Pattjackenblut - Heinrich Peters - E-Book

Pattjackenblut E-Book

Heinrich Peters

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Beschreibung

PATTJACKENBLUT spiegelt das Schicksal des Osnabrücker Bürgers Albert Sommer wider, der schon kurz nach seiner Einberufung zum Kriegsdienst durch das NS-Regime in ein Heer von Soldaten eingereiht wird, die als Staatsfeinde in Straf- und Konzentrationslagern gefoltert und ermordet werden. In dokumentarisch ernüchternder Weise wird mit vielen Abbildungen und neuen Forschungsergebnissen der Weg Albert Sommers als Synonym für alle unschuldig verurteilten Soldaten dargestellt. Ein Weg, der ihn durch Gestapo-Foltergefängnisse bis hin zu den Strafgefangenenlagern im Emsland führt. Unweigerlich gerät er hier in den Sog des perfide ausgeklügelten Entmenschlichungsapparates des nationalsozialistischen Terrorsystems. Die Vorkommnisse innerhalb der Strafgefangenenlager, sowie beteiligte Personen, Ereignisse, Todesmärsche, Orte und Taten der Grausamkeiten, aber auch der Menschlichkeit, leben fast 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges ebenso wieder auf, wie das größte Massaker im Lager II Aschendorfermoor im April 1945.

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Einbandgestaltung:

Titelseite: „Der letzte Augenblick“

Rückseite: „Ein Birkenkreuz im Moor“

Aquarelle von Inge Peters, geb. Sommer, Malerin, Mitautorin und Tochter des Albert Sommer.

Albert Sommer

ENTEHRTGEÄCHTETGEFOLTERTERMORDET

Wir geben Dirdie Würdeund Ehre zurück

Inge und Heinrich

Inhalt

PROLOG

Das Sonntagskind

Jugendzeit

Erwachsenwerden

Kriegsdienst

Strafgefangenenlager II Aschendorfermoor

Das Lager

Das Wachpersonal und die Mißhandlungen

Die Insassen

Die Arbeit

Essen, Erkrankungen, Tote

Tagesablauf

Lager III Brual-Rhede

Die Zeit des Umbruchs

Täter, Tatbeteiligte, Zeugen

Todesmarsch nach Celle (Werlte)

Marsch vom Lager VII nach Lager I

Todesmarsch nach Collinghorst

Todesmarsch der „Krücken“ („Der vergessene Marsch“)

HEROLD, der Feind kommt von Süden

Die Massaker im Lager II Aschendorfermoor

Ankunft in Papenburg

Besuch bei Ortsgruppenleiter Budde

Ankunft im Lager II Aschendorfermoor

Morde an der Arrestbaracke

Gerichte, Partei, Gestapo

Die Gleichschaltung kann weitergehen

Vorbereitungen zum Morden

„Thiels Liste“, Auswahl der Gegner des NSDAP-Regimes

Verweigerung seelsorgerischer Betreuung

Mißhandlungen im Lager

Das Grabungskommando

Antreten zum Sterben – in Linie zu fünf Gliedern

Das erste Massaker

Das zweite Massaker

Gefangenenjagd, Mord im Wald

„Bunter Abend“

Noch fünf Tage Lagerterror

Verfolgung, Bestrafung, Tod

Verhaftungen

Ermittlungen

Exhumierung

Prozeß und Urteil

Hinrichtung

Die Zeit danach

Nachwort der Tochter

EPILOG

Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

PROLOG

War es das? Habe ich wirklich alles ausgeschöpft und erforscht, was in deutschen Archiven lagert, verstaubt und teilweise noch nicht einmal ausgewertet ist?

Gibt es noch irgendwelche Unterlagen, die ich in den über 50 Jahren der Forschung noch nicht entdeckt habe, oder die andere nicht gefunden haben, weil es für sie nur ein alltäglicher Abgleich ohne persönliche Beziehung ist?

Ich kann es zwar nicht glauben, aber es gibt keinen Ansatzpunkt mehr, der noch untersucht werden könnte.

Aber worüber schreibe ich hier eigentlich? Und vor allen Dingen: Wo fange ich an, wo höre ich auf? Letztendlich haben meine Ehefrau und ich uns entschlossen, eine biographische Dokumentation zu schreiben, die unbedingt auch die wesentlichen zeitgeschichtlichen Ereignisse widerspiegeln muß, damit in der heutigen, so ganz andersgearteten Demokratie, ein Verstehen der für uns unbegreiflichen Vorgänge möglich wird.

Es geht deshalb um die Dokumentation des kurzen Lebens eines Mannes, der plötzlich Ende des Krieges nicht mehr auffindbar war, um den Vater meiner Ehefrau Inge, geb. Sommer, einen Mann namens Albert Sommer.

