war der Meinung, dass man einer ohnehin schon betrogenen Frau nicht noch die Frau vorsetzen musste, die ihren Ehemann verführen sollte.

»Sie hat extra nach dir gefragt. Die Empfehlung habe sie von der Freundin einer Freundin, hat sie gesagt. Von wem, wollte sie mir natürlich nicht verraten. Aber ist ja auch wurscht – Hauptsache, ihr Scheck ist gedeckt.«

Ich hätte heute nicht so einen dünnen Spitzen-BH anziehen sollen – oder besser aufs Mittagessen verzichtet.

Ich hatte meine weiße Bluse mit der Tomatensoße meiner Hackbällchen bekleckert, und dann hatte Soren plötzlich losgebrüllt, als ich den Fleck mit etwas Selters entfernen wollte, sodass ich mir vor Schreck die halbe Flasche auf die Brust gekippt hatte. Jetzt prangte ein riesiger roter Fleck auf meiner Bluse, und eine meiner Brustwarzen war deutlich unter dem nassen durchscheinenden Stoff zu sehen.

»Der Fünfuhrtermin ist da«, verkündete Bambi durch die Sprechanlage.

Ich saß auf einem der Gästestühle vor Sorens Schreibtisch. Soren musterte mich und schüttelte den Kopf. Es fehlte nicht viel, und er hätte wahrscheinlich auch noch missbilligend mit der Zunge geschnalzt.

»Was? Es ist deine Schuld, dass ich so aussehe.«

»Meine Schuld? In den zwei Jahren, die du hier arbeitest, hast du dich bei ausnahmslos jedem gemeinsamen Mittagessen beschlabbert. Gut, dass du große Titten hast. Bei so einer Auslage übersehen die meisten Männer den einen oder anderen Fleck.«

»Dann hör auf, mich so anzuschauen, und ignoriere den Fleck gefälligst wie alle anderen Arschlöcher.«

Soren drückte brummelnd auf den Knopf der Sprechanlage. »Bring Ms Brady bitte herein.«

Die Scheidungshilfe zählte zu Sorens beliebtesten Dienstleistungen. Wir sammelten Beweise dafür, dass notorische Ehebrecher das waren, was sie waren – nämlich Betrüger. Weil die Kundinnen nur selten die Frau treffen wollten, die auf ihre Männer angesetzt wurde, war ich gespannt darauf, was diese Kundin von den anderen unterschied.

Sie kamen alle, um uns von ihren verlogenen, betrügerischen Arschloch-Ehemännern zu berichten – und für diesen Anlass warfen sie sich stets in Schale. Die Frauen, die aus gutem Grund herkamen, hatten ein verletztes Ego, ein gebrochenes Herz und kein Vertrauen mehr in das männliche Geschlecht, aber sie erzählten ihre Geschichten erhobenen Hauptes. Dass sie sich herausputzten, gehörte zu ihrer unausgesprochenen Botschaft an uns.

Es ist nicht meine Schuld.

Mein Mann hat mich nicht betrogen, weil ich zwanzig Kilo zugenommen habe, ihn tagtäglich nach der Arbeit in fleckigen Jogginghosen begrüße und ihm seit zehn Jahren keinen mehr geblasen habe.

Er hat mich betrogen, weil er ein charakterloses Arschloch ist.

Die Sache war die: Die meisten Ehefrauen ließen sich wahrscheinlich wirklich ein bisschen gehen. Sie wurden bequem und verwendeten nicht mehr so viel Zeit auf sich, weil sie sich um andere kümmerten. Aber das sollte keine Rolle spielen. Diese Frauen mussten nichts beweisen. Schon ihr Kommen zeigte, dass es egal war, ob sie ihre Männer im Spitzennegligé an der Tür empfingen und vor ihnen auf die Knie gingen. Denn der treue Partner war nicht schuld. In keinem Fall. Schuld hatte immer der Betrüger.

Das wusste ich nur zu gut.

