Partytime - F. Scott Fitzgerald - E-Book
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F.Scott Fitzgerald

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Beschreibung

An einer guten Party ist alles möglich: Tanz und Alkohol, Flirts und Schlägereien. Keiner wusste das besser als F. Scott Fitzgerald, der mit Zelda die Nächte durchfeierte und erst ging, wenn die Jazzmusiker ihre Instrumente einpackten und das Morgenlicht die Augen blendete. Das fröhliche Treiben mit seinen Untertönen – in diesen Storys ist es das Leben selbst.

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F. Scott Fitzgerald

Partytime

Geschichten aus den Roaring Twenties

Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell, Anna Cramer-Klett, Christa Schuenke, Walter Schürenberg und Melanie Walz

Ausgewählt von Silvia Zanovello

Diogenes

»Nie wurde schöner über die Roaring Twenties, aber auch über Sehnsucht und Vergänglichkeit geschrieben als in Fitzgeralds Geschichten. Zu Lebzeiten als Romancier verkannt, ja verrissen, leuchten seine Werke heute heller denn je. Sie sind für uns das grüne Licht, das Gatsby einst Nacht für Nacht an der anderen Seite des Ufers sah.«

Benedict Wells

Rags Martin-Jones und der Pr-nce of W-les

I

Eines Aprilmorgens glitt die Majestic in den Hafen von New York. Hochnäsig passierte sie Schlepper und schildkrötengemächliche Fähren, zwinkerte dann einer herausgeputzten jungen Yacht zu und beorderte einen Viehfrachter mit einem verächtlichen Dampfstoß aus dem Weg. Zuletzt parkte sie an ihrem persönlichen Dock mit der Umständlichkeit einer dicken Dame, die sich setzt, und verkündete selbstzufrieden, dass sie frisch aus Cherbourg und Southampton zurück war, mit einer Ladung der allerfeinsten Leute der Welt an Bord.

Die allerfeinsten Leute der Welt standen an Deck und winkten töricht ihren armen Verwandten zu, die am Kai auf Handschuhe aus Paris warteten. Bald darauf hatte ein großer Toboggan die Majestic mit dem nordamerikanischen Kontinent verbunden, und sie begann die allerfeinsten Leute der Welt auszuspeien – bei denen es sich um Gloria Swanson handelte, zwei Einkäufer von Lord & Taylor, den Finanzminister von Graustark mit einem Vorschlag, wie man die Schulden finanzieren konnte, und einen afrikanischen König, der den ganzen Winter über versucht hatte, irgendwo zu landen, und entsetzlich seekrank war.

Die Fotografen gaben ihr Bestes, als der Strom von Passagieren den Kai überschwemmte. Applaus wurde laut beim Anblick von zwei Tragbahren mit zwei Bewohnern des Mittleren Westens, die sich an ihrem letzten Abend in Freiheit bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hatten.

Nach und nach leerte sich das Deck, doch als die letzte Flasche Bénédictine das Ufer erreicht hatte, waren die Fotografen noch immer auf dem Posten. Der Schiffsof‌fizier, der die Ausschiffung überwachte, stand noch immer am Ende der Gangway und blickte zuerst auf seine Uhr und dann zum Deck, als wäre ein wichtiger Teil der Ladung noch immer an Bord. Und dann stieg von den Zuschauern am Pier ein langgezogenes »Aaah!« auf, als ein letzter Tross sich von Deck B zu ergießen begann.

Zuerst kamen zwei französische Kammerzofen, die kleine violette Hunde trugen, gefolgt von einer Schwadron von Trägern, blind und unsichtbar unter zahllosen Blumensträußen und Buketts. Eine weitere Zofe führte ein Waisenmädchen von französischem Aussehen und mit traurigen Augen an der Hand, und unmittelbar darauf folgte der zweite Of‌fizier, der drei neurasthenische Schäferhunde hinter sich herzerrte, zu ihrem und seinem Verdruss.

Pause. Dann erschien Kapitän Sir Howard George Witchcraf‌t an der Reling und neben ihm etwas, was wie ein Stoß prachtvoller Silberfuchspelze aussah.

Nach fünf Jahren in den Hauptstädten Europas war Rags Martin-Jones in ihre Heimat zurückgekehrt!

Rags Martin-Jones hieß Rags und nicht Rex. Sie war halb Mädchen und halb Blume, und als sie Kapitän Sir Howard George Witchcraf‌t die Hand schüttelte, lächelte sie, als hätte man ihr gerade den neuesten, originellsten Witz erzählt. Alle, die den Pier noch nicht verlassen hatten, spürten, wie dieses Lächeln in der Aprilluft schwebte, und drehten sich danach um.

Sie kam die Gangway langsam herunter. Ihr Hut, ein kostspieliges, unergründliches Experiment, war unter ihrem Arm zerknüllt, und ihre kurzen Knaben- oder Sträf‌lingshaare versuchten vergeblich, sich von der Hafenbrise ein wenig zerstrubbeln oder verwehen zu lassen. Ihr Gesicht war wie sieben Uhr an einem Hochzeitsmorgen bis auf die Stelle, wo sie ein angeberisches Monokel in ein Auge von klarem Kinderblau gesteckt hatte. Alle paar Schritte schoben ihre langen Wimpern das Monokel heraus, und sie lachte, verärgert und fröhlich, und steckte das arrogante Augenglas in das andere Auge.

Voilà! Ihre hundertfünf Pfund erreichten den Pier, der zu wanken und zu schwanken schien, von ihrer Schönheit überwältigt. Mehrere Gepäckträger fielen in Ohnmacht. Ein großer gefühlsseliger Hai, der dem Schiff über den Ozean gefolgt war, tat einen verzweifelten Sprung, um sie ein letztes Mal zu sehen, bevor er gebrochenen Herzens in die Tiefen des Meeres zurücktauchte. Rags Martin-Jones war wieder zu Hause.

