Patchwork-Familien - Thomas Hess - E-Book

Patchwork-Familien E-Book

Thomas Hess

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Beschreibung

Was ist besonders in Patchwork-Familien? Auf welche Fallen und Klippen muss der Helfer achten? Was kann man auch ohne familientherapeutische Ausbildung tun? Therapeutinnen, Berater, Schulsozialarbeiterinnen, sozialpädagogische Familienbegleiter kommen immer mehr in Berührung mit Patchwork-Familien: mit Müttern, die zwischen Geliebtem und Kindern stehen, mit Stiefmüttern, die ihr Letztes geben und doch nicht genügen, mit Kindern, die unter der Patchwork-Situation leiden, mit Stiefvätern, die plötzlich von ihrer Partnerin abgewiesen werden, mit Vätern, die von einem Stiefvater verdrängt werden. Die Autoren beschreiben die Dynamiken der komplexen Beziehungskonstellationen. Sie stellen konkrete Vorgehensweisen in unterschiedlichen Ausgangslagen sowie beraterische Leitlinien vor und veranschaulichen sie mit einem Therapietranskript. Ausgewiesene Fachleute verschiedener Therapierichtungen und Institutionen - u. a. Gunther Schmidt, Joachim Küchenhoff, Harald Gündel, Serge Sulz - diskutieren den vorgeschlagenen Ansatz. Ein Nachschlageteil mit Therapievorschlägen für bestimmte Problemlagen rundet das Buch ab.

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Thomas Hess Claudia Starke

Patchwork-Familien

Beratung und Therapie

Mit Beiträgen von Alfons Aichinger und Christian Prior

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

 

 

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Die im Buch enthaltenen Illustrationen wurden von Vincent Raths gezeichnet.

Print:

ISBN 978-3-17-024299-9

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024300-2

epub:   ISBN 978-3-17-024301-9

mobi:   ISBN 978-3-17-024302-6

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Inhalt

 

 

Danksagung

Einführung

Prolog: Patchwork lauert überall

Teil I Patchworks sind anders

1 Ausgangslage

1.1 Die Patchwork-Konstellationen

1.2 Das Besondere von Patchworks

1.3 Zusätzliche Belastungen

2 Ideal und Wirklichkeit

2.1 Ideal »romantische Liebe«

2.2 Folgen des Liebesideals

2.3 Ideal Kernfamilie

2.4 Folgen des Kernfamilienideals

3 Rollenerwartungen

3.1 Erwartungen an Mütter und Stiefmütter

3.2 Erwartungen an Väter und Stiefväter

4 Die Stiefvater-Fallen

5 Das Leiden der Stiefväter und Väter

6 Die Stiefmutter-Fallen

7 Das Leiden der Stiefmütter und Mütter

8 Das Leiden der Kinder und Jugendlichen

8.1 Kinder mit verstorbenem Elternteil

8.2 Halbgeschwister in Patchwork-Familien

8.3 Leibliche Kinder der Patchwork-Eltern

8.4 Kinder nach wiederholten Trennungen

9 Kapitalfehler der Eltern und die Folgen für die Kinder

10 Das Leiden der Großeltern und Verwandten

11 Patchwork-Diagnostik

11.1 Typische Patchwork-Dynamiken

11.2 Prognostische Aspekte

Tanz mit Perspektiven

Teil II Arbeit mit Patchworks

1 Voraussetzungen für die therapeutische Arbeit

Therapeutische Haltung

Therapeutisches Rüstzeug

2 Der diagnostisch-therapeutische Kreisprozess

3 Schritte einer Therapie oder Beratung

3.1 Settingentscheidung

3.2 Auftragsklärung

3.3 Therapieplanung

3.4 Prozesssteuerung

4 Elemente der therapeutischen Arbeit

4.1 Basiskomponenten

4.2 Wichtige Dauerthemen

4.3 Besondere Herausforderungen

5 Stop-and-go-Beratung, Teilabschlüsse, Abschlüsse

Ringen um Rangfolgen

Teil III Therapiebeispiel

Intake

1. Sitzung

2. Sitzung

3. Sitzung

4. Sitzung

5. Sitzung

6. Sitzung

7. Sitzung

Kritischer Rückblick auf den Therapie-Verlauf

Teil IV Diskurs

Interviews mit A. Aichinger, Ch. Bauer, H. Classen, H. Gündel, J. Küchenhoff, M. Krummeich, N. Omalar, E. Popa, G. Schmidt, S. Sulz

1 Kommentar zum Fallbeispiel

2 Einbezug aller Beteiligten im Mehrpersonensetting

3 Einzeltherapeuten für Arbeit im Mehrpersonensetting gewinnen

4 Einbezug des extern lebenden Elternteils

5 Einbezug der Kinder

6 Bezahlung von Familientherapien

7 Familientherapie als Domäne der Beratungsstellen

Teil V Tipps für die Praxis

1 Dynamik hinter dem Leiden bei bestimmten Problemsituationen

1.1 Mütter

1.2 Väter

1.3 Stiefmütter

1.4 Stiefväter

1.5 Stiefelternpaar

1.6 Kinder und Jugendliche

1.7 Großeltern

2 Settingentscheidungen

3 Mehrpersonensetting

3.1 Tipps für die Gesprächsmoderation

3.2 Tipps für die Gesprächsführung bei Konflikten

3.3 Sitzungen mit Stief- und Patchwork-Familien

3.4 Sitzung mit dem Patchwork-Paar

3.5 Sitzung mit dem Eltern-Paar

3.6 Kinder und Jugendliche in Familiensitzungen

3.7 Getrennte Eltern zusammen mit ihren Kindern

3.8 Großeltern der Patchwork-Kinder

4 Interventionen für bestimmte Ausgangslagen oder Ziele

5 Methodenanhang

5.1 Psychodramatische Teilearbeit mit Tierfiguren bei Kindern im Trennungs-/ Scheidungskonflikt

von Alfons Aichinger

5.2 Klärungshilfe – ein starkes Gefäß für heiße oder kalte Konflikte

von Christian Prior

Epilog

Die Autoren

Kurzvitae

Glossar

Literatur

Stichwortverzeichnis

 

Danksagung

 

 

Wir möchten folgenden Menschen danken – und zwar chronologisch geordnet:

Zuerst den Patchwork-Familien, die unsere therapeutischen Dienste beanspruchten und durch die wir lernen konnten, dass Patchwork ein eigenes Thema ist. Unseren Familien und Freunden, die mit deutlich weniger Aufmerksamkeit beschenkt wurden, als sie verdient haben, und die unsere einseitige, schreibende Freizeitbeschäftigung toleriert haben.