Caroline Brady war eine zierliche Frau. In ihrem konservativen Hosenanzug glich sie eher einer Bankerin als einer betrogenen Ehefrau. Ihr mattbraunes glattes Haar war zu einem langweiligen Bob mit breitem Pony geschnitten. Ihre überdimensionale Sonnenbrille bedeckte ihr halbes Gesicht. Sie schien ihre Augen verstecken zu wollen, die höchstwahrscheinlich geschwollen waren, weil sie unzählige Stunden wegen ihres Scheißehemanns geweint hatte.

Soren stand auf und stellte sich vor, dann sah er zu mir herüber.

Ich bemühte mich, nicht so zickig rüberzukommen wie sonst, und reichte ihr die Hand. »Ich bin Elodie. Freut mich, Sie kennenzulernen, Ms Brady.«

Nach dem Händedruck musterte sie mich eine gute halbe Minute von oben herab. Ich hielt ihrem Blick stand und starrte zurück. Mir war klar, dass sie über mich urteilte, auch wenn sie sich gut hinter ihrer Sonnenbrille versteckte.

Schließlich unterbrach Soren unser Blickeduell. »Möchten Sie nicht Platz nehmen?«

Sie betrachtete mich noch ein paar Sekunden, dann setzte sie sich endlich.

»Was führt Sie zu uns, Ms Brady?«

Ihre Stimme war eiskalt. »Ich will, dass sie mit meinem beschissenen Mann schläft!«

Soren hob die Hände. »Moment, Moment, immer langsam mit den jungen Pferden! Ich fürchte, Sie sind falsch informiert. Solche Dienste bieten wir hier nicht an.«

Ich sah sie wütend an. »Ich bin keine Hure!«

Sie schürzte die Lippen und schwieg, aber sie musste auch nichts sagen. Ihr Gesicht sprach Bände.

Ich stand auf. »Weißt du was, Soren? Eigentlich kann ich Ms Bradys Auftrag sowieso nicht übernehmen.«

Bei einer Sache war ich mir sicher, was Soren anging: Ich war ihm wichtiger als irgendein Vorschuss.

Er nickte. »Kein Problem, Baby. Geh ruhig, und dann reden wir morgen. Ich habe eine Menge anderer Jobs für dich.«

»Danke.« Ich lächelte und verließ das Büro, ohne Ms Brady eines weiteren Blickes zu würdigen.

Ich war tief in Gedanken versunken, als ich in Richtung Whitestone Bridge fuhr. Anfangs hatte ich Befriedigung in meiner Arbeit für Soren gefunden. Meine kaputte Beziehung hatte mich derart fertiggemacht, dass ich es eine Zeit lang gebraucht hatte, Fremdgänger hereinzulegen. Bei jedem Foto, das Leo schoss, stellte ich mir vor, es wäre ein Beweis für mich, und ich würde es meinem Ex-Freund Tobias heimzahlen. Seltsamerweise war es sehr heilsam für mich gewesen, Betrügern im Auftrag ihrer Frauen eine Falle zu stellen – und wesentlich günstiger als eine Therapie.

Kurz vor der Brücke beschloss ich, nicht wie geplant nach Hause zu fahren. Als ich das Steuer herumriss, um im letzten Moment zwei Fahrbahnen zu überqueren und die Ausfahrt zu nehmen, gab es ein gewaltiges Gehupe.

Ich war es leid, für Soren zu arbeiten, zumindest in meiner derzeitigen Funktion. Ursprünglich hatte er mich ohnehin für Büroarbeiten eingestellt, daher gab es bestimmt noch genug andere Aufgaben, die ich für ihn erledigen konnte. Aber bevor ich diesen Weg einschlug, bevor ich mit Soren darüber redete, musste ich einen letzten Versuch unternehmen, um das zu bekommen, was ich wirklich wollte.

Nach meiner riskanten Kehrtwendung fuhr ich zurück ins Zentrum, zum Büro von Hollis LaCroix. Es war schon spät, und vermutlich war er gar nicht mehr da. Aber ich hatte ein Foto seines Führerscheins in meinem Smartphone, und ich scheute mich nicht davor, es zu benutzen.

