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Mirjam Mous

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Beschreibung

Vor Micks Augen bricht Jerro zusammen. Er wird ins Krankenhaus gebracht, aber als Mick ihn dort besuchen will, sagt man ihm, sein Freund wäre nicht eingeliefert worden. Schon wenige Tage später ist Jerro wieder zu Hause, alles soll nur eine harmlose Vergiftung gewesen sein. Und dies ist nicht die einzige Merkwürdigkeit: Mick hat zunehmend das Gefühl, dass Jerro nicht mehr Jerro ist.

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Autor

Mirjam Mous,geboren 1963, arbeitete als Sonderschullehrerin, bevor sie hauptberuflichSchriftstellerin wurde. Sie schreibt Bücher für Kinder und Jugendlicheund ist besonders bekannt für ihre mitreißenden Thriller.

Titel

Mirjam Mous

Password

Zugriff für immer verweigert

Aus dem Niederländischenvon Verena Kiefer

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012© für die deutsche Ausgabe 2012 Arena Verlag GmbH, WürzburgDie Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel»Password«bei Van Holkema & Warendorf, Houten.© 2012 Van Holkema & Warendorf/Unieboek The NetherlandsAlle Rechte vorbehaltenAus dem Niederländischen von Verena KieferCovergestaltung: Frauke SchneiderISBN 978-3-401-80171-1www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de

Teil 1: Wie es begann

I have a bad feeling about this(Star Wars Episode 1, The Phantom Menace)

1.

Die unerklärlichen Ereignisse begannen am Samstag, dem elften Mai, kurz nach zwei Uhr am Nachmittag. Mick stand im Badezimmer und pinkelte. Er war bei Jerro, seinem besten, oder besser gesagt, seinem einzigen Freund. Jerro hatte nicht nur ein eigenes Klo, sondern auch eine Badewanne, eine Dusche und zwei Waschbecken mit einem gewaltigen Spiegel. Anfangs hatte Mick das total seltsam gefunden: ein Schlafzimmer mit angrenzendem Privat-Badezimmer für einen Jungen, der noch zu Hause wohnt. Aber man gewöhnt sich an alles. Sogar an die eingebauten Lautsprecher – so konnte man zur Musik pinkeln.

Mick nickte im Takt des mitreißenden Rhythmus und summte mit. Plötzlich sang Christian Burns mitten in keeps me breathing through the storm deutlich lauter. Vermutlich hatte Jerro das Radio noch weiter aufgedreht.

Sympathisch, fand Mick. Während er noch die letzten Tropfen abschüttelte, drückte er schon die Spültaste. Dann knöpfte er sich die Hose zu und betrat das Schlafzimmer.

Jerro lag bäuchlings auf dem Bett. Sein Kopf war seitwärts gedreht und seine rechte Wange ruhte auf der Bettdecke. Gerade hatte er noch gelesen, aber jetzt hielt er die Augen geschlossen. Das machte er öfter, wenn er konzentriert zuhören wollte. Um ihn nicht zu stören, lehnte sich Mick an die Wand und wartete, bis The light between us zu Ende war. Gleich darauf dröhnte die neue Single von Jan Smit durch das Zimmer.

Die Schnulzbacke war echt nicht zum Aushalten!

Mick löste sich von der Wand, hielt sich die Ohren zu und ging zu Jerro. »Jan greift an! Jan greift an!«, rief er und tat dabei, als hätte er heftigste Schmerzen.

Jerro reagierte nicht, nicht einmal mit einem unterdrückten Lachen. Er blieb regungslos liegen, als wäre er bewusstlos.

Ein Scherz natürlich.

Wirklich?, flüsterte eine beunruhigte Stimme in Micks Gehirn. Sicherheitshalber schüttelte er Jerro an der Schulter, erst leicht, dann immer fester, bis er schließlich verzweifelt mit beiden Händen an Jerro rüttelte und über den nervtötenden Lärm der Musik hinweg brüllte: »Hör auf, das ist nicht mehr witzig!«

Es half nicht im Geringsten. Mick hätte genauso gut einen Sack Kartoffeln schütteln können. Eine ganze Lawine beunruhigter Stimmen löste sich und schoss durch seinen Kopf. Dann ergriff ihn die Panik.

Er rannte aus dem Zimmer. Zumindest versuchte er das, aber seine Beine hatten sich in Teig verwandelt, er konnte nur noch stolpern. Er riss die Tür auf und schleppte sich nach draußen auf den Treppenabsatz. »Herr Prins, Frau Prins!«

Trottel. Die waren doch nicht da.

»Kasia! Alfred! Wer auch immer!«

Er schaute über das Geländer, sah aber niemanden in der riesigen Diele.

»Kommt schnell! Es ist was mit Jerro!«, rief er jetzt noch lauter.

Noch immer keine Reaktion. Zum ersten Mal in seinem Leben hasste Mick das Haus von Familie Prins. Wenn jemand bei ihm zu Hause pupste, konnte man das buchstäblich bis zum Speicher hören. Aber in diesem Palast mit seinen hohen Decken, breiten Fluren und geräumigen Zimmern war jedes Geräusch wie ein Stein, der auf ein Kissen fiel.

Es half übrigens auch nicht gerade, dass Jan Smit noch immer weiterplärrte.

Auf noch immer teigigen Beinen ging Mick ins Schlafzimmer zurück.

Ruhig bleiben. Kühlen Kopf bewahren. Erst mal musste er dieses dämliche Radio zum Schweigen bringen.

Mit einem Druck auf die Taste war das erledigt. Dann stand er wieder am Treppengeländer.

»Jetzt hilf mir doch mal einer!«, schrie er fast verzweifelt.

Die Diele blieb weiterhin wie ausgestorben.

Was sollte er nur machen? Wenn er Hilfe holte, würde er Jerro allein lassen müssen. Und wer weiß, wie lange es dauerte, bis er jemanden gefunden ha…

Anrufen! Er konnte einen Rettungswagen rufen!

Mick tastete in der Hosentasche nach seinem Handy.

Nicht da!

Zum zweiten Mal ging er ins Schlafzimmer zurück. Jerro lag noch immer unverändert auf dem Bett. Mick überkam ein Brechreiz. Wo war dieses verflixte Telefon?

