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Der Kampf um die Macht der Daten hat begonnen … Big Data und KI verändern unsere Welt schon heute - doch das ist erst der Anfang. Ein schonungsloser Thriller über die Zukunft der Digitalisierung für Jugendliche ab 14 von Mirjam Mous, der Erfolgsautorin von Boy 7. Zwischen Regierung und Hackern tobt ein Kampf um die persönlichen Daten der Menschen. Zwei Geschwister werden in das brisante Spiel hineingezogen, doch die Regeln sind undurchschaubar - und tödlich. Der siebzehnjährige Holden und seine Schwester Prissy leben in Paradise - einer Stadt, in der es keine Armut, keine Umweltverschmutzung und keine Verbrechen gibt. Während Prissy mit ihren Freundinnen im Camchat abhängt und per ID-Armband auf Shopping-Tour geht, rebelliert Holden gegen die starren Regeln der Gesellschaft. Heimlich streift er durch abgesperrte Naturreservate und schmuggelt von dort verbotene Gegenstände in die Stadt - bis er ins Visier der Ordnungskräfte gerät. Sie wissen alles über seine Streifzüge und sperren ihn als Straftäter ins berüchtigte Cliffton Institut. Als Holden abgeführt wird, gerät Prissys heile Welt ins Wanken. Da taucht plötzlich der undurchschaubare Hacker Mo auf und bietet ihr seine Hilfe an. Im Gegenzug soll Prissy bei einem riskanten Daten-Coup mitmachen, der ganz Paradise in Trümmer legen könnte. Während Prissy sich immer tiefer in die illegalen Machenschaften hineinziehen lässt, erkennt Holden im Institut, dass die Regierung von Paradise ein falsches Spiel mit ihnen allen spielt - und dass Prissy und er keineswegs zufällig zwischen die Fronten geraten sind. Data Leaks - Wer macht die Wahrheit? ist der Auftakt eines atemlos spannenden Zweiteilers. Das Finale Data Leaks - Wer kennt deine Gedanken? erscheint im Frühjahr 2021 Weitere Bücher von Mirjam Mous beim Arena Verlag: Boy 7. Vertrau niemandem. Nicht einmal dir selbst Last Exit. Das Spiel fängt gerade erst an Password. Zugriff für immer verweigert Room 27. Zur falschen Zeit am falschen Ort Paradise Project. Der Schein lügt Crazy Games. Der perfekte Tag, der in der Hölle endete
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Seitenzahl: 400
Weitere Bücher von Mirjam Mous beim Arena Verlag:
Boy 7 – Vertraue niemandem. Nicht einmal dir selbst
Room 27 – Zur falschen Zeit am falschen Ort
Password – Zugriff für immer verweigert
Crazy Games – Der perfekte Tag, der in der Hölle endet
Virus – Wer aufgibt, hat verloren
Last Exit – Das Spiel fängt gerade erst an
Paradise Project – Der Schein lügt
Mirjam Mous,
geboren 1963 in Made in den Niederlanden, arbeitete als Sonderschullehrerin, bevor sie hauptberuflich Schriftstellerin wurde. Sie schreibt Bücher für Kinder und Jugendliche und ist besonders bekannt für ihre mitreißenden Thriller. Ihr erster Jugendroman »Boy 7« wurde verfilmt und lief 2015 in den deutschen Kinos.
Mirjam Mous
Data Leaks
Wer macht die Wahrheit?
Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer
Ein Verlag in der
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »H@ck Het instituut #1« bei Van Goor, ein Imprint von Uitgeverij Unieboek | Het Spectrum, Amsterdam, Niederlande.
Text copyright © 2019 by Mirjam Mous
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2020 Arena Verlag GmbH
Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer
Die Übersetzung dieses Buches wurde von der niederländischen Stiftung für Literatur gefördert.
Covergestaltung: ZEROWerbeagentur, unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock/gbdesign; Vesnin_Sergey; Photo Win1
E-Book-Herstellung:
Arena Verlag mit parsX, pagina GmbH, Tübingen
Zu diesem Titel stehen Unterrichtserarbeitungen zum kostenlosen Download zur Verfügung.
E-Book ISBN978-3-401-80923-6
Besuche den Arena Verlag im Netz:
www.arena-verlag.de
Sie wollte die Welt sehen. Er installierte Google Earth.
– Leukespreuken.nl
Den Tracker auf meinem Camphone habe ich zu Hause schon ausgeschaltet und nirgends sind Kameras oder mögliche Denunzianten zu sehen, die mich erwischen können. Nur ein schlichtes Schild mit strengen Buchstaben:
ZUTRITT VERBOTEN. NATURSCHUTZGEBIET.
Zum Spaß mache ich ein Camfie.
Die Eisenstäbe unter meinen Füßen schwingen mit. Drei Schritte, dann habe ich den Wildrost überquert. Das Gelände ist rau, genau wie erhofft. Hohes Gras, dichtes Gestrüpp und hier und da eine Baumgruppe. Alles surrt und summt von Insekten.
Wenn das ein stumpfsinniges Game wäre, würde jetzt ein Hubschrauber am Himmel auftauchen. Paramilitäreinheiten würden sich abseilen und ihre Waffen auf mich richten.
Aber das ist kein Game. Das ist echt. Das Rascheln der Blätter, der aufsteigende würzige Duft, der …
Zwischen den Stämmen bewegt sich etwas!
Mit klopfendem Herzen zwänge ich mich durchs Unterholz. Zweige piksen durch meine Hose und ein widerspenstiger Dornenzweig hinterlässt einen Kratzer auf meiner Hand. Ich merke es kaum und schlage mich weiter durch, bis ich zu einer Lichtung gelange.
Achtung! Still jetzt.
Ich verstecke mich hinter einem riesigen Ahorn und spähe am Stamm vorbei.
Na bitte, ich habe mich nicht geirrt. Dahinten äst ein Hirsch!
Mein Camphone auf das imposante Tier gerichtet, schleiche ich mich an. Die Umstände sind perfekt. Die Morgensonne legt eine sanfte Glut über das braune Fell und der Wind weht aus der richtigen Richtung. Solange ich den im Gesicht spüre, wird mich Herr Wapiti nicht riechen. Meine Arme zittern leicht vor Aufregung. Ich bin mir sicher: Das wird das beste Camfie, das ich je gemacht habe!
Noch einen Schritt …
Ein leises Knacken unter meinen Füßen.
Ich erstarre – nein! –, aber es ist schon zu spät. Der Kopf mit dem gigantischen Geweih hebt sich und zwei Augen starren mich an.
Husch!
Noch bevor ich die Aufnahmetaste berühren kann, ergreift der Hirsch die Flucht.
»Blödmann«, murmele ich. So eine Chance bekommst du nie wieder.
Und da passiert’s.
Vor lauter Frust stampfe ich mit dem Absatz auf. Offenbar trete ich etwas kaputt, denn plötzlich ist der feste Boden unter meinen Füßen verschwunden! Ich schreie und meine Hand sucht nach einem Strauch oder Zweig, doch da ist nichts, an dem ich mich festklammern kann, also rutsche ich pfeilschnell weiter, geradewegs nach unten in die Tiefe.
Die Landung erfolgt früher als gedacht. Meine Fußgelenke sind dem Aufprall nicht gewachsen und knicken um, und obwohl ich noch einen ungeschickten Versuch starte, mich mit den Armen zu halten, donnere ich mit der Hüfte auf den Boden.
Es tut weh. So gemein weh, dass ich einen Moment liegen bleiben muss, bis die schlimmsten Schmerzwellen verebbt sind. Unterdessen versuche ich, mich selbst zu beruhigen. Eigentlich habe ich noch Glück gehabt. Wenn mir das weiche Ding auf dem Boden nicht Kopf und Schultern gerettet hätte …
Ich schicke meine Finger auf Erkundungstour.
Eine Matratze, schätze ich, mit einem schmutzigen Schlafsack darauf.