6. KAPITEL

Elodie

Betteln war nicht mein Ding.

Und bei der Vorstellung, vor einem gut aussehenden Typen wie Hollis zu Kreuze zu kriechen, wurde mir regelrecht übel.

Aber ich wollte den verdammten Job.

Ich wollte ihn wirklich. Zumal ich Hailey kennengelernt und festgestellt hatte, dass es sofort eine Verbindung zwischen uns gegeben hatte. Wenn es also nötig war, mit eingekniffenem Schwanz klein beizugeben, dann würde ich heute die Maus sein und nicht die Katze.

Als ich dank der Adresse in seinem Führerschein vor seiner Penthousewohnung stand und im Begriff war anzuklopfen, ließ ich meine Hand wieder sinken.

Gott, warum muss er nur so verflixt gut aussehen?

Mit seiner Größe, seinem Selbstbewusstsein und diesem Körperbau, der jeden Bildhauer zum Weinen brachte, glich er all den Männern, die ich aus tiefstem Herzen hasste. Ich wollte ihn nicht attraktiv finden.

Ich straffte die Schultern und klopfte energisch. Von außen wirkte ich selbstsicher, aber innerlich litt ich Höllenqualen und hoffte, dass er nicht zu Hause war.

Pech gehabt.

Die Tür ging auf, und Hollis’ Miene verdüsterte sich augenblicklich.

Ich versuchte, einen guten Start hinzulegen. »Ich hätte mich schon letztens bei Ihnen entschuldigen müssen. Ich bin gekommen, um das in Ordnung zu bringen. Der Unfall war allein meine Schuld.«

Dann trat Stille ein. Hollis starrte mich mit undurchdringlicher Miene an. Natürlich nervte es, sein Auto reparieren lassen zu müssen, aber es war ja nun nicht so, als hätte ich ein kleines Kätzchen überfahren! Unglücklicherweise gab mir sein Schweigen noch mehr Gelegenheit, sein hervorragendes Aussehen zu bewundern, und es ärgerte mich, dass er in legerer Freizeitkleidung eine noch bessere Figur machte als in dem teuren Anzug, den er neulich im Büro getragen hatte.

»Aber dürfen Sie es mir überhaupt ankreiden, dass ich nicht so gut einparken kann? Sind bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht durch das Bundesarbeitsrecht geschützt oder so?«

Hollis zog eine Augenbraue hoch. »Ich weiß nicht, ob schlechte Autofahrer unter die verfassungsrechtlich geschützten Kategorien wie Rasse, Geschlecht und Religionszugehörigkeit fallen.«

Ich winkte ab. »Wie auch immer. Und um es noch einmal zu sagen: Ich bin keine schlechte Fahrerin, ich bin nur schlecht im Einparken.«

Hollis kniff die Augen zusammen. Es kam mir vor, als ob er meine Aufrichtigkeit abschätzte und sich überlegte, was er von meinem Erscheinen halten sollte. Er war anders als die Männer, mit denen ich sonst zu tun hatte: Mit den Wimpern zu klimpern würde mich jetzt nicht zum Erfolg führen. Aber ich wich seinem prüfenden Blick nicht aus und hielt den Augenkontakt. Ich hatte die Sache verbockt und stand zu meinem Fehler.

Schließlich trat er zur Seite. »Kommen Sie herein.«

Kaum war ich über die Schwelle getreten, hörte ich eine laute Stimme und erschrak.

»Anna ist zu Hause!« Krächz! »Anna ist zu Hause!« Krächz! »Anna ist zu Hause!«

Hollis schaute betreten zu Boden. »Ignorieren Sie es. Das ist mein Vogel.«

»Das war ein Vogel?«

Als hätte er meine Frage verstanden, schrie der Vogel wie zur Bestätigung erneut los. »Anna ist zu Hause!« Krächz! »Anna ist zu Hause!« Krächz! »Anna ist zu Hause!« Er unterstrich seine Botschaft, indem er geräuschvoll mit den Flügeln schlug.