Niemand aus ihrer Familie war zur Begrüßung erschienen, denn sie war das einzige lebende Mitglied ihrer Familie. Im Jahr 1912 waren ihre Eltern gemeinsam mit der Titanic untergegangen, weil sie sich im Diesseits nicht trennen wollten, und so war es gekommen, dass das Martin-Jones-Vermögen von fünfundsiebzig Millionen einem sehr kleinen Mädchen an dessen zehntem Geburtstag zugefallen war. So etwas bezeichnet der Verbraucher gern als eine Schande.

Rags Martin-Jones (an ihren richtigen Namen konnte sich niemand mehr erinnern) wurde nun von allen Seiten fotografiert. Das Monokel fiel hartnäckig immer wieder heraus, und sie lachte und gähnte und steckte es wieder hinein, so dass keines der Bilder scharf war mit Ausnahme der Filmaufnahme. Doch auf allen Fotos war ein aufgeregter, gutaussehender junger Mann zu sehen, der sie auf dem Kai begrüßt hatte und in dessen Blick verzehrende Liebesglut entflammt war. Er hieß John M. Chestnut, hatte für das American Magazine schon die Geschichte seines Erfolgs geschrieben und war unsterblich in Rags verliebt, seit sie wie die Gezeiten dem Einfluss des Sommermondes unterlag.

Als Rags ihn zu bemerken geruhte, gingen sie zusammen den Pier entlang; sie sah ihn erstaunt an, als hätte sie ihn nie zuvor zu sehen bekommen.

»Rags«, sagte er, »Rags –«

»John M. Chestnut?«, fragte sie und betrachtete ihn mit großer Aufmerksamkeit.

»Aber ja!«, rief er ungehalten. »Willst du etwa behaupten, du würdest mich nicht wiedererkennen? Oder du hättest mir nicht geschrieben, dass ich herkommen soll?«

Sie lachte. Ein Chauffeur erschien in Rufweite, und sie wand sich aus ihrem Mantel und enthüllte ein Kleid aus großen verwischten meerblauen und grauen Karos. Sie schüttelte sich wie ein nass gewordener Vogel.

»Ich habe eine Menge Krempel zu deklarieren«, bemerkte sie wie nebenbei.

»Ich auch«, sagte Chestnut hastig, »und als Erstes muss ich erklären, dass ich dich jede Minute deiner Abwesenheit geliebt habe, Rags.«

Sie unterbrach ihn mit einem Stöhnen.

»Bitte! Auf dem Schiff waren junge Amerikaner. Von diesem Thema habe ich genug.«

»Du lieber Himmel!«, rief Chestnut. »Willst du damit etwa sagen, dass du meine Liebe so einstufst wie die Flirtversuche auf einem Schiff?«

Er war lauter geworden, und verschiedene Zuhörer spitzten sichtlich die Ohren.

»Psst!«, sagte sie warnend. »Ich gebe hier keine Zirkusvorstellung. Wenn du vorgelassen werden willst, solange ich hier bin, musst du dich zusammennehmen.«

Doch Mr. John Chestnut hatte offenbar die Kontrolle über seine Stimme verloren.

»Willst du damit etwa sagen« – die Stimme zitterte und gellte dabei dennoch durchdringend –, »du hättest vergessen, was du mir an dieser Stelle vergangenen Donnerstag vor fünf Jahren gesagt hast?«

Die Hälfte der Schiffspassagiere verfolgte inzwischen die Szene auf dem Kai, und ein weiterer kleiner Strudel wirbelte aus dem Zollgebäude, um zuzusehen.

»John« – ihre Verärgerung wuchs –, »wenn du noch einmal die Stimme erhebst, werde ich dafür sorgen, dass du Gelegenheit bekommst, dich abzukühlen. Ich fahre zum Ritz. Du kannst mich dort heute Nachmittag besuchen.«

»Aber Rags!«, wandte er heiser ein. »Hör mir zu. Vor fünf Jahren –«

Dann bot sich den Zuschauern am Kai ein merkwürdiges Schauspiel. Eine wunderschöne Dame in einem meerblau und grau karierten Kleid tat einen schnellen Schritt vorwärts, bis ihre Hände einen aufgeregten jungen Mann vor ihr berührten. Der junge Mann trat instinktiv zurück, fand mit dem Fuß keinen Halt, fiel anmutig rückwärts von dem zehn Meter hohen Kai und plumpste nach einer durchaus eleganten Umdrehung in den Hudson.

Ein Hilferuf ertönte, Leute eilten zum Rand des Kais, doch im selben Augenblick tauchte der Kopf des jungen Mannes aus dem Wasser auf. Er schwamm mit mühelosen Stößen, und als die junge Dame, die augenscheinlich den Zwischenfall ausgelöst hatte, dies sah, beugte sie sich über den Pier hinaus und formte ihre Hände zu einem Sprachrohr.

»Ich bin gegen halb fünf zu sprechen«, rief sie.

Und mit einem fröhlichen Winken, das zu erwidern der abgestürzte Gentleman außerstande war, rückte sie ihr Monokel zurecht, warf einen hochmütigen Blick auf die neugierige Menge und verließ den Schauplatz unbekümmerten Schritts.

II

Die fünf Hunde, drei Kammerzofen und das französische Waisenmädchen wurden in der größten Suite des Ritz einquartiert, und Rags ließ sich träge in ein dampfendes, kräuterduftendes Bad gleiten, in dem sie fast eine Stunde lang döste. Danach erhielt sie geschäftlichen Besuch von einer Masseuse, einer Maniküre und zuletzt einer Pariser Coif‌feuse, die ihren Haarschnitt wieder zu Häftlingsformat trimmte. Als John M. Chestnut um vier Uhr eintraf, begegnete er einem halben Dutzend Anwälten und Bankiers, den Verwaltern des Martin-Jones-Treuhandvermögens, die im Vorraum warteten. Sie warteten seit halb zwei und befanden sich allmählich in einem Zustand beträchtlicher Verärgerung.