Unseren Probeleserinnen Inez Hastenrath, Janni Ploog, Christiane Ryffel, Syl Edelmann und Katherina Giesemann, die uns wichtige Rückmeldungen gegeben haben.

Der Intervisionsgruppe, die uns betreffend Struktur und Titel half und damit die Lesefreundlichkeit erhöhte.

Ein dickes Dankeschön geht an Mara Bieler, die unsere verschlungenen Schlangensätze vereinfachte und uns mit ihren Kommentaren zu etlichen aufmunternden, teils auch betroffenen Lachanfällen verholfen hat.

Und unserem Patchwork-Neffen Vincent Raths, der unsere sich dauernd ändernden Bilderwünsche in Illustrationen umsetzte und immer freundlich geblieben ist. Und in diesem Zusammenhang danken wir auch dem Kohlhammer-Verlag, der sich sogar mit diesen fachbuch-ungewöhnlichen Karikaturen anfreunden konnte. Carola Twrsnick half uns beim Schlusslektorat und befreite den Text von den letzten Helvetismen.

Nicht zuletzt wollen wir allen danken, die sich ehrlich bemüht haben, an unserem Interview teilzunehmen und die dann doch absagen mussten. Vor allem aber denjenigen, die sich uns zur Verfügung gestellt haben.

 

Einführung

 

 

»Familie ist Familie. Also wende ich bei Patchwork-Familien dieselben Methoden an, die bei Kernfamilien funktionieren.« Ähnlich dachten und handelten wir wie andere Kollegen auch – und tappten in manche therapeutische Falle. Das war vor gut zehn Jahren.

Die Zahl der Stief- und Patchwork-Familien hat stetig zugenommen und macht seit einiger Zeit mehr als die Hälfte unserer Klientel aus. Wir haben viele solche Familien in den verschiedensten Phasen kennengelernt. In der Arbeit mit ihnen fanden wir heraus, was anders funktioniert als bei Kernfamilien. Wir erkannten, dass die deutlich höhere Komplexität von Patchwork-Systemen nur zu erfassen ist, wenn die Beziehungsgefüge zwischen den Personen in Subsystemen und Mehrpersonensettings erkannt und bearbeitet werden.

Aus den gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnissen entstanden zuerst ein Buch für Betroffene (Starke et al. 2015) und nun das vorliegende für Fachleute, die mit Patchwork-Familien beruflich zu tun haben.

Wir möchten ein breites Fachpublikum erreichen: Einzeltherapeutinnen, Hausärzte, Beraterinnen aus Ehe- und Familienberatungsstellen, Kindertherapeuten, Jugendbetreuerinnen bzw. Jugendsozialarbeiterinnen, Paar- und Familientherapeuten, Schulpsychologinnen, Sozialpädagogen, aufsuchende Familienbegleiterinnen. Kurz: Alle, die zunehmend mit Patchwork-Familien konfrontiert sind, die mit Einzelpersonen aus einer zusammengesetzten Familie arbeiten oder die plötzlich vor mehr als zwei Elternteilen eines betreuten Kindes stehen.

Uns ist klar, dass diese Fachpersonen in sehr unterschiedlichen Kontexten arbeiten. In manchen wird Therapie oder Beratung von ganzen Familien bisher wenig praktiziert, in anderen ist es übliche Praxis.

Abgesehen von den unterschiedlichen Organisationsformen und Finanzierungsmodellen besteht in den deutschsprachigen Ländern nach wie vor ein Verständnis von Beratung, das auf Einzelpersonen fokussiert. Eine solche Haltung wird den vielschichtigen Problematiken in Patchwork-Familien nicht gerecht.

Wenn es uns mit diesem Buch gelingt, Ihren Blick auf alle Betroffenen zu lenken und sich konzeptionelle Gedanken zur Vorgehensweise zu machen, ist eines unserer wichtigsten Anliegen erfüllt.

Mit dem Prolog »Patchwork lauert überall«, unserem ersten Beispielkapitel, möchten wir Sie darauf einstimmen, wie häufig den Beratungsanliegen Patchwork-Problematiken zugrunde liegen, die auf den ersten Blick nicht erkennbar sind.

Im Teil I »Patchwork ist anders« beschreiben wir das notwendige Wissen über Dynamiken und Probleme von Patchwork-Familien.

Im zweiten Beispielkapitel »Tanz mit Perspektiven« erleben Sie, wie wichtig das Einholen der unterschiedlichen Sichtweisen für das Gesamtbild ist.

Im Teil II »Arbeit mit Patchworks« finden Sie das nötige Rüstzeug, um mit Patchwork-Familien zu arbeiten: Grundprinzipien der Vorgehensweise und konkrete Herausforderungen.

Das dritte Beispielkapitel »Ringen um Rangfolgen« gibt einen Vorgeschmack auf die Schwierigkeiten bei der Priorisierung der Anliegen.

Wie wir den therapeutischen Ansatz praktisch umsetzen, erleben Sie im Teil III am Beispiel eines Therapieverlaufs. Im Therapietranskript finden sich zusätzlich therapeutische Überlegungen und Kommentare.

Der Teil IV besteht aus Interviews mit Fachpersonen verschiedener therapeutischer Ausrichtungen und aus unterschiedlichen Berufsfeldern. Folgende Fachleute kommentieren unseren therapeutischen Ansatz: Alfons Aichinger, Christiane Bauer, Johannes Classen, Harald Gündel, Martin Krummeich, Joachim Küchenhoff, Nezire Omalar, Enikö Popa, Gunther Schmidt und Serge Sulz.

Der Teil V ist völlig anders aufgebaut und kann wie ein Nachschlagewerk oder Rezeptbuch benutzt werden. Wir möchten denjenigen Lesern, die vor einem konkreten Patchwork-Problem stehen, Ideen zu versteckten Dynamiken und zum konkreten Vorgehen in bestimmten Problemsituationen geben.

Zwei zentrale methodische Bausteine werden von ihren Vertretern selber beschrieben: Alfons Aichinger stellt seinen psychodramatischen Ansatz in der Arbeit mit Kindern von getrennten Eltern vor und Christian Prior die Methode der Klärungshilfe.

Da wir Sie alle gendersprachlich ausgewogen ansprechen möchten, verwenden wir sowohl die weibliche als auch die männliche Form. Die weibliche überwiegt und spiegelt so die Realität wider, dass deutlich mehr Frauen in Beratung und Therapie von Patchwork-Familien tätig sind.1 Und weil die hier vorgestellte systemische Zugangsweise dieselbe in Therapie und Beratung ist, gebrauchen wir auch die Begriffe »Beratung«, »Therapie«, »Beraterin«, »Berater«, »Therapeutin«, »Therapeut«, »beraterisch« und »therapeutisch« im Wechsel.

