Re-Place – Ein tödlicher Unfall. Ein verlassener Ort. Eine unmögliche Entscheidung. - Mirjam Mous - E-Book

Re-Place – Ein tödlicher Unfall. Ein verlassener Ort. Eine unmögliche Entscheidung. E-Book

Mirjam Mous

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Fesselnder und vielschichtiger Spannungsroman voller spekulativer Fragen und menschlicher Konflikte für Thriller-Fans ab 12. Melvin und sein großer Bruder Otis sind unzertrennlich. Regelmäßig ziehen sie gemeinsam los, um Lost Places in ihrer Umgebung zu erkunden. Doch innerhalb eines Sekundenbruchteils ändert sich alles: Quietschende Autoreifen, ein Aufprall, Fahrerflucht ? Otis ist tot. Aber wer ist sein Mörder? Auf der Suche nach Antworten wagt sich Melvin an den Ort, den Otis auf seinen Streifzügen zuletzt entdeckt hat, ein halb verfallenes Haus im Wald. Was er hier findet, verändert für immer sein Verständnis von Zeit und Raum. Und es weckt in ihm die waghalsige Hoffnung, Otisʼ Tod ungeschehen machen zu können. Doch wer so tief in das Schicksal eingreift, muss einen hohen Preis zahlen. Kurze Kapitel, rasante Dialoge, abwechslungsreiches Layout sowie zahlreiche Wendungen und Cliffhanger machen Re-Place zum Thriller-Genuss der Extraklasse. Alle, die Boy 7 nicht aus der Hand legen konnten, kommen auch im neuen Roman von Erfolgs-Autorin Mirjam Mous voll auf ihre Kosten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 284

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Weitere Bücher von Mirjam Mous im Arena Verlag:

Boy 7. Vertraue niemandem. Nicht einmal dir selbst

Room 27. Zur falschen Zeit am falschen Ort

Password. Zugriff für immer verweigert

Crazy Games. Der perfekte Tag, der in der Hölle endet

Virus. Wer aufgibt, hat verloren

Paradise Project. Der Schein lügt

Last Exit. Das Spiel fängt gerade erst an

Data Leaks (1). Wer macht die Wahrheit?

Data Leaks (2). Wer kennt deine Gedanken?

Verena Kiefer ist gelernte Buchhändlerin. Nach dem Studium arbeitete sie als Verlagsvertreterin und begann zu übersetzen. Seit 1997 übersetzt sie hauptberuflich Kinder- und Jugendliteratur sowie Sachbücher aus dem Niederländischen.

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

Der Verlag behält sich eine Nutzung des Werkes fürText und Data Mining im Sinne von §44b UrhG vor.

1. Auflage 2024

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2024 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

© 2022, Uitgeverij Unieboek | Het Spectrum bv.

For the original edition.

Original title: Otis’redding. Translated from the Dutch language

Text copyright: © Mirjam Mous

»Stand By Me« Words by Ben E. King, Jerry Leiber, Mike Stoller.

Music by Jerry Leiber and Mike Stoller © Copyright 1961 Atco

Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer

Die Übersetzung dieses Buches wurde von der niederländischenStiftung für Literatur gefördert.

Umschlaggestaltung: Christian Keller

Umschlagmotive: shutterstock.com / andreiuc88, Rost9,Sabina Cechova, Grigorios Koulouriotis

Lektorat: Helena Heck

Layout und Satz: Malte Ritter, Berlin

E-Book-ISBN 978-3-401-81093-5

Besuche uns auf:

www.arena-verlag.de

@arena_verlag

@arena_verlag_kids

»Das Leben ist nur eine Frage der Zeit.«

K. Schippers, niederländischer Dichter und Prosaschriftsteller,Pseudonym von Gerard Stigter, 1936–2021

»Wir sind anderen verpflichtet, im Heute und im Gestern, und mit jedem Verbrechen und jeder Gefälligkeit gestalten wir unsere Zukunft.«

David Mitchell, britischer Schriftsteller, 1969

DONNERSTAG, 28. JULI 2022

11:00 Uhr

Die Aufregung flimmert in meiner Brust, als ich die Haustür hinter uns zuziehe.

Unsere Expedition hat begonnen. Genauer gesagt, die fünfunddreißigste. Wir sind auf dem Weg ins Jägerhaus – ein verlassenes Gebäude in einem nahe gelegenen Wald.

Vergangene Pracht in optimaler Form, das hat mein Bruder mir versprochen.

Otis kennt viele schwierige Wörter.

Mein Rucksack hängt über meiner rechten Schulter. Im Hauptfach stecken zwei Snickers, eine Flasche Wasser und ein Erste-Hilfe-Set. Wie immer habe ich auch noch zwei Paar Schnittschutzhandschuhe eingepackt. Vollkommen überflüssig, meint Otis, aber ich bin nun mal gern auf alles vorbereitet. Unsere Taschenlampen habe ich in den Seitenfächern des Rucksacks verstaut und die Reservebatterien haben zusammen mit meinem Taschenmesser einen sicheren Platz im kleinen Fach hinter dem Reißverschluss gefunden.

Otis trägt ein Stativ und eine grüne Kameratasche. Er nimmt den kürzesten Weg zu Godzilla – so nennt er seinen gebrauchten Audi, der auf der anderen Straßenseite geparkt ist. Ein Kletterseil und eine Klinke, die immer praktisch bei Türen ohne Griff ist, gehören zur Standardausrüstung im Kofferraum. Otis hat sie unter einer Decke verborgen, damit es keine Probleme gibt, sollten wir mal auf einen Wachdienst oder die Polizei treffen.