Natürlich gab es viele Menschen am Ende des Zweiten Weltkrieges, deren Schicksal ungeklärt blieb.

Der Staat, Institutionen und Verbände haben enorme Aufklärungsarbeit in finanzieller und materieller Form geleistet. Nur eine Gruppe ist dabei förmlich auf der Strecke geblieben, die Bürger und vor allen Dingen die deutschen Soldaten, die mit dem nationalsozialistischen Regime und dem Krieg bewußt oder auch unbewußt nicht einverstanden waren, und die ihren Widerstand durch Äußerungen oder Taten zum Ausdruck brachten.

Nein, ich meine nicht die allseits bekannten und oft zitierten Gruppen um Stauffenberg, die Weiße Rose oder die Rote Kapelle.

Ich meine die ganz normalen Soldaten, die wegen ihres Widerstandes verurteilt und entweder erschossen, ermordet oder in Zwangsarbeitslagern unter KZ-ähnlichen Zuständen „weggesperrt“ wurden, weil das Regime in jedem vermeintlichen Widerstand eine Gefahr sah.

Von den ursprünglich wahrscheinlich weit mehr als 1.000.000 Kriegsgerichtsurteilen sind „nur“ noch 180.000 Akten mit einer Gesamtlänge von 926m vorhanden, gelagert und immer noch nicht ausgewertet im Militärarchiv in Freiburg.1

Einer von Ihnen war Albert Sommer.

Abb. 1

1 Wüllner, Fritz/Ausländer, Fietje: Aussonderung und Ausmerzung im Dienste der „Manneszucht“, in: Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus. /hrsg. von Fietje Ausländer. Bremen 1990, S. 68. Wette, Wolfram: Sachverständigenstellungnahme im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages am 5.5.2008, ohne URL, S. 2.

Das Sonntagskind

Wer hat eigentlich das Märchen in die Welt gesetzt, daß Sonntagskinder auch Glückskinder sind?

Albert Sommer ist solch ein „Sonntagskind“.

Als dritter Junge wird er am Sonntag, 2. Juni 1918, morgens um 7.30 Uhr in der Turmstraße 2 in Osnabrück geboren.

Abb. 2

Hineingeboren in eine typische Familie der Kaiserzeit. Der Vater Wilhelm Sommer ist ein eher wortkarger Mensch, der als Malermeister (und Kunstmaler) gut für seine Familie sorgt, und die Mutter Hulda kümmert sich liebevoll um die Kinder und den Haushalt. Der Vater ist katholisch, die Mutter evangelischlutherisch. Eine kirchliche Trauung ist zu der Zeit undenkbar. Die Kinder werden katholisch getauft.

Abb. 3: Die Familie Sommer um 1920.

Deutschland befindet sich in dem Krieg, der später der 1. Weltkrieg genannt wird. Bereits über dreieinhalb Jahre werden die Soldaten an den verschiedensten Fronten verschlissen. Die Verluste sind auf allen Seiten der kriegsbeteiligten Staaten enorm. Von großen Schlachten und neuen Landgewinnen ist schon seit geraumer Zeit keine Rede mehr. Vielmehr zerreiben sich die Kriegsparteien in sinnlosen Stellungskriegen.

Das Volk hungert. Der vorletzte Winter 1916/17, der in die Geschichte als „Steckrübenwinter“ eingehen wird, hat Hunderttausenden das Leben gekostet. Die Gesamtzahl der Hungertoten von 1914 – 1918 wird sich auf 800.000 Opfer belaufen.

Nur fünf Monate nach der Geburt von Albert Sommer führen Streiks, Meutereien und revolutionäre Aufstände im Deutschen Reich dazu, daß Kaiser Wilhelm II. am 9.11.1918 abdankt. Die Republik wird ausgerufen, und der Kaiser flüchtet nach Holland ins Exil, um seiner Auslieferung an die Alliierten als Kriegsverbrecher zu entgehen. An diesem Verhalten hat sich bis heute bei anderen verbrecherischen Staatsmännern wenig geändert.

Zwei Tage später wird der Waffenstillstand vereinbart. Und das Volk verwandelt seine „Hurra-Rufe“ für den bisherigen Regenten in einen überschwenglichen Jubel.

Abb. 4 u. 5: So sieht das Volk die Flucht der Kaiserfamilie.