Das Buch entstand aus gemeinsam durchgeführten Therapien und unzähligen Diskussionen über Klientenfamilien sowie über theoretische Aspekte und den Aufbau des Buches. Die Reihenfolge der Autorenschaft auf dem Buchtitel würdigt die längere Praxiserfahrung von Thomas Hess.

Beim Schreiben und in den Diskussionen ist uns immer wieder deutlich geworden, wie vielfältig Patchwork-Familien sind. Aber lassen Sie sich durch die Komplexität nicht entmutigen. Das Buch soll Sie vielmehr anregen, schrittweise Neues auszuprobieren.

1     Im Therapiebeispiel Teil III wird allerdings durchgehend die männliche Form verwendet, da es eine Beratung von Thomas Hess beschreibt.

 

Prolog: Patchwork lauert überall

 

 

Alle psychosozialen Berufe sind heute mit verschiedensten Familienformen konfrontiert. All denen, die mit Einzelpersonen arbeiten (z. B. Hausärztinnen, Lehrer, Erzieherinnen), muss klar sein, dass Familie in der gegenwärtigen Zeit auch heißen kann: Einelternfamilie, Regenbogenfamilie, Stief- und Patchwork-Familie. Vor allem bei psychosozialen Problemen spielt das familiäre Umfeld der Betroffenen eine große Rolle. Nachfragen lohnt sich: Familienmitglieder sprechen oft nur von »meiner Familie«, ohne zu präzisieren, ob sie in einer Kernfamilie oder einem Patchwork-System leben.

Mit diesem Fingerzeig auf oft verborgene Patchwork-Hintergründe wollen wir auf ein Fallbeispiel einstimmen. Die junge Patchwork-Familie, die wir im Folgenden vorstellen, wird im weiteren Verlauf wiederholt auftauchen.

Genogramm der Patchwork-Familie von Beate und Lars

Eine Patchwork-Geschichte

Beate, Konrad und ihre Kinder Sammy (9) und Clea (5) sind das, was man sich unter einer ganz normalen Familie vorstellt. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als Beate bewusst wird, dass sie nicht ihr eigenes Leben lebt, sondern sich stark von ihrer Mutter und ihrem Ehemann beeinflussen lässt. Kaum eine Entscheidung trifft sie alleine. Sie beschließt, ihr Leben zu ändern. Zum ersten Mal setzt sie ihren Willen gegen den Widerstand ihres Mannes durch, indem sie sich eine Arbeit sucht. Der Paarkonflikt führt zu einer Krise: Beate wünscht sich von Konrad mehr Raum für Eigenverantwortung. Ihr Mann kann diesen Wunsch nicht nachvollziehen, weil Beate seiner Meinung nach alles hat, was es zum Glücklichsein braucht. Es kommt zur Trennung – eine Trennung, die ursprünglich keiner von beiden wollte.

Kurze Zeit später verliebt sich Beate in Lars, den Abteilungsleiter des Gartencenters, in dem sie ihre neue Stelle angetreten hat. Lars ist bereits seit längerer Zeit geschieden und hat einen 14-jährigen Sohn, Timo.

Beate versucht, ihr Familienleben als Alleinerziehende und ihre neue Liebe unter einen Hut zu bringen, indem sie sich mit Lars vor allem dann trifft, wenn ihre Kinder beim Vater sind. Manchmal kommt Lars zu ihr nach Hause, wenn die Kinder schon im Bett sind.

Clea kroch von klein auf gerne zur Mutter ins Bett, um ein wenig zu kuscheln. Nach der Trennung aber kommt sie fast jede Nacht mit der Begründung, nicht einschlafen zu können.

Nach einigen Wochen sucht Beate mit Clea die Kinderärztin auf mit der Bitte um ein pflanzliches Mittel, das der Tochter beim Einschlafen helfen soll.

Die Kinderärztin untersucht das Mädchen und findet nichts Auffälliges.

Die Ärztin nimmt hier eine Schlüsselposition für den weiteren Verlauf dieses Familienlebens ein. Sie überlegt sich folgende Möglichkeiten:

•  Ich bespreche mit der Mutter das Bettritual und motiviere sie, Clea vor dem Einschlafen genügend Zeit zu widmen.

•  Ich rate der Mutter, das Kind vorübergehend bei ihr im Bett schlafen zu lassen.

•  Ich gebe der Mutter ein homöopathisches Einschlafmittel für Clea.

•  Ich erkundige mich nach der aktuellen Lebenssituation der Familie.

Ein vertieftes Gespräch mit der Mutter über Möglichkeiten, das Kind in einem beruhigten Zustand ins Bett zu bringen, könnte eine erste hilfreiche Maßnahme sein.

Der Rat, sie möge das Kind bei sich im Bett schlafen lassen, kann sowohl Ablehnung als auch Zustimmung hervorrufen – es gibt sehr unterschiedliche Erziehungsvorstellungen, für die sich jeweils gute Begründungen finden lassen. Macht die Kinderärztin einer Mutter also diesen Vorschlag, erfährt sie immerhin, welche Einstellung diese dazu hat, ihr Kind bei sich oder gerade nicht bei sich im Bett haben zu wollen.

Ein paar pflanzliche Tropfen sind wohl nicht schädlich, werden das Grundproblem aber kaum lösen.

Nur wenn die Ärztin die familiären Umstände erfragt, erfährt sie, dass Beate seit kurzer Zeit getrennt ist und bereits einen neuen Freund hat. Beate ist zwar überzeugt, dass die Kinder noch nichts von Lars wissen. Aber mit Sicherheit spüren die Kinder die Veränderung der Mutter. Und da die Trennung der Eltern noch nicht weit zurückliegt, löst dies zumindest Unruhe aus und möglicherweise die latente Angst, nach dem Vater nun noch die Mutter zu verlieren.

Wenn sich die Pädiaterin Zeit nimmt und mit Beate alleine oder gemeinsam mit dem Kind die neue Situation bespricht, wird sie Beate in ihrem Dilemma beistehen können: » Soll ich den Kindern von meiner Liebe erzählen oder nicht? Soll ich ihnen Lars als meinen neuen Freund vorstellen?« Das Risiko dabei wäre, die Kinder mit einer Stiefvaterfigur zu konfrontieren, ohne dass feststeht, ob aus der neuen Liebe eine feste Beziehung wird. Hält Beate den Partner vor den Kindern geheim, läuft sie Gefahr, dass diese es trotzdem herausbekommen. Zudem haben die meisten Mütter Schuldgefühle, wenn sie den Kindern gegenüber unehrlich sind.