Nachdem eine der Zofen ihn einer gründlichen Inspektion unterzogen hatte – möglicherweise um sich zu vergewissern, dass er wirklich trocken war –, wurde John umgehend zu M’selle geführt. M’selle ruhte in ihrem Schlafzimmer auf der Chaiselongue, inmitten von zwei Dutzend Seidenkissen, die sie über den Atlantik begleitet hatten. John betrat den Raum etwas steif und verbeugte sich förmlich.

»Jetzt siehst du besser aus«, sagte sie, erhob sich aus ihren Kissen und begutachtete ihn beifällig. »Du hast Farbe bekommen.«

Er dankte ihr kühl für das Kompliment.

»Du solltest jeden Morgen reinspringen.« Und dann sagte sie wie aus heiterem Himmel: »Morgen fahre ich nach Paris zurück.«

John Chestnut brachte vor Verblüffung kein Wort heraus.

»Ich habe dir ja geschrieben, dass ich höchstens eine Woche lang bleiben würde«, fügte sie hinzu.

»Aber Rags –«

»Warum sollte ich auch? In New York gibt es keinen einzigen amüsanten Mann.«

»Aber Rags, gibst du mir wirklich keine Chance? Kannst du nicht wenigstens für zehn Tage bleiben und mich ein bisschen besser kennenlernen?«

»Dich kennenlernen!« Ihrem Ton ließ sich entnehmen, dass er bereits ein allzu offenes Buch für sie war. »Ich suche einen Mann, der zu einer ritterlichen Geste imstande ist.«

»Willst du damit sagen, dass ich mich nur noch pantomimisch ausdrücken soll?«

Rags seufzte voller Überdruss.

»Ich will damit sagen, dass du keine Spur Phantasie hast«, erklärte sie geduldig. »Wie alle Amerikaner. Paris ist die einzige Großstadt, in der eine kultivierte Frau leben kann.«

»Du hast wohl gar nichts mehr für mich übrig?«

»Wenn das so wäre, dann hätte ich nicht den Atlantik überquert, um dich wiederzusehen. Aber als ich die Amerikaner auf dem Schiff sah, ist mir klargeworden, dass ich keinen Amerikaner heiraten kann. John, ich würde dich verabscheuen, und mein einziges Vergnügen würde darin bestehen, dir das Herz zu brechen.«

Geschmeidig schlängelte sie sich wieder zwischen die Kissen, bis fast nichts mehr von ihr zu sehen war.

»Ich habe mein Monokel verloren«, erklärte sie.

Nach erfolglosem Suchen in den seidenen Tiefen stellte sie fest, dass das trügerische Glas ihr falsch herum um den Hals hing.

»Ich wäre so gern verliebt«, sprach sie weiter, während sie das Monokel wieder in ihr Kinderauge steckte. »Letztes Frühjahr wäre ich in Sorrent um ein Haar mit einem indischen Radschah durchgebrannt, aber er war eine Spur zu dunkelhäutig, und eine seiner anderen Ehefrauen konnte ich partout nicht ausstehen.«

»Hör auf mit diesem Blödsinn!«, rief John und schlug sich die Hände vor das Gesicht.

»Aber ich habe ihn doch nicht geheiratet«, verteidigte sie sich. »Obwohl er in gewisser Hinsicht eine gute Partie war. Er war der drittreichste Untertan des britischen Weltreichs. Apropos – bist du reich?«

»Nicht so reich wie du.«

»Siehst du? Was kannst du mir denn bieten?«

»Liebe.«

»Liebe!« Wieder verschwand sie in den Kissen. »Pass mal auf, John. Für mich ist das Leben eine Abfolge glitzernder Bazare, und vor jedem steht ein Händler, der sich die Hände reibt und sagt: ›Beehren Sie meinen Laden mit Ihrem Besuch. Bestes Bazar von Welt.‹ Und ich trete ein, willens zu kaufen, meinen Beutel gefüllt mit Schönheit und Geld und Liebe. ›Was haben Sie denn zu bieten?‹, frage ich ihn, und er reibt sich die Hände und sagt: ›Nun, Mademoiselle, heute hätten wir ausnehmend wuuun-der-schöne Liebe im Angebot.‹ Manchmal hat er sie nicht einmal auf Lager, sondern lässt sie holen, wenn er merkt, wie viel Geld ich ausgeben kann. Ach ja, Liebe bekomme ich immer, bevor ich gehe – umsonst. Das ist meine Revanche.«

John Chestnut stand verzweifelt auf und tat einen Schritt zum Fenster.

»Spring nicht raus«, sagte Rags schnell.

»Schon gut.« Er warf seine Zigarette zur Madison Avenue hinunter.

»Es ist nicht deine Schuld«, sagte sie in sanfterem Ton. »So langweilig und prosaisch du auch bist, bedeutest du mir mehr, als ich sagen kann. Aber das Leben hier ist so eintönig. Nie passiert etwas.«

»Jede Menge Dinge passieren«, widersprach er. »Erst heute hatten wir einen intellektuellen Mord in Hoboken und einen stellvertretenden Selbstmord in Maine. Dem Kongress liegt eine Gesetzesvorlage zur Sterilisierung von Agnostikern vor –«

»Humor interessiert mich keine Spur«, wandte sie ein, »aber für Romantik habe ich ein hoffnungslos altmodisches Faible. Stell dir vor, John, letzten Monat saß ich bei einem Diner mit zwei Männern am Tisch, die mit einer Münze um das Königreich von Schwartzberg-Rheinmünster losten. In Paris habe ich einen gewissen Blutchdak kennengelernt, den echten Urheber des Ersten Weltkriegs, der für übernächstes Jahr einen neuen Krieg in Vorbereitung hat.«

»Na gut, dann geh heute Abend mit mir aus, um dich zur Abwechslung auszuruhen«, sagte er störrisch.