Der Schreibtisch! Hastig schob er Bücher und Hefte zur Seite. Manche fielen mit einem Knall zu Boden. Jerros Kalender. Aber kein Telefon. Mick ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen. Boden, Schrank, Wand. Dort! Auf der Fensterbank!

Seine Hand war klamm vor Schweiß.

Eintippen. Erst die 1…

Sein Zeigefinger schien einem anderen zu gehören. Ein unwilliger Körperteil, den er fernsteuern musste.

Noch einmal die 1.

Plötzlich tauchte Kasia, die polnische Haushälterin, in der Tür auf. Wie immer war sie auf einmal da – wahrscheinlich trug sie Spezialschuhe mit geräuschlosen Sohlen, denn man hörte sie nie kommen.

Mick weinte fast vor Erleichterung. »Jerr…« Mit einem Kopfnicken wies er zum Bett. »Ich rufe die 112.«

Augenblicklich zog Kasia Mick das Telefon aus der Hand. »Ich rufe an. Du sag Carl, Tor aufmachen.«

Mick musste kurz umschalten und blieb einen Moment reglos stehen.

Kasia setzte sich auf das Bett und fühlte Jerros Puls. Das Telefon hatte sie geschickt zwischen Schulter und Ohr geklemmt, so konnte sie unterdessen die Rettungszentrale informieren. Sie nannte Jerros Namen, sein Alter und die Adresse. »Lebt noch, schneller Herzschlag, sehr krank. Rettungswagen soll schnell kommen …«

Mick hätte sich schlagen können – gleich stand der Wagen am Tor und es war immer noch zu!

Er rannte aus dem Zimmer. Eile und Aufregung passten nicht gut zusammen. Er nahm die Kurve auf dem Treppenabsatz zu eng und stieß sich die Schulter am Türpfosten, rutschte fast von der Treppe und wollte durch die Haustür, bevor er sie weit genug geöffnet hatte.

Draußen schien die Sonne, als wäre nichts passiert. Mick rannte über das frisch gemähte Gras, am rechteckigen Teich mit den Koikarpfen vorbei und die Auffahrt hinunter. Der Kies knirschte unter seinen Schuhen. Er war kein athletischer Typ. Sein Herz wummerte und er hörte sich keuchen. Zum Glück machte der Weg schon bald eine Rechtskurve. Er rannte um die Koniferen herum und das Pförtnerhäuschen kam in Sicht.

Carl hatte ihn anscheinend kommen sehen, denn er wartete schon davor.

»Es ist was mit Jerro!«, rief Mick. »Wir haben einen Krankenwagen gerufen. Mach das Tor schon mal auf, dass er gleich durchfahren kann!«

Carl verschwand im Häuschen und wenig später schob sich das riesige elektronisch gesteuerte Tor zur Seite. Als Mick es zum ersten Mal gesehen hatte, war ihm sofort der Name Stargate in den Sinn gekommen. Ging man durch das Tor, verließ man die normale menschliche Welt und betrat die Welt der Sterne. Na ja, nicht dass man Jerros Eltern aus Film und Fernsehen kennen würde oder so, aber das Unternehmen von Herrn Prins war ziemlich berühmt und deswegen schwammen sie wie echte Hollywoodstars im Geld.

Mick betrat die Normalwelt und spähte die Straße hinunter. Carl stellte sich schweigend neben ihn, die Füße breit auseinander und unverrückbar. Seine Ausstrahlung war durch und durch unfreundlich, aber vermutlich nur, um eventuelle Eindringlinge abzuschrecken.

Mick presste die Fingernägel in die Handflächen. Wo blieb der Rettungswagen bloß?

Trotz der warmen Sonnenstrahlen auf seinem Rücken wurde ihm kalt. Was war mit Jerro passiert, während er im Badezimmer gewesen war? Kurz davor schien noch alles in Ordnung gewesen zu sein. Jerro hatte sich nicht schlecht oder krank gefühlt. Konnte man denn einfach so …?

Mick dachte an einen Comic, den er gerade gelesen hatte. Über außerirdische Spinnen, die einem heimlich unter die Kleidung krochen und alles Leben aussogen.

In der Ferne ertönte eine Sirene.

Endlich!

Mick lief schon mal die lange Auffahrt wieder hoch. Er musste sich beeilen, damit er rechtzeitig an der Haustür war und den Rettungsleuten den Weg zeigen konnte.

Das Gesicht des Fahrers ließ Mick an eine Mondlandschaft voller Krater denken und der Sanitäter hatte so große Hände, dass er eher wie ein Bauarbeiter wirkte.

»Ich bringe euch zu Jerros Zimmer«, sagte Mick.

Wenig Chance. Kasia stand schon in der Halle und übernahm die Regie.

»Kommen Sie.« Wie ein Verkehrspolizist winkte sie mit beiden Armen. »Schnell, kommen Sie.«

Mondkrater und Pranke gingen mit der Trage die Treppe hinauf. Mick wollte ihnen folgen, aber Kasia kommandierte: »Du hier bleib.«

Micks Erleichterung wich dem Ärger. Hallo? Er hatte Jerro gefunden. Er war sein Freund. Dann wurde ihm aber bewusst, dass Jerro es nicht wirklich merken würde, ob er dabei war oder nicht.

Außer wenn er gleich zu sich kam, dann schon!

»Ich will mit ins Krankenhaus«, sagte Mick, sobald sie mit Jerro auf der Trage vorsichtig die Treppe hinunterkamen.

»Gehörst du zur Familie?«, fragte Mondkrater.

»Nein, das nicht, aber …«

»Im Rettungswagen dürfen nur Angehörige mitfahren«, sagte Pranke.

Tränen juckten hinter Micks Augen. »Aber seine Eltern sind das ganze Wochenende über weg. Wenn ich nicht mitdarf, ist Jerro nachher ganz allein, wenn er wieder zu sich kommt.«

»Tut mir leid. Regeln sind Regeln.« Pranke lächelte wie Herr Buiks, der Mathelehrer, wenn Mick eine Aufgabe nicht verstand. »Aber ich verspreche dir, dass wir gut für ihn sorgen werden.«

Kasia legte ihre schlanke Hand auf Micks molligen Arm. Das beruhigte ihn gerade so weit, dass er nicht explodierte.