Als Pa Feuer fing, gab es nichts, das ihn schützte.
Ich will mich aufrappeln, aber meine Muskeln zittern noch zu sehr vom Schreck des Aufpralls. Es fällt mir schon schwer, mich auf die Matratze zu ziehen und hinzusetzen. Ich fröstele und meine Zähne klappern unaufhörlich. Hier ist es kalt und dunkel wie in einem Keller – bloß liegen dort eher selten Matratzen.
Ich lege mir den Schlafsack um. Staubteilchen kitzeln in meiner Nase und ich muss niesen.
Ob das eine alte, illegale Deponie ist? Vielleicht hat jemand einfach einen Haufen Müll in eine unterirdische Höhle gekippt und dann Bretter über den Eingang gelegt, damit sie nicht auffällt? Dieselben Bretter, auf die ich vorhin in meiner Wut gestampft habe, sodass …
Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue nach oben zu dem Loch, durch das ich gefallen bin. Ein quadratisches Stück blauer Himmel, an das ich im Leben nicht heranreiche.
Jetzt erst wird mir der Ernst der Situation so richtig bewusst.
In verbotene Naturschutzgebiete kommt fast nie jemand.
Und kein Mensch ahnt, dass ich hier bin.
»Richtig schwimmen?«, fragt Flow. »Mit Wasser und allem, meinst du?« Sie macht ein Gesicht, als hätte ich etwas ganz Schreckliches vorgeschlagen. Nackt ins Kino gehen oder so.
Ich nicke meinen Freundinnen auf dem Camphone-Display zu. »Park Pool ist anders. Wenn man erst einmal dort gewesen ist …«
»Chlor ist schlecht für die Haut«, sagt Anna mit ihrer tiefen, heiseren Stimme.
Brooklyn rümpft ihre sommersprossige Stupsnase. »Und man stinkt den ganzen Tag nach Schwimmbad.«
Seufz.
Ich lege den Kopf schief, als würde ich lauschen.
»Mama ruft mich«, lüge ich und tippe mit meinem blau lackierten Fingernagel auf den Bildschirm.
Camchat beendet.
Das alte Schwimmbad hatte glanzlose Fliesen und die Duschräume waren voller Schimmel. Wirklich supereklig. Aber nach einer Weile werden sogar die übelsten Dinge selbstverständlich. Ich schaute einfach nicht mehr hin und dann sah ich es nicht mehr.
Park Pool ist erst seit zwei Monaten eröffnet und längst noch nicht selbstverständlich für mich. Alles an und in diesem Gebäude blinkt und sprudelt. Die Fassade sieht aus wie ein lebensechtes Meeresaquarium mit schwimmenden Fischen und Anemonen, die sich in der Strömung wiegen. Der aufgesperrte Rachen eines Riesenhais bildet den Eingang.
Kaum bin ich drin, leuchtet das ID-Bändchen an meinem Handgelenk kurz auf.
Prissy Winters, fünfzehn Jahre und Abonnentin.
Ich wurde identifiziert. Ein Piepston gibt den Weg frei.
Ein langer Gang führt mich und die anderen Besucher automatisch zum Poolplatz. Aus den kleinen Lautsprechern an der Wand kommen Walgesänge. Total Zen, würde Mama sagen. Ich hätte lieber den neuen Song von Janx gehört als dieses einsame Gejammere und gehe schnell weiter.
Der Poolplatz besteht aus einem Kreis blauer Mosaiksteinchen, in deren Mitte eine Säule nonstop Videos zeigt. Flirrende Pfeile weisen den Weg zum Schwimmbad, den Umkleiden und Schließfächern und zu Finding Nemo – ein Restaurant mit unendlich leckeren Algenshakes und Yummys mit Sushigeschmack. Ich schaue mir den neusten Werbespot auf dem Monitor an. In einer Sprechblase wie in einem Comic sagt ein Mädchen mit Muscheln im Haar: Heute ist Thunfisch im Angebot!
Ich habe meinen Badeanzug zu Hause schon angezogen und gehe gleich weiter zu den Schließfächern.
Sandalen aus. Reißverschluss auf.
Gerade will ich aus der Hose steigen, als mein Camphone pingt.
Hat Flow es sich überlegt? Das kann ich mir nicht vorstellen.
Neugierig schaue ich auf das Display.
Prissy Winters, oder?
Ich runzele die Augenbrauen. Die Nachricht stammt von jemandem, der sich Mo nennt. Das Profilfoto zeigt kein erkennbares Portrait, sondern einen gruseligen Totenkopf mit unschuldigen Manga-Augen.
Wie kommst du an meine Nummer? Ich kenne keinen Mo. Ich schicke es ab.
Er antwortet sofort: Eigentlich heiße ich Mateo, aber keiner nennt mich so.
In der Schule gibt es einen Matt und ich habe einen Großneffen, der Morrison heißt. Aber einen Mateo …
Das ist bestimmt irgend so ein fieser alter Kerl, der meine Camfies auf Supershoot gesehen hat. Neulich hielt eine junge Frau an unserer Schule einen Vortrag, in dem sie uns vor solchen Typen warnte. Männer, die so tun, als wären sie Jugendliche, die Gleichaltrige kontaktieren wollen. Sie selbst war auch von so einem Ekel missbraucht worden, nachdem sie auf seine Nachrichten eingegangen war.
Ich kenne auch keinen Mateo und ich clicke nicht mit Fremden.
Ich verschicke die Nachricht, werfe mein Camphone in eine meiner Sandalen, stelle sie ins Schließfach und lege meine Hose und Bluse obenauf.
Ping.
Nicht gucken! Ich schlinge mir mein Handtuch um die Taille, knalle die Schließfachtür zu und halte mein ID-Bändchen vor den Scanner.
Ein Brummton. Verschlossen.
Wie dumm. Meine Schwimmbrille steckt noch in meiner Hosentasche.
Ich öffne das Fach wieder und dann gucke ich natürlich doch.
Aber ich kenne dich, steht auf dem Display.
Ich fasse an mein ID-Bändchen. Vor ein paar Monaten schien es mir noch eine geniale Idee, den Tracker ausbauen zu lassen. Eine kniffelige Feinarbeit laut Willy, der schamlos dreihundert Dash dafür verlangte. Das war es mir wert, denn ohne Tracker kann ich überall unbemerkt rumstromern. Willy hatte mich noch gewarnt und gesagt, die Notfalltaste an meinem Bändchen würde dann auch nicht mehr funktionieren, aber das war mir völlig egal. Kein Tracker bedeutete Freiheit.
Und dadurch bist du jetzt hier gefangen, Trottel. Vielleicht für immer.
Ich versuche, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Nicht in Problemen denken, sondern in Lösungen, wie es Pa immer tat. Der hätte bestimmt gewusst, wie man hier heraus…
Mein Camphone! Wenn das Gerät den Sturz überlebt hat, kann ich dort den Tracker einschalten und jemanden benachrichtigen.
Ich schaue mich um, aber es ist, als wäre ich nachtblind. Das hat was mit Stäbchen und Zäpfchen zu tun, erinnere ich mich vage. Wahrscheinlich habe ich zu lange durch dieses dämliche Loch nach oben gestarrt und meine Augen müssen sich jetzt erst wieder an die Dunkelheit gewöhnen.
Geduld ist nicht meine Stärke. Ich werfe den Schlafsack von mir, knie mich hin und taste die Umgebung ab. Matratze, Matratze, Boden …
Da liegt was!
Sobald ich die Konturen meines Camphones erkenne, stoße ich einen Freudenschrei aus. Meine Stimme hallt im Raum wider. Ich tippe mit dem Daumen und plötzlich habe ich Licht!
Gebrochenes Licht, denn über das Display zieht sich ein gewaltiger Sprung. Ich reibe darüber, bis das Glas warm genug ist und sich selbst reparieren kann. Der Sprung schrumpft zu einem Haarriss und verschwindet dann komplett. Ich kann das Display wieder ablesen.
