Peace of Soul - Sinah Speckle - E-Book

Peace of Soul E-Book

Sinah Speckle

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Beschreibung

Eine App aus dem Darknet, die dich ins Totenreich bringt - kann das wirklich die Rettung der Welt sein? Als die 16-jährige Isla mit ihrer Familie nach Glasgow zieht, gerät ihr Leben völlig aus den Fugen: Alpträume plagen sie und sie scheint zu schlafwandeln. Ihre neue Freundin Liv hat eine dunkle Ahnung, was dahinterstecken könnte. Doch Isla kann mit Livs Glauben an Seelen und Geister wenig anfangen, weshalb die beiden bald in Streit geraten. Liv dagegen wünscht sich nichts sehnlicher, als ihre verstorbenen Eltern wiederzusehen. Im Darknet entdeckt sie eine mysteriöse App, die eine Verbindung zur Totenwelt ermöglichen soll. Die rätselhaften Botschaften auf ihrem Bildschirm führen sie schließlich in den Caelum und ihr größter Wunsch geht in Erfüllung. Doch dann erfährt sie, wieso sie gerufen wurde: Nur sie kann den gefährlichen Kampf gegen das Böse aufnehmen, in den auch Ilsa längst involviert ist.

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Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

EPILOG

PROLOG

Und was jetzt? Dunkelheit. Das trübe Wasser schwappte leicht über das Ufer des Flusses. In letzter Zeit hatte es in Bächen geschüttet. Nur ein Schritt, dann würde es vorbei sein. Für immer. Aber wollte sie es wirklich? War es die richtige Entscheidung? Die Leute sagten immer, Selbstmord sei keine Lösung für Probleme. Aber was wussten die schon? Keinen Plan hatten die! Die wussten nicht, wie schlimm das Leben für sie war! Das wusste keiner. Wie auch? Es gab ja niemanden, der sich für sie interessierte. Irgendwann war es genug. Sie würde sowieso keiner vermissen, das konnte sie stündlich auf Social Media lesen. Niemand ahnte, wie sehr all die schrecklichen Worte sie verletzt, ja zerstört hatten. Was sie durchmachen musste, war einfach zu viel. Nach dem Umzug mit ihrer Familie war es nur kurzzeitig besser geworden. Sie hatte zwar eine Freundin gefunden, doch Liv hatte sich sofort mit ihr zerstritten. Sie war es offenbar nicht wert, Freunde zu haben. Alles fühlte sich falsch an, seit sie hier war. So anders. So unecht. Das machte sie schon so lange verrückt. Die Worte ihrer Mitschüler. »Hau ab!«, »Keiner will dich hier!«. All das klang so fern. Weit weg von ihr. Als ob es nur eine Stimme in ihrem Kopf wäre. Aber trotzdem tat es weh. Die Brücke, auf der sie stand, schien auf einmal zu schreien: »Tu es, na los! Worauf wartest du noch?« Sie trat ein paar Zentimeter vor, hob den Blick und schaute in den tiefschwarzen Nachthimmel. Dann machte sie den einen, alles entscheidenden Schritt.

Der Aufprall auf der Wasseroberfläche schmerzte und presste ihr die Luft aus den Lungen. Sie wurde von der Strömung mitgerissen, wehrte sich nicht dagegen. Sie konnte nicht einmal schwimmen. Ihre Kleider sogen das Wasser in Sekundenschnelle auf und zogen sie nach unten. Sie wehrte sich immer noch nicht. Die Eiseskälte drang vor bis auf ihre Knochen, ließ ihre Muskeln gefrieren. Bald würde es vorbei sein. Ein panischer, fast verzweifelter Schrei hallte über das Wasser. War es ein Mensch oder ein Tier? Diese Stimme weckte irgendeine Erinnerung in ihr. Sie konnte jedoch nicht sagen, welche. Es war das Letzte, was sie hörte, bevor der Fluss sie verschlang und das grausam kalte Wasser ihre Lungen füllte. Das Ende war gekommen.