Jerro wurde ins Freie gerollt und in den Rettungswagen geschoben. Die Türen knallten zu. Micks Blick fiel auf das Nummernschild. Die letzte Buchstabenkombination war MS. Mick Schipper, dachte er automatisch. Dann vergaß er es sofort wieder.

Die Männer stiegen ein und die Sirene heulte auf. Die Räder wühlten sich tief in den Kies, Steinchen spritzten und dann fuhren sie mit einem Affenzahn davon.

Kasia schloss die Haustür. Nach all dem Lärm und der Aufregung von eben schien es plötzlich ohrenbetäubend still in der Halle zu sein.

»Du besser nach Hause gehen«, sagte Kasia dann. »Ich Herrn und Frau Prins rufe an.«

Mick nickte, aber er hatte andere Pläne. Jerros Eltern waren in London. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis sie im Krankenhaus sein konnten. Zum Glück war er am Morgen mit dem Fahrrad gekommen. Wenn er kräftig in die Pedale trat, konnte er in einer Viertelstunde bei Jerro am Bett sitzen.

Das Krankenhausgebäude bestand aus grauen Steinen und jeder Menge Glas. Der Eingang war komplett verglast und hatte eine Drehtür, die sich aufreizend langsam bewegte. Mick wich einem Mann mit Krücken aus und eilte zum Informationsschalter. Hinter einem Bildschirm saß eine Frau. An ihrem rechten Schneidezahn funkelte ein kleiner Diamant.

»Hallo«, sagte sie. »Kann ich dir helfen?«

»Mein Freund wurde gerade mit dem Rettungswagen hier eingeliefert.« Mick war noch außer Atem vom Radfahren. »Jerro Prins. Ich wüsste gern, wie es ihm geht.«

»Hm.« Sie tippte etwas in ihren PC. »Jerro Prins, sagtest du?«

»Ja.« Mick nickte, dass ihm fast der Kopf abfiel.

»Tut mir leid, aber bei uns wurde niemand mit diesem Namen eingeliefert.«

2.

Micks Gedanken schwammen immer dieselbe Runde. Das konnte nicht wahr sein. Es gab nur ein einziges Krankenhaus in der Stadt. Und das hatte auch keine Zweigstelle.

»Würden Sie bitte noch einmal nachschauen?«, fragte er heiser. »Jerro Prins. Er ist so alt wie ich. Fünfzehn. Ich war dabei, als er abgeholt wurde.«

Die Frau schaute wieder in ihren Computer. »Tut mir leid.«

Micks Knie waren weich. Er suchte Halt am weißen Kunststofftresen.

»Ich frage noch in der Notaufnahme nach. Manchmal herrscht da so ein Chaos …« Sie brachte ihren Satz nicht zu Ende und nahm den Hörer.

Mick drückte im Stillen die Daumen, aber als sie auflegte, konnte er es schon an ihrem Gesicht ablesen.

»Ich habe wirklich alles überprüft. Leider kann ich dir nicht weiterhelfen.« Sie sog an ihrer Lippe. »An deiner Stelle würde ich mit den Eltern von deinem Freund Kontakt aufnehmen. Vielleicht liegt er in einem anderen Krankenhaus.«

Mick wagte es nicht, noch etwas zu sagen. Er befürchtete, sofort in Tränen auszubrechen, was in einer Halle voller Zuschauer ein ziemlich schlechter Abgang wäre. Also nickte er nur und ging angeschlagen nach draußen.

Warum lag Jerro nicht im Krankenhaus?

Mick öffnete sein Fahrradschloss und versuchte sich unterdessen an logischen Erklärungen. Vielleicht hatte der Rettungswagen unterwegs einen Platten bekommen. Oder einen Motorschaden. Obwohl – Fahrzeuge von Hilfsdiensten wurden natürlich ständig überprüft und gegengecheckt. Nein, dann war es wahrscheinlicher, dass sie einen Unfall gehabt hatten. Ein anderer Verkehrsteilnehmer, der bei Grün über eine Ampel fuhr und die Sirene nicht hörte. Der Rettungswagen, der plötzlich auftauchte …

Während Mick auf dem Rad saß, rollte in seinem Kopf ein Horrorszenario nach dem anderen über die Bühne. Jerro, der aus einem Autowrack geschnitten werden musste. Eine Autoentführung, bei der es die Diebe nicht auf den Wagen, sondern auf Jerro abgesehen hatten, um anschließend einen Haufen Lösegeld von seinen Eltern zu verlangen. Eine Entführung durch Außerirdische, vermummt als Krankenhauspersonal …

Trotz seiner Sorgen musste Mick lachen. Solche Fantasien hatte man, wenn man so viele SF-Filme anschaute wie er. Er sollte lieber die Festnetznummer von Jerros Eltern anrufen und Kasia fragen, ob sie mittlerweile schon mehr wüsste. Seine Hand fuhr in die Hosentasche.

Oh nein. Sein Handy lag noch in Jerros Zimmer. Kasia hatte es ihm nicht zurückgegeben und er selbst hatte auch nicht mehr daran gedacht. Er musste warten mit dem Anrufen, bis er zu Hause war.

Mick trat fester in die Pedale. Es war lange her, dass er sich so verausgabt hatte. Eigentlich hasste er jegliche Form körperlicher Anstrengung. Sein Körper war nicht dafür gemacht. Wenn er rannte, scheuerten seine dicken Oberschenkel gegeneinander. Außerdem bekam er immer so seltsame rote Flecken ins Gesicht, als hätte ihn jemand mit der flachen Hand auf die Wangen geschlagen. Und als würde das noch nicht reichen, mussten sie während des Sportunterrichts auch noch diese lächerlichen kurzen Hosen anziehen. Hosen, die sich spindeldürre Sportlehrer mit ADHS ausgedacht hatten, um Jungen wie Mick zu quälen.

Was war gegen einen Trainingsanzug einzuwenden?

Da war schon die Bosporuslaan. Mick bog um die Ecke und fuhr auf den Bürgersteig. Sofie arbeitete samstags bei H & M und würde erst spät nach Hause kommen. Seine Mutter war offensichtlich schon zurück von ihrem Besuch bei Oma – zumindest stand der rote Peugeot in der Einfahrt.