Millionen geschundener, Verwundeter und psychisch kranker Soldaten strömen aus den Kampfgebieten in ihre Heimat zurück. Zurück in ein Leben ohne Perspektive und in einen Staat, der jetzt eine parlamentarische Republik ist, die erste deutsche Demokratie. In dem Troß der heimkehrenden Soldaten befindet sich auch der 29-jährige Gefreite Adolf Hitler, der dieser Republik kein langes Leben bescheren und Deutschland erneut ins Verderben stürzen wird.

Jugendzeit

Über die Jugendzeit von Albert Sommer ist recht wenig bekannt. Da aber jeder ein „Kind seiner Zeit“ ist, müssen wir uns diese Zeit zumindest in Kurzform in Erinnerung rufen.

Albert lebt in dem Zeitabschnitt des Deutschen Reiches, welches erst viel später zur Unterscheidung des „Kaiserreiches“ und des so genannten „Dritten Reiches“ die „Weimarer Republik“ genannt wird.

Mit dem Ausruf einer demokratischen Republik ist es nicht getan. Es müssen Regeln geschaffen werden. Der Zeitraum bis zur Erarbeitung und Verabschiedung der neuen „Verfassung des Deutschen Reiches“ ist geprägt von erbitterten Auseinandersetzungen der Gegner und Befürworter einer parlamentarischen Demokratie. So plant zum Beispiel Konrad Adenauer als Oberbürgermeister von Köln mit den Amtskollegen der rheinischen Städte eine Abkoppelung des Rheinlandes von dem überwiegend evangelischen Preußen durch die Bildung einer „Westdeutschen Republik“. Der Vorstoß bleibt - auch in den Folgejahren- erfolglos. Als endlich am 14.8.1919 die neue „Verfassung des Deutschen Reiches“ in Kraft tritt, ist Deutschland zwar eine „Republik“, aber wo sind die „Demokraten“?

Das Volk scheint den Artikel 1 „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“ allzu wörtlich zu nehmen. Es entstehen epidemisch ungezählte paramilitärische Wehr- und Kampfverbände. Streng hierarchisch gegliedert, gut organisiert in Ortsgruppen, Kreisgruppen und Gaue, alle uniformiert und bewaffnet, und natürlich jede Gruppe mit den Ideen und Ideologien, die allein selig machend für das deutsche Volk sein sollen.

Und so tummeln sich in dieser Zeit des Deutschen Reiches Millionen Mitglieder in Parteien und Verbänden mit fantasievollen Bezeichnungen wie z.B.

Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold

Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten

Roter Frontkämpferbund

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

Kampfbund für deutsche Kultur

Die einen reißen zackig mit geballter Faust ihren rechten Unterarm bis auf Kopfhöhe hoch und schreien „Rot-Front“, die anderen strecken den Arm auf Augenhöhe aus und brüllen „Sieg Heil“. Die politischen Versammlungen werden durch Saalschlachten der rivalisierenden Gruppen gestört und können oft nur unter bewaffnetem Saalschutz stattfinden.

Das Volk ächzt unter den aufgebürdeten Lasten der Siegermächte, der Volkszorn wächst bei der militärischen Besetzung des Rheinlandes und der Haß wird enorm gesteigert, als die Alliierten 1923 auch noch in das Ruhrgebiet einmarschieren. Das Geld hat keine Kaufkraft mehr, die Inflation erreicht im November 1923 ihren Höhepunkt. Durch die Währungsreform stehen 62 Millionen Deutsche vor dem Nichts. Deutschland steht am Rande eines Bürgerkrieges.

Bei linken und rechten Gruppierungen kommt es zu Aufmärschen, und der ehemalige Gefreite aus dem Soldatentreck 1918, Adolf Hitler, unternimmt in München mit seiner Sturmabteilung (SA) einen Putschversuch, der blutig niedergeschlagen wird.

Nach den Wirren dieser Zeit wird Albert Sommer im April 1925 eingeschult. Über seine Schulzeit ist leider nichts bekannt. Deshalb läßt sich auch keine Aussage darüber machen, ob Albert eine der bis 1918 nahezu im gesamten Reichsgebiet gültigen Konfessionsschulen oder eine weltliche Einheitsschule in Osnabrück besucht.

Abb. 6: Wahlplakat von 1925 2

Fest steht allerdings, daß die Schulpflicht acht Jahre dauert und in dieser Zeit, im Gegensatz zu heute, die Klassen beginnend mit der Einschulungsklasse VIII bis hin zur Entlassklasse I durchlaufen werden.

Im Hause Sommer gibt es 1923 und 1926 Nachwuchs, die erste Schwester und einen weiteren Bruder für Albert und die anderen Geschwister.

Abb. 7: Albert Sommer mit dem Vater und den beiden jüngeren Geschwistern um 1928.

Bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise durch den „Schwarzen Freitag“ an der New Yorker Börse am 25.10.1929 herrscht in Deutschland eine relative Ruhe. Jetzt aber werden die Auslandskredite aus Deutschland zurückgerufen. Der Wirtschaftsaufbau bricht in sich zusammen. Die hohen Arbeitslosenzahlen, das sind Ende 1931 fast 6 Millionen Menschen, rund 30% der erwerbsfähigen Bevölkerung, führen zu einer Verelendung breiter Bevölkerungsschichten, und zu allem Überfluß kommen keine parlamentarischen Mehrheiten für eine arbeitsfähige Regierung zustande. Deutschland wird überwiegend durch Notverordnungen regiert, die sich oft zu leichtfertig auf Artikel 48 der „Weimarer Verfassung“ stützen.

Bereits bei den drei letzten Regierungen unter Brüning, von Papen und von Schleicher handelt es sich schon um eine Präsidialdiktatur. Also ein gedeckter Tisch für die NSDAP, die bei der Reichstagswahl (am 6.11.1932) 33% der Stimmen erhalten hat, und deren langjähriger Parteichef Adolf Hitler durch den 20. Kabinettwechsel in 14 Jahren vom Reichspräsidenten von Hindenburg am 30.1.1933 die Regierungsmacht übertragen bekommt. Er wird zum Reichskanzler ernannt, und sein Amtseid „zum Wohle des Volkes“ ist um 11.20 Uhr ein Meineid.

Bereits am 24.3.1933 wird das 4. Ermächtigungsgesetz „Zur Behebung der Not von Volk und Reich“ mit der erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit des Reichstages beschlossen. Unter ihnen stimmt ein Reichstagsabgeordneter auch mit „JA“, der 16 Jahre später unser 1. Bundespräsident sein wird, Theodor Heuss.

Jeder weiß, daß durch dieses Gesetz ein Diktator auf Zeit geboren wird, und so begrenzt man das Gesetz vorsichtshalber auf eine Laufzeit von 4 Jahren bis zum 1.4.1937. Die Diktatur ist jetzt endgültig im wahrsten Sinne des Wortes „beschlossene Sache“, nur daß sie dreimal solange dauern wird wie geplant.

Mit diesem Monat März 1933 endet nicht nur die „Weimarer Zeit“ sondern auch die Schulzeit von Albert Sommer. Er gehört sicher dem letzten Schuljahrgang an, dem bei der Aushändigung des Abschlußzeugnisses auch „Die Verfassung des Deutschen Reiches“ überreicht wird.

Abb. 8: Die Verfassung des Deutschen Reiches (sog. „Weimarer Verfassung“) zur Schulentlassung 1933.

2 Deutsches Historisches Museum, Berlin/ S. Ahlers

Erwachsenwerden

Am 16.8.1933 beginnt für Albert Sommer das, was man allgemein unter „Ernst des Lebens“ versteht.

Zwei Monate nach seinem 15. Geburtstag hat er trotz hoher Arbeitslosigkeit das Glück, mit einer Berufstätigkeit bei der Fa. Hammersen A.G., zu der Zeit der größte Baumwollkonzern in Europa, anfangen zu können. Die oft zitierte Vollbeschäftigung in der Zeit des „Dritten Reiches“ läßt noch auf sich warten. Ein Jahr später wechselt er zu den Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerken. Hier erhält er eine Fachausbildung zum Scherenarbeiter und eine Ausbildung zum Kranfahrer.

1938 begegnet ihm Magda Kelterborn, eine examinierte Kinderpflegerin. Sie lernen sich kennen und lieben und verloben sich am 1.1.1939.

Abb. 9: Magda Kelterborn 1938

Abb. 10: Ehering mit Initialen A.S. 1.1.1939

Beide können zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, daß ihr gerade beginnendes gemeinsames Glück nur ziemlich genau elf Monate dauern soll.

Um das zu begreifen, müssen wir uns noch einmal zurückschauend fragen: “Was ist denn in den nicht einmal sechs Jahren von 1933 – 1939 in Deutschland geschehen?“.

Sofort nach der Machtübertragung an Hitler beginnt der Aufbau eines Terrorstaates. Die jetzt entstandene Diktatur des Deutschen Reiches vergewaltigt das schon lange Zeit bestehende Instrument der „Schutzhaft“ durch rechtswidrige und brutale Inhaftierungen von Tausenden politischen und anderen zivilen Gegnern.3 Die große Menschenjagd auf Kommunisten, Zentrumsangehörige, Sozialdemokraten und sonstige „Verdächtige“ hat seinen Anfang genommen.