»Und wohin?«, fragte Rags verächtlich. »Denkst du etwa, mit einem Nachtclub und einer Flasche zuckrigem Schaumwein bringst du mich aus dem Häuschen? Meine eigenen billigen Träume sind mir lieber.«

»Ich gehe mit dir in den überspanntesten Schuppen der Stadt.«

»Und was passiert da? Du musst mir sagen, was da passiert.«

John Chestnut atmete plötzlich tief ein und sah sich vorsichtig um, als fürchtete er, belauscht zu werden.

»Also, um ehrlich zu sein«, sagte er leise und ernst, »wenn etwas rauskäme, würde mir etwas ziemlich Unangenehmes passieren.«

Sie setzte sich auf, und die Kissen wirbelten wie Blätter um sie. »Willst du etwa behaupten, in deinem Leben gäbe es irgendetwas Zwielichtiges?«, rief sie mit einem Lachen in der Stimme. »Und das soll ich dir glauben? Nein, John, gib du dich damit zufrieden, die ausgetretenen Wege zu gehen und dich abzuplacken und abzuplacken.«

Ihr Mund war eine kleine kecke Rose, die ihm diese Worte wie Dornen zuwarf. John nahm Hut und Mantel vom Stuhl und ergriff seinen Stock.

»Zum letzten Mal: Kommst du heute Abend mit, um zu sehen, was es zu sehen gibt?«

»Und was ist das? Oder wer? Gibt es in diesem Land denn irgendwas Sehenswertes?«

»Nun«, sagte er gelassen, »du würdest zum Beispiel den Prince of Wales sehen.«

»Was?« Sie sprang von der Chaiselongue auf. »Ist er wieder in New York?«

»Heute Abend wird er hier sein. Würdest du ihn gerne sehen?«

»Ob ich ihn gern sehen würde? Ich habe ihn noch nie gesehen. Ich habe ihn immer verpasst. Ich würde ein Jahr meines Lebens dafür geben, ihn für eine Stunde zu sehen.« Ihre Stimme zitterte vor Erregung.

»Er kommt aus Kanada. Heute Nachmittag besucht er hier inkognito den großen Preiskampf, und ich weiß zufällig, wo er heute Abend sein wird.«

Rags stieß einen schrillen Begeisterungsschrei aus: »Dominic! Louise! Germaine!«

Die drei Zofen kamen angerannt. Im Zimmer vibrierte auf einmal grelles, hektisches Licht.

»Dominic, den Wagen!«, rief Rags auf Französisch. »Louise, mein goldenes Kleid und die Schuhe mit den echten goldenen Absätzen. Und die großen Perlen – alle Perlen – und das Diamantenei und die Strümpfe mit dem Saphirmuster. Germaine, rufen Sie einen mobilen Schönheitssalon. Lassen Sie mir wieder ein Bad ein, eiskalt und zur Hälfte mit Mandelcreme gefüllt. Dominic, wie der Blitz zu Tif‌fany’s, bevor sie schließen. Besorgen Sie mir eine Brosche, einen Anhänger, eine Tiara, irgendwas, egal was, mit dem Wappen des Hauses Windsor.«

Sie nestelte an den Knöpfen ihres Kleids, das von ihren Schultern glitt, noch bevor John sich umgedreht hatte, um zu gehen.

»Orchideen!«, rief sie ihm nach. »Unbedingt Orchideen! Vier Dutzend, damit ich vier aussuchen kann.«

Und dann flatterten Zofen im Zimmer hin und her wie verschreckte Vögel. »Parfum, Louise, machen Sie den Parfumkoffer auf, und meine rosa Zobelpelze und meine diamantbesetzten Strumpfbänder und das Olivenöl für meine Hände! Hier, nehmen Sie diese Sachen! Das auch – und das – aua! – und das!«

Sittsam schloss John Chestnut die Tür von außen. Die sechs Vermögensverwalter verstopf‌ten nach wie vor den Eingangsraum in unterschiedlichen Posen der Ermattung, des Überdrusses, der Resignation und der Verzweif‌lung. »Gentlemen«, verkündete John Chestnut, »ich fürchte, Miss Martin-Jones ist von ihrer Reise viel zu erschöpft, um sich heute Nachmittag mit Ihnen zu unterhalten.«

III

»Dieser Ort heißt Loch im Himmel, einfach so.«

Rags sah sich um. Sie befanden sich in einem Dachgarten unter dem kalten Aprilnachthimmel. Die Sterne blinkten frostig, und in der westlichen Dunkelheit hing ein mondförmiger Eissplitter. Doch wo sie standen, war es so warm wie im Juni, und die Paare, die auf dem Milchglasboden dinierten oder tanzten, scherten sich nicht um den abweisenden Himmel.

»Woher kommt die Wärme?«, fragte sie flüsternd, als sie zu einem Tisch gingen.

»Das ist eine neue Erfindung, mit der die warme Luft am Aufsteigen gehindert wird. Ich weiß nicht, wie es genau funktioniert, aber auf diese Weise können sie sogar mitten im Winter den Dachgarten geöffnet haben –«

»Wo ist der Prince of Wales?«, fragte sie nervös.

John sah sich um.

»Er ist noch nicht da. Er wird frühestens in einer halben Stunde kommen.«

Sie seufzte tief.

»Zum ersten Mal seit vier Jahren bin ich aufgeregt.«

Vier Jahre – ein Jahr weniger als die Dauer seiner Liebe zu ihr. Er fragte sich, ob sie als übermütige, bezaubernde Sechzehnjährige, wenn sie bis tief in die Nacht mit Of‌fizieren im Restaurant saß, bevor diese am nächsten Tag nach Brest aufbrechen mussten, und das glitzernde Leben sich in den traurigen, ergreifenden Kriegstagen nur zu schnell verflüchtigte, jemals so bezaubernd gewesen war wie in dieser honigfarbenen Beleuchtung unter diesem dunklen Himmel. Von ihren erregten Augen bis zu ihren winzigen Schuhabsätzen, in die Schichten echten Silbers und Goldes eingelegt waren, wirkte sie wie eines der staunenswerten Schiffe, die sich vollständig ausgearbeitet in einer Flasche befinden. Genauso fein und sorgfältig war sie ausgeführt, so als hätte ein Spezialist für Zierliches seine lebenslange Arbeitszeit auf sie verwendet. John Chestnut hätte sie am liebsten in die Hände genommen, hin und her gewendet, eine Schuhspitze oder ein Ohrläppchen untersucht oder die feenhafte Beschaffenheit ihrer Wimpern aus der Nähe betrachtet.