Er sprang vom Rad und parkte es seitlich am Haus. Die Hintertür stand offen.

»Du bist schon da?« Seine Mutter hatte ihre Jacke noch nicht abgelegt. Sie sah Mick forschend an. Manche Menschen können aus der Hand lesen, aber sie las alles vom Gesicht ab. »Ist was?«

»Jerro.« Auf einmal merkte Mick, wie müde er war. Er ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen und beugte sich vor, bis sein Kopf die Tischplatte berührte. Er versuchte, nicht zu weinen, aber viel fehlte nicht.

»He.« Seine Mutter drückte kurz seine Schulter. »Was es auch ist, es wird bestimmt wieder gut.«

Warum wollen Erwachsene einen immer beruhigen, als wäre man noch ein Kleinkind?

»Woher willst du das denn wissen?« Mick tat seine heftige Reaktion sofort leid. Seine Mutter konnte schließlich nichts dafür, dass Jerro im Krankenhaus lag.

Wenn er denn dort lag.

Mick wollte aufstehen. »Ich muss anrufen.«

Seine Mutter drückte ihn auf den Stuhl zurück, setzte sich neben ihn und legte ihre Hand auf seine. »Jetzt erzähl erst mal in Ruhe, was los ist.«

Mick fing an zu reden. Nicht ruhig, sondern schnell. Ständig stolperte seine Zunge über die Worte. Von Jerro. Von der Frau am Informationsschalter, die behauptete, er sei nicht eingeliefert worden.

»Und jetzt …«

»Ich rufe mal an.« Seine Mutter zog ihr Handy aus der Jackentasche und suchte im Telefonbuch. »Kasia, bist du das? Hier ist Micks Mutter. Wie möchten gern wissen, wie es Jerro geht.«

Mick sah seine Mutter an. Wie sie nickte und sich eine verirrte Haarsträhne hinter das Ohr strich. Sie sah nicht übertrieben beunruhigt aus.

»Aber er ist ins Krankenhaus gefahren und Jerro war nicht da«, sagte sie nach einer Weile.

Mick setzte sich aufrechter hin.

»Doch?« Sein Mutter schwieg wieder kurz. »Vielleicht hat er es dann falsch verstanden.«

»Was?« Mick bekam große Lust, ihr das Telefon aus der Hand zu reißen.

»Jerro ist ganz normal aufgenommen worden.« Sie schrieb mit einem unsichtbaren Kuli in die Luft.

Mick sprang schon auf, um Papier und Stift zu suchen.

»Abteilung Ost«, sagte seine Mutter. »Zimmer zwei-null-vier.«

Mick notierte die Nummer. »Ich werde ihn sofort besuchen.«

»Morgen erst?«, fragte Micks Mutter. »Aber wer ist denn bei ihm? Seine Eltern sind doch …« Sie gab ein verstehendes Brummen von sich. »Gut. Ich werde es ausrichten. Tschüss, Kasia.« Sie legte das Telefon auf den Tisch.

»Bringst du mich mit dem Auto hin?«, fragte Mick.

»Morgen.« Seine Mutter stand auf und zog die Jacke aus. »Jerro ist jetzt noch zu schwach, um Besuch zu empfangen. Sie vermuten eine Lebensmittelvergiftung. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, er ist in guten Händen. Laut Auskunft der Ärzte spricht er gut auf die Behandlung an.«

Morgen erst.

»Aber das dauert noch so lange!«, sagte Mick verzweifelt. »Ich bin sicher, er fände es schön, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Seine Eltern sind auch nicht da und …«

Seine Mutter seufzte. »Ich weiß es, Schatz. Es ist alles ganz blöd. Aber im Krankenhaus wissen sie bestimmt am besten, was für Jerro gut ist.«

Mick unterdrückte das Bedürfnis, irgendwo gegenzutreten. Wäre er bloß nicht so ungeduldig gewesen. Er hätte einfach in der Eingangshalle des Krankenhauses warten sollen, um sich später noch einmal am Schalter zu informieren. Dann wäre Jerro doch noch aufgetaucht und er hätte jetzt höchstwahrscheinlich bei seinem Freund sein können.

»Kopf hoch, mein Junge.« Seine Mutter strich ihm durch die Haare.

Mick war ziemlich angesäuert und wich aus. »Bin kurz weg«, brummte er.

»Du gehst nicht zu Jerro«, mahnte seine Mutter.

»Nur zu ihm nach Hause. Mein Handy abholen.« Mick schlug die Hintertür mit einem Knall hinter sich zu.

Es war seltsam, allein in Jerros Zimmer zu sein. Mick sammelte die Bücher und Hefte auf, die er früher an diesem Nachmittag vom Schreibtisch geschubst hatte. Sein Handy fand er auf dem Bett und steckte es ein. Am Kopfende lag auch noch das aufgeschlagene Comicheft. Er sah wieder vor sich, wie Jerro am Nachmittag auf dem Bauch liegend gelesen hatte: auf den Ellbogen gestützt, das Kinn auf den Händen. Mick würde so schon nach wenigen Minuten Nacken- oder Rückenschmerzen bekommen, aber Jerro konnte diese Haltung problemlos eine Stunde durchhalten. Zumindest bis heute.

In der linken Seite des Heftes war ein Knick. Wahrscheinlich hatte sich Jerro aus Versehen daraufgelegt, als er bewusstlos wurde.

Mick nahm den Comic und strich über das Papier. Das würde Jerro bestimmt nicht gut finden. Er bewachte seine Comicsammlung wie Goldbarren. Nur Mick lieh er manchmal ein Heft aus. Eine echte Ehre, aber auch eine Last, denn Jerro sagte immer dazu: »Ich schieße dich auf den Mond, wenn ich es nicht heil zurückbekomme.«

»Ach«, antwortete Mick dann. »Es gibt blödere Orte, an die man geschossen werden könnte.«

Er schloss das Heft. Legte es auf den Schreibtisch und stapelte andere Bücher darauf, in der Hoffnung, den Knick so zu glätten. Währenddessen dachte er an die Frau am Infoschalter. Sie hat sich einfach geirrt, versuchte er, sich selbst zu beruhigen. Aber das unangenehme Gefühl, dass da irgendetwas nicht stimmte, blieb in seinem Magen.