Hinter mir klopft es an der Fensterscheibe.

Ma, natürlich. Es ist vollkommen egal, ob wir eine Woche mit der Schule wegfahren oder nur kurz zur Imbissbude gehen. Sie will und wird uns zum Abschied winken.

Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie ihre Gesichtszüge erstarren. Sie schlägt sich eine Hand vor den Mund und unmittelbar danach knallt es höllisch laut zwischen den Häusern. Ein Schrecken fährt mir durch den ganzen Körper und mein Blick fliegt zur Straße, derselben Straße, die Otis gerade überquerte, und …

Verdammt, wo ist mein Bruder abgeblieben?

Ein schwarzes Auto rast vorbei und dann wird es so still, als würde die ganze Welt den Atem anhalten – nur mein Herz schlägt lauter denn je.

Ein silbernes Objekt mit Beinen drängt sich in mein Gesichtsfeld. Eine Tasche an der Bordsteinkante. Das Bild bleibt bruchstückhaft in meinem Kopf hängen. Ich versuche die Scherben zu kitten, doch das Bild wird einfach nicht vollständig. Vielleicht will ich es ja gar nicht ganz sehen.

Was man nicht sieht, gibt es nicht.

Ein gellender Ton zerschneidet die Stille. Es dauert einen Moment, bevor mir klar wird, dass der Ton von Ma kommt und nicht von irgendeinem Alarm. Türen werden aufgerissen, Nachbarn strömen auf die Straße. Auch Ma stolpert aus dem Haus, sie gibt keinen Ton von sich. Ich will sie festhalten, doch sie schüttelt meinen Arm ab, also folge ich ihr mit einem üblen Gefühl im Magen und bete und denke: Bitte, bitte, bitte, lass Otisokay sein!

Ein Mädchen ruft, dass der Rettungswagen unterwegs sei.

»Der kommt bestimmt zu spät«, höre ich jemand anderes sagen.

Halt die Klappe!

Ich kreuze meine Finger, als könnte es die Katastrophe abwenden.

Und dann stehen wir neben meinem Bruder.

Mein Blick wandert ängstlich zu seinem Körper. Er liegt auf dem Rücken, noch keinen Meter von Godzilla entfernt. Sein Hut, ein grauer Trilby, ist ihm vom Kopf gefallen und aus seinem Mund quellen Blutbläschen. Ich möchte etwas tun, doch ich weiß nicht, was, also stehe ich nur so herum, während ich mir wünsche, es wäre umgekehrt. Dass ich dort läge und nicht mein starker, kluger Bruder, der bestimmt wüsste, wie er mir helfen könnte, denn das hat er schon hunderttausend Mal getan.

Ma kniet sich neben ihn und streicht ihm eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Er stöhnt, als würde sie ihm wehtun, und ich bin plötzlich sicher, dass er …

Die Straße fängt an sich zu drehen und Otis und Ma drehen sich mit.

»Alles in Ordnung?«, fragt eine Frau mit einem achtlos hochgesteckten Dutt. »Vielleicht solltest du dich kurz hinsetzen.« Sie hilft mir auf die Bordsteinkante. »Der Junge dort ist dein Bruder, oder?«

Ich bekomme einen Kloß im Hals und fürchte, ich fange an zu weinen, sobald ich etwas sage, also antworte ich mit einem knappen Nicken.

»Ich bin eine Freundin von Thea«, sagt die Duttfrau. »Der vorigen Bewohnerin eures Hauses.«

Was interessiert mich das gerade? Wären wir doch bloß nie an diesen unheilvollen Ort gezogen! Dann wäre Otis jetzt auch nicht angefahren worden.

Mit geballten Fäusten sehe ich zu Ma hinüber. Der Umzug war ihre Idee gewesen. Schön ruhig und doch stadtnah, hatte sie gesagt. Und so witzig: Euer Vater ist hier aufgewachsen.

Ich finde gar nichts Witziges daran, demnächst die ganze Strecke mit dem Rad zur Schule fahren zu müssen. Otis und Ma haben leicht reden. Mit Godzilla sind sie im Nu an der Akademie St. Joost. Nach den Sommerferien wird Ma dort Malunterricht geben und Otis fängt an zu studieren, Fotografie, Film und …

Der Rettungswagen! Das Heulen der Sirene reißt mich in die Wirklichkeit zurück und ich zwinge mich von der Bordsteinkante in die Senkrechte.

Im selben Moment sehe ich das silberfarbene Stativ wieder dort liegen.

Gleich fährt noch jemand darüber!

Für einen Moment fühle ich mich nicht hilflos, sondern nützlich. Schnell gehe ich auf die Straße, nehme das Stativ und gleich auch die Kameratasche. Schau, würde ich gern zu Otis sagen, ich habe deine Sachen gerettet, doch als ich näher komme, sehe ich, dass er die Augen geschlossen hält.

Wo bleibt denn bloß dieser Rettungswagen?

Ein Polizeifahrzeug mit Blaulicht biegt als Erstes in die Straße ein. Es stoppt vor der versammelten Menschenmenge und zwei Polizisten steigen aus. Einer von ihnen kümmert sich um Otis und Ma. Der andere dirigiert alle Umstehenden zum Bürgersteig und stellt Warnkegel auf, von denen er zwei rasch wieder wegnimmt, als der Rettungswagen mit ohrenbetäubendem Sirenengeheul eintrifft.

»Sie finden ihn bestimmt«, sagt die Duttfrau, als sich der Lärm gelegt hat.