Die Balken oben links prophezeien nichts Gutes. Oder eigentlich müsste ich sagen, die fehlenden Balken. Ich strecke den Arm, aber es hilft nichts. Auch Aufstehen macht keinen Unterschied. Als ich mich genau unter die Deckenöffnung stelle und mich so lang mache, wie es geht, sehe ich immer noch dasselbe.
Null Balken.
Diese Höhle ist wahrscheinlich der letzte Ort auf dieser Erde ohne Empfang.
Die unebene Matratze bringt mich ins Wanken. Meine Gelenke haben sich noch immer nicht ganz von dem Schlag erholt und ich stöhne vor Schmerz. Vielleicht liegt hier ja noch mehr herum, fällt mir ein. Nicht nur Matratzen, sondern auch anderer Kram. Sachen, mit denen ich ein Gerüst bis oben zum Loch in der Decke bauen kann.
Die Taschenlampenfunktion braucht keinen Empfang. Ich schalte sie in den hellsten Modus und leuchte mit dem Camphone um mich. Das ist nicht die illegale Deponie, die ich erwartet habe. Am ehesten ähnelt es noch einem unterirdischen Geschäft. Überall stehen voll beladene Regale. Ich sehe Hunderte Literflaschen Wasser, je sechs in einem Karton. Stapelweise Decken und Handtücher, Klopapierrollen – genug für ein ganzes Jahr – Seife, weiße Dosen mit roten Kreuzen darauf, ein paar Trillerpfeifen, Stifte und Papier, tütenweise Teelichter und Kerzen, Streichholzschachteln und Feuerzeuge.
Im nächsten Schrank liegen ein Hammer, eine Säge, allerlei Zangen, ein primitiv aussehender Bohrer und Werkzeuge, von denen ich nicht einmal wüsste, was man damit anfangen könnte. Aber auch Seile in verschiedenen Dicken und Klebeband.
Danach kommen Bögen und Köcher voller Pfeile, ein Netz und dann einige Gewehre mit Dutzenden von Patronenschachteln daneben. Ich erkenne sie aus alten Kriegsfilmen und Ballerspielen. Trotzdem ist es seltsam, sie hier in echt zu sehen. Ziemlich beängstigend sogar. Ich dachte, alle Waffen seien vernichtet – bis auf die Gummiknüppel und die Taser der Ordnungskräfte.
Daneben finde ich eine durchsichtige Tüte voller Papierstapel, bedruckt mit schwarzer und grüner Tinte. Als ich den Lichtstrahl flach halte, kann ich erkennen, was draufsteht. Buchstaben – immer dasselbe S mit einem vertikalen Strich – und Porträts verschiedener Leute. Ich erkenne einen Präsidenten von vor langer Zeit und mich beschleicht allmählich das Gefühl, in einer Art Zeitloch gelandet zu sein. Das sind Zahlungsmittel aus der Zeit der Banken und Geldkarten!
Aber am beeindruckendsten sind die endlos scheinenden Dosenreihen. Sortiert nach Größe und Form. Farbe, denke ich erst noch, aber als ich genauer hinschaue, merke ich, dass es sich um eine andere Art von Dosen handelt. Diese hier haben keinen Deckel, den man mit einem Schraubenzieher hochdrücken kann, sondern Ringe zum Aufziehen. Auf der verschmutzten Außenseite sind verblasste Bilder und Buchstaben, die etwas über den Inhalt verraten: Erbsen, Sardinen, Kidneybohnen, Knackwurst, Pfirsich, Sardellenfilets, Ananas, Leberpastete und Tomatensuppe …
Das sind Lebensmittel. Keine Yummys, Shakes oder Vita, sondern nicht manipulierte Nahrungsmittel, wie sie die Leute früher gegessen haben.
Das Adrenalin schießt durch meinen Körper und ich vergesse, dass ich ganz schön in der Tinte sitze. Ich stehe in einem Schutzkeller aus der alten Zeit! Kein virtueller Schutzkeller, sondern ein echter! Einst hat jemand diese Sachen hier gesammelt und gelagert, um im Notfall überleben zu können. Alles, was hier steht, stammt aus den Jahren vor der Großen Umkehr, als die Menschen noch befürchteten, der Dritte Weltkrieg könnte ausbrechen. Unsere neuen Führenden berichten jedes Jahr an Happy Day davon.
Happy Day.
Mein Magen fühlt sich plötzlich hohl an. Dieses blöde Fest ist schon morgen. Und wahrscheinlich bin ich zum ersten Mal nicht dabei.
Aber ich kenne dich.
Was denkt der sich denn? Wenn er nur lange genug durchhält, wird sie schon reagieren?
Von wegen.
Ich stecke mein Camphone weg, verschließe das Fach zum zweiten Mal und gehe zum Poolplatz. Die Mosaiksteinchen unter meinen nackten Füßen sind angenehm warm. Ich ziehe das Gummi meiner Schwimmbrille über den Kopf, lege mein Handtuch in den wasserdichten Behälter auf dem Laufband und betrete den Duschtunnel. Lauwarme Strahlen plätschern aus der Decke auf mich nieder. Sie riechen nach Eukalyptus.
Tropfnass und bakterienrein erreiche ich die riesige Halle, in der die Menschen wie Kobolde wirken. Die Glaswände haben schwenkbare Flügel und geben den Blick auf die sanft gewellten Hügel des Parks frei. Sobald das Wetter es zulässt, stehen sie offen – wie heute.
Ich nehme mein Handtuch mit und lege es auf eines der Bänkchen neben dem Schwimmerbecken. Dann mache ich einen Kopfsprung vom nächstgelegenen Startblock und ziehe meine erste Bahn.
Die hallenden Stimmen der anderen Besucher verschwinden im Hintergrund. Ich vergesse Mo und seine Nachrichten und genieße die Geschmeidigkeit meiner Muskeln und das Gefühl der Schwerelosigkeit.
Das schwarze T auf dem Boden kündigt den Wendepunkt an. Ich mache eine Kopfrolle und bewege die Füße zur Wand. Noch im Abstoßen drehe ich mich, treibe wieder auf dem Bauch und kraule weiter. Mühelos, wie immer.
Coach Guppy fragt mich regelmäßig, ob ich in seinem Team mittrainieren will. Er sagt, damit steigen meine Chancen auf ein Sportstipendium. Aber ich will nicht, dass Schwimmen zu einer Verpflichtung wird, wie alles in der Schule. Und wer sagt, dass ich später studiere? Das dauert noch mindestens hundert Jahre.
Ich drücke mich erneut von der Wand ab und schwimme zum dritten Mal durch das Becken. Der Rhythmus meiner Schläge versetzt mich in Trance. Der Rest der Welt existiert nicht mehr. Es gibt nur noch die Stille des Wassers und die einzigen Geräusche sind meine Atmung und mein Herzschlag.
Bis jemand fast auf mich springt.
»Geht’s noch?«, rufe ich.
Ein feixendes Jungengesicht starrt mich an. Dunkle Augen mit einem spöttischen Funkeln. Am Hals ein Fußball aus Tinte.
Ich erwarte eine Entschuldigung, aber die kommt nicht. Stattdessen schluckt er Wasser, spitzt die Lippen und spritzt wie ein Wal.
Der harte Strahl trifft mich voll im Gesicht. Zum Glück trage ich eine Schwimmbrille …
»Nicht witzig«, sage ich.
Eine ältere Frau mit rosa Gummiblümchen-Bademütze schaut zu uns hinüber. Als ihr der Junge freundlich zuwinkt, wendet sie schnell den Blick ab.
»Mädchen.« Er seufzt übertrieben. »Ihr habt einfach keinen Sinn für Humor.«
»Und du hast dich verirrt.« Ich weise mit dem Kopf zur anderen Seite der Schwimmhalle. »Das Becken für die Kleinkinder ist dahinten.«
»Danke für den Tipp.« Er salutiert, verschwindet unter Wasser und schwimmt davon.