»Wer ist das?« Sie deutete unversehens auf einen gutaussehenden Lateinamerikaner an einem Tisch auf der anderen Seite des Gangs.

»Das ist Roderigo Minerlino, Star aus Film und Gesichtscremereklame. Vielleicht tanzt er später.«

Rags wurde sich mit einem Mal der Klänge von Geigen und Schlagzeug bewusst, doch die Musik erklang wie aus weiter Ferne, als schwebte sie mit der Fremdartigkeit eines Traumgebildes durch die frische Nacht und auf den Boden des Tanzsaals.

»Das Orchester spielt auf einem anderen Dach«, erklärte John. »Eine Weltneuheit – sieh nur, das Programm beginnt.«

Ein gertenschlankes schwarzes Mädchen trat plötzlich aus einem verborgenen Zugang in einen Kreis grellen, barbarischen Lichts, stachelte die Musik zu ungestümen Mollklängen an und begann ein rhythmisches, klagendes Lied zu singen. Abrupt brach ihre Stimme ab, und sie ging zu langsamen, immergleichen Tanzschritten über, ohne Entwicklung und ohne Hoffnung, wie das Scheitern eines wilden, aussichtslosen Traumes. Sie habe Papa Jack verloren, rief sie immer wieder mit einer hysterischen Monotonie, die so verzweifelt wie untröstlich anmutete. Die lauten Blasinstrumente wollten sie eines nach dem anderen dem stetigen Rhythmus des Wahnsinns entreißen, doch sie hörte nur auf das Murmeln des Schlagzeugs, das sie zwischen Tausende vergessener Jahre an einen verlorenen Ort in der Zeit versetzt hatte. Nachdem die Pikkoloflöte sich vergeblich bemüht hatte, verwandelte sie sich wieder in einen dünnen braunen Strich und stieß einen gellenden und durchdringenden Klagelaut aus, bevor plötzliche Dunkelheit sie unsichtbar machte.

»Wenn du in New York lebtest, müsste ich dir nicht sagen, wer sie ist«, sagte John, als das honiggelbe Licht auf‌leuchtete. »Als Nächstes tritt Sheik B. Smith auf, ein Komiker von der albernen und geschwätzigen Sorte –«

Er verstummte. Als die Beleuchtung vor der nächsten Nummer erlosch, stieß Rags einen langen Seufzer aus und bewegte sich vor. Ihre Augen blickten starr wie die eines Vorstehhunds, und John sah, dass ihr Blick sich auf eine Gruppe Leute heftete, die durch einen Seiteneingang hereingekommen waren und sich im Halbdunkel an einen Tisch setzten.

Der Tisch war von Palmen verdeckt, und zuerst konnte Rags nur undeutlich drei Schatten erkennen. Dann machte sie eine vierte Person aus, die im Hintergrund Platz genommen hatte – ein blasses ovales Gesicht, gekrönt von dem Glitzern dunkelblonder Haare.

»Hoppla!«, entfuhr es John. »Da haben wir ja Seine Majestät.«

Rags’ Atem schien flüsternd in ihrer Kehle zu ersterben. Undeutlich nahm sie wahr, dass der Komiker inzwischen in gleißend weißem Licht auf dem Tanzboden stand, dass er seit einiger Zeit sprach und dass plätscherndes Gelächter die Luft erfüllte. Doch ihr Blick verharrte reglos, gebannt. Sie sah, wie einer der Begleiter den Kopf neigte und einem anderen etwas zuflüsterte, und nach dem leisen Flackern eines Streichholzes glühte der feurige Knopf eines Zigarettenendes im Hintergrund. Wie lange sie reglos dasaß – sie hätte es nicht sagen können. Dann war es, als geschähe etwas mit ihren Augen, etwas Weißes bedrängte sie auf unerträgliche Weise, und als sie sich abrupt umdrehte, merkte sie, dass sie mitten in dem Lichtkreis eines kleinen Scheinwerfers saß. Allmählich hörte sie Wörter, die von irgendwo zu ihr gesagt wurden, und ein kurzes Auf‌lachen, das rund ums Dach lief, aber das Licht blendete sie, und instinktiv erhob sie sich halb von ihrem Stuhl.

»Bleib sitzen!«, flüsterte John ihr über den Tisch zu. »Er sucht sich jeden Abend einen Gast dafür aus.«

Dann begriff sie, dass er den Komiker Sheik B. Smith meinte. Dieser sprach zu ihr, redete auf sie ein – es ging um etwas, was alle anderen offenbar wahnsinnig komisch fanden und was in ihren Ohren nur wie ein Gewirr unverständlicher Laute klang. Nach dem ersten Schrecken des Lichtkegels hatte sie instinktiv ihre Züge geglättet, und nun lächelte sie. Ihr Lächeln war ein Akt höchster Selbstbeherrschung. Sie verlieh ihm einen Ausdruck unendlicher Unpersönlichkeit, als wäre sie sich des Scheinwerferlichts so wenig bewusst wie des Versuchs des Komikers, mit ihrem Liebreiz sein Spiel zu treiben, und als wäre sie gleichzeitig belustigt über einen unendlich weit entfernten Jemand, der seine Pfeile ebenso gut gegen den Mond hätte abschießen können. Sie war in diesem Augenblick keine »Dame« – eine Dame hätte vergrämt gewirkt, mitleiderregend oder lächerlich –, nein, Rags hatte ihre Haltung zum bloßen Bewusstsein ihrer überwältigenden Schönheit reduziert und saß strahlend da, bis der Komiker sich so mutterseelenallein fühlte wie nie zuvor. Er gab ein Zeichen, und der Scheinwerfer wurde ausgeschaltet. Es war vorbei.