Teil 2: Zwei Jahre und acht Monate vorher

There’s only one hacker in the worldwho can break this code …(Transformers)

1.

Montagmorgen. In fünf Minuten würde es zur ersten Stunde klingeln. Mick hatte gerade sein Fahrrad untergestellt und ging mit gesenktem Kopf auf den Schulhof, während er mit aller Kraft versuchte, sich unsichtbar zu machen. Er war erst seit einem Monat in der Orientierungsstufe der Prismaschule, aber ihm kam es vor wie ein Jahrhundert. Daran waren Lex Hartman und seine drei Klone schuld. Vom ersten Tag an hatten sie es auf Mick abgesehen. Sobald er in die Nähe kam, gaben sie Grunzlaute von sich. Sie nahmen ihm seine Schulbrotbox ab und warfen den Inhalt in den Müll. Beim Duschen nach der Turnstunde spritzten sie sein Handtuch nass, sodass er sich mit seinem T-Shirt abtrocknen musste. Seine Fahrradreifen hatten schon mehrfach auf mysteriöse Weise keine Luft mehr gehabt und letzten Freitag hatten sie sein Mäppchen ins Klo geworfen. Und warum? Mick hatte keine Ahnung. Und das war vielleicht das Allerschlimmste. Wenn man nicht wusste, was man falsch machte, konnte man auch nichts daran ändern. Also hielt er sich möglichst bedeckt.

Leider. Er hatte den Fahrradunterstand vor kaum drei Sekunden verlassen und schon war sein Unsichtbarkeitsmodus auf null gesunken.

»Ha, da ist ja unser Mümmelchen mit seinem Pimmelchen!«, erklang es von der Seite.

Pieter – Lex’ Hauptsklave.

Mick tat, als ließe ihn die Bemerkung kalt, aber innerlich krümmte er sich.

Nicht reagieren. Einfach weitergehen.

Unterdessen beobachtete er das Grüppchen aus den Augenwinkeln. Sie trugen allesamt schwarze Hosen, weiße T-Shirts, schwarze Trainingsjacken und weiße Sneakers. Es sah aus, als gehörten sie zu einem Sportteam. Anführer Lex schlug Pieter wohlwollend auf die Schulter. Die Jungs, die dabeistanden, lachten wie in einem B-Movie. Hassan zeigte mit Daumen und Zeigefinger den Durchmesser eines Cocktailwürstchens.

»Kleiner«, sagte Yannik. »Ganz viel klei…«

»Guckt mal dahinten.« Lex machte eine Kopfbewegung zum Tor hin.

Ein großer, blitzender Mercedes mit verspiegelten Scheiben. Pieter schnalzte mit der Zunge. Ausnahmsweise musste Mick ihm recht geben; das war wirklich ein toller Wagen.

Der Fahrer stieg als Erster aus. Er war so kahl wie eine Billardkugel und trug einen schmal geschnittenen Anzug und eine Sonnenbrille. Mick tippte darauf, dass der Mann nicht nur Fahrer, sondern auch Bodyguard war. Sein Blick war wachsam und seinem Körper war regelmäßiger Sport anzusehen. Er trat seitlich an den Wagen, schaute sich gründlich um und öffnete dann die hintere Tür.

Der ganze Schulhof hielt den Atem an. Alle Augen hingen mit imaginären Fäden an dem Mercedes. Auch die von Mick. Er erwartete, irgendeine Berühmtheit aussteigen zu sehen, aber es war ein ganz normaler Junge.

Na ja, normal …

»Wer ist das?«, hörte Mick jemanden fragen.

Der Junge schlenderte mit seinem Bodyguard zum Eingang der Prismaschule. Seine schwarzen Haare reichten ihm fast bis zur Schulter und sie waren auf eine Weise strubbelig, dass sie nicht unordentlich, sondern cool wirkten. Er trug eine Jeans der Marke Blue Blood, ein Shirt, auf dem in roten Buchstaben ALDEBA-RAN stand, und silberne Sneakers. Von einer Schulter baumelte ein Rucksack von Björn Borg und am Handgelenk glänzte eine Rolex.

Alle starrten ihn an – neidisch, bewundernd oder beides zusammen. Fransje stieß sogar einen kleinen Schrei aus.

Dann ertönte die Klingel.

Sehr schön. Niemand achtete mehr auf den dicken Jungen aus der 1 B.

Mick eilte ins Gebäude.

Mitten in der Mathestunde ging die Tür auf und Direktor Harkema streckte den Kopf herein. »Entschuldigen Sie die Störung, Herr Buiks. Aber ich habe hier einen neuen Schüler.«

Bestimmt wäre Harkema lieber Quizmaster als Direktor geworden, denn er machte aus allem ein Spiel. Außerdem trug er Anzüge in schreienden Farben, immer mit einer idiotischen, aber dazu passenden Fliege – an diesem Tag war es eine kanariengelbe mit kleinen roten Punkten.

Buiks hatte seinen Stift kaum auf den Rand des Whiteboards gelegt, als Harkema auch schon seinen Act startete. Er schwenkte die Tür ganz auf, schob jemanden hinein und holte weit aus: »Darf ich vorstellen? Jerrro Prrrins!«

Es war der Junge aus dem Mercedes mit den verspiegelten Scheiben.

Harkema schaute mit strahlendem Gesicht in die Klasse. »Ich hoffe, ihr alle werdet dafür sorgen, dass er sich so schnell wie möglich auf unserer wunderbaren Schule zu Hause fühlt.«

»Ganz bestimmt!«, rief Fransje und blinzelte mit ihren Rehaugen.

Sicher nicht, dachte Mick mit einem schrägen Blick auf Fiesling Lex.

Harkema verschwand mit einer kleinen Verbeugung, als erwarte er Applaus.

Buiks gab Jerro die Hand und nannte seinen Namen. »Setz dich. Wir arbeiten gerade an Tabellen.«

Nur neben Mick war noch Platz.

»Pass nur auf, dass du keine Schweinepest kriegst«, flüsterte Yannik.