Es dauert eine Weile, bevor mir klar wird, dass sie nicht Otis meint, sondern die Person, die Fahrerflucht begangen hat. In einem schwarzen Auto, das vorbeiraste. Hätte ich mir doch nur das Kennzeichen eingeprägt!

»Oder er meldet sich selbst«, fährt sie fort. »Das hört man öfter. Der Fahrer ergreift in Panik die Flucht, aber wenn er zu Hause wieder zu Sinnen kommt …«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, höre ich eine Männerstimme hinter mir.

Ich drehe mich zu ihm um. »Was meinen Sie?«

»Nun …« Er angelt sein Handy aus der Hosentasche.

Die Duttfrau legt mir eine Hand auf die Schulter, als würde sie zur Familie gehören. »Das Opfer ist sein Bruder«, sagt sie rasch.

»Oh, das tut mir leid. Alles Gute.« Der Mann gestikuliert mit seinem Handy. »Ich muss mal kurz …« Er verschwindet in Richtung der Polizisten.

Um was zu tun? Diese Frau hätte die Klappe halten sollen, anstatt sich ständig einzumischen!

Einer der Sanitäter hat unterdessen meinen Bruder untersucht. Otis bekommt eine Halskrause zur Stabilisierung und eine Infusion in den Arm. Dann wird er auf eine Trage gelegt und in den Rettungswagen geschoben. Der Sanitäter bleibt bei ihm und auch Ma steigt hinten in den Wagen. Der Fahrer schaltet die zweitönige Sirene wieder ein und weg sind sie.

Und was ist mit mir?

Die Duttfrau hat mich noch nicht vergessen. »Wahrscheinlich wird er ins Amphia-Krankenhaus gebracht«, sagt sie. »Kennst du das?«

Ich weiß nicht einmal, wo die nächstgelegene Bushaltestelle ist, und schüttele den Kopf.

»Soll ich dich schnell hinbringen?«, fragt sie.

Ich schäme mich für meine Gedanken von gerade eben. Die Duttfrau mag sich zwar ständig einmischen, aber sie ist die Einzige, die mir hilft.

»Gern«, kann ich gerade noch so herauspressen.

»Mein Auto steht dort hinten.« Sie zeigt auf eine Parkbucht. »Ein roter Fiat Panda. Geh ruhig schon mal vor, dann hole ich die Autoschlüssel und informiere die Polizei.«

Meine Gedanken huschen zu Otis’ zurückgelassenem Hut, der plötzlich lebenswichtig scheint. Er liebt seinen Trilby – nur im Bett und unter der Dusche setzt er ihn ab – und ich bin mir plötzlich sicher, dass er ohne dieses Ding sterben wird.

»Sein Hut liegt noch dahinten«, sage ich heiser.

Die Duttfrau nickt, sie hat mich verstanden und entfernt sich von mir. Ich warte ungeduldig neben ihrem Auto, eine Tasche über jeder Schulter, meine Arme umklammern das Stativ wie eine Rettungsboje. In der Zwischenzeit wird die Straße mit rot-weißem Flatterband abgesperrt.

Es sieht aus wie ein Tatort aus einer Polizeiserie.

Nur in Wirklichkeit.

DONNERSTAG, 28. JULI 2022

15:05 Uhr

Die Fenster des Krankenhauszimmers reichen fast bis zum Boden. Die Aussicht zeigt viel Grün, ein paar Wohnblocks und ein Bürogebäude.

Ich lehne mit dem Hintern an einem einbeinigen Tischchen, auf das ich den Hut, das Stativ und die Kameratasche gelegt habe. Meinen Rucksack hat eine Pflegekraft vom Boden aufgehoben und in die Ecke gestellt – »Bevor noch mehr Unfälle passieren«.

Ma sitzt auf einer Bettseite, ihr Blick ruht unverwandt auf Otis.

Vorläufig schaut er sie noch nicht an.

»Was nicht heißt, dass er dich nicht hört«, hat Pfleger Ruud, ein Wikinger auf Clogs mit Regenbogenglitzer, zu mir gesagt. »Ganz im Gegenteil: Studien haben gezeigt, dass Komapatienten besser und schneller genesen, wenn Familienmitglieder regelmäßig mit ihnen sprechen.« Er schlug mir mit seiner Faust fast eine Delle in die Schulter. »Also.«

Also nichts. Ich habe keinen blassen Schimmer, was ich sagen soll. Otis ist der Gesprächige von uns beiden. Er quasselt seine Vlogs ohne Probleme voll und schafft es immer, sich rauszureden, wenn wir beim Urban Exploring erwischt werden.

Ein Mann klopft an die offen stehende Tür.

Er ist nicht der Wikinger, aber seiner Kleidung nach auch kein Arzt.

»Kommissar Bakker.« Er zieht einen Ausweis aus der Tasche seines fleckigen Jacketts und hält ihn hoch. »Kriminalpolizei. Darf ich kurz reinkommen?«

Für einen Moment berühre ich Otis’ Hut, damit er mir Glück bringt. »Haben Sie ihn?«

»Noch nicht.«

Was macht er dann hier?

»Mach dir keine Sorgen«, sagt Bakker, als könne er meine Gedanken lesen. »Es gibt Hinweise auf den Wagen, mit dem die Fahrerflucht begangen wurde, den finden wir bestimmt.« Er verstaut seinen Ausweis wieder und legt die Hände auf das Fußteil des Bettgestells. »Wie geht es ihm?«, fragt er mit einem Kopfnicken zu Otis hinüber.

Was glauben Sie wohl? Dass die ganzen Apparate hier bloß zum Spaß bei meinem Bruder stehen?