Patchwork-Geschichte (Fortsetzung 1)

Mittlerweile hat Konrad, Beates Noch-Ehemann, von den Kindern erfahren, dass Beate wieder liiert ist und mit dem neuen Freund zusammenziehen will. Er ist wütend, traurig und fühlt sich auch körperlich immer schlechter.

Konrad meldet sich mehrfach krank und seine Arbeitsleistung nimmt ab. Er sucht seinen Hausarzt auf, da er das Gefühl hat, sich von einer Grippe nicht mehr zu erholen.

Der Hausarzt fragt, ob seine Frau und die Kinder auch eine solche Grippe gehabt hätten. Konrad erwidert verbittert: » Von denen kann ich mich kaum angesteckt haben, die sehe ich nicht mehr. Wir sind getrennt. Ich wurde hinauskomplimentiert, lebe bei meiner Mutter und bin nur noch der zahlende Esel, der auch den neuen Liebhaber meiner Frau mitfinanziert. Meine Kinder darf ich nur sehen, wenn’s denen in den Kram passt.«

Der Hausarzt ist unerwartet mit einer Familienproblematik konfrontiert und hat ebenfalls eine Schlüsselposition für die weitere Entwicklung der Familie. Er überlegt sich folgende Möglichkeiten:

•  Ich sage dem Patienten, dass seine somatischen Symptome mit dieser familiären Belastung gut erklärbar seien, und schlage ein Antidepressivum vor.

•  Ich frage, wie es den Kindern gehe und wie oft er diese sehe.

•  Ich empfehle eine Mediation zur Regelung der Finanzen.

•  Ich rege eine Einzelpsychotherapie an, damit er mit seiner neuen Situation besser klarkommt.

•  Ich schlage ihm vor, dass er und seine Expartnerin sich gemeinsam professionelle Unterstützung holen sollten.

Offensichtlich ist, dass dieser Patient unter der Trennung leidet. Mit Sicherheit ist er zusätzlich sehr verletzt, weil er vom neuen Mann nicht direkt von Beate erfahren hat. Wenn der Arzt dem Patienten die Zusammenhänge zwischen seinen Symptomen und Belastungen erklärt, kann dies zur Entlastung führen. Hat der Arzt Sorge, der Patient könne zunehmend depressiv werden, wäre ein Antidepressivum zur Unterstützung sinnvoll.

Wenn er sich entscheidet, sich mit dem familiären Hintergrund zu beschäftigen, gibt es verschiedene Möglichkeiten: Die Frage nach den Kindern ist dabei wichtig. Vielleicht sieht Konrad seine Kinder zu wenig und befürchtet, sie an Lars zu verlieren. Oder er hat sich aus der Verletzung heraus völlig zurückgezogen, was die Kinder möglicherweise als Ablehnung erleben. Der Arzt könnte Konrad ermutigen, sein Interesse nach mehr Kontakt zu den Kindern einzubringen, z. B. mit ihm besprechen, wie er am besten auf Beate oder die Kinder zugehen könnte.

Zur Regelung von Umgangsrecht und Unterhalt kann eine Mediation hilfreich sein. Vermutlich gelingt es aber dem Hausarzt nicht, das Paar dazu zu motivieren, ohne vorher Kontakt zu Beate aufgenommen zu haben.

Eine Einzelpsychotherapie könnte von Nutzen sein, aber sich ebenso gut auch als kontraproduktiv erweisen: Wenn Konrad sich von seinem Therapeuten in seiner momentanen Opferrolle unterstützt fühlt, könnte der Konflikt mit Beate eskalieren. Ohne die Dynamik des Paares mit zu berücksichtigen, droht ein Rosenkrieg. Deshalb wäre es besser, wenn das Elternpaar gemeinsam professionelle Hilfe suchte, damit nicht jeder gegen den anderen aufrüstet und dabei die Kinder in schwere seelische Nöte bringt. Mit Sicherheit ist die Chance größer, das Paar zu motivieren, wenn der Hausarzt diesen Bedarf mit beiden erörtert. Wichtig ist, dass er sich dabei nicht in eine Diskussion über Ursachen oder Schuld der Krise ziehen lässt, sondern beide darin unterstützt, um der Kinder willen zu neuen Lösungen zu kommen.

Patchwork-Geschichte (Fortsetzung 2)

Die Beziehung zwischen Beate und Lars festigt sich. Die Kinder haben Lars kennen und schätzen gelernt. Nach nur wenigen Monaten Beziehung gründen Beate und Lars einen gemeinsamen Haushalt. Sie hoffen, dass alles einfacher wird, wenn sie am gleichen Ort leben. Außerdem sparen sie sich die Kosten für die Wohnung von Lars. Die junge Patchwork-Familie unternimmt gemeinsame Ausflüge und es scheint allen mit der neuen Familiensituation gut zu gehen.

Eines Tages schreckt ein Anruf aus Sammys Schule die Familie auf: Seine Leistungen würden stark abnehmen, er sei häufig in Streitereien verwickelt und mache im Unterricht kaum mehr mit. Sammys Lehrerin schicke den Jungen zur Schulsozialarbeiterin.

Ihr erzählt Sammy: » Seitdem Mama den Papa aus der Wohnung geworfen hat und wir jetzt auch noch umgezogen sind, geht es Papa schlecht. Er schreibt mir ganz oft SMS, dass er uns vermisst. Und er weint viel, das seh ich. Ich bin der Einzige, der wirklich weiß, wie schlecht es Papa geht. Aber Sie dürfen niemandem etwas davon erzählen.«

Die Schulsozialarbeiterin ist in einer schwierigen Ausgangslage. Auch sie hat eine Schlüsselposition inne, denn je nach ihrem Handeln entschärft sie die Situation oder belässt Sammy in seiner inadäquaten Rolle als Tröster seines Vaters. Sie hat folgende Optionen:

•  Sie nimmt entgegen Sammys Wunsch Kontakt mit dem Vater auf.

•  Sie tritt mit der Mutter in Kontakt und erklärt, dass der Junge Angst um seinen Vater hat, und bittet sie zusammen mit dem Vater zu einem Gespräch.

•  Sie kontaktiert beide Elternteile und vereinbart mit ihnen je einzeln oder gemeinsam ein Gespräch. Als Grund für das Gespräch nennt sie den Leistungsabfall von Sammy.