Mick schaute zu Buiks, aber der war auf einmal taub. Es passierte öfter, dass Lehrer so taten, als schauten sie gerade in eine andere Richtung, wenn ein Schüler schikaniert wurde. Mick fragte sich, ob es einfach eine Frage der Bequemlichkeit war oder ob sie insgeheim befürchteten, selbst zur Zielscheibe zu werden.

Jerro zog seine Sachen aus dem Rucksack. Ein Mäppchen, ein Heft, ein Mathebuch und einen Comic. Augenblicklich begann er, darin zu lesen.

Drei Minuten, dachte Mick. Höchstens.

Aber Jerro wurde nicht erwischt. Wenn Buiks ihm eine Frage stellte, gab er sofort die richtige Antwort, als wäre er ein Mathegenie. Und wenn der Lehrer näher kam, legte Jerro geschickt sein Mathebuch über das Comicheft. Micks Bewunderung wuchs mit jeder Sekunde.

Nach Mathematik hatten sie Englisch in einem anderen Klassenraum. Mick hatte sich gerade hingesetzt, als Lex vorbeikam. Er erstarrte. Ja, klar, schon war es wieder da: dieses ekelhafte Grunzen, das ihn manchmal bis in seine Träume verfolgte.

Jerro hörte es auch und sah Lex mit einer hochgezogenen Augenbraue an.

»Was?«, schnauzte Lex.

»Ich fragte mich, ob du der schwachsinnige Cousin von Babe bist oder ob du doch vielleicht eher dem Bruder von Miss Piggy ähnelst«, sagte Jerro.

Lex wurde rot. Dunkelrot sogar, als ein paar Mädchen kicherten – Fransje am lautesten von allen.

»Scher dich um deinen eigenen Kram«, sagte Lex so cool wie möglich. »Ich hab nicht mit dir gesprochen, sondern mit diesem fetten Ferkel da.« Er nickte zu Mick hinüber, der versuchte, die Worte wie Wasser an sich abperlen zu lassen. Sobald sie merkten, dass man verletzt war, hörten sie überhaupt nicht mehr auf.

»Ihn hab ich nicht grunzen hören.« Jerro legte seinen Rucksack auf den Tisch. »Also wenn hier jemand einem Schwein ähnelt …«

Lex suchte Unterstützung bei seinen drei Klonen, aber zu Micks großem Erstaunen guckten sie, genau wie Buiks vorhin, ganz zufällig in eine andere Richtung. Jerros Verhalten nötigte offensichtlich Respekt ab. Oder lag es an der Rolex, dem Mercedes und dem Bodyguard? War ja auch völlig egal – nur das Ergebnis zählte: Lex gab sich geschlagen und setzte sich mit mürrischem Gesicht hinten ins Klassenzimmer!

»Danke«, flüsterte Mick, der sich kurz wie eine Art Superman fühlte.

Jerro zuckte die Schultern.

Es klingelte zur Pause. Alle wollten so schnell wie möglich raus. Oder besser gesagt: alle außer Mick. Er hatte sogar eine spezielle Trödeltechnik entwickelt, bei der er übertrieben langsam seine Tasche einräumte oder so tat, als ob er etwas vergessen oder verloren hatte. Die Lehrkraft, die den Klassenraum abschließen musste, spielte unterdessen ungeduldig mit den Schlüsseln, aber daraus machte sich Mick nichts. Mit ein bisschen Glück waren die anderen Schüler schon in der Cafeteria oder auf dem Schulhof, wenn er die Klasse verließ, und es gelang ihm, die Pause ohne Schaden zu überstehen. Ein selten benutzter Toilettenraum im zweiten Stock, ein fast nicht einzusehendes Eckchen bei der Garderobe und in der Nähe des Heizkessels waren die besten Verstecke.

Heute schlenderte Mick an den kleinen Schließfächern vorbei zur Garderobe. Die Strecke war sicher. Er brauchte nur an dem Bodyguard und an ein paar knutschenden Oberstufenschülern vorbeizugehen.

Oh nein! An seinem Geheimplatz hinter den Jacken hockte jemand auf dem Boden und las. Mick wollte schon weglaufen, als er sah, wer es war. Der Junge, der ihn aus Lex Hartmans Klauen gerettet hatte. Von ihm hatte er nichts zu befürchten.

»Hey«, sagte Mick.

Jerro las unbeirrt weiter in seinem Comic – ein Heft von Storm.

»Gute Serie«, sagte Mick. »Aber nicht mehr so gut wie früher. Als Don Lawrence noch die Zeichnungen gemacht hat, meine ich.« Jetzt war Jerros Interesse erwacht. Er ließ das Album auf seinen Schoß sinken. »Seine Nachfolger sind aber auch nicht übel. De Vos zeichnet jedenfalls besser als Matena.«

»Matena …« Mick dachte kurz nach. »Hat der nicht einen Spin-off der Stormserie gemacht?«

»Stimmt. Die Chroniken aus der Zwischenzeit.«

»Ich glaube, ich habe mal eins davon gelesen«, sagte Mick. »Wenn ich mich richtig erinnere, war die Geschichte nicht so stark.«

»Stimmt. Die Chroniken von Pandarve sind viel besser.« Jerro nannte einige Titel. Er war fast wie Wikipedia für Comics.

Da bewegten sich auf einmal die Jacken an der Garderobe und wurden auseinandergeschoben. Mick erschrak. Zum Glück kam nicht Lex’, sondern Fransjes Kopf zum Vorschein.

»Hier ist er!«, rief sie erfreut.

Sofort erschien auch Biancas Kopf zwischen den Jacken. Wie im Kasperletheater.

»Sagte ich doch.« Sie grinste zufrieden. »Dieser Leibwächter steht bestimmt nicht da, um die Schließfächer zu bewachen.«

Sie verschwanden wieder hinter den Kulissen und kamen dann um die dicht behängte Garderobe herum mit in das Versteck in der Ecke. Auf einmal war es proppenvoll. Als wäre Jerro ein Wassereis und die beiden ein Wespenpaar. Sie hockten sich neben ihn, jede zu einer Seite.

