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Michael Gautier

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Beschreibung

Galeristinnen und Galeristen sind zentrale Akteure des Kunstfeldes. Sie entdecken neue Kunst und machen sie bekannt. Doch wer eröffnet und betreibt eine erfolg- und einflussreiche Galerie für Gegenwartskunst? Diese soziologische Studie lotet anhand europäischer und amerikanischer Beispiele die Motive sowie die Denk- und Handlungsweisen von Personen aus, denen das riskante Unterfangen gelingt. Sie erschließt, wie der Beruf im Spannungsfeld von Kunstund Geschäftssinn, Leidenschaft und kommerzieller Logik gedeutet und praktiziert wird.

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Michael Gautier

Passion und Kalkül

Zur beruflichen Bewährung in der Galerie

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Galeristinnen und Galeristen sind zentrale Akteure des Kunstfeldes. Sie entdecken neue Kunst und machen sie bekannt. Doch wer eröffnet und betreibt eine erfolg- und einflussreiche Galerie für Gegenwartskunst? Diese soziologische Studie lotet anhand europäischer und amerikanischer Beispiele die Motive sowie die Denk- und Handlungsweisen von Personen aus, denen das riskante Unterfangen gelingt. Sie erschließt, wie der Beruf im Spannungsfeld von Kunstund Geschäftssinn, Leidenschaft und kommerzieller Logik gedeutet und praktiziert wird.

Vita

Michael Gautier, Dr. rer. soc., studierte in Bern und New York Geschichte und Soziologie. Er ist Redaktor bei der schweizerischen Bundesversammlung.

Inhalt

1.Einleitung

2.Konzeptuelle Grundlagen und methodisches Vorgehen

2.1Forschungsstand

2.2Theoretische Bezüge und Begrifflichkeit: Habitus, Deutungsmuster

2.3Methode und Darstellung

2.3.1Grounded Theory

2.3.2Auswahl der Fälle, Kontrastierungen

2.3.3Objektive Hermeneutik und Fallrekonstruktion

3.Das Feld der Gegenwartskunst

3.1Konfigurationen des Kunsthandels

3.1.1Vom »marchand-négociant« zum »marchand-entrepreneur«

3.1.2Vom akademischen System zum Händler-Kritiker-System

3.2Umgekehrte Ökonomie

3.2.1Strukturierungen des Kunstfeldes

3.2.2Symbolische und ökonomische Bewertung – Diagnosen der Ökonomisierung

3.3Weitere Institutionen des Kunstfeldes

3.3.1Messe

3.3.2Auktionshaus

3.3.3Museum, Kunsthalle, Biennale

3.4»Globalisierung«

3.4.1Entgrenzung und Exklusion

3.4.2Konzentrationen

4.Der Galerist als Typus – Berufspraxis und Handlungsprobleme

4.1 Doppeltes Gesicht

4.2Arbeitsbündnis

4.3Warenförmige Vermittlung

4.4Berufszugang und Motivlage

4.4.1Learning by doing

4.4.2Unternehmerisches Handeln

5. Vier Typen des beruflichen Selbstverständnisses

5.1Betriebsführung

5.1.1Eine Frage der Organisation

Systematische Annäherung an das Kunstfeld

Autonomie und Anerkennung

Pragmatismus und strategischer Sinn

Rationale Verwaltung

Rationale Beurteilung von Kunst

Die Verpflichtung gegenüber dem Kunstwerk und das Problem der Bewertung

5.1.2Maximale Flexibilität

Kunst im Zeichen sozialer Distinktion

»Opportunity«

5.1.3Exkurs: Innovationsverpflichtung und »Generationenlehre«

5.2Wahlverwandtschaften

5.2.1Philanthropie

Kunst als Therapie

»Attuned« – diffuse (weibliche) Affinitäten

»A particular pace«

5.2.2Erweiterte Großfamilie

Bezüge zur Kunst, Bezüge zum Handel

Zielstrebigkeit, Umtriebigkeit

Spontane Anfänge

»Freundschaft«: die Bedürfnisse des Künstlers

5.2.3Produzentengalerie

Intrinsische Motivierung

Reflexion und »collective practices«

Multiple Identitäten

Entgrenzung und Forschung

Subversive Strategien

5.3Curating

5.3.1Mehr als Kunst

Krisendiagnose

Von der erweiterten Großfamilie zum »construct of opportunities«

Ein erlesener Ort für ausgesuchte Menschen

5.3.2Koautorschaft

»Change the visual landscape«

Geistesverwandtschaft

Durchblick

5.3.3Von der künstlerischen zur kuratierenden Praxis

Projektraum

»Marriage of ideas«

5.4Beratung (Nähe mit Grenzen)

5.4.1Konversation

Dynastische und kosmopolitische Konstellationen

Gespräch zwischen Partnern

»No-nonsense« – kritische Zeitdiagnosen

5.4.2Professionalisierte Distanz

Bildungsbürgerliche Verhältnisse

Vorbereitung auf den richtigen Moment

Individuelle Lösungen

5.4.3Pioniertat an der Peripherie des Feldes

Erkundungen

Mission

6.Schluss

Herkunftskonstellationen

Verlaufsmuster

Typologie

Dank

Literatur

1.Einleitung

Als ich mich vor einigen Jahren aufmachte, die Welt der Galerien zu erforschen, dominierten Superlative die Berichterstattung zum boomenden Kunstmarkt und die damit verbundene Kolportage zurschaugestellten Reichtums. Solches geschah selbstverständlich nicht zum ersten Mal. Der letzte Boom hatte in den 1980er Jahren stattgefunden. Neu war, dass der Markt in bis anhin unerschlossene Territorien, namentlich nach China, vordrang und die Gegenwartskunst erfasste wie nie zuvor – jenes Segment der Kunstproduktion also, in dem die Frage nach dem Wert der Erzeugnisse (noch) nicht geklärt ist und dieser folglich zuerst möglichst überzeugend behauptet werden muss. Das Geschäft der Galerien, das auf Prognosen und der Übersetzung des behaupteten Werts in einen Preis basiert, ist folglich besonders riskant. 2007 setzte eine Finanzkrise ein, die bald auf die Realwirtschaft durchschlug und nicht zuletzt in den historisch dominierenden Territorien des Kunstfeldes, den USA und in Westeuropa, die grösste Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren auslöste. Sogleich war allenthalben von einer reinigenden Korrektur der Exzesse die Rede, von der längst fälligen Trennung der Spreu vom Weizen, davon, dass nur jene Künstler und Galerien überleben würden, die nicht von der Gier nach Profit und Befriedigung mondäner Bedürfnisse angetrieben seien, sondern von einer Berufung und vom Glauben an die Kunst. Als ich 2009 und 2010 in New York das Galeriewesen erkundete, herrschte die Erwartung vor, dass sich die Dinge im Kunstbetrieb dank der Krise auf einem weniger aufgeregten, vernünftigeren Niveau einpendeln würden und die Entschleunigung eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Gegenwartskunst wieder möglich machen würde, welche die Hektik des Kauf- und Spekulationsrauschs verhindert hatte. Zehn Jahre später drängt sich der Befund auf, dass Kunsterwerb als Status- und Machtdemonstration bzw. altbekanntes Symptom von – zunehmend ungleich verteiltem – Wohlstand unvermindert anhält. Protagonisten der territorialen Expansion, der Akkumulierung von Profiten und Konzentration von Macht – auch jener, Künstler durchzusetzen –, finden sich auch in diesem Buch. Obschon der Kunstmarkt in den letzten beiden Jahrzehnten explodiert ist und trotz einschneidender Transformationen wie der Proliferation von Biennalen und Messen und der »Globalisierung«, gibt es bloß wenige Untersuchungen zu den Personen, denen das Unterfangen einer Galerie für Gegenwartskunst gelingt.

Marcel Duchamp verglich Galeristen einst mit Läusen: »They are the lice on the back of the artist.«1 Nützlich und notwendig seien sie, fügte er an, aber trotzdem seien sie Läuse.2 Was für eine Funktion das flügellose Insekt, das weder springen noch schwimmen kann, auf dem Rücken des Wirts erfüllt, lässt Duchamp offen. Die alltagsweltliche Wahrnehmung bringt auch keine Klärung: Der blutsaugende Gast gilt als lästiger Schmarotzer, als reiner Parasit. Auf die Beziehung zwischen Galerist und Künstler übertragen, würde der Galerist in dem Fall von der Arbeit des Künstlers leben, sie ausbeuten, sich an ihr bereichern, ohne selbst etwas zu leisten. Doch trifft die Metapher die Sache offensichtlich nicht ganz, gesteht der Avantgardist dem Galeristen doch einen Nutzen, ja, eine Notwendigkeit zu. Ist er nicht eher mit einem Kommensalen vergleichbar, einem Organismus also, »der sich von der Nahrung eines (artfremden) Wirtsorganismus ernährt, ohne ihm dabei zu schaden«, wie der Duden erklärt? Oder ist er weit mehr als ein Tischgenosse, nämlich ein symbiotischer Partner, der nicht mehr aus der Verbindung herausschlägt als der Künstler? Dass es ihn braucht, scheint unbestritten, doch vermittelt das von Duchamp verwendete Bild etwas vom zwiespältigen, wenn nicht zweifelhaften Ruf des andere übervorteilenden Profiteurs, welcher der Figur des Galeristen anhaftet.

Die vorliegende Studie ist einem Akteur gewidmet, der mit einem der zentralen Handlungsprobleme im Feld der Gegenwartskunst konfrontiert ist: wie im Ungesehenen das Neuartige und somit Bedeutsame und Wertvolle ausgemacht werden kann. Soll das Unterfangen des Galeristen – und seit der Nachkriegszeit sehr oft der Galeristin – reüssieren, muss er jene Künstlerinnen und Künstler frühzeitig erkennen, deren Rezeption in den Konsens mündet, dass ihre Werke es würdig sind, in Museumssammlungen aufgenommen und für die Nachwelt aufbewahrt zu werden. Leidenschaft, Intuition und das Kennerauge reichen dafür nicht aus. Wer eine Galerie betreiben will, muss in der Lage sein, mit Künstlern über längere Zeit eine Arbeitsbeziehung aufrechtzuerhalten, die nicht zuletzt darin besteht, dass der Galerist ihre Interessen nach außen vertritt. Er muss das Galeriepublikum dazu bringen – dazu erziehen –, die Kunst zu schätzen, die er in seinem Schauraum zeigt. Er muss deswegen Empathie und Geschmeidigkeit im Umgang mit anderen besitzen. Er muss sich mit den – meist akademisch geschulten – Vermittlern verständigen können, die nichtkommerzielle Ausstellungen organisieren, und mit solchen, die über Kunst schreiben; und er muss das Vertrauen jener gewinnen, die willens sind (Sammler) oder die Aufgabe haben (Museen), Kunstwerke zu erwerben, und sie davon überzeugen, dass sich ein Kauf lohnt.