•  Sie informiert den Rektor, die Klassenlehrerin oder den Schulpsychologen, um die Brisanz der Situation zu erläutern und gemeinsam das Vorgehen zu besprechen.

Wie die Schulsozialarbeiterin handeln soll, hängt wesentlich von ihrem Auftrag und ihrer Rolle in der Schule wie auch von ihrer Erfahrung und Kompetenz ab.

Sammy ist in eine Rolle hineingerutscht, mit der er überfordert ist. Sein Leistungsabfall und seine Verhaltensauffälligkeit sind alarmierende Zeichen. Zum Glück hat die Lehrerin gut reagiert und den Jungen zu einem Gespräch zur Schulsozialarbeiterin geschickt. Sammy muss so schnell wie möglich entlastet werden. Dies gelingt aber nur, wenn man ihm versichert, dass sich jemand anderes um seinen Vater kümmert. Sammy hat verständlicherweise Angst, den Vater zu verletzen, wenn er dessen Verzweiflung outet. Damit steht die Schulsozialarbeiterin vor folgenden Fragen: Soll sie Sammys Verbot ignorieren und Mutter und/oder Vater dennoch kontaktieren? Oder soll sie mit Sammy alleine arbeiten?

Die Folgen dieser beiden Alternativen könnten sein:

Falls sie dem Wunsch Sammys nach Diskretion Folge leistet und nur die Themen Leistungsabfall und Verhaltensauffälligkeiten bespricht, käme die Verzweiflung des Vaters möglicherweise nicht auf den Tisch.

Wenn die Schulsozialarbeiterin das Gespräch allein mit der Mutter führt, bleibt offen, ob diese sich ernsthaft um eine Lösung zugunsten ihres Expartners bemüht. Zudem besteht die Gefahr, dass die Mutter den Jungen daheim weiter über den Kontakt mit dem Vater befragt und ihn dadurch noch mehr unter Druck setzt.

Um sicher zu sein, dass am Schulgespräch der biologische Vater teilnimmt, muss die Schulsozialarbeiterin diesen direkt kontaktieren. Denn wenn sie die Einladung dazu über die Mutter macht, könnte es sein, dass diese den aktuellen Partner anstelle des Vaters mitbringt.

Falls der Vater sich weigert, mit seiner Exfrau am selben Tisch zu sitzen, besteht die Möglichkeit, ihn allein zu einem Vorgespräch einzuladen. Am besten findet dies direkt vor der Sitzung mit den anderen Beteiligten statt.

Die optimale Zusammensetzung für ein gemeinsames Gespräch wäre folgende: Sammy, seine beiden leiblichen Eltern, die Schulsozialarbeiterin und evtl. noch eine weitere Fachperson aus der Schule. Wenn die Sorge um die Befindlichkeit des Schülers im Vordergrund steht, wird Sammys schwierige Rolle als Beschützer seines Vaters im Verlauf des Gesprächs auftauchen und kann mit allen Beteiligten besprochen werden.

Falls die Schulsozialarbeiterin aber keine solch heiklen Gespräche mit mehreren Personen führen darf oder kann, sollte sie an die Schulpsychologie oder eine andere entsprechend geschulte Instanz verweisen.

Aus den drei Beispielen wird deutlich, dass es ohne das Wissen um die Patchwork-Situation kaum eine zielführende Therapie oder Beratung für Clea, Sammy oder Konrad gegeben hätte.

 

 

Teil I   Patchworks sind anders

 

Inhaltsverzeichnis Teil I: Patchworks sind anders

1 Ausgangslage1.1 Die Patchwork-Konstellationen1.2 Das Besondere von Patchworks1.3 Zusätzliche Belastungen2 Ideal und Wirklichkeit2.1 Ideal „romantische Liebe“2.2 Folgen des Liebesideals2.3 Ideal Kernfamilie2.4 Folgen des Kernfamilienideals3 Rollenerwartungen3.1 Erwartungen an Mütter und Stiefmütter3.2 Erwartungen an Väter und Stiefväter4 Die Stiefvater-FallenVaterersatzLeben im SpagatRetter auf SchleudersitzRückzug5 Das Leiden der Stiefväter und Väter6 Die Stiefmutter-FallenKampf gegen das KlischeeMutterersatzVerleugnung von Unterschieden7 Das Leiden der Stiefmütter und Mütter8 Das Leiden der Kinder und Jugendlichen8.1 Kinder mit verstorbenem Elternteil8.2 Halbgeschwister in Patchwork-Familien8.3 Leibliche Kinder der Patchwork-Eltern8.4 Kinder nach wiederholten Trennungen9 Kapitalfehler der Eltern und die Folgen für die KinderDauerkrieg nach TrennungKinder im KreuzfeuerKinder als Tröster und VermittlerKinder als PartnerersatzKinder als BriefträgerKinder als GeheimnisträgerKinder mit KontrollaufträgenKinder als Babysitter10 Das Leiden der Großeltern und Verwandten11 Patchwork-Diagnostik11.1 Typische Patchwork-DynamikenEinfache StieffamilieZusammengesetzte StieffamilieKomplexe StieffamilieProblematische Dynamiken zwischen Stieffamilie und ExpartnerProblematische Dynamik zwischen Großeltern, Verwandten und der Patchwork-Familie11.2 Prognostische AspekteDie verschiedenen Phasen nach der Bildung einer Patchwork-FamiliePhase 1: „Rosa Brille“ VerklärungPhase 2: Nähe und IrritationenPhase 3: KrisePhase 4: VerletzlichkeitPhase 5: LeerePhase 6: RevolutionPhase 7: KonsolidierungRessourcen in Patchwork-Systemen

 

1            Ausgangslage

»Patchwork-Familie« ist gebräuchlich geworden als Sammelbegriff für drei grundsätzlich verschiedene Familien-Konstellationen. Wir übernehmen diesen Sprachgebrauch für die unterschiedlichen Patchwork-Konstellationen, sofern die Unterscheidung nicht relevant ist.

1.1         Die Patchwork-Konstellationen

Wenn die Anzahl der Kinder und die Kombinationen der Teilfamilien berücksichtigt werden, gibt es unzählige Patchwork-Konstellationen. Dennoch gibt es Grundkonstellationen, die jeweils bestimmte Dynamiken fördern.

Bien, Hartl und Teubner (Teubner 2002, S. 53 f.) definieren folgende Konstellationen:

Einfache Stieffamilie

 

1.    Einfache Stieffamilie:

a. Stiefmutterfamilie: Vater, Kind oder Kinder, Stiefmutter.

b. Stiefvaterfamilie: Mutter, Kind oder Kinder, Stiefvater.

