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Auf ihrem Road Trip durch Spanien stranden die Cousins Kris und Hopper in dem kleinen Bergdorf Ódrin. Während sie in einer Kneipe die gutaussehende Ana kennenlernen, merken sie, dass nicht alle Dorfbewohner den Fremden so aufgeschlossen begegnen. Ungeklärte Todesfälle halten den Ort seit einiger Zeit in Atem. Ein Virus greift um sich, von dem man nicht weiß, woher es kommt. Kris und Hopper versuchen hinter die Fassade zu schauen und merken zu spät, dass dies ein tödlicher Fehler war.
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Seitenzahl: 275
Mirjam Mous
Virus
Wer aufgibt, hat verloren
Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer
Mirjam Mous,geboren 1963 in Made in den Niederlanden, arbeitete als Sonderschullehrerin, bevor sie hauptberuflich Schriftstellerin wurde. Sie schreibt Bücher für Kinder und Jugendliche und ist besonders bekannt für ihre mitreißenden Thriller. Ihr erster Jugendroman »Boy 7« wurde verfilmt und lief 2015 in den deutschen Kinos.
Weitere Bücher von Mirjam Mous im Arena Verlag:Boy 7 – Vertraue niemandem. Nicht einmal dir selbst Room 27 – Zur falschen Zeit am falschen Ort Password – Zugriff für immer verweigert Crazy Games – Der perfekte Tag, der in der Hölle endet
1. Auflage 2016 © für die deutschsprachige Ausgabe 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Virus« bei Van Holkema & Warendorf, Bouten. © 2015 Van Holkema & Warendorf/Unieboek The Netherlands Alle Rechte vorbehalten Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer Covergestaltung: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80578-8
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Teil 1
FLÜCHTEN
Wer vor dem Feuer wegläuft, fällt ins Wasser.
(Jüdisches Sprichwort)
1
Du kommst mir vor wie Opa.« Hopper grinst und schaut kurz zur Seite. »Der kann auch nicht ohne Nickerchen.«
Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und knurre wie ein Hund.
Wie lange habe ich gepennt? Lange genug, um in einer komplett anderen Umgebung aufzuwachen. Den Asphalt mit den gelben Streifen haben wir hinter uns gelassen und fahren nun auf einer schmalen, gewundenen Bergstraße unter tiefschwarzem Himmel.
»Sind wir hier auch richtig?«, frage ich und rieche an meiner Hand.
»Der Karte nach ist das die kürzeste Strecke.«
»Auch die schnellste?«
Meine Worte gehen im Lärm eines plötzlich einsetzenden Platzregens unter. Hopper schaltet die Scheibenwischer ein. Obwohl sie auf höchster Stufe stehen, können sie die Wassermassen kaum bewältigen. Es ist fast wie in einer Waschstraße – nur steht der Wagen nicht still. Er fährt, und das nicht gerade langsam. Am liebsten würde ich Hopper bitten, das Tempo zu drosseln – nasser Asphalt ist glatt und hinter jeder Kurve kann uns einer entgegenkommen. Aber wenn man meinen Cousin um etwas bittet, macht er meistens das Gegenteil, also halte ich wohlweislich den Mund.
Seinen linken kleinen Finger hat er im Lenkrad eingehakt, die restlichen Finger benutzt er, um sein Tabakpäckchen festzuhalten und sich eine Kippe zu drehen. Dass man in einem Mietwagen nicht rauchen darf, ist ihm egal. Wenn es nach Hopper geht, sind Regeln nur dazu da, sie zu brechen.
Ich liebe Regeln. Sie sorgen für Klarheit und geben mir Ruhe und Halt. In einer übersichtlichen, vorhersehbaren Situation leide ich weniger unter meinen Tics.
Bei diesem Unwetter mit Hopper im Auto zu sitzen, ist ganz sicher keine beruhigende Situation. Die Scheiben sind in null Komma nichts beschlagen und trübe. Ich öffne mein Fenster einen Spalt und lasse die Klimaanlage blasen, was zwar hilft, aber letztlich auch keinen großen Unterschied macht, denn selbst mit freien Scheiben sehen wir kaum mehr als ein paar Meter vor uns.
Die aufregende Fahrt ist ein gefundenes Fressen für meinen Tourette. Ich knurre nicht nur, sondern zucke auch noch mit beiden Augen. Früher wurde das belächelt, aber damals dachten sie noch, ich wäre ein normales Kind, das bloß noch nicht richtig zwinkern kann. Heute bezeichnen sie mich als Freak und lachen mich aus. Manchmal mitten ins Gesicht. Aber meistens hinter meinem Rücken, angeblich, weil sie mich nicht verletzen wollen – als wäre jemand mit Tourette taub und blind. Im Gegenteil, ich höre und sehe gerade alles. Flüstern oder Brüllen, prasselnder Regen oder das Knistern eines Tabakpäckchens – bei mir kommt alles überlaut an.
Hopper leckt am Blättchen, zupft den Tabak ab, der an den Enden übersteht, und steckt sich die Kippe zwischen die Lippen. Dann fischt er sein Feuerzeug aus dem Päckchen.