Wie kann ein Galerist wissen, fragte der amerikanische Soziologe Howard S. Becker, ob Werk und Künstler, auf die er setzt und die er anderen empfiehlt, beim Publikum auf Zuspruch stoßen werden? Niemand könne dies mit Sicherheit wissen, schreibt er, bis die Geschichte durch die Handlungen anderer gesprochen habe, die sein Urteil stützten und einen Preisanstieg des Werks bewirkten. Doch Galeristen könnten nicht warten, bis die Geschichte gesprochen habe, und sie täten dies auch nicht: »[T]hey actively try to persuade the others whose actions will make history.«3 Des Galeristen ganzes berufliches Handeln ist folglich darauf gerichtet, einem Artefakt, dessen symbolischer und ökonomischer Wert a priori indeterminiert sind, einen für Dritte plausiblen und verbindlichen Wert zu geben. Ein für diese Arbeit interviewter Galerist fasst das (Verkaufs-)Problem in folgende Worte: »Überhaupt das Vertrauen von den Leuten zu bekommen, die eben viel Geld ausgeben sollen für etwas, was nicht danach aussieht oder so, ja, das ist irgendwie immer schwierig« (Interview Roland Klemperer, 2007; für alle im Rahmen dieser Studie befragten Galeristinnen und Galeristen werden Pseudonyme verwendet). Neben dem Glauben an eine spezifische Kunst, der Fähigkeit, seine Begeisterung anderen zu vermitteln, und der Bereitschaft zum Risiko muss der Galerist, um ökonomisch zu überleben, über ausreichend praktischen und berechnenden Geschäftssinn verfügen und den Haushalt seiner Firma im Blick behalten.

Zu den im Metier selbst angelegten Unwägbarkeiten kommen Veränderungen im Kunstfeld, welche die Berufspraxis noch komplexer machen und manche dazu veranlasst haben, die Existenz der über hundert Jahre alten Institution Galerie infrage zu stellen: das Eindringen der Auktionshäuser in den Markt der lebenden Künstler seit den 1980er Jahren; die zentrale Bedeutung der Kunstmessen seit den 1990er Jahren; die virtuelle Realität des Internets als »zentrifugale Kraft«,4 in dem detaillierte Informationen über Kunstwerke zirkulieren, die als Basis für Kaufentscheide fungieren und in den Augen vieler die physische Präsenz des Kunstwerks obsolet erscheinen lassen; die territoriale Ausdehnung des Kunstfeldes und dichtere Vernetzung immer zahlreicherer Akteure, die zeitdiagnostisch unter dem Etikett »Globalisierung« verhandelt werden; damit aufs Engste verbunden der Aufstieg des »freien« Kurators seit den 1990er Jahren zu einem deutungsmächtigen Akteur, der als Entdecker neuer Kunst in Konkurrenz zum Galeristen getreten ist; die porös gewordene, hergebrachte Arbeitsteilung bzw. Polyvalenz der Feldakteure (Sammler als Händler, Kunstkritiker als Messeleiter, Kuratoren als Berater)5 und schließlich der zusätzliche ökonomische Druck, den die neue Rolle des Galeristen als Kunst-Produzent erzeugt, der Herstellungskosten vorzuschießen hat, aber auch die zunehmend an ihn herangetragene Erwartung, sich substanziell an den Kosten von Museumsausstellungen zu beteiligen.6 Abgesehen von den Veränderungen im Tätigkeitsprofil lassen sich diese Entwicklungen auch als Verlust an Deutungsmacht und Kontrolle der Galerien über die Bewertung von Kunst und als Symptom eines Bedeutungsverlusts des Galerieraums als Instrument der Vermittlung begreifen. Ein etablierter New Yorker Galerist resümiert die Veränderungen allerdings wie folgt: »What’s different is that the context has changed enormously. So, there are more dealers, there’s more money, there’s more business, there’s more opportunity, and if you were a hot artist in 1978 or 1980 there were about three dealers you could go to. If you’re a hot artist in 2010 you could conjecture that there are fifty dealers you could go to« (Interview Stanley Lowell, 2010).

Die Einschätzungen zur Bedeutung der Galerien im Spannungsfeld von »Globalisierung«, Oligopolisierung des Marktes sowie diagnostizierter Ökonomisierung der Gegenwartskunst für die Produktion und Rezeption von Kunst divergieren. Eines der neuesten Phänomene ist die wachsende Zahl multinationaler Firmen mit Niederlassungen in mehreren Metropolen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelte diesbezüglich »Zukunft der Galerien: Die Großen werden immer grösser und die Kleinen schließen«; »Trouble with Mega-Galleries« heißt es auch in New York, wo die Monopolisierung der Aufmerksamkeit durch eine Handvoll »Elefanten« beklagt wird.7 Dabei wird die Konzentration ökonomischer und symbolischer Macht bei wenigen Galerien in Zusammenhang mit dem kostspieligen Messewesen gebracht, das die vielen kleineren Galerien gefährde, weil angesichts der territorialen Expansion des Feldes nur noch die Präsenz auf Messen eine Existenz verspreche. So kam die französische Tageszeitung Le Monde am 23. Oktober 2013 zu dem Schluss, dass die Galerien in ihrer Vermittler- (und letztlich auch Entdecker-)funktion existenziell bedroht seien: Der Kunstbetrieb sei auf gesunde Galerien angewiesen. Diese litten jedoch und drohten gar, wegen der erbitterten Konkurrenz der über kolossale Ressourcen verfügenden Auktionshäuser, zu verschwinden. Doch stellten paradoxerweise auch die Messen eine Gefahr für die Galerien dar, weil sie viele Käufer weglockten. Im Jahr 2012 erwirtschafteten Galerien weltweit durchschnittlich 36 Prozent ihrer Einnahmen auf Messen; 2014 belief sich der Anteil auf 40 Prozent.8 Selbst in Chelsea, dem im Westen Manhattans an den Hudson River grenzenden Viertel, das seit den späten 1990er Jahren eine Konzentration an kommerziellen Schauräumen aufweist, die ihresgleichen sucht, ist ein lokaler Widerhall tiefgreifender »globaler« Veränderungen feststellbar. Die Kunstkritikerin Roberta Smith schrieb in der New York Times:

On many fronts it seemed that the global was winning out over the local, what with the continued proliferation of art fairs, the spread of auctions and the franchising of art galleries, on the Gagosian model, around the globe. And this year it often seemed as if the effects of all this […] were registering most powerfully in New York […] Things seemed to have slowed and quieted down […]. Often there didn’t seem to be as many people or as much excitement in the galleries. I often wondered if dealers or artists were hoarding the good stuff for the fairs.9

Die seit ihrer Genese im späten 19. Jahrhundert singuläre, zentrale und zugleich fragile Stellung der Galerie als gatekeeper im Kunstfeld und die ins Kraut schießenden Krisendiagnosen, die bisweilen in der These vom »Ende der Programmgalerie« bzw. »Auslaufmodell«10 gipfeln, bieten reichlich Anlass, um sich mit den Individuen zu befassen, die sich beruflich in eine solch exponierte und heikle Position begeben. In dieser Untersuchung wird gefragt, welche individuellen Voraussetzungen die Bewältigung der vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen Handlungsprobleme begünstigen, mit denen Galeristinnen und Galeristen in ihrem beruflichen Alltag konfrontiert sind. Prädestinieren bestimmte biografische Herkunftskonstellationen dazu? Sind Galeristinnen und Galeristen oft die Kinder von Kunsthändlern – wurden sie also bereits in das Berufsfeld »hineingeboren«? Überwiegen Herkunftsmilieus mit zumindest merkantilen Traditionen, die ihnen den Geschäftssinn »vererben«? Handelt es sich um Töchter und Söhne aus gutsituierten, großbürgerlichen Verhältnissen, in denen Kunstliebhaberei – und unter Umständen das Sammeln von Kunst –, wie der Konzert- und Opernbesuch auch, Bestandteil einer milieuspezifischen Lebensführung ist und die das potenziell ruinöse Experiment einer jungen Galerie ökonomisch abzufedern vermögen? Sind bildungsbürgerliche Prägungen typisch, womöglich verbunden mit einem Elternteil, der Vertreter einer Profession ist? Oder kommen Galeristinnen und Galeristen aus eher wirtschaftsfernen und ökonomisch prekären Künstlerhaushalten und finden sich deshalb mit den Künstlern und Künstlerinnen gut zurecht? In der Studie wird gefragt, ob bestimmte habituelle Dispositionen besonders gut zu den Anforderungen eines Metiers passen, auf das keine Ausbildung vorbereitet und das man sich selbst beibringen muss; auf welche Motivlagen die Berufswahl zurückzuführen ist; woraus sich das Gefühl einer Berufung für diese Tätigkeit speist und welches die Motiviertheit des beruflichen Handelns von Galeristinnen und Galeristen ist. Welche »Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata«11 strukturieren den beruflichen Alltag von Galeristinnen und Galeristen, welche sinnstiftenden Wertsetzungen ihre Deutungsmuster? In welchen Berufsauffassungen werden sie manifest? Von Interesse ist ferner, wie es Galeristinnen und Galeristen gelingt, geschäftliches Kalkül und Hingabe an die Sache – die Passion für die Kunst – miteinander zu vereinbaren; woraus sie das »charismatische Selbst-Vertrauen«12 schöpfen, über die »prophetische« Gabe zu verfügen, im Unbekannten ein vielversprechendes Potenzial zu erkennen, das die riskanten Investitionen langfristig rechtfertigt und welche Gestalt letztlich diese Selbstcharismatisierung annimmt.