Ich schaue ihm kopfschüttelnd hinterher und ziehe weiter meine Bahnen.
Eine halbe Stunde später leere ich mein Schließfach und verschwinde in einer der Umkleiden. Kaum habe ich die Tür verschlossen, überprüfe ich mein Camphone.
Die üblichen Clicks und Camfies meiner Freundinnen.
Und ja, auch wieder eine Nachricht von Mo.
Was für ein Trottel, Mann, springt der einfach auf dich.
Das ist creepy. Woher weiß er das? Hat er mir vorhin im Schwimmbad nachspioniert?
Mit einem unbehaglichen Gefühl lege ich mein Camphone zur Seite, streife den Badeanzug runter und trockne mich hastig ab. Unterdessen versuche ich, mich an die Gesichter der anderen Besucher zu erinnern. Das einzige Bild, das aufsteigt, ist von der Frau mit der Bademütze. Sie scheint mir nicht wie jemand, der unter falschem Namen geheimnisvolle Nachrichten schickt. Aber wer dann? Jemand, der vom Rand aus zuschaute? Oder … Natürlich!
Ich habe dich durchschaut, clicke ich. Der Trottel bist du selbst!
Während ich mich anziehe, behalte ich das Display im Auge. Mos Antwort kommt in dem Moment rein, in dem ich das Magnetband meiner Sandale schließe.
Wie kannst du nur so etwas denken? Ich bin schwer beleidigt.
Gut so. Ich stopfe die nassen Badesachen in meine Tasche, hänge sie mir über die Schulter und schlendere zum Ausgang. Kurz hinter dem Poolplatz erscheint eine neue Nachricht auf meinem Display.
Er geht übrigens direkt hinter dir.
Ich kann es nicht lassen und drehe mich kurz um.
Er ist es! Der Junge mit dem Fußball-Tattoo!
Schnell schaue ich wieder vor mich. Und dann auf mein Camphone, denn Mo clickt mich wieder an.
Pass nur auf, dass er nicht noch mal auf dich springt.
Droht er mir jetzt?
Der Walgesang bekommt auch etwas Bedrohliches. Ich beschleunige meinen Schritt.
Wovor habe ich eigentlich Angst? In einem Gang voller Menschen wird er mir bestimmt nichts antun.
Mit einem Ruck drehe ich mich um und versperre ihm den Weg.
»Du schon wieder?«, fragt er gespielt erstaunt.
»Glaubst du wirklich, dass ich noch einmal darauf reinfalle?«, frage ich.
»Wie meinst du das?«
»Das weißt du genau, Mateo.« Ich spreche seinen Namen betont aus. »Oder soll ich dich Mo nennen?«
»Du darfst mich nennen, wie du willst«, sagt er. »Aber meiner Ansicht nach hast du den Falschen. Ich bin Xavi.«
»Ja, klar.«
»Du glaubst mir nicht?« Er zeigt mir sein ID-Bändchen. »Xavi Williams, sechzehn Jahre.«
Als könnte ich nicht selbst lesen.
Ein paar Mädchen starren uns an und fangen an zu flüstern. Ich spüre, dass meine Wangen wahnsinnig brennen, aber Mo scheint das vor allem witzig zu finden und schaut ungeniert hin.
»Noch schlimmer«, sage ich, »Dann hast du diese dämlichen Nachrichten also unter einem falschen Namen und falschem Profil geschickt.«
Er vergisst sein Publikum. »Welche Nachrichten?«
Ich halte ihm mein Camphone unter die Nase. »Die.«
»Die sind nicht von mir«, sagt er.
Ich schnaube.
»Guck selbst nach!« Er reicht mir sein Camphone.
Ich checke alle versendeten Nachrichten. Keine einzige ist an mich gerichtet.
»Hast du sie gelöscht?«, frage ich, nicht mehr ganz so sicher.
Er stöhnt. »Bist du paranoid, oder was? Du siehst doch, dass ich eine ganz andere Nummer habe.«
Ich kapiere gar nichts mehr. Wenn er nicht Mo ist, wer dann?
»Sorry«, murmele ich und gebe ihm sein Camphone zurück. »Hab ich mich wohl getäuscht.«
»Kein Problem«, sagt Xavi.
Idiotin, kann ich ihn denken sehen.
Während er sich von mir entfernt, pingt mein Gerät.
Wieder eine Nachricht von Mo: Sagte ich doch.
Ich habe mein Camphone auf eine Packung Klopapierrollen gelegt, gestützt von einer Streichholzschachtel, damit der Lichtstrahl schräg nach oben weist und ein Regal beleuchtet.
Zum ersten Mal steigt ein Fünkchen Hoffnung in mir auf. Der Boden ist leer. Die Matratze lehnt jetzt an der Wand. Ich muss nur noch das Regal unter die Öffnung in der Decke schieben und auf das oberste Brett klettern. Dort oben, so viel näher an der Außenwelt, habe ich bestimmt wieder Empfang. Vielleicht erreiche ich sogar den Rand des Lochs, kann mich hochziehen und hinausklettern.
Das glaubst du wohl selbst nicht, höre ich Papa sagen.
Ja, ich weiß, dass er tot ist. Und nein, ich bin nicht verrückt – auf jeden Fall nicht verrückter als die meisten Leute, auch wenn sie das in der Klinik von mir denken. Trotzdem höre ich Pa noch manchmal in meinem Kopf und dann rede ich in Gedanken mit ihm – wie manche Leute mit Gott oder Allah sprechen. Nur dass die nie zu einem Psychiater geschickt werden …
Ich hole tief Luft. Dann schraube ich meine Hände fest um die Regalstützen und zerre mit aller Kraft daran.
Mistding! Es bewegt sich keinen Millimeter.
Ich fege die Konservendosen runter, damit es leichter wird. Mit viel Getöse fallen sie zu Boden – bis auf eine blöde Büchse, die unbedingt auf meinem rechten Schuh landen muss.
Del Monte, 415 Gramm halbe Birnen im eigenen Saft.
Es fühlt sich so an, als hätte ein Hammer meinen großen Zeh geplättet. Ich denke an Doktor Wendy. An einem Nachmittag hat sie mich hundert Stressflaschen zerschlagen lassen, während ich auf alles und jeden fluchen durfte wie ein Kutscher.
»Scheißbirnen in fucking schwerem Saft!« Ich raffe die Dose auf und schmettere sie gegen die Wand.
Es hilft nicht die Bohne. Ich komme mir höchstens lächerlich vor.
Während ich mir große Mühe gebe, meinen pochenden großen Zeh zu ignorieren, umarme ich das Regal von der Seite. Ich schlinge die Arme um die beiden Stützen und verflechte meine Finger.
Ziehen.
Keine Bewegung.
Ich beuge mich mit vollem Gewicht hintenüber, aber das Ding ist wie festgeklebt. Um besser sehen zu können, nehme ich mein Camphone dazu.
Es ist noch schlimmer. Die Regalfüße stehen in einer Art Betonbett.
Meine Hoffnung schrumpft wie brennendes Papier. Welcher Idiot hat sich das ausgedacht? Jemand mit einer Phobie vor umfallenden Regalen? Derjenige braucht eine Therapie viel dringender als ich.
Der Schmerz in meiner Hüfte und in den Fußgelenken lodert wieder auf und plötzlich bin ich todmüde. Mit der Schuhkante schubse ich vorsichtig ein paar Dosen zur Seite, damit ich die Matratze wieder auf den Boden fallen lassen kann. Noch immer keuchend, setze ich mich hin, den Schlafsack als Kissen im Rücken.
Was soll ich denn jetzt machen?
Eine riesige Welle Selbstmitleid steigt in mir auf.
Stell dich nicht so an, sagt Pa. Das willst du doch? Abenteuer erleben?