Mein Vertrauen in Bakker ist jetzt schon auf den Nullpunkt gesunken. Ein gutes Wahrnehmungsvermögen scheint mir lebenswichtig für einen Kriminalkommissar, aber der hier hat offensichtlich ein Brett vor dem Kopf.

»Den Ärzten zufolge ist sein Zustand stabil«, sagt Ma. »Sie haben getan, was sie können, und jetzt müssen wir abwarten.«

»Ich verstehe, dass die Situation für Sie sehr schwer ist.« Bakker zieht ein mitfühlendes Gesicht. »Aber ich muss Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen.«

Über den Unfall? Oder will er wissen, wohin Otis und ich unterwegs waren?

Ich werde ihm bestimmt nichts erzählen. Die Polizei mag keine Urban Explorers. Ich kenne Geschichten von Urbexern, die hohe Geldstrafen bekommen haben, wenn sie erwischt wurden. Darum verwendet Otis auch nie seinen echten Namen in den Vlogs. Seine Follower kennen ihn als Dex Urbex, was auch gleichzeitig der Name seines YouTube-Kanals ist.

»Haben Sie irgendeine Idee, wer Otis vielleicht etwas Böses will?«, fragt Bakker. »Oder ob er Probleme mit jemandem hat?«

»Ich wüsste nicht, mit wem.« Ma runzelt die Stirn. »Die Leute hier kennen Otis nicht oder kaum, wir sind gerade erst hergezogen. In den letzten Jahren wohnten wir in Belgien, weil ich dort gearbeitet habe.«

Der Ort, an dem alles angefangen hat. In einem Außenbezirk von Gent, genauer gesagt. Anfangs war ich noch sauer auf alles und jeden – und vor allem auf Ma, denn es war ihre Schuld, dass ich meinen einzigen Freund und die alte Schule in den Niederlanden verloren hatte. Aber dann kam der Tag, an dem Otis und ich einen leer stehenden Bungalow entdeckten, einfach so, bei uns in der Nachbarschaft. Stundenlang streiften wir durch verlassene, dämmrige Zimmer. Die Tapeten blätterten von den Wänden ab und durch das kaputte Fenster im Wohnzimmer wuchs Efeu hinein. Das Verrückte war, dass auf dem staubigen Klavier noch gerahmte Familienfotos standen. Und der Tisch in der Küche war für vier Personen gedeckt – nicht nur mit Tellern und Besteck, sondern auch mit Weingläsern und Servietten. Es wirkte, als wären die Bewohner des Hauses Hals über Kopf aufgebrochen. Vielleicht war die ganze Familie von der flämischen Mafia mitgenommen worden, malte ich mir aus, und man hatte sie später in einem tiefen dunklen Wald ermordet.

Während ich mir schaurige Geschichten ausdachte, machte Otis mit seinem Handy Fotos und Videos. Und das war der Beginn unseres gemeinsamen Hobbys, denn später stellte sich heraus, dass es in Belgien noch viel mehr solcher verlassenen Häuser gab. Alte Krankenhäuser, Fabriken, Gefängnisse, Schwimmbäder und sogar Schlösser. Von seinem Taschengeld kaufte sich mein Bruder eine Kamera und ein Stativ und …

Die Vorstellung, wir könnten vielleicht nie wieder gemeinsam auf Expedition gehen, ist unerträglich. Ich schiebe den Gedanken beiseite und versuche mein Glück zu erzwingen und mit ihm zu verhandeln: Wenn Otis wieder gesund wird, werde ich den Rest meines Lebens versuchen, ein guter Mensch zu werden. Versprochen!

»Er heißt Melvin junior«, höre ich Ma meinen Namen sagen.

»Melvin junior«, wiederholt Bakker und richtet sich nun an mich. »Weißt du, ob dein Bruder Streit hatte? Vielleicht ist er in irgendeinen Konflikt geraten. Hat er zum Beispiel Drogen genommen oder war er spielsüchtig?«

»Otis?«, frage ich ungläubig.

Ma pflichtet mir bei. »Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie diese unsinnigen Fragen stellen. Es war ein Unfall. Mein Sohn war zu falschen Zeit am falschen Ort. Ich stand am Fenster und habe mit eigenen Augen gesehen, wie es passierte. Er rollte über die Motorhaube und, und …«

Sie stößt einen Schluchzer aus. Eigentlich müsste ich sie jetzt in die Arme nehmen, aber sie sitzt so furchtbar weit von mir entfernt, dass ich erst eine halbe Weltreise um das Bett und den Kommissar herum machen müsste.

»Ich verstehe Ihre Verwirrung«, sagt Bakker. »Wir haben verschiedene Zeugen befragt und deren Geschichten stimmen mit Ihrer überein. Darum dachten wir auch zuerst an eine normale Fahrerflucht. Bis wir das Foto sahen. Ein aufmerksamer Passant hat den Fahrerflüchtigen mit dem Handy fotografiert.«

Der Mann, der mit der Duttfrau geredet hatte! Ist er derjenige, der …

»Obwohl das Bild unscharf und ziemlich verwackelt ist, können wir erkennen, dass der Fahrer eine Clownsmaske trägt«, fährt Bakker fort. »Es scheint, als habe er seine Tat vorbereitet.«

Ma schüttelt ungläubig den Kopf und auch ich kann es kaum fassen. Das hört sich eher nach einer Szene aus einem Actionfilm an als nach etwas, das wirklich passieren könnte.

Während ich Otis anschaue, versuche ich ihn mit meinen Gedanken wach zu rütteln.

Beweg deine Finger! Blinzele mit den Augenlidern!

Er bleibt reglos liegen.