Erste provisorische Konzentrationslager, „KL“, wie sie im amtlichen Sprachgebrauch der Nationalsozialisten heißen, entstehen in Kellern, Werken und Werfthallen. Entweder in der Hand der paramilitärischen Verbände der Schutzstaffel (SS) oder der Sturmabteilung (SA).

Die Gefangenen werden bestialisch gefoltert und gequält. So werden zum Beispiel in einem Lager bei Potsdam-Bornum einige Gefangene mit Hilfe eines umgekehrt aufgestellten Motorrades, auf dessen sausende Räder man sie gesetzt hat, entmannt.4

Als Hitler auf grausamste Mißhandlungen in einem Konzentrationslager in den leeren Maschinenhallen der Vulkanwerft in Stettin und ähnliche Vorkommnisse im Herbst 1933 aufmerksam gemacht wird, bekommt er einen Tobsuchtsanfall und erklärt dann:

„Lächerlich, […] haben Sie gesehen, wie die Masse zusammenströmt, wenn sich zwei auf offener Straße prügeln? Grausamkeit imponiert. Grausamkeit und rohe Kraft. Der einfache Mann auf der Straße läßt sich nur von brutaler Kraft und Rücksichtslosigkeit imponieren. Die Frauen übrigens auch, Frauen und Kinder. Die Leute brauchen den heilsamen Schrekken. Sie wollen sich vor etwas fürchten. Sie wollen, daß man Ihnen bange macht und daß sie sich jemandem schauernd unterwerfen. Haben Sie nicht überall die Erfahrung gemacht nach Saalschlachten, daß sich die Verprügelten am ersten als neue Mitglieder bei der Partei melden? Was schwatzen Sie da von Grausamkeit und entrüsten sich über Qualen. Die Masse will das. Sie braucht etwas zum Grauen. […] Ich verbiete, daß etwas geschieht. Meinetwegen soll man ein paar Leute bestrafen, damit diese deutschnationalen Esel beruhigt sind. Aber ich will nicht, daß man aus den Konzentrationslagern Pensionsanstalten macht. Der Terror ist das wirksamste politische Mittel. Ich werde mich nicht eines solchen berauben, nur weil es diesen einfältigen bürgerlichen Waschlappen einfällt, daran Anstoß zu nehmen. Es ist meine Pflicht, jedes Mittel anzuwenden, um das deutsche Volk zur Härte zu erziehen und auf den Krieg vorzubereiten. […] Diese sogenannten Greuel ersparen mir hunderttausende von Einzelaktionen gegen Aufsässige und Unzufriedene. Es wird sich schon jeder überlegen, etwas gegen uns zu tun, wenn er erfährt, was ihm im Lager bevorsteht. […] Wer eine solche Memme ist, daß er es nicht aushält, wenn neben ihm einer Schmerzen auszuhalten hat, der soll zu den Betschwestern gehen, aber nicht zu meinen Parteigenossen.“ 56

Diese Aussagen von Herbst 1933 verdeutlichen in herausragender Weise die gesamte Handlungsgrundlage der nationalsozialistischen Diktatur. Der Terror ist politisch gewollt. Er ist das Herrschaftsmittel des „Dritten Reiches“.

Es ist auch die Richtschnur für alle künftigen gesetzlichen Regelungen und führt zu den absurdesten Pervertierungen des deutschen Rechts.

Zur Unterbringung der Gefangenen wird das schon in der Schlußphase der „Weimarer Republik“ entwickelte „Konzept zur Isolierung von Staatsfeinden in Lagern mit (stromführender) Umzäunung“ 1933 durch den Bau der Konzentrationslager Börgermoor, Neusustrum und Esterwegen im Notstandsgebiet Emsland, dem Armenhaus Deutschlands, umgesetzt. 7

Wie es um diese Region bestellt ist, geht aus dem Schreiben des kommissarischen NSDAP-Bürgermeisters Janssen aus Papenburg vom 19. Juni 1933 hervor, welches er „auf dem kurzen Dienstweg“ dem Leiter des preußischen Kulturbauamtes in Papenburg zuleitet, der es noch am gleichen Tag mit Umsetzungsvorschlägen dem Ministerium weiterleitet:

8

Abb. 11

Abb. 12

Abb. 13

Abb. 14: NSDAP - Bürgermeister Richard Janssen von Papenburg nach der offiziellen Amtseinführung im Oktober 1933. 9

In kürzester Zeit entstehen die 15 Emslandlager, und in Deutschland kursiert hinter vorgehaltener Hand der Spruch: „Fall bloß nicht auf, halt den Mund, sonst gehst Du ab nach Börgermoor!“

Und es entsteht bereits 1933 noch etwas, eine Wortschöpfung, die heute die besten Chancen hätte, zum Unwort des Jahres gewählt zu werden. Nach der nationalsozialistischen Terminologie heißt dieses Wort „ Gleichschaltung“.