Ich rolle die nächstliegende Konserve zu mir und betrachte das Etikett. Ananasscheiben. Echtes Essen. Wenn ich sowieso nicht mehr wegkann …
Mein Finger hat sich schon unter den Ring gezwängt. Ich ziehe den Deckel hoch.
Gelbliche Früchte in trübem Wasser mit einem überwältigend süßen Duft. Ich fange vorsichtig an und schlecke daran wie eine Katze. Die Flüssigkeit reizt meine Zunge und schreit meinem Hirn augenblicklich zu: Mehr! Gierig schöpfe ich die Scheiben aus der Dose und stopfe sie mir in den Mund. Die Ananas ist schlaff und weich und zerfällt. Meine Hände werden klebrig und der Saft tropft mir übers Kinn. Es ist mir egal. Ich esse und trinke, bis die Dose komplett leer ist.
Schon nach wenigen Minuten bereue ich es. Mein Bauch fühlt sich ekelhaft geschwollen an und ich sterbe vor Durst. Hoffentlich habe ich mich nicht vergiftet! Diese Konserven sind steinalt. Nervös checke ich mein ID-Bändchen, aber das gibt glücklicherweise weder einen Alarm von sich noch ungebetenen medizinischen Rat.
Ich drücke mich hoch und nehme eine Flasche Wasser, um den Kleb von Gesicht und Fingern zu spülen. Dann lasse ich mich wieder auf die Matratze fallen und trockne mir die Hände an der Hose ab. Wie lange kann man Wasser wohl aufbewahren?
In einem verlassenen Schutzkeller todkrank werden ist echt ein furchtbar schlechter Plan, mischt Pa sich ein.
Bei lebendigem Leib verbrennen auch.
Ich mache mir nicht die Mühe, das Haltbarkeitsdatum zu checken. Das hat dieses Wasser sowieso längst überschritten, genau wie alle anderen Sachen in diesem Keller. Ich trinke einen kräftigen Schluck. Es schmeckt normal, höchstens ein wenig muffig. Bevor es mir bewusst ist, trinke ich die halbe Flasche leer und rülpse – das können Eichhörnchen übrigens nicht!
So, das erleichtert. Jetzt noch den drückenden Hosenbund …
Während ich den obersten Knopf öffne, schlägt mein ID-Bändchen doch noch Alarm.
Rote Buchstaben leuchten auf. Therapie in fünf Minuten.
Ist das alles? Einen kurzen Moment hatte ich Angst, ich müsste wie Pa den Löffel abgeben.
Was nicht ist, kann noch werden, sagt seine Stimme in meinem Kopf.
Die grenzenlose Müdigkeit von eben überfällt mich wieder. Wer weiß, vielleicht kann ich nie wieder zu Doktor Wendy. Nie mehr zu wem auch immer. Und wie soll es dann mit Ma weitergehen?
Ich lege mich hin, ziehe den Schlafsack über mich und stelle mir vor, dass ich nicht in irgendeiner Scheißhöhle liege, sondern zu Hause in meinem eigenen Bett.
Als Prissy heute Morgen an die Badezimmertür bollerte, rief ich ihr zu, sie sollte sich verpissen.
Die epischen letzten Worte eines Dummkopfes.
Offenbar bin ich kurz eingenickt.
Nicht kurz, sondern länger als eine Stunde, wenn ich meinem ID-Bändchen glauben darf.
Mein Bauch tut nicht mehr weh. Ich schlage den Schlafsack zur Seite und starre zur Decke hinauf.
Die Wände rundum sind glatt und hoch, selbst mit Steigeisen und Seilen wäre das Hochklettern ein schweres Stück Arbeit.
Vielleicht hing dort früher mal eine Strickleiter? Oder da hat eine Leiter gestanden, die nach all den Jahren verrottet ist? Aber wo sind dann deren Überreste? Das einzige Holz, das hier liegt, sind die verrotteten Bretter, durch die ich gebrochen bin und …
Ich federe auf. Vielleicht ist das ja gar nicht der Ausgang!
Im Licht meines Camphones zwänge ich mich hastig durch die hohen Regale. Habe ich etwas übersehen? Eine in die Felsen gehauene Treppe mit einer Geheimluke oder Stangen in der Wand, über die man hochklettern kann?
Dort! Ich muss schon dreimal daran vorbeigelaufen sein, aber erst jetzt fällt es mir auf. Da hängt eine Art Plane. Sie hat die Farbe der Felswand, wodurch sie kaum auffällt.
Ich wünsche mir eine Treppe, eine Tür, einen Ausgang – ich schiebe die Plane zur Seite …
Ein Tunnel!
Dann erlischt plötzlich die Taschenlampe an meinem Camphone und es wird pechschwarz.
Sobald ich zu Hause bin, clicke ich meinen Freundinnen: Camchat. Jetzt!
Aber auch sie kennen niemanden namens Mo oder Mateo.
»Ein seltener Fall von Cyberstalking«, sagt Anna.
»Vielleicht ist es ja ein Pädophiler«, sagt Flow. »Die gibt es wirklich immer noch! Ich würde ihn anzeigen.«
»Und wenn die Ordnungskräfte dann mein Camphone untersuchen wollen?«, protestiere ich. »Dann bin ich tagelang ohne.«
»Meinst du echt?« Flow ist fast im Schockzustand. »Eher würde ich mir den kleinen Finger amputieren lassen!«
»Mach es lieber, Pris«, sagt die vernünftige Anna. Sie nestelt an einem ihrer hundert Ohrringe. »Deine Nummer hat er schon. Wer weiß, vielleicht entdeckt er ja auch noch, wo du wohnst, und dann wirst du ihn nie wieder los.«
Brooklyn hat ihr Telefon aufs Waschbecken gelegt, damit sie ihren Lidschatten nacharbeiten kann; ich sehe sie nur noch von unten. Sie vermittelt mir das Gefühl, vollkommen unwichtig zu sein, und das kann ich nicht ausstehen.
»Was meinst du?«, frage ich.
Ihre Hand mit dem Applikator bleibt einen Augenblick in der Luft hängen.
»Sofort blockieren, diesen Widerling.«
»Was für eine gute Idee!«, ruft Flow, als hätte Brooklyn gerade eine neue Modelinie erfunden.
»Das schon, aber …« Ich verschlucke den Rest meiner Worte. Sie würden es sowieso nicht kapieren.
»Aber was?«, fragt Flow.
»Nichts«, sage ich mit einem Kopfschütteln zum Display. »Danke, Mädels.«
Ich beende den Chat und setze mich mit meinem Camphone aufs Bett. Wenn ich Mo blockiere, gibt es keinen Weg mehr zurück. Dann wird er für immer und ewig ein Mysterium bleiben.
Ich hasse ungeklärte Mysterien.
Mein Gerät verschwindet irgendwo in den Kissenstapeln hinter meinem Rücken. Die Bezüge haben Fransen, was jeder bei mir zu Hause lächerlich findet, aber Vloggerin Reese sagt, Kissenbezüge mit Fransen sind absolut hot, und sie weiß, wovon sie spricht. Also.
Auf der Ablage unter meinem Spiegel lugt die Schachtel mit den Surprise-Yummys hervor, die ich gestern bekommen habe. »Mit Supergrüßen von Supershoot«, hatte der Kurier gesagt. Offenbar bin ich schon fünf Jahre dabei oder so. Oder sie finden meine Camfies einfach klasse.
Ich nehme ein Yummy und kuschele mich wieder in die Kissen, während ich den 3-D-Projektor einschalte. Ein leises Summen füllt den Raum und dann spaziert Reese aus meiner Zimmerwand.
»Hi!« Sie winkt mit beiden Händen und lächelt. »Schön, dass du mir wieder zuschaust. Heute reden wir über Happy Day.«
Ich habe das Gefühl, ihr Lächeln ist nur für mich bestimmt.
»Schwarze Kleider sind nichts für ein Fest«, sagt sie. »Hebt die mal lieber für die Beerdigung eurer Tante auf.«
Düstere Musik ertönt.