Wir führen diese beiden Beziehungsdreiecke separat auf, weil die Rollen der Stiefmutter und des Stiefvaters sehr verschieden sind und unterschiedliche Beziehungsdynamiken auslösen.

Zusammengesetzte Stieffamilie

2.    ZusammengesetzteStieffamilie:

In der Familie leben leibliche und nicht leibliche Kinder beider Partner, d. h., die Partner nehmen sowohl die Eltern- wie auch die Stiefeltern-Rolle ein.

Komplexe Stieffamilie

3.    KomplexeStieffamilie:

•  Stiefmutterfamilie und mindestens ein gemeinsames Kind.

•  Stiefvaterfamilie und mindestens ein gemeinsames Kind.

•  Zusammengesetzte Stieffamilie und mindestens ein gemeinsames Kind.

In den ersten beiden genannten Familien gibt es zwei Sorten Kinder, in der letztgenannten derer drei (je aus der Perspektive eines Elternteils): die Kinder aus den vorherigen Beziehungen, die Stiefkinder und die leiblichen Kinder der aktuellen Partnerschaft. Mit jedem Elternteil, der aus mehreren Verbindungen Kinder mit in die neue Familie bringt, erhöht sich die Komplexität nochmals.

Zu den daraus folgenden Dynamiken und Problemen lesen Sie weiter unten ( Teil I, Kap. 11.1, S. 43ff, und ausführlicher Teil V, Kap. 1, S. 176ff).

1.2         Das Besondere von Patchworks

Folgefamilie

Der von Soziologen bevorzugte Begriff »Folgefamilie« erfasst den wesentlichen Unterschied zur Kernfamilie: Es gibt eine ursprüngliche und eine darauf folgende Familie. Der heute üblichere Ausdruck »Patchwork-Familie« lässt dies oft vergessen.

Immer sind Trennungen vorausgegangen, die von Schmerz, Scham oder dem Gefühl eigenen Versagens begleitet sind und die Gestaltung einer neuen Familie beeinflussen.

Hat ein Todesfall die ursprüngliche Familie aufgelöst, leben Verstorbene als Bilder oder in Erinnerungsfetzen fort und sind dadurch in der Folgefamilie omnipräsent.

Verlustbewältigung

Alle Mitglieder einer Patchwork-Familie müssen zumindest die Auflösung des bisherigen Lebensmodells verarbeiten, wenn nicht gar den Verlust einer geliebten Person. Kinder verlieren wesentliche Bezugspersonen im Alltag. Ausschlaggebend für die weitere Entwicklung einer Patchwork-Familie ist, welche Konsequenzen die Betroffenen sowohl aus vorherigen Beziehungserfahrungen wie auch aus Trennungserlebnissen ziehen und mit welchen Erwartungen und Befürchtungen sie sich auf ein neues Familiensystem einlassen.

Rang zwei

zwei Sorten Liebe

Ein Stiefelternteil kommt in der Rangfolge des Partners an zweiter Stelle nach den Kindern. »Es ist sinnlos mit den Kindern um den ersten Platz konkurrieren zu wollen« (Juul 2011). Wenn der betroffene Partner in der neuen Familie seinen zweiten Rang nicht akzeptiert, sind Spannungen im Dreieck Elternteil – Kind – Stiefelternteil vorprogrammiert. Fragt ein Kind die Mutter oder den Vater »Wen hast du lieber, mich oder deinen Freund/deine Freundin?«, deutet dies darauf hin, dass der leibliche Elternteil nicht zwischen Elternliebe und Partnerliebe unterscheidet. Es entsteht eine Konkurrenzsituation zwischen Kind und Stiefelternteil.

zwei Lebenswelten

Durch den Zusammenschluss von zwei Familien nimmt die Anzahl der Beziehungen und Beziehungssysteme zu. Es treffen zwei Lebenswelten aufeinander. Dies führt zu mehr Herausforderungen, aber auch mehr Chancen für alle Beteiligten.

Die Kinder leben meist in zwei Familien im Wechsel und müssen sich mit mindestens einem Stiefelternteil auseinandersetzen. Falls beide neuen Partner Kinder mit in die Familie bringen, leben diese mit unterschiedlichen Eltern (leiblichen und nicht leiblichen), familiären Hintergründen und Familienkulturen zusammen.

drei Sorten Kinder

Entsteht in der Partnerschaft einer zusammengesetzten Stieffamilie ein gemeinsames Kind, gibt es für jeden Elternteil drei unterschiedliche Sorten Kinder: leibliche aus den vorherigen Verbindungen, Stiefkinder und ein gemeinsames aus der aktuellen Patchwork-Beziehung.

1.3         Zusätzliche Belastungen

Die Phase der Neubildung der Patchwork-Familie birgt an sich schon reichliche Herausforderungen. Krankheiten oder Probleme durch Interkulturalität fallen zusätzlich besonders ins Gewicht. Unterschiede im gesellschaftlichen Status sowie verschiedene Lebensphasen und -ziele in Bezug auf Beruf und Kinderwunsch addieren sich zu den belastenden Themen.

Geld

Bei Patchwork-Paaren gehört Geld immer zu den heiklen Themen. Jede Trennung verkleinert den Etat, den Familien im Alltag zur Verfügung haben. Wenn noch nicht alle finanziellen Belange geklärt sind, z. B. die Höhe der Unterhaltszahlungen für die Kinder oder die erbrechtliche Situation, sind Konflikte unumgänglich.

2           Ideal und Wirklichkeit

Jahrhundertealte Idealvorstellungen von Beziehung und Familie wirken heute nicht weniger auf junge Leute als moderne Rollenbilder. Beide sind Quellen eines Großteils der Probleme von Patchworks.

Seit Trennungen und Scheidungen sozial und wirtschaftlich erleichtert wurden, haben diese bekanntlich markant zugenommen und damit auch die Bildung von Patchwork-Familien. In westlichen Ländern ist auch deren Akzeptanz gewachsen, allerdings mehrheitlich erst bei jüngeren Menschen.

2.1         Ideal »romantische Liebe«

Liebesideal

Die wohl wichtigste Triebfeder des Trennungsbooms der letzten Jahrzehnte ist das romantische Liebesideal. Nach Sieder liegt dessen Ursprung in der Romantik und setzt sich bis heute fort: »Bis ins 20. Jahrhundert reiben sich romantische Liebe und bürgerliche Vernunft. Romane, Theaterstücke, Erzählungen, Memoiren und Briefe belegen die zahllosen Austragungen dieses Konflikts« (Sieder 2008, S. 24). Später wird das Ideal zugunsten der bürgerlichen Welt zurechtgebogen, respektive um die »aufrührerische, umstürzlerische und dunkel-destruktive Komponente gestutzt« (Ochs & Orban 2008, S. 51). Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt das Liebesideal wieder zu neuer Blüte.