Diesen Fragen nach den Voraussetzungen für eine berufliche Bewährung gehe ich in elf Fallstudien nach, die auf Galeristinnen und Galeristen fokussieren, welche ein international rezipiertes Programm aufgebaut und sich im Zentrum des Kunstfeldes etabliert haben. Ich nehme mit anderen Worten ein Segment in den Blick, in dem sich mit größerer Wahrscheinlichkeit Galeristinnen und Galeristen finden, die aufgrund ihrer Deutungsmacht an der Selektion jener Kunst beteiligt sind, welche als für die Nachwelt aufbewahrungswürdig befunden wird und die Chance auf Aufnahme in den kunsthistorischen Kanon hat. In ihren Programmen vertreten sind folglich Künstlerinnen und Künstler, die Kunsthallen und Museen – die wichtigsten »Konsekrationsinstanzen«13 – bespielen und deren Werke im Besitz der prominentesten Museumssammlungen sind. Gleichzeitig handelt es sich um Galerien, die an den prestigeträchtigsten Kunstmessen teilnehmen. Die Messepräsenz hat sich seit den 1990er Jahren zu einem Gütesiegel entwickelt, das in der Wahrnehmung der Feldakteure mehr als jede andere Positionierung für »Exzellenz« bürgt und Reputation stiftet. Geschätzt beteiligten sich 2008 rund 2 500 Galerien an internationalen Kunstmessen; die USA, Großbritannien und Deutschland waren mit insgesamt 40 Prozent der Aussteller mit Abstand am stärksten vertreten.14 Anhand der in dieser Studie versammelten Fallporträts soll die Bandbreite der habituellen Dispositionen, Motivlagen und beruflichen Selbstverständnisse der Eigentümerinnen und Eigentümer von Galerien ausgelotet und eine Typologie skizziert werden. In längeren Interviews, die zumeist in den Galerieräumlichkeiten stattfanden, wurden in Europa und in den USA 23 Galeristinnen und Galeristen (15 Frauen, acht Männer) zu ihrem Werdegang und zu ihrem Beruf befragt. Sie stammen größtenteils aus dem deutschsprachigen und angelsächsischen Raum und haben ihren Geschäftssitz mit einer Ausnahme entweder in der Schweiz, Deutschland, Großbritannien (insgesamt neun) oder in den USA (zwölf). Sie sind zwischen 1925 und 1975 geboren (über die Hälfte in den 1950er und 1960er Jahren) und haben ihre Galerien zwischen 1965 und 2005 eröffnet (sechs in den 1980er, elf in den 1990er Jahren). Zum Zeitpunkt des Interviews betrieben vier Galerien zusätzlich Filialen in anderen Städten, drei davon in einem anderen Land (2018 sind es zehn; davon sechs in einem anderen Land, davon vier auf einem anderen Kontinent, in den USA bzw. Europa).

Bevor in Kapitel 5 die Bildungs- und Berufsbiografien sowie Berufsauffassungen der interviewten Galeristinnen und Galeristen in Fallporträts dargestellt und typisiert werden, gilt es zunächst, in Kapitel 2 die Desiderate aus dem Forschungsstand abzuleiten, die wesentlichen analytischen Kategorien (Habitus, Deutungsmuster) einzuführen und das methodische Vorgehen zu erläutern. Sodann werden in Kapitel 3 Genese bzw. Ausdifferenzierung des Kunsthandels in einen primären und einen sekundären Markt skizziert, aus der im späten 19. Jahrhundert der Typus der modernen Programmgalerie hervorgeht. Diese wird in Relation zu den Kunstproduzenten sowie zu anderen Institutionen und Akteuren der Vermittlung und Bewertung im Feld der Gegenwartskunst (Museen, Kunsthallen, Sammler, Kuratoren, Kritiker) situiert, aus deren Zusammenspiel die Konsekration, d. h. Weihe, von Künstlerinnen und Künstlern erst resultiert. Zu berücksichtigen sind dabei die feldspezifischen Spielregeln bzw. Logiken des Bewertens und der Machtallokation sowie die territoriale Konfiguration des Feldes. Schließlich ist in Kapitel 4 ausgehend vom hybriden Profil seiner Funktion – der Gleichzeitigkeit von inhaltlicher und warenförmiger Vermittlung – und den daraus fließenden Handlungsproblemen, die seine Arbeit strukturieren, der Galerist als Typus zu definieren: Er zeichnet sich aus durch a) die ökonomischen und symbolischen Risiken, die aus der Pflicht zur Innovation herrühren, b) das langfristige Arbeitsbündnis mit dem/der Künstler/in, in dessen Rahmen oft nicht nur die künstlerische, sondern eine ganze Lebenspraxis thematisch ist, und c) das Oszillieren zwischen wertrationalem und zweckrationalem sozialen Handeln. Einerseits muss er von der Passion für die Kunst beseelt sein, die ihn sowohl in seiner Beziehung zum Künstler (als Partner) als auch für den Sammler (als integren Vermittler) glaubwürdig macht; andererseits erfordert sein Beruf Kalkül – den Geschäftssinn, der nötig ist, um Kunst zu verkaufen und den Galeriebetrieb aufrechtzuerhalten. Das berufliche Handeln von Galeristinnen und Galeristen soll dabei als unternehmerisches Handeln und folglich als eine spezifische Form charismatischen Handelns begriffen werden: Die Sichtbarmachung neuer bzw. noch nicht validierter Kunst beruht stets auf einer Behauptung, von der sich erst in der Zukunft erweisen wird, ob sie vernünftig war.

2.Konzeptuelle Grundlagen und methodisches Vorgehen

2.1Forschungsstand

Das Galeriewesen bleibt ein angesichts seiner Bedeutung für die jüngere Kunstgeschichte zu wenig untersuchter Gegenstand. 1996 schrieb der amerikanische Soziologe András Szántó, die Galerie sei die im Kunstfeld am wenigsten erforschte Institution; 2012 konstatierte die französische Historikerin Julie Verlaine ein solches Defizit in Bezug auf Frankreich in den Nachkriegsjahren. Dies mag angesichts der Schlüsselrolle der Programmgalerie und, mehr noch, der präzedenzlosen, nicht zuletzt territorialen Expansion des Kunstfeldes seit der Jahrhundertwende einigermaßen erstaunen, in deren Verlauf gerade die warenförmige Vermittlung, der Kunstmarkt, nach den 1980er Jahren erneut – und unübersehbar – über das Kunstfeld hinaus ins Blickfeld geraten ist.

Der Kunsthandel im Allgemeinen ist Gegenstand zahlreicher historischer Arbeiten; eine diachrone Perspektive nehmen z. B. die Studie von Gerald Reitlinger (1961) zu den Gemäldepreisen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert oder die Monografie von Malcolm Goldstein (2000) zum Kunsthandel in den Vereinigten Staaten ein. Die meisten (kunst-)historischen Beiträge verbinden einen epochenspezifischen Zugang mit einem lokalen oder regionalen Fokus, typischerweise auf ein (historisches) Zentrum des Kunstfeldes.15 Einen größeren Teil der Literatur bzw. Publizistik zum Galeriewesen machen (Auto-)Biografien, Porträts oder Selbstzeugnisse von Galeristen aus, deren zentrale Position durch die Kunstgeschichte bezeugt ist und/oder die noch berufstätig sind.16 Sie sind für diese Untersuchung hauptsächlich von heuristischem Interesse. Ihre auffallend große Zahl ist zum einen – auch wenn es sich um tendenziell im Hintergrund agierende Intermediäre handelt – mit den strukturell notwendigen charismatischen Dispositionen von Galeristinnen und Galeristen zu erklären, die leicht zu heroisierenden (Selbst-)Stilisierungen führen können, und zum andern (und wohl in erster Linie) mit der im Kunstfeld zentralen Bedeutung von Reputation und Konsekrationsmacht, die sehr ausgeprägt an Individuen gebunden sind.

Aufschlussreiche Einblicke in die Organisations- und Funktionsweise von Galerien, d. h. in die Berufspraxis, bieten Studien, die räumlich fokussieren und sich zum Teil auf die Archivbestände der untersuchten Galerien stützen. Dazu zählen die neueren Arbeiten von Julie Verlaine zu Paris von 1944 bis 1970 (2012) und der Kunsthistorikerin Daniela Wilmes zu Köln in den Nachkriegsjahren (2012), aber auch der Beitrag von Szántó zu New York in den 1980er Jahren (1996). Zwei unterdessen klassische kunstsoziologische Studien skizzieren den Galeristen als das Risiko nicht scheuenden, unternehmerischen Typus im Schumpeter’schen Sinne bzw. betonen das seinem beruflichen Handeln innewohnende spekulierende Moment: Le marché de la peinture en France (1967) von Raymonde Moulin sowie, erstmals 1965 aufgelegt, Canvases and Careers. Institutional Change in the French Painting World von Harrison C. White und Cynthia White (1993). Beide führten den Galeristen im Zusammenhang mit dem Impressionismus als zentralen Akteur des (autonomen) Kunstfeldes ein. Doch erst Der Galerist – Versuch einer soziologischen Strukturanalyse von Ulrich Oevermann (1997) bot eine systematische, idealtypische Konturierung des Galeristen als spezifisch moderne Ausprägung des Kunsthändlers und seiner Handlungsprobleme.17

Die an die unternehmerische Eigenschaft des Galeristen gekoppelte Frage der Position bzw. Positionierung von Galerien (einschließlich des gatekeeping) untersuchen soziologische Fallstudien zum Einfluss der Verbindung von Galerie und Künstler auf deren jeweilige Position, die sich auf das territoriale Zentrum des Kunstfeldes, Paris (Zwischenkriegszeit) bzw. New York (nach dem Zweiten Weltkrieg), konzentrieren.18 Dem für die Berufspraxis von Galeristen zentralen Verhältnis zwischen symbolischem und ökonomischem Wert bzw. der ökonomischen Bewertung von Kunst widmen sich kunsthistorische, ökonomische und soziologische Arbeiten.19 Unter letzteren ist die qualitative Studie von Olav Velthuis hervorzuheben, der sich mit der Preissetzung in der Galerie anhand holländischer und amerikanischer Beispiele befasst. Annäherungen an die Frage des beruflichen Selbstverständnisses bietet Hans Peter Thurns epochenübergreifende Monografie Der Kunsthändler. Wandlungen eines Berufes von 1994, einer der seltenen Versuche, die Geschichte dieses Akteurs und seiner modernen Variante, des Galeristen, aufzuarbeiten. Thurns Skizzen historisch relevanter Figuren sind mit Typisierungen durchzogen. Diese setzen allerdings auf verschiedenen Ebenen an, d. h. können ein Selbstverständnis andeuten, sind aber bisweilen rein deskriptiv oder beschränken sich auf die Benennung von Kernfunktionen. So sieht Thurn im New Yorker (Fotografen) Alfred Stieglitz (1864–1946) einen »Promoter« und im New Yorker Textilindustriellen und Sammler Sidney Janis (1896–1989), der sowohl kanonisierte europäische Kunst als auch amerikanische Nachkriegsavantgarde und Pop Art vermittelte, einen »Kunstkaufmann«. Doppelrollen bezeichnet Thurn als solche: Der literarisch tätige Berliner Verleger und Galerist Paul Cassirer (1871–1926) ist ein »marchand créateur«, die New Yorkerin Betty Parsons (1900–1982) eine »Künstlerin-Händlerin«, die eine »Produzentengalerie« betreibt (Fälle mit mehr als einer Funktion sind im Sample der vorliegenden Studie vertreten; sie repräsentieren zwar keinen Typus, lassen sich aber ein und demselben Typus zuschreiben)20. In der Pariserin Denise René (1913–2012) mit dem Selbstverständnis einer »marchande militante« erkennt Thurn eine »missionarische Mentalität«. Unter den Vertretern der westdeutschen Generation der 1950er und 1960er Jahre macht er drei Typen aus: erstens den als Galeristen letztlich scheiternden »intellektuellen Agenten in der Tradition des 18. Jahrhunderts, den ›connaisseur‹ doch ›marchand‹ wider Willen«; zweitens den intellektuell Ehrgeizlosen – kein »Kommentator«, sondern ein »Markteroberer« –, der »sich ganz auf die praktischen Seiten des Geschäfts, auf den konkreten und direkten Umgang mit Künstlern, Werken, Käufern« konzentriert und insofern gewisse Züge mit niederländischen Händlern des 16. und 17. Jahrhunderts teilt, in seiner Beharrlichkeit aber auch mit frühen Galeristen wie Durand-Ruel oder Vollard verwandt ist; und drittens den »beredt« nach außen tretenden Typus, der »Kulturpflege« und »Marktsondierung« mit »sorgfältigem Management« verbindet.21