»He, Jerro«, sagte Bianca, während sie ihn unterhakte. »Sollen wir dir die Schule zeigen?«

»Ja.« Fransje übernahm die Verantwortung für den anderen Arm. »Du bekommt eine kostenlose Führung und danach laden wir dich zu einer Überraschung ein.«

»Nein, danke«, sagte Jerro. »Ich unterhalte mich gerade mit Mick.«

Mick traute seinen Augen und Ohren nicht! Bianca und Fransje waren die attraktivsten Mädchen der ganzen Schule. Allein schon bei der Vorstellung, sie könnten ihn fragen, bekam er feuchte Träume. Nicht, dass es je in Wirklichkeit passieren würde, das war ihm schon klar. Höchstens zum Scherz … damit sie ihn anschließend knallhart auslachen konnten.

Fransje seufzte tief. »Dann eben ein anderes Mal.« Aber sie blieb einfach stehen, bis Bianca ihre Hand nahm und sie mitzog.

Jerro hatte sie augenblicklich wieder vergessen. »Zu Hause habe ich die komplette Serie von Trigan«, sagte er. »Die meisten Bände hat Don Lawrence gezeichnet. Wenn du willst, kann ich sie dir mal zeigen.«

»Gern.«

»Heute Nachmittag?«, fragte Jerro. »Nach der Schule?«

Mick musste sich zurückhalten, um nicht zu jubeln. »Von mir aus.«

2.

Der Fahrer und Bodyguard, der auf den Namen Alfred hörte, brachte sie mit dem Mercedes zu Jerro nach Hause. Micks Fahrrad lag im Kofferraum und die Jungen saßen auf der Rückbank. In die Lehnen der Sitze vor ihnen waren kleine Monitore eingebaut. Man konnte alles Mögliche auf ihnen machen: Filme ansehen, Computerspiele spielen, chatten, skypen und noch viel mehr.

»Nicht normal, Mann«, sagte Mick.

Jerro grinste. »Mein Vater ist ein ziemlicher Nerd.«

Sie ließen das Zentrum hinter sich. Mick genoss in vollen Zügen. Der Motor war lautlos, die Sitze rochen nach echtem Leder und das futuristische Armaturenbrett würde sich auch in einem Raumfahrzeug gut machen.

Leider dauerte die Fahrt nur kurz. Fünf Minuten später standen sie vor dem Stargate. Das Tor war zwischen zwei gemauerten Säulen eingehängt, an denen Kameras befestigt waren, die sich hin und her bewegten, bis sie den Mercedes perfekt im Visier hatten. Ein leises Summen ertönte und das Tor öffnete sich. Alfred fuhr den Kiesweg hoch und hielt dann am Pförtnerhäuschen.

Hinter dem Mercedes schloss sich das Tor wieder. Seltsame Sache, fand Mick. Als wären sie auf einer gesicherten Militärbasis gelandet oder so.

Alfred ließ die Scheibe hinunter. »Tag, Carl.«

Der Pförtner nickte ihm zu und kam aus dem Häuschen. »Ist noch was?«

»Jerro hat einen Freund dabei.« Alfred wies auf die Rückbank. »Mick … äh …«

»Schipper«, sagte Mick.

Carl beugte sich vor, um durch das offene Fenster hineinzuschauen. Sein Blick war so durchdringend, dass sich Mick sehr unwohl fühlte.

»Er ist bestimmt kein Terrorist«, murrte Jerro.

»Das mag ja sein. Aber wenn etwas schiefgeht, bin ich dran.« Carl richtete sich wieder auf. Mick sah nur noch seinen Bauch und seinen Gürtel mit einer Waffe.

Carl klopfte auf das Autodach zum Zeichen, dass sie weiterfahren durften. Alfred fuhr an. Der Kieselweg führte nach links, die Koniferen verschwanden und Mick hatte freie Sicht auf das Ende der Auffahrt.

»Dort wohnst du?«, fragte er verblüfft.

Die gigantische Villa wirkte atemberaubend in der Vorabendsonne. Warmer roter Backstein. Hohe Bleiglasfenster, ein Balkon und sogar ein kleiner Turm.

Jerro nickte. »In diesem Bunker, ja.«

Mick lachte. »Palast, meinst du wohl. Habt ihr im Lotto gewonnen oder was?«

Alfred schaute Mick über den Rückspiegel an. »Du kennst Bjorge Prins nicht?«

Mick durchforstete sein Hirn. Soweit er wusste, gab es keinen Schauspieler oder Sänger mit diesem Namen. Vielleicht ein Politiker? Davon hatte Mick keine Ahnung. Er schaute sich lieber SF-Filme an als langweilige Talkshows.

»Nicht, dass ich wüsste.« Er sah Jerro fragend an. »Bjorge Prins ist dein Vater?«

»Biologisch gesehen ja. Nur verhält er sich fast nie so. Er hat Wichtigeres zu tun.« Jerro rieb mit dem Daumen über seinen Zeige- und Mittelfinger. »Geld verdienen, du weißt schon.«

»Dein Vater …«, setzte Alfred an.

Mick hätte gern gehört, was er sagen wollte, aber Jerro fiel Alfred ins Wort. »Setz uns einfach hier ab. Den restlichen Nachmittag brauche ich dich nicht mehr.«

Das klang ziemlich arrogant und Mick schämte sich ein wenig für Jerro.

»Wie du willst.« Alfred stellte den Motor ab.

Jerro und Mick stiegen aus. Sie gingen an einem Teich vorbei und über einen Millimeterrasen zur Haustür.

Mick starrte auf den Rücken seines neuen Mitschülers. Er hatte gerade einen ganz anderen Jerro gesehen als den Jungen, der am Morgen für ihn Partei ergriffen hatte. Was wusste er eigentlich von ihm, außer dass er ein Comicfan und ein Mathegenie war?

Jerro drückte auf die Klingel.

»Hast du keinen Schlüssel?«, fragte Mick.

»Das hält meine Mutter für überflüssig«, antwortete Jerro. »Sie fürchtet, er könnte in die falschen Hände geraten, wenn ich ihn verliere. Außerdem ist immer jemand zu Hause.«

Eine blonde Frau mit groben Gesichtszügen öffnete die Tür. Auf ihrer Wange befand sich ein behaarter Mutterfleck von der Größe eines Fingerabdrucks.