Das heutige Ideal suggeriert, dass Liebe einmalig ist, es nur um das perfekte Zusammenpassen der Partner geht und damit das Glück dann garantiert ist. Dechmann und Ryffel fassen diesen Mythos zusammen als » Liebe ist ein großes, intensives Ereignis, das den Menschen zufällt wie ein Himmelsgeschenk« (Dechmann & Ryffel 2015, S. 20). Gemäß diesem Mythos ist das Wichtigste, den oder die Richtige zu finden. Seit die elektronischen Medien diese Suche massiv vereinfacht haben, scheint auch die Umsetzung des romantischen Beziehungsideals keine Hürde mehr darzustellen. Fachliteratur und belletristische Werke mit der Aussage, die eine ideale Liebe bzw. den einzigen richtigen Partner gebe es nicht, sondern erfolgreiche Partnerschaft hänge wesentlich von der Beziehungsarbeit ab, konnten diesem Mythos nichts anhaben.

2.2         Folgen des Liebesideals

Partnerwahl

In Partnerschaften kommt es nach der »Honeymoonphase« immer zur Entidealisierung, die entweder zu einer reiferen Liebe führt oder zum Zerbrechen der Partnerschaft. Der Sog des Liebesideals wirkt in Richtung Aufgeben: Sobald Konflikte auftauchen und harte Beziehungsarbeit ansteht, gehen die Partner davon aus, falsch gewählt zu haben. Die Suche nach dem oder der »wirklich Richtigen« beginnt erneut. Vorhandene Kinder werden in die neue Beziehung mitgebracht, in der Vorannahme das Familienglück stelle sich in der Folgefamilie von alleine ein. Die medial inszenierte Idealisierung von Serienhelden oder Prominenten mit ihren glücklichen Patchwork-Familien gibt den Pfad vor. Häufig aber wiederholen sich die gleichen Konfliktmuster in der neuen Partnerschaft und es erfolgt wiederum eine Trennung.

Dämonisierung

Und wenn die getrennten Partner die erforderliche »Enttäuschungsarbeit« nicht leisten, sondern in ihrer Verletzung stagnieren, können sie in einen »Dämonisierungsprozess« geraten, wie von Omer (2007) beschrieben. Dämonisierende Prozesse werden begünstigt, wenn ungeklärte Konflikte zwischen Partnern zurückgeblieben sind. Der Expartner wird ins Negative verzerrt und alle Schwierigkeiten, die in der Partnerschaft und im Familienleben aufgetaucht sind, werden dessen schlechtem Charakter zugeschrieben. Die Trennung wird als logische und notwendige Folge definiert. Manchmal bleibt die gegenseitige Verteufelung nicht auf die ehemaligen Partner beschränkt, sondern Verwandte und gemeinsame Bekannte werden durch gezielte Verleumdungen zu Koalitionspartnern gegen das neue Paar gemacht. Dies geschieht häufig als extreme Reaktion eines verlassenen Expartners auf die Trennung.

Auch umgekehrt kommt es vor: Der neue Partner oder die neue Partnerin wird dazu instrumentalisiert, gegen den Expartner zu kämpfen. Das kann das neue Paar zusammenschweißen und lässt eigene Probleme in den Hintergrund treten.

2.3         Ideal Kernfamilie2

Die Kernfamilie ist nach wie vor für fast alle Menschen in der westlichen Welt die ideale Familienform. Warum klammert sich ein Großteil der Familien an dieses Modell?

Geschichte der Familie

Geschichtlicher Hintergrund desKernfamilienideals

Familie war bis vor 200 Jahren gleichzusetzen mit einem bäuerlichen Produktionsbetrieb, sprich dem Zusammenleben eines Familienoberhaupts mit einer Frau, mit Mägden, Knechten und zahlreichen Kindern, die kreuz und quer entstanden waren.

Bis ins Frühmittelalter musste die Kirche auch für die Kinder der Priester, Mönche und Nonnen aufkommen. Um diese Kosten zu reduzieren, erließen die Kirchenfürsten schrittweise Einschränkungen. Zuerst wurde dem Klerus die Heirat untersagt, und als dies nicht ausreichte, wurde der Enthaltsamkeitszölibat erlassen.

Aber auch die sexuelle Freizügigkeit des Volkes war den Kirchenfürsten ein Dorn im Auge. So wurden die Heiratsformen auf eine einzige reduziert und die Kleinfamilie – bestehend aus Mutter, Vater und Kind – und somit auch die Monogamie propagiert. Im Spätmittelalter war die heilige Familie als vorbildliches Familienmodell omnipräsent. Davon zeugen tausende Bilder in Kirchen und Galerien. Diese Familienform war jahrhundertelang aber nicht Realität, sondern blieb ein Fernziel der Kirche.

Mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert wurden die Familienverbände kleiner, weil sie nicht mehr an einen landwirtschaftlichen, personalintensiven Betrieb gebunden waren. Erst jetzt wurde die lange propagierte Familienform von einem größeren Teil der Bevölkerung effektiv gelebt – und hält sich hartnäckig als Ideal (vgl. Ochs & Orban 2008, S. 48ff).

Das Ideal der Kernfamilie und das romantische Liebesideal wirken in zwei gegensätzliche Richtungen: »Zusammenbleiben in der Erstfamilie ist das Beste« kollidiert mit »Voraussetzung für eine gute Familie ist, dass man mit dem richtigen Partner zusammen ist«. Die Folge: Menschen sehnen sich nach der Geborgenheit in der Kernfamilie, die sie rasch gründen, aber sobald eine Störung auftritt, tritt das Liebesideal in Form von »Partner auswechseln« erneut in Kraft. Küchenhoff beschrieb die Situation bereits vor knapp 20 Jahren treffend: »Wir haben die traditionellen Eheformen als Ideal verinnerlicht und zweifeln doch immer wieder an ihnen: wir erleben Beziehungsformen, die dem klassischen Musternicht entsprechen, einerseits als Abweichung von einer Norm, ja als einDefizitoder Versagen. Andererseits können wir zu einer einfachen Erfüllung dieser Norm auch nicht mehr zurück« (Küchenhoff 1998, S. 196).