Das Selektionskriterium zur Generierung von Fallmaterial für diese Studie (eine zentrale Position im Kunstfeld) schließt den ersten dieser Typen (den scheiternden Connaisseur) quasi von vornherein aus. Thurns zweiter und dritter Typus verweisen auf basale Aspekte von Berufsauffassungen und -praxis (Vermarktung, inhaltliche Vermittlung), die Voraussetzungen für das Gelingen des Unterfangens eines Galeristen sind. Deshalb ist mit Blick auf die in Kapitel 4 vorgenommene Bestimmung des Galeristen als spezifisch modernen Typus Kunsthändler davon auszugehen, dass sie (unterschiedlich ausgeprägt) bei den meisten interviewten Galeristinnen und Galeristen manifest sind. Einen Typisierungsversuch unternimmt auch Verlaine, die für die Pariser Galerien der Nachkriegszeit zwei Betriebsarten (»modes d’organisation«) herausgearbeitet hat, die etwa gleich häufig vorkommen und nicht zwingend vom Umfang der finanziellen Ressourcen abhängen: das Unternehmen bzw. die Firma (»entreprise«) und den Verein oder die Vereinigung (»association«) mit dem Galeristen als Teamleiter (»chef d’équipe«).22 Den ersten Typus kennzeichnet die hierarchisch auf den Galeristen zugeschnittene Organisation und Delegierung der Aufgaben, den zweiten Typus eine eher informelle Arbeitsteilung mit tendenziell weniger Angestellten, an deren Stelle Personal punktuell angeheuert wird. Gleichwohl weist Verlaine dem Typus Firma de facto eine zentralere Position als dem Typus Verein zu, insofern als sie einen kausalen Zusammenhang zwischen der Betriebsart der Galerie und ihrer Position herstellt: Je umfassender und verbindlicher die Verpflichtungen gegenüber Künstlern und Werken – sprich: je umfassender die Betreuung –, desto eher sei ein »Dispositiv« erforderlich, um diesen nachzukommen. Ein solcher Organisationstyp entspricht tendenziell dem vom Marcia Bystryn skizzierten »markt-orientierten« Typus Galerie.23

Der Fragestellung der vorliegenden Studie am nächsten ist die soziologische und ethnografische Analyse von Szántó (1996). Er entwirft anhand dreier kontrastierender Fallporträts eine Typologie des Unternehmensprofils der New Yorker Galerien der 1980er Jahre, die als Manifestationen des Selbstverständnisses ihrer Eigentümer betrachtet werden können: erstens »Professionalität« im Sinne eines effizienten Managements, das auf einer rationalen bürokratischen Organisation basiert; zweitens »Engagement/Verbindlichkeit« als dauerhafte Treue zu Künstlern abseits kurzfristiger Trends; drittens »Affinitäten« im Sinne eines demografisch relativ homogenen Programms, das als familienähnlicher Verband funktioniert (nicht zufällig handelt es sich um die jüngste der drei Galerien). Der zweite Typus »Engagement/Verbindlichkeit« verweist, ähnlich wie gewisse Typisierungen von Thurn, auf ein konstitutives Merkmal der modernen Programmgalerie. Jedoch lassen sich die beiden anderen (»Professionalität« und »Affinitäten«) zu zwei im Rahmen dieser Studie rekonstruierten Typen des beruflichen Selbstverständnisses in Beziehung setzen: Betriebsführung bzw. Wahlverwandtschaften.

Die durch die feldspezifische »illusio«24 vorgegebene Fixierung auf das Individuum, das sich erst durch als singulär wahrgenommene Leistungen überhaupt für Positionen im Kunstfeld qualifiziert und sichtbar wird, mag zum Teil erklären, weshalb die Soziologie (gewissermaßen gegen den Strich) bisher zwar Strukturen – genauer: Netzwerke – auf der Ebene der Interaktion zwischen der Institution Galerie und anderen Akteur-Typen erforscht hat (Galerie-Künstler, Galerie-Galerie, Galerie-Künstler-Kritiker usw.), jedoch nicht die Strukturen in den sie betreibenden Individuen (habituelle Dispositionen, sinnstiftende Wertsetzungen, Deutungsmuster), die berufliches Handeln und berufliche Interaktionen (z. B. Genese und Struktur beruflicher Netzwerke) bestimmen und in einem günstigen Passungsverhältnis zur Bewältigung ihrer Handlungsprobleme stehen. Bisher fehlte eine solche kultursoziologische Perspektive auf die Betreiber und Betreiberinnen von Galerien, die Erkenntnisse über Sinnzusammenhänge und Wertsetzungen verspricht, welche ihr Handeln strukturieren und normieren.

2.2Theoretische Bezüge und Begrifflichkeit: Habitus, Deutungsmuster

Mit der vorliegenden Studie soll deshalb versucht werden, eine Lücke zu schließen und das idealtypische Profil von Galeristinnen und Galeristen in Bezug auf ihre habituellen Dispositionen, Motivlagen, Wertsetzungen und Deutungen zu rekonstruieren. In der Studie wird mit anderen Worten der Frage nachgegangen, welches die individuellen Voraussetzungen für die Eröffnung einer Galerie und die Ausübung des Galeristen-Metiers sind. Sie leistet damit einen Beitrag zum besseren Verständnis von Funktionsweise und Dynamik der zeitgenössischen Vermittlung und insofern auch des Zustandekommens von Kunst. Forschungsleitend ist die Prämisse, dass der Lebenspraxis und folglich auch dem beruflichen Handeln strukturierende habituelle Dispositionen und Deutungsmuster zugrunde liegen, die abhängig von der Tiefe ihrer Verankerung unterschiedlich stark der Reflexion zugänglich sind. Die »Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen« werden von spezifischen »Existenzbedingungen«25 erzeugt; Dispositionen bilden sich hauptsächlich in »ontogenetischen Krisen der milieugebundenen Sozialisation«26 aus. Deutungsmuster, mit »Weltbildern« vergleichbar, sind »krisenbewältigende Routinen, die sich in langer Bewährung eingeschliffen haben und wie implizite Theorien verselbständigt operieren, ohne dass jeweils ihre Geltung neu bedacht werden muss«.27 Unter Krise ist ganz allgemein »das je Überraschende und Unerwartete« zu verstehen, das aus »der Zukunftsoffenheit des Ablaufs von Praxis und der damit verbundenen Ungewissheit« resultiert.28

Basale Voraussetzungen des beruflichen Handelns von Galeristen wie die »charismatische Grundstruktur« (Peter Schallberger) oder die »Disposition zum Handeln« (Joseph Schumpeter) (vgl. Kapitel 4.4.2) sind habituell fundiert. Der Habitus »gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen«.29 Das Habitus-Konzept erfasst die Sedimente oder Spuren der kollektiven und milieuspezifischen Vergangenheit im Individuum und eignet sich deshalb dazu, die Herkunftskonstellationen der Galeristinnen und Galeristen in die Analyse miteinzubeziehen und nach der Tradierung von Dispositionen in der familialen Generationenfolge zu fragen, die für ihre Berufspraxis relevant sind. Damit sich ein Individuum (beruflich) bewähren kann, müssen dessen habituelle Dispositionen auf ihm affine Institutionen und Regeln treffen, deren Fortbestehen sie so gewährleisten. Die Wahrscheinlichkeit eines Passungsverhältnisses ist groß, da dem Habitus eine Art selbstimmunisierende Krisenfestigkeit eignet, insofern er gewissermaßen dazu tendiert, einen anschlussfähigen Kontext anzusteuern bzw. ein Individuum tendenziell einen für seine habituellen Dispositionen adäquaten Kontext (Feld, Beruf, Position im Feld usw.) aufsucht: »Durch die systematische ›Auswahl‹, die er zwischen Orten, Ereignissen, Personen des Umgangs trifft, schützt sich der Habitus vor Krisen und kritischer Befragung, indem er sich ein Milieu schafft, an das er so weit wie möglich vorangepasst ist […].«30 Umgekehrt überdauern die Strukturen eines Feldes (Normen, Konventionen, »illusio« usw.) nur deshalb, weil sie von dafür empfänglichen Individuen inkorporiert worden sind und auf diese Weise reproduziert werden.31