»Fuck.«
Das Zippo ist ihm aus den Fingern gerutscht. Er tastet mit der Hand unter seinen Oberschenkeln.
»Da, bei deinen Füßen«, sage ich.
Er schaut nach unten und streckt den Arm aus. Ich setze mich wieder aufrecht hin, lehne den Kopf an und … kriege einen wahnsinnigen Schrecken. Da ist ein Mann auf der Straße!
»Stopp!«, höre ich mich schreien.
Hopper kommt hoch. Er flucht und steigt in die Eisen, die Reifen quietschen, die Luft wird aus meinen Lungen gepresst und ich denke, anhalten, anhalten, jetzt halt doch an, aber das Auto schlittert einfach weiter, geradewegs auf den Mann zu.
Ich stemme mich in den Sitz, eine Hand am Armaturenbrett. Mit der anderen umklammere ich den Griff über meiner Tür. Dann kommt der Aufprall. Es fühlt sich an, als käme der Schlag direkt aus meinem eigenen Herzen. Der Mann rutscht über die Motorhaube auf uns zu, dann wieder von uns weg und landet mit einem Rums auf der Straße. Ich habe eine Höllenangst davor, dass wir ihn auch noch überrollen, aber das Auto bleibt rechtzeitig stehen. Nur die Scheibenwischer schwenken weiter hin und her und fegen die Tropfen zur Seite, immer wieder, und nach jedem Wischen sehe ich den Mann auf der glänzenden Straße liegen. Vor lauter Angst, Tourette könnte mich zwingen, ihn anzufassen, traue ich mich nicht auszusteigen. Meine Augen zucken, ich recke den Nacken und knurre.
Hopper flucht. Das Tabakpäckchen ist auf seinen Schoß gefallen. Wütend schlägt er es von sich.
»Was sollen wir machen?« Die Panik gellt in meiner Stimme. »Wir müssen was machen. Nasse Sachen. Wasserdrachen.«
Hopper rüttelt an der Tür. Er scheint nicht mehr zu wissen, wo was ist, denn erst geht das Fenster auf, dann die Tür. Er steigt aus. Im gebündelten Scheinwerferlicht geht er zu dem Mann.
Ich kann immer noch nicht normal atmen. Vor meinen Augen tanzen schwarze Flecken und ich verliere fast das Bewusstsein. Zuck, zuck, zuck. Tür auf! Ich steige aus und sauge die frische Luft tief ein. Regen trommelt auf meine Schultern und schmale Wasserbäche rinnen mir in den Kragen. Mein Körper kommt wieder zu sich. Gänsehaut.
Hopper stupst den Mann mit der Schuhspitze in die Seite. Er trägt einen roten Trainingsanzug und giftgrüne Sportschuhe. Der Mann, meine ich – Hopper trägt Jeans und Cowboystiefel aus nachgemachtem Krokodilleder. Ich tippe darauf, dass der Mann ein Jogger ist, aber im Moment bewegt er sich nicht gerade viel.
»Lebt er noch?«, frage ich angespannt, während ich in sicherer Entfernung bleibe.
Hopper geht in die Hocke und legt dem Mann die Fingerspitzen an den Hals. Ein paar Augenblicke, dann stößt er einen unterdrückten Schrei aus und fasst sich an den Kopf.
Da ist was im Busch, registriert mein Gehirn. Sei still, kusch!
»Was für ein Idiot«, sagt Hopper aufgebracht. »Wer geht denn auch bei dem Sauwetter joggen?!«
Als wäre der Mann selbst schuld, dass er tot hier liegt.
Jetzt erst dringt es ganz zu mir durch: Ich schaue also gerade auf eine Leiche. Blitzartig sehe ich auch mich selbst tot auf dem Boden liegen. Ich denke an Leichen im Film und in Fernsehserien, die aufstehen, sobald der Regisseur »Cut« ruft. Hopper liebt Filmleichen.
Eine Leiche ist kein Mensch, sondern ein Ding. Ich brauche es nicht anzufassen, nicht einmal, wenn es noch keine Armlänge von mir entfernt liegt. Eigentlich will ich auch gar nicht hinschauen, aber es geht nicht anders: Ich kann meinen Blick einfach nicht davon losreißen. Die Leiche liegt ein paar Meter vor dem Auto, die Beine seltsam angewinkelt. Das Gesicht ist bleich und die blonden Haare kleben am Schädel. An einer Seite sind sie nass und dunkel, als würde etwas auf sie tropfen. Regenwasser und Blut, versuche ich, mich selbst zu beruhigen – aber dann muss ich an dieses dämliche Spiel denken, das wir früher im Gruselzeltlager spielten, und sofort bekomme ich diesen anderen Gedanken nicht mehr aus dem Kopf, den Gedanken an tropfende Hirnmasse.
Ich beuge mich vor und übergebe mich in die Böschung.
Hopper steht plötzlich neben mir und klopft mir auf den Rücken. Ich wische mir den Mund mit meinem klatschnassen Ärmel – eins – ab und reibe mir – zwei, drei – über die Augen. Dann sehe ich die Bewegung am Berghang. Erst glaube ich noch an eine Kuh oder eine Gämse, aber die laufen nicht auf zwei Beinen. Ein Mann oder eine Frau, jedenfalls steigt die Gestalt ziemlich schnell zur Straße hinunter.