Es war vorbei, der Komiker verließ den Tanzboden, und die ferne Musik setzte wieder ein. John beugte sich zu Rags hinüber.

»Es tut mir leid. Ich konnte es nicht verhindern. Du warst großartig.«

Sie tat den Zwischenfall mit einem nonchalanten Lachen ab – und zuckte zusammen, denn auf einmal saßen nur noch zwei Männer an dem Tisch auf der anderen Seite des Gangs.

»Er ist weg!«, rief sie bekümmert.

»Mach dir keine Gedanken, er kommt wieder. Er muss wahnsinnig vorsichtig sein, verstehst du, und wahrscheinlich wartet er mit einem seiner Begleiter draußen, bis es wieder dunkel wird.«

»Und warum muss er so vorsichtig sein?«

»Weil er eigentlich gar nicht in New York ist. Er ist sogar unter einem seiner Decknamen hier.«

Das Licht erlosch wieder, und fast gleichzeitig trat ein großgewachsener Mann aus der Dunkelheit an ihren Tisch.

»Darf ich mich vorstellen?«, sagte er kurz angebunden in arrogantem, britischem Tonfall zu John. »Lord Charles Este, Begleiter von Baron Marchbank.« Er sah John durchdringend an, wie um sich zu vergewissern, dass dieser die Bedeutung des Namens begriffen hatte.

John nickte.

»Ich darf mich auf Ihre Diskretion verlassen.«

»Selbstverständlich.«

Rags tastete auf dem Tisch nach ihrem unberührten Champagnerglas und leerte es auf einen Zug.

»Baron Marchbanks bittet Ihre Dame, für die Dauer der nächsten Nummer an seinen Tisch zu kommen.«

Die Männer sahen Rags an. Schweigen trat ein.

»Na gut«, sagte sie und warf John einen fragenden Blick zu. Er nickte abermals. Sie stand auf und schlängelte sich mit heftig klopfendem Herzen an den Tischen vorbei, bis sie die halbe Terrasse umrundet hatte; dann verschmolz ihre schmale, goldschimmernde Gestalt mit dem Tisch im Halbdunkel.

IV

Die Nummer näherte sich ihrem Ende; John Chestnut saß allein an seinem Tisch und rührte in seinem Champagnerglas zusätzliche Bläschen auf. Kurz bevor das Licht anging, vernahm er das leise Rascheln von Goldstoff, und Rags ließ sich atemlos und mit roten Wangen auf ihren Stuhl sinken. In ihren Augen schwammen Tränen.

John sah sie missmutig an.

»Und – was hat er gesagt?«

»Er hat nicht viel gesagt.«

»Hat er überhaupt etwas gesagt?«

Mit zitternder Hand ergriff sie ihr Champagnerglas.

»Er hat mich nur angesehen, solange es dunkel war. Und er hat ein paar triviale Bemerkungen gemacht. Er sah genauso aus wie auf den Fotos, nur sehr gelangweilt und müde. Er hat sich nicht einmal nach meinem Namen erkundigt.«

»Verlässt er New York heute Nacht?«

»In einer halben Stunde. Er und seine Begleiter haben draußen einen Wagen, und sie wollen vor Sonnenaufgang die Grenze überquert haben.«

»Und findest du ihn – faszinierend?«

Sie zögerte, und dann nickte sie langsam.

»Das finden alle«, bestätigte John finster. »Erwarten sie dich noch einmal?«

»Ich weiß nicht.« Sie sah unsicher hinüber, doch die berühmte Persönlichkeit hatte sich abermals von ihrem Tisch an ein geheimes Örtchen zurückgezogen. Als sie sich wieder umdrehte, kam ein unbekannter junger Mann, der kurz im Haupteingang gewartet hatte, eilig an ihren Tisch – eine totenbleiche Erscheinung in einem unordentlichen und unpassenden Straßenanzug – und legte John Chestnut eine zitternde Hand auf die Schulter.

»Monte!«, rief John und schrak dabei so überrascht auf, dass er sein Champagnerglas umwarf. »Was ist los? Was ist passiert?«

»Sie sind uns auf der Fährte!«, flüsterte der junge Mann mit bebender Stimme. Er warf einen Blick hinter sich. »Ich muss dich allein sprechen.«

John Chestnut erhob sich sofort, und Rags sah, dass sein Gesicht so weiß geworden war wie die Serviette in seiner Hand. Er entschuldigte sich bei ihr und zog sich mit dem Neuankömmling an einen leeren Tisch in der Nähe zurück. Rags beobachtete die beiden einen Augenblick lang neugierig, bevor sie den Blick wieder auf den Tisch weiter hinten richtete. Würde man sie noch einmal herüberbitten? Der Prinz hatte sich einfach erhoben und verbeugt und war hinausgegangen. Vielleicht hätte sie warten sollen, bis er zurückkam, doch obwohl sie vor Aufregung noch immer angespannt war, war sie in anderer Hinsicht wieder sie selbst. Ihre Neugier war befriedigt, und jeder weitere Impuls musste von ihm ausgehen. Sie fragte sich, ob sie tatsächlich irgendeinen spezifischen Charme verspürt hatte, und mehr noch fragte sie sich, ob er eine erkennbare Reaktion auf ihre Schönheit gezeigt hatte.

Der bleiche Mensch namens Monte verschwand, und John kam an den Tisch zurück. Es erschreckte Rags, ihn bis zur Unkenntlichkeit verändert zu sehen. Er sackte auf seinem Stuhl zusammen wie ein Betrunkener.

»John! Was ist los?«

Statt zu antworten, griff er nach der Champagnerflasche, doch seine Finger zitterten so sehr, dass verschütteter Wein einen nassen gelben Ring um sein Glas bildete.