Die Vorstellung, dass jemand mit so etwas davonkommt …

»Sie sagten, es gibt Hinweise auf den Wagen«, sage ich zu Bakker. »Dann wissen Sie doch bestimmt auch, wem das Auto gehört und wer die Fahrerflucht begangen hat, oder nicht?«

»Leider handelt es sich um einen gestohlenen Wagen.« Der Kommissar macht eine entschuldigende Geste. »Der Fahrzeughalter ist nicht derjenige, der deinen Bruder angefahren hat. Der Täter –«

»… hat sich geirrt«, unterbricht Ma ihn entschieden. »Er hat Otis verwechselt und –«

»Das ist möglich.« Der Kommissar zupft an einer kleinen Warze unterhalb seines Ohrs. »Trotzdem rechnen wir ernsthaft damit, dass Ihr Sohn das beabsichtigte Ziel war. Sobald Otis die Straße betreten hatte, steuerte der Fahrer in gerader Linie, ohne zu bremsen oder auszuweichen, auf Ihren Sohn zu.«

Mein Kopf füllt sich augenblicklich mit gruseligen Bildern, wodurch ich den Unfall noch einmal erlebe – aber jetzt viel klarer und wie in Zeitlupe.

Vielleicht macht Otis dasselbe durch, denn ich höre ihn leise stöhnen.

»Er kommt zu sich«, sagt Ma.

Mann, bin ich erleichtert!

Bis die Geräte neben seinem Bett alarmierend anfangen zu piepsen.

DONNERSTAG, 28. JULI 2022

15:35 Uhr

Ärzte und Pflegekräfte stürmen ins Krankenzimmer. Sie schicken Ma, Kommissar Bakker und mich auf den Flur, wo wir Nägel kauend darauf warten, was als Nächstes passiert. Wir sehen, wie Otis’ Bett mit einer Geschwindigkeit auf den Flur hinausgefahren wird, die nicht viel Gutes verspricht. Ich fürchte, dass ich mich vor lauter Angst gleich übergeben muss. Aber noch mehr fürchte ich mich davor, Otis aus den Augen zu verlieren, also schaue ich ihm und dem Krankenhausteam nach, bis sie um die Ecke verschwunden sind, während ich hoffe und bete: Halte durch, denn der Gedanke, dass ich ohne Otis …

Ich suche Halt bei Ma, doch die hat sich anscheinend in ihrem Ein-Personen-Zelt verkrochen. Bakkers Handy klingelt. Er geht zu den Toiletten, um uns nicht zu stören, und kommt nach kurzem Gemurmel wieder zurück. Mit schlechten Nachrichten, vermute ich, denn er macht ein grimmiges Gesicht.

»Der Wagen wurde gefunden«, sagt er leise. »Aber der Fahrer nicht. Er hat das Fahrzeug angezündet, um keine Spuren zu hinterlassen. Natürlich werden wir alles tun, um seine Identität festzustellen, aber das kann noch eine Weile dauern.«

Wenn es überhaupt möglich ist, sehe ich ihn geradezu denken.

»Machen Sie sich keine Sorgen.« Er zupft wieder an seiner Warze, die aussieht wie ein kurzer fleischiger Stängel. »Solange der Flüchtige nicht gefunden ist, steht Otis unter Polizeischutz.«

Ruud mit den Clogs kommt und bringt uns zu einem offiziellen Wartebereich.

Ma lässt sich auf eine riesige orangefarbene Couch fallen. Wer auch immer diese Farbe ausgesucht hat, ist vermutlich ein Fan der Königsfamilie und der niederländischen Nationalelf. Vielleicht hatte er oder sie auch die Hoffnung, Patienten und Besucher mit einer so ausgelassenen Farbe aufzumuntern?

Das ist jedenfalls grandios gescheitert.

Ich bin komplett fertig mit den Nerven und zugleich viel zu hektisch, um mich zu setzen. Nichtstun ist sowieso keine Option, denn dann hätte ich noch mehr Zeit, an Otis zu denken, und ich habe ja jetzt schon das Gefühl, verrückt zu werden. Um mich abzulenken, hole ich das Stativ und die Kameratasche aus dem Krankenzimmer.

Und Otis’ Hut.

»Von deinem Bruder?«, fragt Kommissar Bakker, als ich die Sachen vorsichtig auf einem kleinen Tisch ablege.

Mein Bruder, der nicht hier, sondern im Jägerhaus hätte sein sollen. Ich nicke wortlos.

»Es wird bestimmt alles wieder gut.« Bakker zieht eine Visitenkarte aus seiner Brusttasche. »Ich werde im Büro gebraucht, aber wenn etwas ist, können Sie mich jederzeit anrufen. Sobald wir mehr wissen, nehme ich Kontakt mit Ihnen auf.«

Ma weilt noch immer auf einer fernen Insel und scheint nicht mitzukriegen, dass Bakker ihr die Karte hinhält. Er zögert kurz, will sie ihr fast schon in den Schoß legen, doch er überlegt es sich anders und reicht sie mir. »Alles Gute.«

»Danke.« Ich stecke die Karte hinten in meine Hosentasche und beobachte, wie Bakker den Wartebereich verlässt.

Ich glaube, Ma merkt nicht einmal, dass er weg ist. Sie kauert auf dem Sofa und zupft nervös an ihren Fingern, während Otis …

Wag es bloß nicht zu sterben, denke ich.

Und dann: Nicht an den Tod denken, das bringt Unglück.