2.4         Folgen des Kernfamilienideals

Das Bild von Mutter, Vater und Kindern als einzige erstrebenswerte Familienform ist seit dem Mittelalter tief im christlichen Lebensalltag verankert. Getrennte Eltern haben immer noch ein negatives Image. Und eine »zerbrochene« Familie führt bei den meisten zu Gefühlen von Minderwertigkeit gegenüber Kernfamilien. Bei therapeutischen Erstgesprächen wird oft aus Scham vertuscht, dass nicht alle Kinder mit beiden anwesenden Erwachsenen blutsverwandt sind.

Das Kernfamilienideal verführt zu vier wesentlichen ungünstigen Handlungen: zu rascher Zusammenzug, Kernfamilie spielen, Liebesdruck und Ausschluss des anderen Elternteiles.

Zu rascher Zusammenzug

Die Sehnsucht nach Geborgenheit und Sicherheit in einer Kernfamilie lässt viele Paare schnell zusammenziehen. Expartner und Kinder sind damit meist überfordert, weil ihnen die Chance genommen wird, sich langsam an die neue Situation zu gewöhnen. Und das neue Paar unterschätzt bei der Fusion von zwei Familienkulturen meist die Schwierigkeiten, die nach und nach auftauchen und die sie bewältigen müssen ( Teil V, Kap. 4, S. 213ff [Fusion von Familienkulturen und Erziehungsstilen]).

Kernfamilie spielen

Wenn die neue Familie unter einem Dach formiert ist, verführt das Wunschbild »Kernfamilie« dazu, Mutter, Vater und gemeinsame Kinder zu spielen. Erzählen die Familienmitglieder aus ihrem Alltag, vermeiden sie die Ausdrücke »Stiefmutter«, »Stiefvater«, »Stiefkind«. Die Erwachsenen haben den Anspruch, alle gleich zu behandeln, ob Stiefkinder, eigene oder gemeinsame Kinder. »Wir müssen als Familie zusammenwachsen«, lautet das Argument. Die Erziehung soll für alle gleich sein, Rituale und Gewohnheiten werden nivelliert und alle Aktivitäten immer als Gesamtfamilie durchgeführt – bis die Kinder rebellieren oder der Expartner interveniert.

Liebesdruck

Wenn die Unterschiedlichkeit der Beziehungen verwischt wird, herrscht meist auch die selbstverständliche Erwartung, dass sich alle gern haben. Mütter und Väter übersehen, dass die Kinder und der neue Freund oder die neue Freundin einander erst einmal fremd sind und dass sich Beziehungen allmählich aufbauen. Der Druck, sich auf Anhieb zu lieben und zu harmonieren, löst Widerstand aus, wird den neuen Partnern und den Kindern doch die Wahl genommen, frei über sich »mögen« oder »nicht mögen« zu entscheiden.

Ausschluss des Expartners

Wenn die Stiefeltern dem Kernfamilienideal nachstreben, ist die logische Folge, dass kein zusätzlicher Elternteil mehr nötig ist, da es ja schon einen Mann und eine Frau in der Familie gibt. Der extern lebende Elternteil wird überflüssig. So plump würde dies zwar kaum ein Betroffener formulieren. Aber unbewusst ist diese Logik ein Grund dafür, dass externe Elternteile häufig nicht ausreichend einbezogen, manchmal sogar verleugnet, ausgegrenzt oder bekämpft werden. Der Kontakt zwischen ihnen und ihren Kindern wird minimiert oder unterbrochen.

3           Rollenerwartungen

Die Erwartungen an Mütter und Väter sind hoch. Sie basieren auf archetypischen3 Bildern einerseits und gesellschaftlichen Einflüssen andererseits.

Mutterarchetypus

Mutterarchetypus und Rollenwandel

Der Mutterarchetypus umfasst positive wie negative Aspekte. Die positiven sind: eine gute, allumfassend nährende, beschützende, Geborgenheit spendende Mutterfigur. Auch Weisheit, geistige Höhe jenseits des Verstandes werden assoziiert. Diese Bedeutung findet sich etwa in der »Alma Mater«4 oder in Bildern der germanischen und griechischen Göttin Gaya oder der Muttergottes. Negative Aspekte des Mutterarchetypus finden sich beispielweise in der verschlingenden Drachenmutter, die ihre Kinder frisst oder in der vergiftenden, machtergreifenden Urmutter Isis.

Die Unterscheidung zwischen guter Mutter und böser Stiefmutter begann in der Spätantike: Der Stiefmutter wurden von Habgier, Intriganz, Feindseligkeit gegenüber den Stiefkindern bis zu Mordabsichten gegenüber dem Ehemann unzählige böse Motive zugeschrieben (Schnizlein 2012).

Die christliche Lehre führte diese Spaltung weiter. Die Aufteilung der Welt in Gut und Böse bezog auch die Mütter ein: Eine Mutter ist gut und liebt ihre Kinder. Eine Frau, die ihre Kinder vernachlässigt oder gar ablehnt, kann demnach keine Mutter sein: Entweder ist sie eine Hexe – oder eben eine »böse Stiefmutter«.

Der Mutterarchetypus wurde also zweigeteilt: in eine gute, idealisierte Hälfte, die Mutter, und eine verdrängte, negative Hälfte, die Stiefmutter. Ein Beleg dafür ist die Bearbeitung abendländischer Märchen durch die Brüder Grimm, die sämtliche böse Mutterfiguren in Stiefmütter umwandelten.

Der kirchliche Einfluss verstärkte den hohen Erwartungsdruck an die Mütter: Nur wer die Kinder bedingungslos liebt, beschützt und nährt, ist eine richtige Mutter. Die pädagogische Literatur der Aufklärungszeit tat ihr Übriges dazu: Das Kind ist als Individuum mit eigenen seelischen Kräften ausgestattet und muss von der Mutter optimale Förderung und Schutz erhalten, damit es gedeihen kann. Freud schließlich zeigte, dass die Beziehung zwischen Kind und Mutter entscheidenden Einfluss darauf hat, wie gut das Kind später das Leben als Erwachsener bewältigt. So wichtig diese Erkenntnisse für den Status des Kindes auch waren, so weiß man heute, dass der dadurch auf den Müttern lastende Druck sich auf die Erziehung auch negativ auswirken kann.

Vaterarchetypus

Vaterarchetypus und Rollenwandel

Dem Vaterarchetypus wird Stärke, Schutz, Halt, Gerechtigkeit und Strafe zugeschrieben, also positive und negative Aspekte.

Männliche Idealbilder sind etwa der Gottvater, Merkur und Zeus. Auch der Stier, der Teufel, der Hexenmeister und der Tod werden mit dem väterlichen bzw. männlichen Prinzip assoziiert.