»Ist dir nicht gut?«

»Rags«, sagte er mit leiser Stimme, »mit mir ist es aus.«

»Was soll das heißen?«

»Mit mir ist es aus, hast du verstanden?« Er brachte ein gequältes Lächeln zustande. »Seit über einer Stunde sind sie mit einem Haftbefehl hinter mir her.«

»Was hast du getan?«, fragte sie erschrocken. »Was ist das für ein Haftbefehl?«

Das Licht erlosch für die nächste Darbietung, und unerwartet ließ John den Oberkörper auf den Tisch sinken.

»Worum geht es?«, wiederholte sie hartnäckig und mit wachsender Besorgnis. Sie beugte sich zu ihm, doch seine Antwort war fast unhörbar.

»Mord?« Sie spürte, dass ihr Körper eiskalt wurde.

Er nickte. Sie ergriff ihn an beiden Armen und versuchte ihn in eine aufrechte Haltung zu schütteln, wie man einen Mantel zurechtschüttelt. Seine Augäpfel verdrehten sich unkoordiniert.

»Ist das wahr? Haben sie Beweise?«

Wieder nickte er benommen.

»Dann musst du sofort aus dem Land verschwinden! Verstehst du mich, John? Du musst sofort hier weg, bevor sie dich hier suchen!«

Er blickte panisch und voll Entsetzen zum Eingang.

»Großer Gott!«, rief Rags. »Warum tust du denn nichts?« Verzweifelt sah sie sich in alle Richtungen um, und plötzlich wurde ihr Blick starr. Sie zog zischend die Luft ein, zögerte und flüsterte ihm dann eindringlich ins Ohr.

»Bist du bereit, heute Nacht nach Kanada zu fliehen, wenn ich es arrangiere?«

»Wie denn?«

»Ich werde es arrangieren – wenn du dich ein bisschen zusammenreißt. John, ich bin es, Rags, hörst du mir zu? Ich will, dass du hier sitzen bleibst und dich nicht von der Stelle rührst, bis ich wiederkomme!«

In der nächsten Minute hatte sie im Schutz der Dunkelheit den Dachgarten durchquert.

»Baron Marchbanks«, flüstere sie unmittelbar hinter seinem Stuhl. Mit einer Handbewegung forderte er sie auf, sich zu setzen.

»Haben Sie heute Nacht in Ihrem Wagen noch Platz für zwei weitere Passagiere?«

Einer seiner Begleiter drehte sich unversehens um.

»Der Wagen seiner Lordschaft ist besetzt«, sagte er schroff.

»Es ist schrecklich wichtig.« Ihre Stimme zitterte.

»Nun ja«, sagte der Prinz unsicher, »ich weiß nicht so recht.«

Lord Charles Este sah den Prinzen an und schüttelte den Kopf.

»Ich halte das nicht für ratsam. Angesichts der Gegenorder von zu Hause ist die Angelegenheit ohnehin delikat. Als oberste Priorität hatten wir vereinbart, dass es keine Komplikationen geben dürfe.«

Der Prinz runzelte die Stirn.

»Das ist doch keine Komplikation«, wandte er ein.

Este sprach Rags direkt an.

»Warum ist es so wichtig?«

Rags zögerte.

»Weil« – sie errötete unversehens – »wir durchbrennen.«

Der Prinz lachte.

»Ausgezeichnet!«, rief er. »Abgemacht! Este ist nur etwas förmlich. Bringen Sie ihn her. Wir fahren doch bald, oder?«

Este sah auf seine Uhr.

»Auf der Stelle!«

Rags eilte fort. Sie wollte die ganze Reisegesellschaft von dem Dach wegbringen, solange das Licht noch gedämpft war.

»Schnell!«, rief sie John ins Ohr. »Wir überqueren die Grenze – mit dem Prince of Wales. Bis zum Morgen bist du in Sicherheit.«

Er sah verwirrt zu ihr hoch. Hastig bezahlte sie die Rechnung, ergriff ihn am Arm und bugsierte ihn so unauf‌fällig wie möglich zu dem anderen Tisch, wo sie ihn mit wenigen Worten vorstellte. Der Prinz begrüßte ihn mit Handschlag, die Begleiter nickten mit schlecht verhohlenem Missvergnügen.

»Wir fahren jetzt besser«, sagte Este, der ungeduldig auf die Uhr sah.

Kaum waren sie aufgestanden, entfuhr allen Beteiligten ein Ausruf des Erstaunens: Zwei Polizisten und ein rothaariger Detektiv in Zivilkleidung waren zum Haupteingang hereingekommen.

»Nichts wie weg«, flüsterte Este mit einem Blick zum Seiteneingang. »Hier gibt es gleich einen Tumult.« Er fluchte – zwei weitere Uniformierte versperrten den Seiteneingang. Ratlos blieb die Gruppe stehen. Der Detektiv in Zivil verschaff‌te sich einen gründlichen Überblick über das Publikum an den Tischen.

Este richtete einen misstrauischen Blick auf Rags und dann auf John, der hinter den Palmen zu verschwinden versuchte.

»Ist das da drüben einer von euren Steuerfahndern?«, wollte Este wissen.

»Nein«, flüsterte Rags. »Das sieht nach Ärger aus. Können wir hier nicht raus?«

Sichtlich verärgert setzte der Prinz sich wieder.

»Ihr sagt mir Bescheid, wenn ihr so weit seid.« Er lächelte Rags an. »Wer hätte das gedacht, dass wir alle nur wegen Ihrer reizenden Erscheinung so viel Ärger bekommen?«

Plötzlich ging das Licht an. Der Detektiv drehte sich auf dem Absatz herum und sprang mitten auf die Tanzfläche.

»Niemand verlässt den Raum!«, rief er laut. »Sie da hinter den Palmen, setzen Sie sich. Ist Mr. John Chestnut unter den Anwesenden?«

Rags stieß unwillkürlich einen leisen Schrei aus.