Ich denke an mein funkelnagelneues Eisköniginnenkleid. Ein weißes, zum Glück! Mit einer silbernen Tiara voller künstlicher Diamanten. Mama hatte es auf der Schnäppchenseite gefunden und laut Anprobe-App stand es mir fantastisch. Also haben wir es sofort bestellt.
»Das Eisköniginnenkleid, das im letzten Jahr der große Hit war?« Reese bewegt ihren Zeigefinger hin und her. »Schön im Schrank lassen. Das geht gar nicht mehr.«
Das gerade noch so großartig schmeckende Yummy wird plötzlich sauer.
»Weiße Kleidung ist sowieso out.« Reese beugt sich vor und vertraut mir flüsternd an: »Und sehr empfindlich. Dabei kann doch gerade an Happy Day so viel schiefgehen. Jemand drückt dich aus Versehen gegen eine dreckige Wand oder du verschmierst dein Make-up. Auf einem weißen Outfit ist jedes Fleckchen wie ein Ausrufezeichen. Und dann sind alle Camfies mit dir für die Tonne!«
Bei der Vorstellung allein wird mir schon übel.
»Ich entscheide mich daher für …« Sobald Reese mit den Fingern schnipst, entrollt sich ein Banner von Colourcompany. »… die farbenfrohe Kollektion von …«
Ein leises Klopfen. Meine Tür wird aufgeschoben und Mamas Kopf erscheint in der Öffnung. »Hast du eine Ahnung, wo Holden steckt?«
»Woher soll ich das denn wissen?« Mit einem Auge schaue ich zu Mama, mit dem anderen zu Reese.
»Jetzt bestellen und dein Kostüm kommt noch heute.«
Ich muss Mama unbedingt rumkriegen!
»Die Klinik hat angerufen, er ist dort nicht aufgetaucht.«
Mama kommt ins Zimmer und hebt eine meiner herumliegenden Sandalen auf. »Es wird ihm doch nichts passiert sein?«
Da haben wir es wieder. Auf einer Skala von eins bis zehn für Besorgtheit würde Mama eine Elf schaffen. Für unglaublich nerviges Verhalten übrigens auch. Sie wischt durch die Luft und Reese verschwindet abrupt.
»Ja, hallo!«, rufe ich wütend.
»Sonst hörst du mir nicht zu.«
»Tu ich doch. Aber du übertreibst auch immer sofort.«
Mama wirft mir einen verletzten Blick zu und ich fühle mich doch ein wenig schuldig.
»Vielleicht hatte er einfach Lust zu schwänzen«, sage ich.
»Das erklärt noch nicht, weshalb ich ihn nicht erreichen kann.«
Ich verdrehe die Augen. »Vielleicht, weil er sein Camphone ausgeschaltet hat?«
»Wer macht denn so was?«
»Holden offensichtlich.«
Mein Bruder ist nicht normal, das weiß doch jeder.
»Und wenn jetzt doch was Schlimmes passiert ist?«, fängt Mama wieder an. Sie scheint gar nicht zu merken, dass sie meine Lieblingssandale fast erwürgt. Gleich bricht noch die Sohle!
»Es ist überhaupt nichts passiert«, sage ich. »Er hat keine Lust auf dein Gejammere, also geht er nicht ran.«
»Glaubst du?«
»Ganz sicher.« Ich richte mich auf, nehme ihr die Sandale aus der Hand und stelle sie neben ihr Gegenstück unters Bett.
Mama starrt etwas verloren auf ihre leeren Hände.
»Kannst du ihn nicht anrufen?«, fragt sie dann. »Mit deinem Gerät. Vielleicht reagiert Holden ja, wenn er sieht, dass du es bist.«
Ich weiß jetzt schon, dass er mich für eine Verräterin halten wird. Aber wenn ich Mama helfe, erhöhe ich meine Chancen auf ein Kostüm von Colourcompany, also taste ich unter meinen Kissen, bis ich mein Camphone finde.
Anrufen. Ich laufe hin und her.
»Und?«, fragt Mama gespannt.
Ich schüttele den Kopf. »Aber das heißt nicht, dass er nicht da ist. Wenn sein Gerät ausgeschaltet ist …«
Mit hängenden Schultern setzt sie sich auf mein Bett.
Ich muss an die hauchdünnen Vasen im City-Museum denken. Sobald man ihnen zu nahe kommt, leuchten Buchstaben auf dem Boden auf: NICHT BERÜHREN, SEHR ZERBRECHLICH.
Ich traue mich auch nicht, Mama anzufassen. Als Papa noch lebte, war sie tapfer und stark. Ich kann es mir kaum noch vorstellen.
Shit! Der Akku ist leer!
Was dachtest du denn?, sagt Pa. Dein Camphone nonstop leuchten lassen und dann auch noch im hellsten Modus …
Ja-ha. Ich verstaue mein Gerät.
Und jetzt? Auf gut Glück im Dunkeln weiterstolpern und hoffen, dass mich der Tunnel zu einem Ausgang bringt?
Aber was, wenn er stattdessen tiefer hinunterführt und ich in irgendeinem komplizierten Höhlensystem lande?
Kategorie schlimmere Todesarten: erst wochenlang allein herumirren und dann doch noch vor Hunger und Durst sterben.
Dann esse ich mich lieber an Dosenfutter zu Tode.
Ja, Labyrinthe aus Glas, die fand ich als Kind ziemlich witzig. Und das große Labyrinth in Funworld mit seinen meterhohen Buchenhecken und dem Aussichtsturm in der Mitte. Pa hat mir mal erzählt, die Gärtner hätten sich früher ein Seil um die Taille gebunden, wenn sie die Hecken schnitten. Ein Ende banden sie dann an der Hecke am Eingang fest, damit sie den Weg zurück schnell fanden, weil sonst nichts von ihren Pausen übrig geblieben wäre.
Heute brauchen sie nur ihr GPS einzuschalten. Meins ist fast bis auf den Millimeter genau. Leider hat man davon nichts, wenn man mit einem leeren Camphone in einem Keller ohne Empfang sitzt, während so ein Seil …
Vielleicht ist ja unter den Werkzeugen was Passendes, das ich verwenden kann!
Ich lasse die Plane los und taste mich zwischen den Regalen durch, während ich versuche, meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Rechts erkenne ich die vagen Umrisse der Konserven. Links: noch mehr Dosen …
Das muss der Schrank mit dem Werkzeug sein. Ungeduldig lasse ich meine Finger über die Gerätschaften wandern und dann habe ich plötzlich eine Kerze in der Hand. Die Feuerzeuge und Streichhölzer liegen daneben, daran erinnere ich mich noch.
Fast zünde ich meinen Daumen an, aber endlich brennt der Docht. Die Handinnenfläche schützend um die Flamme gelegt, gehe ich aufgeregt zum nächsten Regal.
Ja, da liegt eine Rolle Schnur!
Als ich sie in meine Tasche stecke, entdecke ich noch etwas Interessantes. Einen flachen Gegenstand mit einer Lampe und einer Art Griff. Eine Taschenlampe aus dem Jahr null?
Eine großartige Taschenlampe! Als ich ein paarmal auf den Griff drücke, leuchtet sie auf.
Ich blase die Kerze aus, behalte sie aber bei mir. Angenommen, meine neue Dynamolampe gibt wie mein Camphone den Geist auf? Diesmal will ich auf alles vorbereitet sein.
Da ich keine Schnecke bin, die notfalls drei Jahre schlafend ohne Nahrung verbringen kann, scheint es mir klug, was zu essen und Wasser mitzunehmen. Mir war zwar ein bisschen übel von der Ananas, aber ich bin nicht daran gestorben. Wahrscheinlich muss mein Magen nach siebzehn Jahren Vita und Shakes einfach erst einmal umschalten.
Ich entscheide mich für eine Dose Bohnen, eine Büchse Sardellen und Tomatensuppe. Bloß – wo tue ich das alles hin, wenn ich auch noch diese Lampe festhalten will?