Auch bei (sozialen) Deutungsmustern handelt es sich um kollektive, in Traditionen eingebettete, d. h. historische Erzeugnisse, die in Bezug auf Handlungsmaximen und -strategien strukturierend wirksam sind. Sie verweisen auf das, was Karl Mannheim als die »Seinsgebundenheit allen Denkens und Erkennens«32 bezeichnet hat. »Sowohl an die biographische Herkunftskonstellation als auch an die Bedingungen einer spezifischen historischen Zeit können typische Lebensentwürfe, Wertvorstellungen und Urteilsformen angekoppelt sein, auf die sich der Einzelne in seinen lebenspraktischen Entscheidungen in irgendeiner Weise bezieht oder beziehen muss.«33 Deutungen und Wertsetzungen von Galeristen – konkreter: ihr berufliches Selbstverständnis, ihre Feldperzeption – sind somit stets auf den kollektiven Sinnzusammenhang hin zu analysieren, in welchen sie eingeschrieben sind. Für Galeristen beidseits des Atlantiks berufspraktisch relevant – nämlich im Hinblick auf die Initiierung und Gestaltung des Arbeitsbündnisses mit Künstlern – ist z. B. die Typisierung des im Umgang »schwierigen Künstlers«. Sie verweist auf ein für das autonome Kunstfeld konstitutives und äußerst wirkungsmächtiges Deutungsmuster: den Künstler als Genie, der unangepasst, ja exzentrisch ist und dem Galeristen deshalb spezifische Formen der Interaktion abverlangt. Als Deutungsmuster erweist sich diese Typisierung aufgrund ihrer räumlichen und zeitlichen Reichweite. Die »Würde« des Künstlers führt der Kulturhistoriker Wolfgang Ruppert auf dessen als außerordentlich – »genial« – wahrgenommene Begabung zur Fantasie zurück, die ihm seit dem späten 18. Jahrhundert attestiert wird. In einer bürgerlichen Gesellschaft hob ihn das »Prestige der schöpferischen Individualität […] in eine mit der Oberschicht nahezu gleichwertige Position«34 und erlaubte ihm eine außerordentliche – nonkonforme –, von jener ordentlichen des Bürgertums abweichende Lebensführung.35 In der folgenden Sequenz verknüpft ein Galerist die Typisierung des »schwierigen Künstlers« mit einem ebenfalls verbreiteten Wahrnehmungsmuster, das europäischen und amerikanischen Galerien divergierende Stile der beruflichen Praxis zuschreibt, um zu erklären, weshalb die bilateral ins Auge gefasste Zusammenarbeit mit einer profilierten New Yorker Galerie letztlich nicht zustande gekommen ist: »Es ist halt so eine amerikanische Galerie.« Auf die Frage des Interviewers, was das heiße, führt er aus:

Die machen gewisse Dinge mit, und manche machen sie auch eben nicht mit. […] und ich kann jetzt da irgendwie [K.] mal abends, nachts aus [L.] anruft oder so, das finden die dann schon ganz schlimm. Also, das können die schon gar nicht ertragen. Also, das ist halt irgendwie auch so eine Sache, die wollen gar keine schwierigen Künstler haben – zum Beispiel. ›We don’t show difficult artists‹, haben sie mal gesagt. Und das haben wir nur. Da gibt es gar keinen, der einfach ist. Manche tun so, als wären sie einfach. Aber gute Künstler sind wahrscheinlich nie ganz einfach (Interview Roland Klemperer, 2007).

Genauso wie habituelle Dispositionen sind Deutungen von Galeristinnen und Galeristen jeweils dahingehend zu befragen, inwiefern sie Ausdruck bzw. Varianten sozialer und/oder historischer Deutungsmuster sind und an tradierte Wissens- und Weltanschauungsbestände anschließen. »Auch wo es für das erlebende Subjekt den Anschein hat«, schreibt Karl Mannheim, »als kämen seine ›Einsichten‹, ›Intentionen‹ einfallsmäßig, sprunghaft und nur aus ihm, so stammen sie dennoch aus einer auch in ihm lebendigen (aber ihm reflexiv nicht bewussten) kollektiven Grundintention.« Deshalb gelte es, »in diese – gleichsam hinter dem Rücken des Einzelnen sich abspielende (d. h. in die reflexive Bewusstheit nicht hineinragende) – Ebene der Kollektivintentionen vorzudringen und den tieferen Zusammenhang der in einem Zeitalter oder in einer Strömung zustande kommenden isolierten Einzelbeobachtungen herauszuarbeiten – zu rekonstruieren«.36

2.3Methode und Darstellung

Als Datenbasis dienen der vorliegenden Studie erstens 22 Interviewtranskripte, neun in deutscher und 13 in englischer Sprache (in einem Fall wurden die beiden Geschäftspartner gemeinsam befragt), zweitens die jeweils im Anschluss an die Interviews erhobenen Eckdaten zur sozialen Herkunft und Biografie der 23 Interviewees und zur Galerie sowie drittens deren Internetseiten und vereinzelt publizistische Erzeugnisse (Monografien, Kataloge, Presseartikel).37 Die 2007, 2009 und 2010 entstandenen themenzentrierten Interviews dauerten in den meisten Fällen 60 bis 110 Minuten und fokussierten zum einen auf Bildungs- und Berufsbiografie und zum andern auf Berufspraxis, -auffassung und Perzeption des Kunstfeldes. Ein Themenkatalog, der im Verlauf der Untersuchung dem Kenntnisstand zu Feld und Beruf leicht angepasst wurde, gewährleistete, dass trotz des variablen, spontanen Gesprächsverlaufs, der über weite Strecken den Gedankengängen und Assoziationsketten der Interviewees folgte – also die sich in ihrer jeweiligen Sequenzialität entfaltende Lebenspraxis möglichst nichtediert einfing –, die Impulse und Interventionen des Interviewers inhaltlich einigermaßen homogen waren. In den Falldarstellungen sind sowohl Personen- als auch Ortsnamen weitestgehend anonymisiert. Desgleichen sind Jahreszahlen und Angaben zum Alter einer Galerie oder Person oder zur Dauer einer Tätigkeit in der Regel approximativ.

2.3.1Grounded Theory

Die nicht-standardisierende Erhebungsmethode generierte Datenmaterial, das weitgehend nicht vorstrukturiert war und sich für ein interpretativ-rekonstruktives Auswertungsverfahren besonders gut eignete. Ein solches bietet sich angesichts der explorativen Anlage der Studie an, in der es nicht darum ging, »Beziehungen zwischen Variablen« bzw. Hypothesen zu überprüfen, sondern in Anlehnung an die Grounded Theory in einem iterativ-zyklischen Prozess »relevante Kategorien und ihre Beziehungen untereinander« zu entdecken und »gegenstandsverankerte« Theorien zu generieren38 – d. h. Idealtypen zu konstruieren. Dabei alternierten materiale Analyse und Datenerhebung:

Anstatt Datengewinnung, Datenanalyse und Theoriebildung als nacheinander zu bewältigende Arbeitsschritte anzulegen, besteht die Forschungslogik der GT gerade darin, dass alle drei Tätigkeiten parallel betriebene Modi des Forschens sind, die sich gegenseitig produktiv beeinflussen. Analytische Ideen bei der Auswertung der Daten sollen nicht nur die Entwicklung der gegenstandsbezogenen Theorie beeinflussen, sie wirken auch, ebenso wie die Theoriegenese selbst, auf den Prozess der Datengewinnung zurück.39

Letztere erfolgte konsequenterweise unter Anwendung des »theoretical sampling«, einer in dem Sinne theoretisch kontrollierten Erhebungsmethode, als die aus der Datenanalyse gewonnenen Erkenntnisse die Auswahl neuen Datenmaterials lenkte.40

Da innerhalb des vorweg definierten Segments ein möglichst breites Spektrum berücksichtigt werden sollte, wurde jeweils im Anschluss an eine Fallanalyse bezüglich eines oder mehrerer der interessierenden Merkmale (Alter, Geschlecht, soziale Herkunft, Ausbildung, Geschäftssitz usw.) gedankenexperimentell ein maximal kontrastierendes Profil erstellt, an dem sich die nächste Etappe der Datengewinnung orientierte. Kontrastlinien ergaben sich folglich immer wieder erst im Verlauf der Datenanalyse, weil gerade Herkunftskonstellationen und Biografien selten vorweg bekannt sind. Im besten Fall kann dieses Auswahlverfahren so lange fortgesetzt werden, bis die Analyse neuen Datenmaterials keine neuen Einsichten zum Untersuchungsgegenstand und seinen Ausprägungen generiert, sich also eine theoretische Sättigung einstellt. Ein solches kontrastives Forschungsdesign zielt somit (im Sinne einer Strukturgeneralisierung) auf generalisierbare Aussagen zur Beschaffenheit des Gegenstandes, nicht jedoch auf Aussagen über die Häufigkeit des Auftretens seiner Ausprägungen in der empirischen Wirklichkeit (im Sinne einer empirischen Generalisierung bzw. statistischer Repräsentativität).41 Forschungspraktisch mussten bei der Datengewinnung einige Kompromisse in Kauf genommen werden, die sich zum Teil auf die Kontrastierung der Fälle und den Sättigungsgrad der Ergebnisse auswirken. Interviewtermine konnten häufig erst durch die Vermittlung eines bereits interviewten Falls vereinbart werden. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Minimierung der Kontraste und einer merkmalsmäßig eher partiellen Erfassung des untersuchten Segments Galerien.

2.3.2Auswahl der Fälle, Kontrastierungen

Die in dieser Studie betrachteten Eigentümerinnen und Eigentümer von Galerien nehmen eine relativ bis sehr zentrale Position im Feld der Gegenwartskunst ein. Diese zentrale Position ist gleichbedeutend mit Deutungsmacht, d. h. einer Synthese aus symbolischem, sozialem und ökonomischem Kapital, deren Produkt die »Konsekrations- und Legitimationsmacht«42 einer Galerie ist. Diese Macht ist in der Präsenz von Werken (als Ausstellungs- und/oder Sammlungsobjekte) von Künstlern aus dem Galerieprogramm in den angesehensten Museen und Schauräumen objektiviert. Da Messen sich seit den 1990er Jahren nicht nur für die Distribution, sondern bereits für die Rezeption von Kunst zu vitalen Drehscheiben für die Geschäftstätigkeit von Galerien entwickelt haben und sich unter den Ausstellern folglich gerade auch die deutungsmächtigsten finden, können die prominentesten Messen als sich temporär manifestierende Zentren des Primärmarktes betrachtet werden. Die Position einer Galerie lässt sich also neuerdings nicht nur anhand der Präsenz der von ihr vermittelten Kunst in Museen und Kunsthallen erschließen, sondern bis zu einem gewissen Grad auch an ihrer Teilnahme an Messen ablesen.43 Als weltweit führende Messe für Gegenwartskunst gilt spätestens seit der Jahrhundertwende die Basler Ausgabe der Art Basel. Der Messeauftritt in Basel ist im Berufsfeld zu einem relativ verlässlichen Indiz dafür geworden, dass eine Galerie sich im Zentrum des Feldes positionieren konnte. Relativ ist es deshalb, weil das Messereglement den Bewerbern bloß drei Jahre ununterbrochene Geschäftstätigkeit vorschreibt und diese kurze Dauer a priori noch keine Auskunft darüber gibt, ob es der Galerie gelingen wird, ihre Position auch längerfristig zu behaupten. Der zur Generierung von Datenmaterial für diese Studie eingesetzte verhältnismäßig engmaschige Filter (mindestens eine Teilnahme an der Art Basel) verhindert demnach nicht, dass die Datenbasis abgesehen von Variation hinsichtlich Merkmalen wie Geschlecht, soziale Herkunft, Bildungs- und Berufsbiografie, Geschäftssitz oder Größe der Galerie (Personal, Programm, Ausstellungsfläche, Anzahl Niederlassungen) auch eine markante generationelle Streuung aufweist. Eine solche Kontrastierung drängt sich auf, weil sich die Handlungsbedingungen (und zum Teil auch das Tätigkeitsprofil) seit den 1960er Jahren markant verändert haben. Ferner sollten amerikanische Galeristen im Sample deshalb nicht fehlen, weil diese aufgrund der wesentlich geringeren Dichte an Museen und nichtkommerziellen Schauräumen in den USA für die Vermittlung von Gegenwartskunst eine kritischere Rolle als in Europa spielen.