Ein Wort, dem gravierende Taten folgen. Die Länder verlieren ihre Souveränität, sie werden mit dem Reich gleichgeschaltet. Ihnen folgen die Jugendorganisationen, der Deutsche Hochschulverband, der Deutsche Richterbund, der Deutsche Beamtenbund und viele mehr. Die braune Ideologie soll auf die Gehirne übertragen werden. Ziel ist der Verlust der individuellen Persönlichkeit.

Aber, wie wir noch erfahren werden, wollen viele, sehr viele Menschen ihre persönliche Identität und Einstellung nicht korrigieren lassen. Zu ihnen gehört auch Albert Sommer.

Für das System stellt das kein Problem dar:

Diese Menschen werden verurteilt, in Konzentrations- oder Strafgefangenenlager eingesperrt, gefoltert, gequält, wie der Abschaum der Menschheit behandelt und/oder… „mit dem Tod gleichgeschaltet“.

Die NSDAP hat Ende 1934 rd. 2,4 Millionen eingetragene Parteimitglieder, etwa 2,9% der deutschen Bevölkerung. Aber diese Zahl der auf eigenen Antrag nach einem sehr stark reglementierten Aufnahmeverfahren zugelassenen „Nazis“ (so nennen sie sich selbst seit 1930 in Abgrenzung zu den „Sozis“) reicht aus, um das Organisations- und Überwachungssystem des Diktaturregimes, vom Gauleiter über den Kreisleiter, den Ortsgruppenleiter bis hin zum Blockleiter (im Volksmund auch Blockwart oder Treppenhausterrier genannt), derart zu verdichten, daß kein „verdächtiger Staatsbürger“ ungeschoren davonkommt. Die Partei wird dabei tatkräftig und nachhaltig unterstützt von der Sturmabteilung (SA), unter ihnen auch seit 1934 unser späterer Bundespräsident Karl Carstens im SA Sturmbann 5/75 und ab 1940 zusätzlich in der NSDAP. 1011

Und weil jeder, der aufmuckt, die gnadenlose Härte des Systems zu spüren bekommt, hat heute niemand das Recht, zu behaupten: „Ihr seid selbst schuld, warum habt ihr Euch nicht gewehrt“. Durch diese ständige Überwachung und Verfolgung wurde zwar die Masse zu Mitläufern gemacht, aber die Lager sind trotzdem überfüllt mit Bürgern und Soldaten, die sich „gewehrt“ haben; und die Friedhöfe und Gedenkstätten sprechen auch in unserer Zeit ihre eigene Sprache.

Die neuen „Herren“ verlieren wahrlich keine Zeit. Als wesentlicher Bestandteil der nationalsozialistischen Politik und als wichtiger wirtschaftlicher und sozialer Faktor wird die Wehrmacht aufgerüstet. Für Hitler eine primäre Voraussetzung, um dem Deutschen Reich wieder die Großmachtstellung einzuräumen, die es vor dem 1. Weltkrieg innehatte.

Es gilt, mit aller Macht die diktatorische Regierung zu festigen, und es müssen Fakten geschaffen werden. Nämlich die Fakten und Handlungen, deren Entwicklung jeder aufmerksame Leser in Hitlers Kampf- und Propagandaschrift „Mein Kampf“ ohne hellseherische Fähigkeiten voraussagen kann.

Eine erste bedeutende Plattform für die NSDAP bietet die nach dem Versailler Vertrag anstehende Volksabstimmung über den künftigen Rechtsstatus des nach dem 1. Weltkrieg abgetrennten Saarlandes als Mandatsgebiet des Völkerbundes.

Unter dem Propagandaminister Joseph Goebbels und der Losung „Deutsch ist die Saar, immerdar“ sind die Kampagnen und Großkundgebungen für die Rückkehr des Saarlandes „heim ins Reich“ so erfolgreich, daß sich 90,5% bei der Abstimmung am 13.1.1935 für den Anschluß an Deutschland entscheiden.12

Eine fast eingefrorene Lohnpolitik, regulierte Preise und die zahlreichen staatlichen Beschäftigungsmaßnahmen stellen das Volk zufrieden. Die Arbeitslosenzahl wird bis 1939 auf rund 100.000 gesenkt, und die Sympathien für das trügerische NS-Regime wachsen in weiten Bevölkerungsschichten.

Bis 1938 sind die längerfristigen Kriegsvorbereitungen des NS-Regimes abgeschlossen. Eine waffenstarrende Wehrmacht stellt ein nicht zu übersehendes Machtpotential dar.