Ich leuchte die Umgebung ab, auf der Suche nach etwas, in dem ich meine Sachen transportieren kann, und Wunder über Wunder, in der Ecke an der Wand lehnt ein Stoffbeutel. Ein Stück Felsen, denke ich erst noch, aber Felsen haben oben keinen Saum mit einer Kordel zum Zuschnüren.
Ich ziehe die Öffnung auf und schaue hinein.
Fackeln? Die sind ja noch viel praktischer als Kerzen!
Als ich sie ein wenig zur Seite schiebe, passen die Konserven bequem in den Beutel und auch die Wasserflasche findet noch Platz. Die Kerze. Dann hänge ich mir die improvisierte Tasche über die Schulter. Das Feuerzeug stecke ich in die Hosentasche, nachdem ich die Rolle mit der Schnur wieder hervorgeholt habe. Ein Ende knüpfe ich an das Regal, das dem Tunneleingang am nächsten steht, und wickele schon mal ein Stück ab. Noch ein paarmal drücken, damit ich genügend Licht habe …
Ich schiebe die Plane zur Seite und betrete den unterirdischen Gang.
Es scheint wärmer hier drinnen als in der Höhle, aber das kann auch an meinen Nerven liegen. Mein Rücken ist klamm vor Schweiß und die Schnurrolle klebt an meinen Fingern. Vorläufig brauche ich mich nicht zu entscheiden, in welche Richtung ich gehe. Wo ich eine Abzweigung vermutete, macht der Gang nur eine Biegung nach rechts. Sobald ich um die Kurve gebogen bin, habe ich das Gefühl, dass es langsam, aber stetig nach oben geht und …
Mir stockt der Atem. Sehe ich das richtig?
Ich gehe schneller, lasse die Schnurrolle fallen und gönne mir nicht die Zeit, sie aufzuheben. Der Lichtstrahl bewegt sich zuckend auf und nieder und dann …
Ja, es sind Stufen! Sechs Stück, um genau zu sein, und sie führen zu einer Luke in der Decke! Ich platze fast vor Hoffnung und Freude, klemme den Stoffbeutel zwischen meine Füße, lege die Lampe auf die oberste Stufe und strecke die Arme aus.
Fuck! Das Scheißding ist verschlossen.
Ich versuche, die Luke mit der Schulter hochzudrücken. Das Holz stöhnt und knarrt, gibt aber nicht nach. Ich brauche einen Stock, um die Luke aufzubrechen, oder noch besser: ein Beil, damit ich das ganze Ding zertrümmern kann. Aber das habe ich leider nicht mit.
Widerwillig gehe ich in den Tunnel zurück. Den Beutel lasse ich stehen. Ich nehme nur die Lampe mit und folge dem ausgerollten Faden auf dem Boden. Mein Schatten begleitet mich wie ein dunkles Gespenst und meine Fußgelenke fühlen sich an wie zerbrechliche Zweige. Trotz der Wärme überläuft es mich kalt.
Stell dich nicht so an, sagt Pa. Du weißt den Weg und du kennst die Höhle.
Trotzdem empfinde ich eine gewisse Erleichterung, als ich die Plane hängen sehe. Ich schiebe sie beiseite und stolpere in den Schutzkeller. Erneut laufe ich die langen Konservenreihen ab und komme am Regal mit den Waffen vorbei. Als wäre ich zurück auf Los.
Beim Werkzeugregal bleibe ich stehen. Auf die Schnelle kann ich kein Beil entdecken. Übrigens auch keinen Stock. Aber Moment …
Da liegt tatsächlich ein Brecheisen!
Mit neuem Mut gehe ich in den Tunnel zurück. Wenn ich das Brecheisen schwenke, ist mein Schatten noch beängstigender als vorhin. Nur kann ich jetzt darüber kichern.
Die Abenteuer von Holden, dem bewaffneten Gespenst.
Entschlossen gehe ich erneut die Stufen hinauf und klemme den Fuß des Brecheisens in den Spalt neben der Luke.
Und jetzt mit Kraft.
Ein Krachen und dann –yeah! – breche ich plötzlich durch die Luke. Das Loch ist groß genug, um die Hand durchzustrecken. Ich ertaste ein unverwüstliches Hängeschloss, aber – Shit,Shit, Shit – keinen Schlüssel.
Erneut rücke ich dem Holz mit dem Brecheisen zu Leibe. Drücken. Rütteln. Manchmal muss ich kurz innehalten, um mir den Staub und die Splitter aus dem Gesicht zu wischen, aber ich bleibe hartnäckig und zerbrösele die gesamte Luke Stück für Stück und dann endlich, endlich – da ist sie wieder, die Außenwelt!
Ich lasse das Brecheisen fallen. Den Beutel im Arm, die Augen vor dem grellen Licht zugekniffen, trete ich ins Freie. Oder eigentlich bin ich auch noch ein bisschen drinnen, denn ich stehe zwischen den Resten eines Hauses! Das Dach ist komplett verschwunden und die Mauern sind von Efeu überwuchert. Der verrottete Fensterrahmen hat keine Scheibe mehr und die Tür ist aus den Angeln gebrochen. Ich spähe durch die Öffnung in die Ferne, die Hand zum Schutz vor der Sonne über den Augen.
Ja, dahinten ist das Verbotsschild, an dem ich vorbeikam, als ich das Gelände betreten habe!
Obwohl mein großer Zeh pocht, als hätte er ein Herz, und meine Hüfte und die Knöchel ziemlich heftig stechen, fühle ich mich fantastisch. Schwungvoll werfe ich mir den Stoffbeutel über die Schulter, benutze die Tür als Laufsteg und humpele durch das Gras in Richtung Wildrost.
In Gedanken fliege ich. Ich lebe noch und ich habe eine Schatzkammer entdeckt.
Das ist kein guter Moment für ein Gespräch über ein Kostüm von Colourcompany.
Mama sitzt mit einem Beruhigungsshake und ihrem Camphone am großen Tisch im Wohnzimmer. Die halbe Stadt hat sie abtelefoniert, in der Hoffnung, jemand könnte Holden getroffen haben. Mitschüler, Nachbarn, Familie.
»Vielleicht hat er ja eine Freundin?«, überlegt sie. »Dann ist er vielleicht bei ihr.«
»Klar, Mama«, sage ich matt.
Ich meine: Trägt sie Scheuklappen, oder was? Holden bringt nie jemanden mit nach Hause, weil er keine Freunde hat. Geschweige denn ein Date mit einem Mädchen.
Mein Camphone pingt.
»Holden?«, fragt Mama angespannt.
Ich starre auf die Nachricht auf meinem Display: Toll, dass du mich doch nicht blockiert hast.
»Jemand von der Schule«, lüge ich sie an, während ich merke, wie mir die Gänsehaut über den Hinterkopf kriecht.
Hat Mo das Gespräch mit meinen Freundinnen belauscht? Aber das kann nicht sein. Ich war allein in meinem Zimmer. Der Totenkopf mit den Mangaaugen sieht mich durchdringend an. Und dann kapiere ich es plötzlich. Dieser Mistkerl hat mein Camphone gehackt, damit er mich ausspionieren kann!
In einem Reflex schalte ich mein Gerät aus. Für drei Sekunden fühle ich mich sicher, bis ich an den Jungen im Schwimmbad denke. Als Xavi fast auf mich sprang, lag mein Camphone in meinem Schließfach – und trotzdem hat Mo es gesehen. Offenbar beobachtet er mich unablässig – egal, ob offline oder online.
Die Gänsehaut breitet sich über meinen ganzen Körper aus. Vielleicht beobachtet Mo mich in diesem Augenblick auch heimlich. Durch das Fenster suche ich die Straße ab und …
Da kommt Holden! Er trägt einen unförmigen Beutel über der Schulter. Ich vermute, da ist etwas Megaschweres drin, denn er bewegt sich noch langsamer als ich auf meinen Wolkenkratzer-Schuhen – einem Fehlkauf mit Zehn-Zentimeter-Absätzen und nur für Partys geeignet, bei denen man den ganzen Abend auf seinem Stuhl sitzen bleiben kann.