»Hier!«, rief der Detektiv dem Polizisten hinter ihm zu. »Sehen Sie sich das sonderbare Trüppchen da drüben genauer an. Hände hoch, meine Herren!«

»Großer Gott!«, flüsterte Este. »Wir müssen hier weg!« Er wandte sich an den Prinzen. »Ted, das kommt nicht in Frage. Man darf Sie hier nicht sehen. Ich halte sie auf, während Sie zum Wagen runtergehen.«

Er tat einen Schritt auf den Seiteneingang zu.

»Hände hoch, Sie da drüben!«, rief der Detektiv. »Ich sage es nicht zweimal! Wer von Ihnen ist Chestnut?«

»Sind Sie verrückt geworden?«, schrie Este. »Wir sind britische Staatsbürger. Wir haben mit dieser Sache nicht das Geringste zu tun!«

Eine Frau schrie auf, und alle stürmten zu den Aufzügen, bis die Mündungen von zwei Maschinenpistolen ihnen Einhalt geboten. Neben Rags brach ein Mädchen ohnmächtig zusammen, und im selben Augenblick setzte die Musik von dem anderen Dach wieder ein.

»Schluss mit der Musik!«, bellte der Detektiv. »Verpasst den Herrschaften eine Runde Handschellen, und zwar dalli!«

Zwei Polizisten traten auf sie zu, Este und die anderen Begleiter des Prinzen zogen ihre Revolver und wichen zur Seite aus, den Prinzen in ihrer Mitte, so gut es ging. Ein Schuss krachte, dann ein zweiter, gefolgt vom Klirren und Scheppern von Silber und Porzellan, als mehrere Gäste ihre Tische umwarfen und dahinter flugs in Deckung gingen.

Panik brach aus. Drei Schüsse schnell nacheinander, dann eine ganze Salve. Rags sah, wie Este ungerührt auf die acht bernsteinfarbenen Lichter über ihren Köpfen schoss und grauer Rauch sich auszubreiten begann. Das unablässige Lärmen der unsichtbaren Jazzkapelle unterlegte das Geschrei und Getöse mit einem eigenartigen Klangteppich.

Und innerhalb von Sekunden war alles vorbei. Grelle Pfiffe schrillten über das Dach, und durch den Rauch sah Rags, wie John Chestnut mit ausgestreckten Händen auf den Detektiv zuging, um sich zu ergeben. Ein letzter nervöser Schrei, markerschütterndes Klirren, als jemand aus Versehen einen Stapel Teller umwarf, und dann bleierne Stille in dem Dachgarten – sogar die Kapelle schien verstummt zu sein.

»Aus, vorbei, Ende!«, ertönte John Chestnuts Stimme laut in der Nachtluft. »Die Party ist vorbei. Wer nach Hause will, kann gehen!«

Noch immer herrschte Stille; Rags wusste, dass es die Stille des Entsetzens war; Schuldgefühle hatten John Chestnut in den Wahnsinn getrieben.

»Es war eine großartige Leistung«, rief er, »und ich möchte Ihnen allen und jedem Einzelnen danken. Falls Sie noch einen Tisch finden, der alles unbeschadet überstanden hat, gibt es Champagner, solange Sie bleiben wollen.«

Rags kam es vor, als drehten sich der Dachgarten und die Sterne hoch oben auf einmal im Kreis. Sie sah, wie John die Hand des Detektivs ergriff und herzlich schüttelte, und sie sah, wie der Detektiv grinste und seine Waffe einsteckte. Die Musik hatte wieder eingesetzt, und das Mädchen, das in Ohnmacht gefallen war, tanzte plötzlich mit Lord Charles Este. John lief hin und her, klopf‌te Leuten auf die Schulter, lachte und schüttelte Hände. Dann kam er zu ihr, unbeschwert und unschuldig wie ein Kind.

»War es nicht herrlich?«, rief er.

Rags spürte, dass ihre Knie weich wurden. Sie tastete hinter sich nach einem Stuhl.

»Was war das?«, rief sie benommen. »Habe ich das alles geträumt?«

»Aber keineswegs! Du bist hellwach. Ich habe es arrangiert, Rags, verstehst du? Ich habe das alles für dich arrangiert. Ich habe es mir ausgedacht! Das einzig Echte an der ganzen Sache war mein Name!«

Rags taumelte unversehens gegen seinen Frack, hielt sich an seinen Rockaufschlägen fest und wäre zu Boden gesunken, wenn John sie nicht geistesgegenwärtig aufgefangen hätte.

»Schnell etwas Champagner!«, rief er, und dann befahl er dem Prince of Wales, der in der Nähe stand: »Bestellen Sie sofort meinen Wagen! Miss Martin-Jones ist vor Aufregung ohnmächtig geworden.«

V

Der Wolkenkratzer ragte klotzig über dreißig Fensterreihen auf, bevor er sich zu einem anmutigen Zuckerhut von strahlendem Weiß verschlankte. Dann strebte er weitere dreißig Meter empor, bis seine letzte zerbrechliche Geste himmelwärts die eines bloßen länglichen Turms war. Am höchsten seiner hohen Fenster stand Rags Martin-Jones ungeschützt in der steifen Brise und sah auf die Stadt hinunter.

»Mr. Chestnut lässt fragen, ob Sie jetzt in sein Privatbüro kommen wollen.«

Gehorsam bewegten sich ihre schmalen Füße über den Teppich in einen hohen, kühlen Raum mit Blick auf den Hafen und auf das weite Meer.

John Chestnut wartete an seinem Schreibtisch; Rags ging auf ihn zu und legte ihm die Arme um die Schultern.

»Bist du auch wirklich wirklich vorhanden?«, fragte sie besorgt. »Kannst du mir das versichern?«

»Du hast mir erst eine Woche vor deiner Ankunft geschrieben«, verteidigte er sich bescheiden, »sonst hätte ich eine Revolution arrangieren können.«

»Hast du das Ganze nur meinetwegen inszeniert?«, wollte sie wissen. »War diese ganze nutzlose, wundervolle Sache nur für mich inszeniert?«