Jetzt gilt es, das zu verwirklichen, was die Alliierten im Versailler Vertrag untersagten, den Zusammenschluß Deutschlands und Österreichs.

In der „Einführung in die Reichsverfassung“ von 1919 heißt es:

„[…]Als Deutsche fühlen sich auch unsere Volkgenossen in Österreich. Ihnen hat der Machtanspruch der feindlichen Sieger die ersehnte Vereinigung mit dem deutschen Vaterlande versagt; aber wenn die deutsche Demokratie sich erhält und entfaltet, wird sich zusammenfinden was national zusammen gehört.“[…]

Weder hat sich die Demokratie erhalten und entfaltet, noch findet freiwillig etwas zusammen. Hitler läßt die (Wehrmachts-) Muskeln spielen. Am 12.3.1938 gibt er den Befehl zum Einmarsch.

Widerstand gibt es keinen, und die österreichischen Hilfsappelle an die europäischen Mächte verhallen ungehört. 13

Nach dieser geglückten „Generalprobe“ folgen am 1.10.1938 die Besetzung des Sudetengebietes und am 16.3.1939 durch einen Bruch des Münchner Abkommens die „Zerschlagung der Resttschechei“.

Und die Welt schaut immer noch zu. Nein, das ist nicht ganz richtig. Großbritannien und Frankreich schließen mit Polen am 31.3.1939 einen Beistandspakt, beide Staaten wollen der europäischen Macht, die Polen angreift, den Krieg erklären.

Am 1.9.1939 ist es dann soweit, um dieses Bündnis auf die Probe zu stellen. Hitler beginnt einen Angriffskrieg auf Polen. Es wird auf deutscher Seite ein „Blitzkrieg“ und bei den polnischen Verbündeten Großbritannien und Frankreich ein „Sitzkrieg“. Sie erklären zwar Deutschland den Krieg, aber weitere Aktionen unterbleiben oder sind nicht erwähnenswert.

Die Polen nennen es noch heute den „Verrat des Westens“ und Generaloberst Jodl wird bei den Nürnberger Prozessen sagen:

„Das wir nicht bereits 1939 gescheitert sind, war nur dem Umstand zu verdanken, daß während des Polenfeldzuges die schätzungsweise 110 französischen und britischen Divisionen im Westen komplett inaktiv gegen die deutschen 23 Divisionen gehalten wurden.“ 14

Erst mit Beginn des Westfeldzuges der Deutschen Wehrmacht am 10.5.1940 werden Großbritannien und Frankreich aus der „sitzenden“ Position herausgerissen.

3 Kosthorst, Erich/Walter, Bernd: Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich, Beispiel Emsland, Zusatzteil Kriegsgefangenenlager, Dokumentation und Analyse zum Verhältnis von NS-Regime und Justiz. Mit historisch – kritischen Einführungstexten sowie statistisch-quantitativen Erhebungen und Auswertungen zum Strafvollzug in Arbeitslagern. Düsseldorf 1983, Band 1, S. 65

4 Diels, Rudolf: Lucifer Ante Portas, Zürich 1949, S. 192.

5 Rauschning, Hermann: Gespräche mit Hitler. Zürich 1940, 2. Auflage Wien 1988, S. 81f.

6 Hervorhebungen durch Verfasser I. und H.P.

7 Kosthorst/ Walter: a.a.O. 1983, S. 65.

8Abb. 11–13 Niedersächsisches Landesarchiv – Staatsarchiv – Osnabrück, Rep 430 Dez 502 acc 11/63 Nr. 2.

9 Eissing, Uwe: Richard Janssen. Nationalsozialist und Bürgermeister von Papenburg 1933–1945, Papenburg 1992, o. S. [nach S. 50].

10 Bundesarchiv. Abrufbar im Internet. URL:http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/0075/index. PG - Zum Mitgliedschaftswesen der NSDAP. Stand 23.01.2013.

11 Wikipedia. Abrufbar im Internet.URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Carstens. Stand: 25.1.2013.

12 Deutsches Historisches Museum: Die Saarabstimmung 1935. Abrufbar im Internet. URL: http://dhm.de/lemo/nazi/aussenpolitik/saarabstimmung. Stand 30.1.2013.

13 Ebd.: Der Anschluß Österreichs. Abrufbar im Internet.URL: http://dhm.de./lemo/nazi/aussenpolitik/anschlussoesterreich. Stand: 30.1.2013.

14 Abrufbar im Internet. URL: http://de.wikipedia.or/wiki/sitzkrieg. Verweis auf Military Resources Nuremberg, S.350. Stand 30.1.2013.