Eine neue Art von Angst schnürt mir die Kehle zu. Bei einem schweren Unfall können die Hirnzellen ernsthaft geschädigt werden und sogar absterben. Das habe ich heute Morgen alles auf meinem Handy lesen können. Aber was man machen soll, wenn es den eigenen Bruder betrifft, steht da nicht.

Sein Hut auf dem Tisch starrt mich an wie ein trauriger Hund ohne Herrchen. Ich habe ihn auf eine liegen gebliebene Zeitung gelegt, mit einem zur Hälfte ausgefüllten Kryptogramm.

Leer stehende Gebäude aufzuspüren, ist für Otis auch eine Art Puzzle. Er durchforstet Archive der Lokalzeitungen, schaut sich Fotos im Netz an und sucht nach verborgenen Hinweisen. Anschließend sucht er mithilfe von GoogleEarth weiter. Ein eingestürztes Dach oder ein paar verrostete Autos können das Puzzle vervollständigen.

Quietschende Schuhsohlen.

Ich schaue auf und sehe einen Arzt in einem blauen Kittel auf uns zukommen. Er trägt ein lächerlich wirkendes Mützchen auf dem Kopf, aber sobald er »Setz dich mal kurz« zu mir sagt, weiß ich, dass es nichts mehr zu lachen gibt. Seine Stimme verwandelt sich in ein Rauschen, aus dem hin und wieder ein paar Worte wie »Komplikationen«, »eine Hirnblutung« und »Er hat es nicht geschafft« zu mir durchdringen.

Halt die Klappe!, schreit die Stimme in meinem Kopf.

Das kann doch unmöglich wahr sein. Alte Menschen sterben, aber doch keine achtzehnjährigen jungen Männer.

Und dann fällt mir etwas Schreckliches ein.

Was, wenn das alles an dem Schlüsselanhänger liegt, den ich Otis vergangene Woche zum Geburtstag geschenkt habe? Ich hatte einen mit einer Hasenpfote ausgewählt, denn Hasen bringen Glück. Die Pfote war nachgemacht, sonst hätte es mir zu leidgetan um den Hasen, aber das habe ich Otis nicht gesagt. Er hatte sich bei mir bedankt und sofort den Autoschlüssel von Godzilla drangehängt.

Hundert Kilo Schuldgefühl nisten sich in meinem Magen ein.

Hätte ich ihm doch nur eine echte Pfote geschenkt! Vielleicht würde er dann noch leben.

DONNERSTAG, 28. JULI 2022

19:18 Uhr

Ein Taxi bringt Ma und mich zurück zu unserem Haus am Bosloop. Die Absperrung auf der Straßenmitte ist verschwunden, nur Godzilla steht noch hinter einem Sperrzaun und Flatterbändern, wie ein Tier im Käfig. Auf der Motorhaube sind einzelne Blumen abgelegt worden, neben dem Auto liegen noch mehr. Einige Rosen sind in Zellophan eingewickelt, aber auch komplette Sträuße in kräftigen Farben, manchmal mit einem Kärtchen daran. Ich sehe außerdem ein paar Kuscheltiere – als wäre ein Kind gestorben – und zwei Glasbehälter mit brennenden Teelichtern.

Gut gemeinter Plunder, würde Otis sagen.

Er hat recht. In wenigen Tagen würde alles verrotten und die Gedenkstätte würde sich in einen stinkenden braunen Müllhaufen verwandeln.

Ma schaut vom Bürgersteig unseres Hauses hinüber und seufzt mit feuchten Augen.

Ich kann nicht weinen. Solange ich mich erinnern kann, habe ich schon Angst, es könnte etwas Schlimmes passieren. Deswegen gehe ich Leitern und schwarzen Katzen aus dem Weg. Seit ich irgendwo gelesen habe, dass braune Autos am häufigsten in Unfälle verwickelt sind, berühre ich möglichst selten braune Gegenstände mit bloßen Händen – außer, wenn man sie trinken oder essen kann, denn Schokolade schenkt mir Glücksgefühle. Außerdem springe ich in Gedanken immer über die Schatten von Baumstämmen und Laternenpfählen und dann soll jetzt doch das Allerschlimmste passiert sein?

Unmöglich, beschließe ich.

Wir gehen ins Haus und ich hänge Otis’ Kameratasche und den Hut an die Garderobe, lasse meinen Rucksack auf den Boden gleiten und lege das Stativ daneben.

Ma verschwindet ohne ein Wort nach oben. Ich höre sie im Bad herumkramen, das Geräusch des Wasserhahns. Wahrscheinlich nimmt sie eine der Schlaftabletten, die man ihr im Krankenhaus mitgegeben hatte, und verkriecht sich sofort ins Bett.

Ja, na bitte, wusste ich es doch. Ihre Zimmertür quietscht, dann wird es still.

Mein Magen meint trotz allem, es sei jetzt Essenszeit. Ich gehe in die Küche, bestreiche eine Scheibe Brot mit Erdnussbutter und esse, ohne etwas zu schmecken. Durch die geöffnete Tür schaut mein Vater zu. Natürlich ist es nicht wirklich er, sondern sein Porträt, das in unserem Wohnzimmer hängt. Ma hat es kurz nach seinem Tod gemalt – irgendein irrer Unfall mit einer Kettensäge.

Ich habe keine einzige Erinnerung an den großen Mann in dem goldfarbenen Rahmen, auch wenn ich nach ihm benannt wurde: Melvin junior Martina.

Melvin senior trägt ein weißes Hemd und eine Silberkette mit einem weißen Haifischzahn.

Ma sagt, ich habe seine Augen.

Für sie ist es schrecklich, dass er nicht mehr da ist, aber mir macht das offen gestanden nicht so viel aus. Als er starb, war ich noch ein Baby, also kenne ich es nicht anders. Außerdem habe ich Otis.