»Da hat jemand den Aufprall gehört«, sage ich.
Hopper zögert keine Sekunde. »Weg hier.«
Die Türen stehen noch offen. Vor lauter Nervosität gehe ich zur Fahrerseite. Ich könnte mir selbst vor den Kopf schlagen und will kehrtmachen.
»Egal. Gib Gummi.« Hopper sitzt schon auf meinem Platz.
Laut muhend steige ich ein. Meine Muskeln zittern. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt fahren kann …«
»Nöl nicht rum«, schnauzt Hopper. »Gas!«
Aber ich habe alles vergessen, was ich während Hoppers Fahrstunden gelernt habe, schalte gleich hoch in den Zweiten und würge den Motor fast ab.
»Schalten, du Depp!« Aufgebracht zerrt Hopper an seiner Lederjacke.
Hastig schalte ich zurück. Ich gebe jetzt so viel Gas, dass das Auto einen Satz nach vorn macht und ich den Mann fast noch einmal anfahre.
»Rückwärts!«, schreit Hopper.
Keine Ahnung, wie, aber es klappt. Ich lenke den Wagen um die Leiche herum und rausche wie ein Kamikazefahrer im Affenzahn über die Bergstraße, während ich bete, nur keinen weiteren Joggern zu begegnen. Mein Mund murmelt unablässig und über meine Wangen rollen Tränen. Ich weiß schon jetzt, dass ich morgen noch mehr Nackenschmerzen haben werde als sonst, denn ich kann nicht aufhören, meinen Hals zu recken.
Hopper stellt das Radio an, wahrscheinlich, damit er mein Gejammer nicht mehr anhören muss. Er selbst ist ganz anders veranlagt, er schimpft lieber.
Die Musik wirkt aufputschend, ich drücke das Gaspedal tiefer durch. Die feuchte Kühle, die durch das geöffnete Fenster hereinweht, strafft die Haut in meinem Gesicht. Hopper hämmert weiter auf den Lautstärkeregler ein, bis sich der Ton verformt und die Boxen fast durchknallen. Ich kann mich kaum noch denken hören und starre auf die Lichtbündel der Scheinwerfer. Wo sie enden, verschwindet die Straße hinter den Felsen. Wenn ich nicht schnell genug am Steuer reiße, stürzen wir in den Abgrund.
Ich schaffe es – dankedankedanke – gerade noch schnell genug.
Aus meiner Nase läuft Rotz. Ich ziehe ihn wieder hoch. Meine Knochen sind durchgefroren, trotzdem schwitze ich wie ein Otter. Fahren, Kris, Katzenschiss, Ärgernis, schneller und schneller. Weg von diesem elenden Ort! Ich knurre und zucke. Wir fahren, ich weiß nicht, wie lange. Ich nehme unzählige Kurven und besiege sie alle.
Aber dann kommt plötzlich eine, die ich unterschätzt habe.
2
Ich reiße am Steuer. Augenblicklich verlieren die Reifen die Bodenhaftung und der Wagen gerät ins Kreiseln. Wir drehen uns und drehen immer weiter, es scheint kein Ende zu nehmen. Wir streifen ein Verkehrsschild – ich höre Metall an Metall schrappen –, dann schlittert der Wagen mit dem Heck zur Böschung und wir rutschen rücklings den Berg hinab. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich umklammere das Lenkrad, boingboingboing machen die Räder, wo geht die Reise hin, tingeling?
»Mach was, du Stümper!«, ruft Hopper. Dann sacken die Hinterräder in irgendeine Kuhle. Der Wagen neigt sich nach hinten und bleibt abrupt stehen.
Bäng!
Wir werden in die Sitze gedrückt und federn wie Dummies beim Crashtest wieder nach vorn. Der Motor setzt aus, aber das Radio dudelt weiter. Als Hopper es ausschaltet, wird es ohrenbetäubend still. Sogar Tourette hält mal kurz die Schnauze.
Benommen taste ich nach meiner pochenden Stirn. An meiner Augenbraue sickert etwas. Blut? Tutnichtgut. Ich glaube, ich bin mit dem Kopf auf das Lenkrad gedonnert. Warum ist dieser blöde Airbag nicht aufgegangen? Ich bin todmüde und alles tut weh.
Hopper hat noch genug Energie, um auf das Armaturenbrett einzutreten und mich zu verfluchen.
»Fahrlehrer, kein Verehrer!«, ruft Tourette.
»Tut mir leid«, sage ich heiser.
Hopper versetzt der Tür noch einen Stoß mit dem Ellenbogen. Dann hat er sich endlich ausgetobt.
Der grüne Aufkleber auf der Frontscheibe taucht wie ein Pop-up in meinem Augenwinkel auf. Ich schaue auf die Telefonnummer, die darauf steht – 24 STUNDEN ERREICHBAR IN NOTFÄLLEN.
»Was machen wir?«, frage ich. »Europcar anrufen und sagen, dass wir einen Unfall hatten?«
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