»Kasia«, sagte Jerro. »Unsere Haushälterin.«

»Guten Tag.« Mick hatte keine Erfahrung mit Hauspersonal und wusste nicht, ob er ihr die Hand geben sollte, also nickte er nur, wie Fahrer Alfred auch ihm zugenickt hatte.

»Mick geht in meine Klasse«, sagte Jerro. »Er will meine Comicsammlung sehen.«

Kasia schloss die Tür hinter ihnen. »Ich komme gleich, bring Tee.« Sie verschwand lautlos und ließ Mick und Jerro allein in der riesigen Diele. An der hohen Decke hing ein Kronleuchter und in der Mitte befand sich eine stattliche Treppe. Es sah aus wie ein Ballsaal in diesen Historiendramen, auf die Micks Mutter so versessen war.

»Wir gehen in mein Zimmer.« Jerro stand schon auf der untersten Treppenstufe.

Mick schaute sich um. »Soll ich mich nicht kurz deinen Eltern vorstellen?«

»Die arbeiten noch.«

»Darf ich raten?« Mick legte die Hand auf das schwere Treppengeländer. »Dein Vater ist Rechtsanwalt und deine Mutter Ärztin. Ich meine, wenn man so ein Haus bezahlen kann …«

»Meine Mutter ist die Anwältin«, sagte Jerro und ging Mick voraus. »Sie ist auf Unternehmensrecht spezialisiert.«

»Und dein Vater?«

Jerro drehte sich um. »Bist du wegen meiner Comicsammlung hier oder willst du mich aushorchen?«

Allmählich glaubte Mick schon, Bjorge Prins sei ein berühmter Meisterbetrüger, der sein Kapital zusammengeklaut hatte.

»Mein Vater ist letztes Jahr gestorben«, sagte er.

»Wie schlimm, Mensch!« Jerro blieb kurz stehen. »War er krank oder so?«

»Herzinfarkt auf dem Tennisplatz.«

»Und dann behaupten immer alle, Sport sei gesund.« Jerro ging wieder weiter und nahm die beiden letzten Stufen auf einmal.

Sie betraten einen Treppenabsatz mit sehr vielen Türen.

Bei der dritten blieb Jerro stehen. »Mein Zimmer.«

Es war hell, geräumig und an den Wänden hingen gerahmte Poster. Red Sonja im Bikini und zwischen sich windenden Schlangen, Franka auf einem Motorrad, Rothaar mit einem Schwert und Asterix und Obelix neben einem dampfenden Kochtopf. An der Wand stand ein Schreibtisch mit passendem Drehstuhl. Außerdem gab es noch ein Doppelbett, auf dem ein MacBook lag, einen Riesenkleiderschrank, einen Flatscreen-Fernseher mit Rekorder, eine supersonisch aussehende Musikanlage und ein Bücherregal voller Comichefte.

Und dann war da noch diese offen stehende Tür.

Mick blinzelte. »Ist das ein Badezimmer?«

Jerro nickte. »Meine Eltern wollen nicht, dass ich ihres benutze. Immer so ein Zirkus mit Wartezeiten und so. Also habe ich eins für mich allein.«

Mick lachte laut auf. »Du gehst in meine Klasse. Also bist du zwölf? Dreizehn?«

»Ich brauche es nicht selbst sauber zu machen«, sagte Jerro. »Das macht Kasia immer.«

»Oh. Na ja, dann ist es ganz normal.« Mick nickte so ernst er konnte.

Jerro gab ihm einen Schubs. »Das Gästezimmer hat auch eins.«

»Ein Haus mit drei Badezimmern.« Mick schüttelte den Kopf. »Tja, reiche Stinker brauchen das natürlich auch.«

Jerro lachte, als hätte er einen irre guten Witz gehört. Dann setzte er sich vor das Regal mit den Comics und wurde plötzlich wieder ganz ernst.

»Trigan war der große Durchbruch für Don Lawrence«, sagte er, während er die Comics vorsichtig auf den Boden legte.

Mick blätterte ein paar durch und bewunderte die Zeichnungen. Kasia brachte Tee und eine Schale mit Miniwindbeuteln, von denen Mick einfach nicht die Finger lassen konnte. Dann zeigte ihm Jerro einen Asterixband.

»Ich mag vor allem Science-Fiction-Comics«, gestand Mick. »Und eigentlich stehe ich noch mehr auf Science-Fiction-Filme und -Serien.«

»Nee, echt?« Jerro ließ sich hintenüberfallen. »Das musste mir ja passieren. Nehme ich einmal jemanden mit nach Hause, schon ist er ein Trekkie!«

»Star Trek ist tatsächlich ziemlich cool.« Mick grinste. »Aber ich bin wirklich kein Trekkie und ich spreche auch kein Klingonisch.«

Jerro ließ die Augenbrauen hüpfen.

»Die Sprache der Klingonen«, erklärte Mick. »Sie sehen fast aus wie Menschen, aber sie haben dicke Haare und eine gerunzelte Stirn.«

»Na, bitte. Ein Trekkie.« Jerro setzte sich wieder auf und stellte seine Comics wieder ins Regal. »Normale Leute wissen solche Sachen nicht.«

»Normale Leute haben auch nicht eine Million Comicbände.«

»Es sind nur 724«, sagte Jerro.

Mick tat erstaunt. »So wenige?«

Jerro musste wieder lachen. Das gab Mick ein gutes Gefühl. Er hatte gar nicht gewusst, dass er so witzig sein konnte.

»Okay, es sind schon eine Menge«, gab Jerro zu. »Aber ich sammle sie auch schon sehr lange.«

Einen Augenblick war es still.

»Warum bist du eigentlich erst heute auf unsere Schule gekommen?«, fragte Mick dann.

»Früher ging nicht. Wir haben vorher in den USA gewohnt.«

Das Land, aus dem die besten Science-Fiction-Filme kamen!

»Hast du ein paar bekannte Schauspieler gesehen?«

»Wenig Gelegenheit. Ich durfte das Gelände kaum verlassen«, murrte Jerro. »Meine Mutter hat nicht viel Vertrauen zu frisch eingestellten ausländischen Leibwächtern.«

»Und was ist mit Alfred?«

»Der war hiergeblieben.«

Mick nahm noch einen Windbeutel. »Scheint mir ziemlich nervig. Ständig so ein Leibwächter in der Nähe.«