Die Küche ist plötzlich zu groß für mich allein. Ich stopfe mir das letzte Stückchen Brot in den Mund, trinke einen Schluck Wasser und flüchte nach oben.

Irgendwie weiß ich ja, dass ich mich selbst zum Narren halte, aber ich kann es einfach nicht lassen. Der Drang nachzusehen, ob er nicht doch in seinem Zimmer sitzt, ist zu groß.

Ich öffne seine Tür.

Kleidungsstücke auf und neben seinem Stuhl. Die schmutzigen Socken und das Handtuch bei seinem Bett und die vielen leeren Dosen und Verpackungen: Alles sieht so aus, als könnte Otis jeden Moment reinkommen.

Auf seinem Kissen liegt ein dickes Buch, aufgeklappt und mit dem Rücken nach oben. Es heißt The Fountainhead und laut Otis geht es um einen leicht durchgeknallten Architekten, der Gebäude entwirft, in denen mein Bruder gern herumlaufen würde.

»Leider gibt es die nicht in Wirklichkeit«, hat er zu mir gesagt.

Die Gebäude im Posterformat über seinem Bett gibt es jedoch tatsächlich. Otis hat die Fotos während unserer Expeditionen gemacht. Das erste, als wir einen verlassenen Kühlturm besuchten, und das zweite in der inzwischen abgerissenen St. Pieterskerk – unter Urban Explorers besser bekannt als die Church of Decay. Sie strahlen eine Vergänglichkeit aus, die ich normalerweise ganz wunderbar finde, plötzlich jedoch nicht mehr ertragen kann. Otis fehlt mir jetzt schon.

Sein Laptop steht auf seinem Stammplatz auf dem Schreibtisch. Ich klappe ihn auf, gehe zu DEX URBEX und klicke seinen letzten Vlog an.

Gut gelaunt erscheint Otis auf dem Bildschirm in Joggingklamotten.

»Nice, dass du dir Dex Urbex wieder anschaust!« Er hebt – wie üblich – kurz den Hut zum Gruß. »Und es gibt Neuigkeiten. Ich habe soeben eine gi-gan-ti-sche neue Urbexlocation entdeckt. Vergangene Pracht in optimaler Form! Morgen mache ich wieder eine großartige Reportage für euch. Checkt meinen Jägerhaus-Vlog. Bis demnächst!«

Ich spiele das Video erneut ab und danach noch einmal und noch einmal. Je öfter ich Otis zum Leben erwecke, desto intensiver wird das Gefühl, dass sein Vlog speziell für mich gedacht ist.

Vergangene Pracht in optimaler Form, Melvin junior.

Otis hat das Jägerhaus nicht über Internet, sondern zufällig entdeckt. Gestern Abend bei seiner Joggingrunde. Er hat mir verraten, dass es im Wald liegt, dem Liesbos, aber nicht genau, wo.

Sein Logbuch!

Ich knie mich neben sein Bett und klappe eine Ecke des gestreiften IKEA-Teppichs um. Im freigelegten Stück Boden befindet sich eine lose Diele.

Eine braune Diele.

Mithilfe einer Scherenspitze hebele ich sie aus dem Boden.

An dem Tag, als wir hier ankamen, hat Otis sie neugierig hochgehoben und den freien Raum zwischen den Balken darunter entdeckt. Jetzt liegen darin ein paar Kondome, eine alte kaputte Uhr, die unserem Vater gehört hat, und der dicke Ringordner, den Otis als Logbuch verwendet. Darin stehen alle Gebäude, die wir bisher besucht haben, mit einer Ortsbeschreibung, eventuellen Besonderheiten und dem Datum. Ich schlage es auf und blättere zum letzten Eintrag.

Mittwoch, 27. Juli 2022

Das Jägerhaus wird unser nächstes Urbexprojekt. Es liegt im Liesbos, zwischen Torendreef, Drielindendreef und Leursebaan. Ein Grünspecht hat mich dorthin gelockt. Mit Melvin junior habe ich abgesprochen, dass wir es uns morgen anschauen.

Als Otis das schrieb, hat er noch gedacht, er würde geniale Fotos und Videos machen.

Die wird es nie mehr geben.

Es sei denn …

Es ist das Letzte, was ich für ihn tun kann.

Logbuch von Melvin junior Martina

Donnerstag, 28. Juli

Tag 24 in Prinsenbeek

Tag 1 ohne Otis

Ich kenne hier keine Menschenseele und Ma hat einen Nervenzusammenbruch.

Das darf mir nicht auch noch passieren.

Deshalb habe ich (wie Otis) ein Logbuch angefangen.

Morgen werde ich das Jägerhaus besuchen – allein.

Und ich will den Täter finden.

Was ich weiß:

Die Polizei glaubt, dass Otis absichtlich angefahren wurde.Das schwarze Auto war gestohlen und der Täter hat es danach angezündet.Der Täter trug eine Clownsmaske.

FREITAG, 29. JULI 2022

9:00 Uhr

Ma schläft noch. Ich stelle eine Tasse Tee auf ihren Nachttisch und schleiche mich aus dem Zimmer.

Ich selbst habe die halbe Nacht wach gelegen. Normalerweise komme ich kaum aus dem Bett, aber jetzt war ich froh, dass ich aufstehen konnte. Solange ich beschäftigt bin, brauche ich nicht an Du-weißt-schon-was zu denken und habe weniger das Gefühl zu ertrinken.