Das Ziel dieser Untersuchung besteht in der Rekonstruktion idealtypischer Rollenprofile von im Feld der Gegenwartskunst tätigen Galeristinnen und Galeristen in Bezug auf ihr Selbstverständnis und ihre habituellen Dispositionen. Diese Typisierung soll das Spektrum diesbezüglicher Varianten ausloten. Anhand kontrastierender Fallporträts sollen jene Dispositionen und (Selbst-)Deutungen herauspräpariert werden, die es ihnen ermöglichen, ihr Metier im Zentrum des Kunstfeldes auszuüben. Idealtypen sind im Anschluss an Max Weber als eine Art selektive Abstraktionen zu begreifen; sie sind weder Beschreibungen noch Hypothesen, sondern werden durch die Isolierung und kausale Verknüpfung ausgewählter Aspekte eines interessierenden Phänomens der empirischen Wirklichkeit konstruiert:

Dieses Gedankenbild vereinigt bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge. Inhaltlich trägt diese Konstruktion den Charakter einer Utopie an sich, die durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist. Ihr Verhältnis zu den empirisch gegebenen Tatsachen des Lebens besteht lediglich darin, dass da, wo Zusammenhänge der in jener Konstruktion abstrakt dargestellten Art […] in der Wirklichkeit als in irgend einem Grade wirksam festgestellt sind oder vermutet werden, wir uns die Eigenart dieses Zusammenhangs an einem Idealtypus pragmatisch veranschaulichen und verständlich machen können.44

Der Idealtypus gibt eine Vergleichsfolie ab, die wie ein Korrekturfilter überzeichnend (idealisierend) Kontraste schärfer hervortreten lässt.

Er ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ›eigentliche‹ Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird.45

Bereits für die Erzeugung von Variation bzw. Kontrasten, die bei der Datenerhebung bezüglich der erwähnten Merkmale angestrebt wurden, kamen unter Umständen Typisierungen zur Anwendung, die Züge eines Idealtypus aufweisen. Darunter fällt etwa die im Kunstfeld verbreitete Perzeption einer Arbeitsteilung oder eines Ausbeutungsverhältnisses: die Unterscheidung zwischen Galerien, die als die ersten kommerziellen Vermittler junger Künstler und insofern als die eigentlichen gatekeeper des Kunstmarktes fungieren, am einen Pol und Galerien, die erstere als Reservoir nutzen, am anderen Pol eines Status- oder Prestige-Kontinuums. Den gatekeeping -Begriff verwende ich in einem doppelten Sinn. Einerseits ist damit die Funktion bzw. Eigenschaft der Programmgalerie an sich benannt. Andererseits dient er der Unterscheidung zwischen Galerien, die deutlich häufiger als andere (junge) Künstler zum ersten Mal zeigen, und solchen, die deutlich häufiger als andere Künstler rekrutieren, die bereits von Galerien vertreten werden, und deutlich mehr etablierte Künstler im Programm und so mehr Konsekrationsmacht haben. Letztere beginnen sich für ein künstlerisches Werk zu interessieren, wenn dieses erste institutionelle Anerkennung gefunden hat. Sie heben es in ein höheres Preissegment, machen es damit für ein neues Kundensegment sichtbar und vermitteln es in prestigeträchtige Sammlungen. Es handelt sich bei dieser Arbeitsteilung um ein Strukturprinzip des Kunstfeldes, in dem Positionen allerdings nur in den wenigsten Fällen zementiert sind und Positionierungen von Künstlern und Galerien diesbezüglich unablässig Verschiebungen herbeiführen bzw. solchen ausgesetzt sind. Katherine Giuffre hat basierend auf einer Netzwerkanalyse dieses Phänomen in der Formel »sandpiles of opportunity« auf den Punkt gebracht:

Career ladders in the art world are not so much ladders as they are sandpiles. The movement of actors within the field changes the shape of the field. Movements affect not only the status of people directly tied to the vacancy chain created by one job change but also the entire network of indirectly tied actors […]. This is true both in social space and across time. Histories of past associations continue to reverberate in actors’ present-day status.46

Die Arbeitsteilung zwischen entdeckenden und konsekrierenden Galerien ist sowohl für Paris in den 1920er Jahren als auch für New York in der Nachkriegszeit (für die Rezeption des Abstrakten Expressionismus) dokumentiert. Fabien Accominotti weist in seinem Beitrag zu Paris darauf hin, dass die gatekeeper wesentlich mehr Künstler als mächtigere Galerien zeigen, jedoch viele nur genau einmal.47 Marcia Bystryn, die zu New York gearbeitet hat, unterscheidet zwischen auf die Künstler (»artist-oriented«) und auf den Markt (»market-oriented«) fokussierenden Galerien: »Type one is characterized by its fostering of invention, allocation of symbolic rewards to the artist, personal ties with the artist, cultural goals, personnel who are artists themselves, and close connections with the artistic community. Type two is more involved with innovation than invention, rational economic goals, allocation of monetary rewards to the artist, business personnel, and close ties with the institutionalized art market.«48 Innovation besteht gemäß diesem Verständnis aus zwei Schritten: erstens aus der »Erfindung« als Hervorbringung bzw. In-die-Welt-Setzen von Neuem – in der Schumpeter’schen Terminologie: einer »neuen Kombination« – und zweitens aus der »Innovation« als Einführung bzw. In-den-Gebrauch-Bringen besagter »Erfindung«. Nur Letzteres entspricht der Durchsetzung einer neuen Kombination, d. h. dem unternehmerischen Handeln im Schumpeter’schen Sinn.

Eine Variante beruflicher Bewährung besteht in der Transformation vom gatekeeper zur konsekrierenden Agentur. Dabei besteht für einen Galeristen die nicht zu überbietende Leistung darin, dass dieser Verlauf mit der Entdeckung von Künstlern begonnen hat, die diesen Aufstieg, d. h. die Akkumulierung symbolischen Kapitals, parallel im Rahmen des andauernden Arbeitsbündnisses gleichermaßen vollziehen. Diese Transformation beschreibt ein New Yorker Galerist bildhaft: »There wasn’t a dealer on the planet that wanted to work with her when I started working with her. Now, there’s a queue at the door« (Interview Stanley Lowell, 2010). Die Transformation wird aber auch beiläufig in einer Reportage über einen der mächtigsten Galeristen der Gegenwart, den Deutschen David Zwirner, referiert, der 1993 in New York begann und unterdessen in London (seit 2012) sowie Hongkong (seit 2018) weitere Niederlassungen unterhält: »In the beginning, Zwirner’s program was fairly radical and rigorous, with a roster of under-recognized, experimental artists […]. His gallery was a lean operation […]. As he grew, he took on artists from other galleries and brought in some rising stars from Europe […].«49 Einem Gedankenbild (Weber) ähnlich kondensiert die Passage diese Transformation auf wesentliche Positionierungen, die eine Galerie in der Regel auch im Zentrum des Feldes vollziehen muss, will sie von einer relativ peripheren zu einer zentralen, dominierenden Position gelangen: vom anfangs aus noch nicht etablierten Positionen bestehendem Programm, verbunden mit bescheidenen finanziellen und personellen Ressourcen, zur Expansion durch die Rekrutierung bereits arrivierter Künstler bei anderen Galerien, einschließlich jenseits des Atlantiks.

Eine berufliche Bewährung kann aber umgekehrt auch genau dann vorliegen, wenn Künstler einer Programmgalerie regelmäßig von anderen Galerien, die substanziellere materielle und symbolische Gewinne und komfortablere Arbeitsbedingungen verheißen, abgeworben werden. Für diesen Typus des gatekeeper steht eine New Yorker Galerie, deren Betreiber die arbeitsteilige Funktionsweise anschaulich beschreibt:

We kind of launched a lot of artists here, artists that were not represented or had never been seen before. In the beginning we were able to kind of create these, well, helped the artists really establish themselves internationally. But almost as soon as that happens, other galleries get involved, and it’s not easy to keep these artists. There’s a logic there too, because, when artists get bigger and get a stronger reputation, and when they’re more in demand and they want to produce more, they need more service. And we can’t provide them with that. We just don’t have the structure (Interview Emmett Cole, 2010).

Ein anderer Galerist mit einer ähnlichen Position stellt diese plausibel als die Konsequenz einer spezifischen Auffassung des Arbeitsbündnisses mit dem Künstler dar, die nur in einem kleinen Betrieb realisierbar ist (Interview Irina und Hans Bertschi, 2007). Die Auffassung verweist auf Bystryns Galerietypus, der auf den Künstler fokussiert, bzw. den von mir rekonstruierten wahlverwandtschaftlichen Typus, den eine besonders direkte, nichtvermittelte Beziehung zum Künstler auszeichnet.