Ich wummere gegen die Scheibe.
Holden scheint kurz zu erschrecken und hebt dann die Hand.
»Du kannst wieder ruhig durchatmen«, sage ich zu Mama. »Er ist da.«
Sie eilt zur Haustür, aber Holden geht hintenrum.
»Er nimmt den Weg über die Küche!«, rufe ich.
Holden kommt ohne Beutel rein.
»Wo warst du?« Mama lacht und weint und drückt seine Schultern und Arme, als wäre er nur ein Traum. »Ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht.«
»Tut mir leid«, sagt Holden. »Ich bin gestürzt.«
Und stundenlang bewusstlos gewesen, was?
»Sag doch einfach, dass du nicht zur Therapie wolltest.« Hinter mir summt der Kühlschrank. Als ich einen kurzen Blick zur Seite werfe, drängt sich das blinkende Display in mein Gesichtsfeld – laut der orangefarbenen Buchstaben sind die Jelly-Yummys fast alle und müssen dringendst nachbestellt werden.
»Glaubst du mir nicht?« Holden zieht sein T-Shirt hoch, den Hosenbund ein Stück runter und zeigt uns seine blaugrün verfärbte Hüfte.
»Schatz!«, ruft Mama erschrocken. »Wir gehen sofort zur Ambulanz!«
»War ich schon.« Holden lässt sein T-Shirt wieder fallen. »Darum bin ich ja so spät.«
»Warum hast du dann nicht einfach angerufen?«, fragt Mama.
»Nicht erlaubt. Da hingen überall Warnhinweise, man müsste das Camphone ausschalten.«
Zum Glück lehne ich am Kühlschrank, sonst wäre ich vor Verblüffung nach hinten getaumelt. In so einem Fall würde der echte Holden sein Gerät erst recht einschalten. Das ist nicht mein Bruder, sondern ein Klon.
»Na ja, jedenfalls bist du sicher zu Hause angekommen und das ist das Wichtigste.« Mama streicht ihm liebevoll über die strähnigen Haare. »Ich geb der Klinik Bescheid, dass du wieder aufgetaucht bist, und dann will ich alles genau wissen.«
Sie verschwindet im Wohnzimmer, wo ihr Camphone liegt.
»Was ist wirklich passiert?«, flüstere ich Holden zu.
»Ich bin gefallen, sagte ich doch.«
»Und was ist mit dem Beutel?«
»Was für ein Beutel?«
Haha. »Der grüne, der über deiner Schulter hing.«
Holden spreizt die Arme und dreht sich einmal um die eigene Achse. »Ich sehe keinen grünen Beutel, du?«
»Jetzt nicht mehr, nein.« Ich schubse ihn mit dem Ellenbogen. »Hast du ihn im Garten versteckt?«
»Warum sollte ich ihn …«
»Siehst du!«, rufe ich. »Jetzt gibst du es selbst zu!«
Holdens Blick huscht zur Wohnzimmertür.
»Schrei nicht so.«
»Darf Mama es nicht wissen?«, frage ich noch immer brüllend laut.
»Klappe, Pris!« Er sieht aus, als wollte er mich bei lebendigem Leib fressen.
»Wenn du mir erzählst, was drin ist.«
Er nickt! Sichtlich widerwillig, aber er nickt!
»Pass du auf Mama auf«, sagt er. »Und sorg dafür, dass sie im Wohnzimmer bleibt.«
Ich warte an der Tür. Solange Mama telefoniert, muss ich nichts tun. Holden kann den Beutel aus dem Garten holen, ohne dass sie es merkt.
»Gib mir fünf Minuten«, flüstert er, bevor er mit dem ausgebeulten Ding in sein Zimmer schleicht.
Kaum habe ich mich auf die Treppe gesetzt, kommt Mama mit ihrem Camphone in die Diele.
»Prissy, Liebes?« Sie hält das kleine Mikrofon zu. »Dein Camphone ist anscheinend nicht eingeschaltet. Da will dich jemand sprechen.«
Flow, wahrscheinlich. Würde man sie auf einer einsamen Insel ohne WLAN aussetzen – sie würde es nicht überleben. Ein Camphone-Time-out von einer halben Stunde und sie bekommt schon Entzugserscheinungen! Zitternde Hände, einen leeren Blick und …
»Es ist ein Junge.« Mama reicht mir ihr Gerät. »Ein gewisser Mo.«
Meine Knie zittern. Das kann nicht wahr sein! Wie um Himmels willen kommt er an Mamas Nummer? Über mein gehacktes Gerät?
Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle runter. »Ja?«
»Mo hier.« Er klingt träge und so relaxed, als käme er gerade aus der Badewanne.
Auflegen!, sagt mein Hirn.
»Was?«, schnauze ich.
Mama wirft mir einen fragenden Blick zu. Als ich eine beschwichtigende Handbewegung mache, geht sie an mir vorbei die Treppe hinauf. Ich müsste Holden warnen, dass sie unterwegs ist, aber Mo atmet mir ins Ohr und verlangt alle Aufmerksamkeit.
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagt er.
»Habe ich auch nicht.« Meine Stimme ist weniger fest, als ich möchte.
»Dann traust du dich doch bestimmt auch, mich zu treffen.«
Meint er ein Date? Mein Herz schlägt aus wie ein Geigerzähler. »Warum sollte ich das wollen?«
»Warum nicht?«, kontert er.
Stalker dürften einfach keine sexy Stimmen haben!
»Weil du höchstwahrscheinlich ein totaler Vollpfosten bist«, sage ich.
Er lacht entspannt. »Es gibt nur eine Art, das herauszufinden. Sehe ich dich morgen am Happy Day?«
»Du hast sie wohl nicht alle. Ich verabrede mich echt nicht mit einem Wildfremden.«
»Um vier Uhr hinter dem Power Partyzelt.« Er beendet seinen Satz nicht mit einem Fragezeichen, sondern mit einem Punkt.
Was für eine Arroganz! Als hätte ich nichts zu sagen.
»Bist du taub, oder was?«, brülle ich in Mamas Camphone. »Ich komme nicht!«
Aber der Idiot hat bereits aufgelegt.
Ich lege den Stoffbeutel auf mein Bett und öffne ihn. Die Kerze verstecke ich in der Schublade zwischen meinen Socken. Die Wasserflasche darf in meinem Kleiderschrank bleiben, bis ich sie ungesehen loswerden kann, und die Konserven …
»Schatz?«
Shit, da ist Ma schon!
Der Beutel verwandelt sich in eine Art gigantische Leuchtqualle, die ich innerhalb einer Sekunde verschwinden lassen muss. In einem panischen Reflex werfe ich die Bettdecke darüber.
Nein! Jetzt sieht es so aus, als läge ein Baby-Dromedar in meinem Bett. Ma klopft kurz. Und dann schiebt sich die Tür auf.
Mach was!, schreit mein Hirn.
Aus purer Verzweiflung krieche ich zu dem Beutel und den Dosen unter die Decke.
»Hast du geschlafen?«, fragt Ma.
»Fast.« Während ich meinen Kopf ein klein wenig anhebe, überprüfe ich heimlich die Bettdecke. Das Baby-Dromedar ist zum Glück verschwunden. Es gibt nur noch logisch erklärbare Hubbel von Füßen, Beinen und Bauch.
»Doktor Wendy lässt dich grüßen«, sagt Ma. »Ich soll dir ausrichten, dass es reicht, wenn du nächste Woche wiederkommst. Du brauchst die verpasste Sitzung nicht nachzuholen.«
»Okay.« Ich gähne demonstrativ in der Hoffnung, dass sie geht.
Ma setzt sich auf die Bettkante. »Wie konntest du nur so heftig stürzen, mein Schatz?«