Trotzdem zittern meine Hände leicht, als ich den Rucksack packe. Jeder Urban Explorer weiß, dass es unvernünftig ist, allein loszuziehen. Ich könnte einfach so durch einen morschen Boden oder eine Treppe brechen oder es könnte mir ein Stück von einer Deckenverkleidung auf den Kopf fallen. Eine Mauer könnte einstürzen und mein Bein zerquetschen.

Mein Handy ist mein einziges Fangnetz. Obwohl ich es gestern noch aufgeladen habe, prüfe ich sicherheitshalber den Akku. 96 Prozent sind genug, um mich zu beruhigen. Sollte ich in Schwierigkeiten geraten, kann ich immer noch jemanden anrufen.

Es sei denn, ich werde bewusstlos, wie Otis.

Er ist in der Trauerhalle der Klinik geblieben. Nur sein Handy und seinen Schlüsselanhänger mit der Unglückspfote durften wir mitnehmen. Ma hat sie auf die Treppe gelegt, als sie nach oben ging.

Ma …

Ich schreibe einen Zettel und lasse ihn auf dem Küchentisch liegen.

Fahre bisschen Rad.

Um die Kameratasche von der Garderobe nehmen zu können, muss ich den Trilby erst anheben.

Manchmal finden Hunde verschwundene Personen wieder, wenn sie an deren Kleidung schnuppern.

Ich hänge den Hut nicht zurück, sondern rieche kurz daran und setze ihn auf.

Mit dem Rucksack und der Kameratasche in der Plastikkiste vorn auf meinem Rad fahre ich auf dem schmalen Weg durch die Brandgasse hinter unserem Haus auf die Straße. Das Stativ habe ich mit Spannbändern am Gepäckträger befestigt. Als ich vom Bürgersteig runterfahre, gibt das Stativ ein tickendes Geräusch von sich.

Der Routenplaner auf meinem Handy bringt mich zur Groenstraat. Ich komme am CaféHet Veehandelshuis vorbei und überquere den unbeschrankten Bahnübergang. Von einer Mauer um ein großes Bauernhaus starren mich drei Steineulen an.

Haben sie Otis auch so angeschaut?

Für manche Völker in Europa und Asien ist die Eule die Vorbotin des Todes. Otis trainiert schon fast ein Jahr für einen Halbmarathon und seit wir hier wohnen, ist er bestimmt so sechs- bis siebenmal an diesen Viechern vorbeigerannt. Immer unterwegs zum Wald, wo er über die Wege joggte, um schließlich über eine andere Strecke zum Bosloop zurückzu…

Dröhnendes Hupen holt mich fast vom Rad. Total in Gedanken versunken habe ich die Leursebaan überquert, ohne auf den Verkehr zu achten. Zitternd vor Schreck schieße ich auf den Radweg. Ein Wunder, dass mir mein Handy nicht aus den Fingern geflutscht ist.

Pass doch auf, du Trottel, schnauzt Otis in meinem Kopf. Ma hat doch nur noch dich.

Mein Herz wummert noch eine ganze Weile, während ich am Wald entlang über den roten Asphalt surre.

Zum Glück steht neben der Torendreef ein rot-weißer Zaun, sonst wäre ich an der Abbiegung einfach vorbeigerauscht. Ich bremse hart ab und lenke mein Rad auf den Sandweg zwischen den hohen Bäumen. Weil man weit in der Ferne das Ende sehen kann, wirkt die Allee ein bisschen wie ein Tunnel.

Ich lehne mein Rad an eine dicke Buche und hole meine Sachen aus der Kiste. Weil ich das Stativ nicht die ganze Zeit schleppen will, stecke ich es in den Rucksack. Wenn ich den Reißverschluss ein Stückchen offen lasse, damit die Beine herausragen können, geht das ganz gut.

Die Morgensonne scheint durch die Blätter. Ich folge der Allee tiefer in den Wald hinein und nehme den erstbesten Seitenweg, den ich sehe. Hier und da sind noch Pfützen vom Regen der vergangenen Nacht. Ich mache mir nicht die Mühe, über sie hinwegzuspringen. Meine Wanderschuhe halten das aus, das haben die Touren mit Otis bereits bewiesen. Feuchte Keller. Tunnel, in denen man durch seichtes Wasser waten musste.

Das Grün wird dichter. Weniger geplant und angelegt.

Otis ist einem Grünspecht gefolgt und hat den Weg verlassen, aber ob das hier irgendwo war …

Ich nehme mein Handy dazu, um zu sehen, wo ich bin.

Der blaue Punkt. Hier stehe ich laut GoogleMaps.

Ich lege meinen Finger auf das Display, damit ich die Karte von links nach rechts ziehen kann.

Die Alleen und Wege sind in Weiß angegeben. Drum herum ist alles grau.

Außer …

Da ist ein kleines Rechteck! Es liegt exakt in dem Bereich, den Otis in seinem Logbuch beschrieben hat.

Könnte es das Jägerhaus sein?

Ich stecke mein Handy in die Hosentasche und verlasse optimistisch den Weg.

Hier beginnt die Wildnis erst richtig. Es fühlt sich gut an, einen Haufen Brennnesseln und Farne zur Hölle zu schicken. Mich in einen Graben rutschen zu lassen und auf der anderen Seite keuchend wieder hochzuklettern. Manchmal stehe ich mitten im Matsch oder meine Beine verheddern sich in einem Brombeerstrauch und die Dornen piksen durch meine Hose. Es ist mir egal. Irgendwie tut es sogar gut, sich so anzustrengen und …

Zwischen den Bäumen schimmert etwas Weißes hindurch. Sieht aus wie ein Schornstein!