2.3.3Objektive Hermeneutik und Fallrekonstruktion

Die Analyse der Interviewtranskripte orientierte sich zur Auswahl relevanter Sequenzen, deren Gruppierung, Kontextualisierung und Herstellung kausaler Zusammenhänge vornehmlich am Kodierverfahren der Grounded Theory, zur Interpretation der Textstellen an der sequenzanalytischen Methodologie der objektiven Hermeneutik.50 Anhand der sequenzanalytischen Auswertung der Interviewtranskripte können Dispositionen und Deutungen, die sich dem Bewusstsein der interagierenden Subjekte weitgehend entziehen, rekonstruiert werden. Das Verfahren zielt darauf ab, »auf der Basis von nicht-standardisiert erhobenen, ›natürlichen‹ Protokollen, d. h. von vom Untersuchungsgegenstand selbst edierten Ausdrucksgestalten oder von vom Forscher aufgezeichneten unselegierten Protokollen, begründete Schlüsse über die Motivierung jeder einzelnen protokollierten Äußerung und im nächsten Schritt über den inneren fallspezifischen Zusammenhang dieser Motivierung zu ziehen«.51 Statt inhaltsanalytisch das subjektiv Gemeinte zu paraphrasieren und unter vorab bestimmten Konzepten oder Kategorien zu subsumieren, sollen die in den »Ausdrucksgestalten« bzw. lebenspraktischen Äußerungen latent gegenwärtigen Dispositionen, Motivlagen und Wirklichkeitsdeutungen der Interviewees, die diesen nur beschränkt bewusst sind oder nicht explizit zur Sprache kommen, erschlossen werden.52 Unter »objektiv« ist nicht ein spezifischer Objektivitätsgrad der Analyse zu verstehen, sondern die objektive Geltung der bedeutungserzeugenden Regeln von Sprache bzw. des Handelns, unter deren Regime jedes Individuum operiert. Die Sequenzanalyse geht von der Prämisse aus, dass »alle Erscheinungsformen von humaner Praxis durch Sequenziertheit strukturiert bzw. konstituiert« sind, genauer: dass »jegliches Handeln und seine kulturellen Objektivierungen qua Regelerzeugtheit soziales Handeln sind. […] Jedes scheinbare Einzel-Handeln ist sequentiell im Sinne wohlgeformter, regelhafter Verknüpfung an ein vorausgehendes Handeln angeschlossen worden und eröffnet seinerseits einen Spielraum für wohlgeformte, regelgemäße Anschlüsse.«53 Dies hat analytisch ungemein effektiv und produktiv zur Folge, dass die in einem Gesprächsprotokoll an einer beliebigen Sequenzstelle vom Interviewee (gemäß ihn kennzeichnenden »Auswahlprinzipien«) gemachten Entscheidungen jeweils systematisch im Lichte der gedankenexperimentell explizierten, an besagter Stelle (gemäß allgemeinen »Erzeugungsregeln«) objektiv eröffneten Anschlussmöglichkeiten – der »für die Lebenspraxis selbst latent gebliebenen Bedingungsverhältnisse«54 also – interpretiert und so entsprechend scharf konturiert werden können.

Methodisch sichtbar gemacht werden mit der Sequenzanalyse demnach sowohl die latenten bzw. objektiven Möglichkeiten oder Bedeutungen bzw. Sinnstrukturen der in den Gesprächsprotokollen enthaltenen Ausdrucksgestalten als auch die jeweils eine realisierte Möglichkeit als der (nicht mit dem subjektiv Gemeinten zu verwechselnde) manifeste bzw. subjektive Sinn. Erst über den Umweg der an einer jeweiligen Stelle des Transkripts explizierten (objektiven) Optionen können letztlich die (individuellen) subjektiven Dispositionen, Motivierungen und Deutungen der Galeristinnen und Galeristen ermittelt werden. Dabei werden die bei der Analyse in Bezug auf eine Textstelle im Sinne von Hypothesen entwickelten »Lesarten« jeweils systematisch mit der nachfolgenden Sequenz konfrontiert und jene (also ihre Mehrheit) verworfen, die mit der realisierten Option nicht kompatibel bzw. durch diese falsifiziert worden sind. Die Entwicklung von Lesarten bzw. Hypothesen gilt analog für die Kontrastierung ganzer Interviewpassagen.55 Die konkret vorgenommene Auswahl ist als eine Funktion der »Dispositionsfaktoren« (Habitus, Motivierungen, Bewusstseinsformationen, Weltanschauungen usw.) zu betrachten. Aus deren Zusammenspiel resultiert die »Fallstruktur« einer Lebenspraxis (einer Person oder eines Kollektivs), die sich gemäß einer eigenen »Fallstrukturgesetzlichkeit« entfaltet, »die sich im lebensgeschichtlichen Vollzug von Entscheidungen und in der Übernahme von tradierten Entscheidungsroutinen gebildet hat«.56 Die Fallstrukturgesetzlichkeit »ist nichts anderes als die Explikation der Systematik und Regelmäßigkeit, mit der die immer wieder erkennbare konkrete Fallstruktur sich sequentiell reproduktiv entfaltet und von der die mögliche Transformation ihren Ausgang nimmt«.57

3.Das Feld der Gegenwartskunst

3.1Konfigurationen des Kunsthandels

Die Galerie spielt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine Schlüsselrolle im Feld der Kunst. Als Programmgalerie, die sich der zeitgenössischen Produktion verschreibt, partizipiert sie maßgeblich an der Bestimmung dessen, was als Kunst wahrgenommen wird und folglich als solche gilt. Die Rezeption neuer künstlerischer Positionen – angefangen beim Impressionismus über die klassische Moderne und die Avantgarden bis zu den seit den 1970er Jahren dominierenden Positionen – sowie deren kunsthistorische Einbettung und Kanonisierung waren und sind ohne die Förderung und Vermittlung durch Galerien kaum denkbar. Die französische Kunstsoziologin Raymonde Moulin hat den Galeristen als »clef de voûte«58 des Kunstbetriebs des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Die beiden amerikanischen Pioniere der soziologischen Erforschung des Kunstfeldes, Cynthia und Harrison White, sehen den Galeristen gar als eigentlichen Urheber des modernen Kunstsystems.59 Die »Innovationsverpflichtung«60 von Gegenwartskunst ist ein wesentliches Merkmal, das die Programmgalerie von einem älteren Typus Kunsthandlung unterscheidet: dem Kunsthandel im engeren Sinn bzw. reinen Kunsthandel, der sich auf die ökonomische Verwertung von Kunstwerken konzentriert und weder das mit der Investition in nicht etablierte Positionen einhergehende Risiko eingeht noch dem Druck ausgesetzt ist, der kulturellen Öffentlichkeit immerfort neue, »zeitgenössische« Werke zu zeigen. Die Begriffe »Galerie« und »Programmgalerie« werden im Folgenden synonym verwendet. Unter Programm ist nicht eine explizite inhaltliche Setzung zu verstehen (von der Galerie artikuliert oder – unter Umständen retrospektiv – von außen zugeschrieben), die mehrere Künstler unter einem Etikett als »Bewegung« oder »Richtung« mit einer Galerie assoziiert. Vielmehr soll unter »Programm« im weiteren Sinn eine längerfristige und exklusive Zusammenarbeit zwischen einer Galerie und einer Reihe von Künstlern verstanden werden, die nicht notwendigerweise einem gemeinsamen programmatischen Ansatz verpflichtet sein müssen.

3.1.1Vom »marchand-négociant« zum »marchand-entrepreneur«

Die Galerie ist ein Produkt des Autonomisierungsprozesses des Kunstfeldes. In dessen Verlauf transformierte sich die Beziehung zwischen Künstler und Sammler von einem asymmetrischen Auftragsverhältnis zu einem kontingenten Verhältnis zwischen zwei a priori nicht gebundenen Akteuren eines Marktes.61 Der Galerist »in seiner Gleichzeitigkeit als Waren- und Kunstvermittler« trat im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem Zeitpunkt in Erscheinung, als sich »in der gesellschaftlichen Entwicklung die Kunstproduktion als eigenständig ausdifferenziert« hatte und das Kunstwerk »als geistiges Gebilde autonom« geworden war.62 Ulrich Oevermann weist darauf hin, »dass die Notwendigkeit der Vermarktung eine hinzunehmende Folge der Autonomisierung der Kunst als geistesaristokratischer Erkenntnisleistung« ist.63 Die Anfänge des modernen Kunsthandels können am Übergang des Mittelalters zur Neuzeit verortet werden, als eine Autonomisierung der Kunst einsetzte, die langfristig zur Formierung eines autonomen künstlerischen Feldes führte.64 Noch im europäischen Mittelalter waren die meisten Werke, die ab dem 19. Jahrhundert von der Kunstgeschichte validiert werden sollten, in rituelle Kontexte integriert, »die ihnen ihre Bedeutung zuwiesen und die Art ihrer Wahrnehmung bestimmten«.65 Als Auftragsarbeiten, die kaum auf Intermediäre angewiesen waren, hatten sie oft weder einen Titel noch eine Signatur. Die »Lösung des Bildes von einer lokalen Aura«,66 die Säkularisierung der Sujets, die Repräsentationsfunktion von Kunst für die aufstrebenden bürgerlichen Schichten sowie die Ausbildung der Vorstellung vom Künstler als eines mit individuellen spezifischen Tugenden ausgestatteten Menschen während der Renaissance trugen zur Autonomisierung des Kunstwerks bei. Der erfolgreiche Maler oder Bildhauer – nun nicht mehr anonymer Meister bzw. Kunsthandwerker (artes mechanicae), sondern zeichnender gelehrter Künstler (artes liberales) – trat als Individuum und identifizierbarer Produzent hervor. Für den Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich hatten Künstlername, Titel und Preis »den Verlust zu kompensieren, der dadurch entstand, dass die Werke sich in keinem klar definierten situativen Gefüge mehr befanden, also nicht mehr Teil eines Gottesdienstes oder einer höfischen Machtinszenierung waren«.67 Diese »Freisetzung« machte die Bewertung von Kunst nicht nur inhaltlich schwieriger: »Zwischen Künstlern und Käufern ist eine Lücke entstanden, die definitorisch, im Hinblick auf den Sinngehalt und die Anschauungsleistung der Kunst, wie auch merkantil, bezüglich ihrer Wirtschaftsbedeutung und Markttauglichkeit, geschlossen werden muss.«68