Kriegsdienst

Hitler hat mehr vor. Die Zahl der Einberufungen nimmt ständig zu. Im Dezember 1939 erhält auch der 21-jährige Albert Sommer seinen „Gestellungsbefehl“. Er hat seinen Wehrdienst am 5.12.1939 bei der 3. Batterie. 1. Art. Ers. Abt. 217 in Allenstein in Ostpreußen anzutreten.

Sein Arbeitsverhältnis endet ab Montag, den 4.12.1939. Die noch vorliegende letzte Lohnabrechnung für den 1. und 2. Dezember 1939 gewährt uns einen kleinen Einblick in die Arbeitszeit (Freitag und Samstag 16 Stunden) und den Arbeitslohn (63 Pfg. je Stunde).

Abb. 15

Um pünktlich am 5.12.1939 bei der Einheit zu sein, wird er sich schon am Sonntag von seiner Familie und seiner Verlobten am Bahnhof in Osnabrück verabschiedet haben. Immerhin liegt eine Zugstrecke von rd. 1000km vor ihm.

Magda Kelterborn meldet ihn am 8.12.1939 bei der polizeilichen Meldebehörde in der Osnabrücker Altstadt gegen eine Gebühr von 10 Pfg. ab.

Abb. 16

An dieser Stelle muß ich erwähnen, daß die vielen noch folgenden Einzelfakten zu Albert Sommer nur durch hartnäckige, unermüdliche Nachforschungen, die sich in gewissen zeitlichen Abständen sogar oft auf dieselben Archive bezogen, erreicht werden konnten.

Erst 60 Jahre nach dem Kriegsende werden uns Unterlagen zur Verfügung gestellt, die es ermöglichen, das Schicksal des Albert Sommer aufzuklären.

Zu diesen Unterlagen gehört auch das Soldbuch, das dem Soldaten gleichzeitig als Personalausweis dient und immer „am Mann“ zu tragen ist. Die Tochter Inge bekommt es im Jahre 2013 als einziges Erinnerungsstück an die Soldatenzeit ihres Vaters aus dem Effektennachlaß ausgehändigt. Ein kostbarer, wenn auch schmerzlicher Schatz, der zumindest das Äußere eines Menschen beschreibt, den sie nie kennengelernt hat.

Abb. 17

Abb. 18

Abb. 19

Noch einmal sieht Albert Sommer seine Magda und die Familie wieder. Für die Hochzeit am 16.12.1939 erhält er vom 12.12.1939 bis zum 18.12.1939 Hochzeitsurlaub. Alles streng geregelt und überwacht. Vom Hauptmann und Batterie-Chef genehmigt, beim Standortältesten in Osnabrück gemeldet, selbst eine Zugverspätung wird bescheinigt.

Abb. 20

Seine Ausbildung in der Hindenburgkaserne verläuft ohne besondere Aufzeichnungen.

Abb. 21: Albert Sommer am 1. Januar 1940 vor dem Kriegerdenkmal in Allenstein.

„Für meine liebe Frau Magda zur Erinnerung an den großen Krieg 1939 von Albert“

Ebenfalls 60 Jahre nach Kriegsende teilt die Deutsche Dienststelle (Wehrmachtauskunftstelle) in Berlin auf die inzwischen vierte Anfrage den weiteren Lebenslauf des Kanoniers Albert Sommer „aus sonstigem Schriftgut“ von Februar 1940 bis Juni 1942 mit. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum diese Auskunft nicht schon Jahrzehnte vorher gegeben werden konnte.

Im Februar 1940 kommt es zu einer ersten Konfrontation zwischen der Gedankenwelt des Albert Sommer und den Regeln des NS-Reiches, und am 28. Februar 1940 wird er in das Wehrmachtstrafgefängnis der Festung Graudenz, am Ufer der Weichsel, eingeliefert.

Abb. 22: Aufnahme der Festung Graudenz aus dem Jahre 2007. 15

Ein Grund für die Inhaftierung ist nicht eingetragen, und so können wir nur vermuten, daß er schon jetzt etwas gesagt oder getan hat, was letztendlich 1942 zu seiner Verurteilung führen wird.

Aus anderen vergleichbaren Schicksalen ist bekannt, was nun auf Albert Sommer zukommt. Auch für ihn beginnt jetzt eine Odyssee durch Wehrmachtstrafgefängnisse und Wehrmachtgefangenenabteilungen bis hin zu den Militärstrafgefangenenlagern im Emsland. 16

Er hat die geforderte bedingungslose Unterwerfung des einzelnen Soldaten unter die Strukturen des NS-Systems in irgendeiner Form verweigert. Albert Sommer