Dieses interpretatorisch und merkantil aufzufüllende Vakuum und die wachsende wirtschaftliche Bedeutung des Kunstmarktes begünstigten langfristig die Emergenz eines neuen Akteurs, des spezialisierten Kunsthändlers. Der bürgerliche Typus,69 der oft eine künstlerische oder kunstnahe Ausbildung absolviert hatte, prägte sich zunächst in den Städten Flanderns und Hollands des 15. und 16. Jahrhunderts aus, wo die soziale Mobilität größer als in Norditalien war und das Marktgeschehen sich von der kirchlichen Bevormundung zu emanzipieren begann. Durchgesetzt hat er sich vermutlich erst im 17. Jahrhundert. In Frankreich war es den Mitgliedern der königlichen Akademie untersagt, Handel zu treiben.70 Das vormals zünftige Privileg der Maler, mit den eigenen Werken zu handeln, bestand im 18. Jahrhundert nicht mehr, und es waren unter anderem gescheiterte Künstler, die begannen, die Bilder anderer zum Kauf anzubieten.71 Die großen Händler kamen allerdings aus dem internationalen Geschäft mit Gemälden und Luxusgütern, dessen Zentrum im 17. Jahrhundert Amsterdam war. Anfangs private Agenten einzelner Sammler wurden sie zu wichtigen Mittelsmännern im Liquidationsprozess von Sammlungen des südeuropäischen Adels. Im Zuge des Abstiegs alter Adelsgeschlechter und der Zunahme der noblesse de robe bürgerlicher Herkunft im Ancien Régime spielten Kunsthändler bei privaten Transaktionen eine wesentliche Rolle. Schließlich eröffnete der Niedergang des zünftigen Systems auch die Möglichkeit, Gegenwartskunst anzubieten – insbesondere für das aufstrebende Bürgertum erschwingliche Staffeleibilder. Der Verkaufskatalog kam auf, und ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren es Kunsthändler, die bei Versteigerungen prestigeträchtiger Sammlungen die großen Ankäufe tätigten. Der deutsche Begriff des Kunsthändlers wurde zu dieser Zeit noch weit gefasst. In Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon findet sich 1737 erstmals der Versuch einer differenzierten Beschreibung von Beruf und Warenangebot; sie nennt die Spezialisierung auf Seltenheitsgüter, die Versorgung des Kenners und das kaufmännische Fachwissen.72

Die Position des Galeristen erweitert die Dyade Künstler–Mäzen bzw. Auftraggeber zur Triade, da seine Mittlerfunktion auf Deutungsleistungen beruht, die der wesentlich ältere, ausschließlich Waren vermittelnde Typus des Kunsthändlers nicht erbringt. Mit Kunstwerken handelnde Kaufleute, die sich gelegentlich als Kunstagenten betätigten, lassen sich wie erwähnt bis in das 15. Jahrhundert zurückverfolgen.73 Aus dem 16. Jahrhundert ist ein wachsendes Misstrauen von Künstlern – wie Vasari, Tizian oder Bernini, dem zufolge der Handel das künstlerische Urteil verdirbt – gegenüber der kaufmännischen Vermittlertätigkeit bezeugt. Abgesehen von den angezweifelten fachlichen Kompetenzen erregten vor allem die hohen Gewinne der Händler Anstoß, die in ihren Geschäftsverkehr mit den europäischen Höfen auch Kunstwerke einzubeziehen begannen. Im Kern finden sich hier bereits der »strukturelle Argwohn« und »strukturelle Reputationszweifel«,74 mit denen der Galerist im Kunstfeld konfrontiert ist. Das Misstrauen artikuliert selbst ein Soziologe – Pierre Bourdieu – nahezu ungebrochen:

Der Erfolg seines Unternehmens ist nur gewährleistet durch die Kaschierung von dessen Wahrheitsgehalt, das heißt der Ausbeutung, mittels eines fortwährenden Doppelspiels zwischen Kunst und Geld. Dieses Doppelwesen, ›Mischung von Geschäftstüchtigkeit und Harmlosigkeit‹, von berechnendem Geiz und Verrücktheit […], das heißt von Extravaganz und Generosität so gut wie von Schamlosigkeit und Unschicklichkeit, kann die Vorteile der beiden gegensätzlichen Logiken, die der interesselosen Kunst, in der allein symbolische Gewinne zählen, und die des Geschäftes, in sich […] vereinen […].75

Zum Galeristen wird der Kunsthändler, indem er durch Ausstellungen, die er regelmäßig in seinen Räumlichkeiten ausrichtet, an einer kulturellen Öffentlichkeit partizipiert.76 Hans Peter Thurn sieht die Galerie deshalb in der Nachfolge des bürgerlichen Salons.77 Die moderne Galerie als Typus definiert sich durch ihre Funktion der Sichtbarmachung und Vermittlung des Neuen. Konstitutiv für Berufsethos und berufliches Selbstverständnis dieses »marchand-entrepreneur« (»Unternehmer-Händler«, Moulin) oder »dealer-patron« (»Mäzen-Händler«, White und White) ist daher die scharfe Abgrenzung vom historischen Vorläufer (und Konkurrenten am Sekundärmarkt): dem Kunsthändler als »Bilderhändler« bzw. »marchand-négociant« (»Kaufmann-Händler«, Moulin), der ein beliebiges Sortiment anbieten kann, sich nicht auf Arbeitsbündnisse mit Künstlern einzulassen braucht und folglich im Ruf steht, alleine von kommerziellem Kalkül geleitet zu sein.78 Der Sprachgebrauch unter den Galeristen variiert zwar, doch werden die Begriffe Kunsthändler und »marchand d’art« stärker als »art dealer« mit dem reinen Handel bzw. Sekundärmarkt assoziiert. »Galeriste« löste im Französischen in den 1970er Jahren »marchand d’art« ab.79Art dealer bleibt im Englischen sehr gebräuchlich; »gallerist« tauchte zwar bereits in den 1960er Jahren als Lehnwort auf, war jedoch vor 1980 kaum in Umlauf und wurde in den USA noch vor wenigen Jahren als Neologismus und Übernahme eines kontinentaleuropäischen Konzepts wahrgenommen. In einem mit »Old Business, New Name: Behold the Gallerist« betitelten Beitrag der New York Times vom 24. Dezember 2005 mokiert sich der Präsident der Art Dealers Association of America: »Frankly, I’m not acquainted with it. I hope anyone calling himself a gallerist has a medical degree.« Doch auch im Englischen wird das Wort im Sinne der Abgrenzung von der rein warenförmigen Vermittlung (Sekundärmarkt) verwendet, d. h. mit der gleichzeitig inhaltlichen und warenförmigen Vermittlung (Primärmarkt) assoziiert. Hannes Loichinger führt die seit den späten 1980er Jahren deutlich häufigere Verwendung von »gallerist« auf die Ökonomisierung des Kunstfeldes zurück und damit auf den Bedarf nach einem Wort, das Distanz zur Kommodifizierung suggeriert.80 In sieben der 13 für diese Studie englisch geführten Interviews verwenden die Interviewees neben »(art) dealer« auch »gallerist«, allerdings bloß zwei amerikanische Galeristinnen explizit, um sich dadurch von den Konnotationen von »dealer« zu distanzieren.

An der Schnittstelle von Kunst- und ökonomischem Feld verkörpert der Galerist eine verstetigte Variante von Unternehmertum, das der Ökonom Joseph Schumpeter in seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (1926) als die Funktion der »Durchsetzung neuer Kombinationen« definiert, die verschiedene Formen annehmen kann, unter anderem auch jene der »Herstellung eines neuen […] Gutes«.81 White und White weisen im Zusammenhang mit der Transformation vom Bilderhändler zum Galeristen nicht nur auf die spekulative Leistung von letzterem hin, sondern insistieren auch auf seiner neuen Funktion als Mäzen und Förderer jener Künstler, mit denen er ein Arbeitsbündnis eingeht. Sie erfassen damit einen wesentlichen Aspekt der Berufspraxis des Galeristen – das Arbeitsbündnis –, den Moulins Etikett nicht einschließt. Dabei stellen sie einen plausiblen Zusammenhang zwischen riskantem Unternehmertum und Arbeitsbündnis her: »The speculative motive reinforced the concern of the dealer with the total career of the painter.«82 Der Titel ihrer Monografie, Canvases and Careers, bringt die Verlagerung des Fokus vom einzelnen Bild zum Künstler prägnant auf den Punkt. Der »marchand-négociant« handelt mit Werken bereits etablierter, meistens schon verstorbener Künstler und spezialisiert sich häufig auf bestimmte Epochen, Stile und Provenienzen. Zu dieser Kategorie sind grundsätzlich auch Händler zu rechnen, die zwar seit den 1960er Jahren entstandene »zeitgenössische« Kunst oder gar Werke lebender Künstler vermitteln, jedoch ausschließlich im Sekundärmarkt operieren, d. h. Händler, die jeweils erst nach der ersten Transaktion zwischen Galerie und Sammler ins Spiel kommen und deren Vermittlungs- und Verwertungspraxis sich der Kontrolle des Künstlers und des ihn vertretenden Galeristen entzieht. Unter Sekundärmarkt sind demnach sämtliche Transaktionen zu verstehen, die auf den über die Galerie abgewickelten Erstverkauf eines Kunstwerks folgen. Im Sekundärmarkt beschleunigt sich die Zirkulation der Werke, die Differenz zwischen ursprünglichem und neuem Verkaufspreis vergrößert sich, und die »marchands-entrepreneurs« werden von den »marchands-négociants« abgelöst, die das doppelte unternehmerische (symbolische und ökonomische) Risiko minimieren.83

Trotz – oder gerade wegen – der riskanten Innovationsverpflichtung ist der Galerist in der Regel auf Operationen im Sekundärmarkt angewiesen, zu deren Umfang aufgrund der diskreten Abwicklung solcher Transaktionen keine verlässlichen Daten existieren. Eine veröffentlichte Schätzung des schweizerischen Galerienverbandes liegt bei 30 bis 40 Prozent des Umsatzes; New Yorker Galeristen schätzten deren Anteil auf 25 bis 60 Prozent der Transaktionen.84 Der Sekundärmarkt ist für Galeristen auch deshalb relevant, weil im Kunstmarkt einzelne Preise die Bewertung eines Künstlers ausgesprochen stark beeinflussen können. Um das Preisniveau zu halten und im besten Fall dessen langfristigen Anstieg zu bewirken, liegt es im Interesse von Künstler, Galerie und Sammler im Besitz der Werke, das Angebot einzuschränken und korrigierend zu intervenieren, wenn ein schlechtes Auktionsergebnis den ökonomischen – und, wie noch zu sehen sein wird, symbolischen – Wert eines Werks zu gefährden droht. Eine Galerie, die den Markt mitkontrolliere, gebe etablierten Künstlern Sicherheit, erläutert eine Galeristin. So könnten Stützungskäufe getätigt werden, wenn auf Auktionen plötzlich zu viele Arbeiten durchfielen (Interview Marie Feldmann, 2007).

3.1.2Vom akademischen System zum Händler-Kritiker-System

Voraussetzung für die Ausbildung eines relativ autonomen Kunstfeldes in Frankreich war nicht zuletzt der Zerfall des seit dem 17. Jahrhundert bestehenden »akademischen Systems«, dessen Deutungshoheit vom »Händler-Kritiker-System« untergraben wurde.85