KAPITEL 1

Der Mond schien durch das Dachfenster und warf verzerrte Schatten an die Wand. Isla lag wach in ihrem Bett und starrte ins Halbdunkel ihres neuen Zimmers. Überall standen Umzugskartons herum, die mit allerlei Dingen vollgestopft waren. Ansonsten war der Raum noch kahl. Neben ihrem Bett würde einmal ein Nachttisch aus Eichenholz stehen, an der leeren Wand auf der anderen Seite würde ein begehbarer Kleiderschrank seinen Platz finden und die übrige Wand würde sie mit Postern ihres Lieblingssängers schmücken. Sie sah es schon vor sich und lächelte bei dem Gedanken. Noch vor ein paar Wochen hatte sie überhaupt keine Lust auf einen Umzug gehabt und sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Sie hatte Perth geliebt, ihre Schule, die Stadt, das Wetter und natürlich waren dort auch ihre Freunde. Es hatte ein Riesendrama gegeben, als sie in der Klasse schweren Herzens erzählt hatte, dass sie nach Glasgow ziehen mussten, da ihr Vater seinen Traumjob als Manager im dortigen Flagship-Store eines bekannten Smartphones angenommen hatte. Vor allem Jasmin und Katie, ihre besten Freundinnen, waren außer sich gewesen. Alle drei wussten, dass es schwer werden würde, den Kontakt weiterhin zu halten. Sie hatten sich zwar hoch und heilig versprochen, sich immer zu schreiben, allerdings war klar, dass die Entfernung irgendwann doch größer sein würde als ihre Freundschaft.

Isla bedrückte der Gedanke, ihre besten Freundinnen zu verlieren. Aber sie würde sich damit abfinden müssen. Genauso, wie sie sich mit ihrer neuen Umgebung würde arrangieren müssen. Glasgow war eine schöne Stadt, keine Frage, aber so groß und fremd, dass sie sich ziemlich verloren vorkam. Wie würde sie sich wohl in der neuen Schule zurechtfinden? Ihre Uniform für die Highschool in Glasgow lag schon bereit. Morgen würde sie als neue Schülerin in eine eingeschworene Klassengemeinschaft hineinkommen. Von Vorfreude konnte da wohl kaum die Rede sein.

Es war bereits nach Mitternacht. Isla war extra früh zu Bett gegangen, um an ihrem ersten Schultag nicht wie ein Geist auszusehen. Aber sie konnte nicht einschlafen. Dabei war es nicht mal Vollmond. Sie zog die Bettdecke fest um ihren Körper und schloss die Augen. Allmählich glitt sie in einen Dämmerzustand. Fast wäre sie eingeschlafen, doch plötzlich hörte sie ein knarrendes Geräusch. Es kam aus dem Flur oder dem Nebenzimmer. Isla dachte sich nichts dabei. Bestimmt war es nur ihr Vater, der aufs Klo musste. Doch da hörte sie es wieder. Es waren eindeutig Schritte. Und jetzt waren sie in ihrem Zimmer! Isla kniff die Augen fest zusammen, aus Angst vor dem, was sie sehen könnte. Doch sie konnte nicht ewig unwissend daliegen. Also nahm sie ihren Mut zusammen und öffnete die Augen.

Sie erschrak zu Tode, als sie in der Mitte des Raumes einen Clown erblickte. Sie fühlte sich wie in einem Horrorfilm gefangen. Der Clown hatte ein bleiches Gesicht, einen unnatürlich großen, roten Mund und schwarze Locken. Er sah aus wie einer dieser Horrorclowns, die sich nachts verkleideten, um Leute zu erschrecken. Doch an diesem hier war etwas anders. Er hatte furchteinflößende, spitz zulaufende Zähne, die mindestens fünf Zentimeter lang waren. Die Zahnreihen passten perfekt aufeinander, was das Clownsgesicht noch schrecklicher erscheinen ließ. Alles an ihm sah real aus, nicht geschminkt. Er drehte sich zu ihr und lächelte sie an. Dann kam er langsam auf ihr Bett zu und hob seine mit weißen Handschuhen bedeckten Hände. Gerade, als er sich über sie beugte und seine Hände um ihren Hals legte, schreckte Isla auf und saß kerzengerade in ihrem Bett. Angstschweiß troff von ihrer Stirn. Panisch sah sie sich im Zimmer um. Von dem Clown fehlte jede Spur. Sie schaute auf ihre Hände. Sie waren feucht und zitterten. Sie betastete ihre Kehle und stellte fest, dass ihr nichts fehlte. Das war einerseits beruhigend, andererseits hatte sie Angst, wieder einzuschlafen und einen weiteren Horrortrip durchleben zu müssen.

Sie griff nach ihrem Handy neben dem Bett. Fünf Uhr dreißig. In einer halben Stunde musste sie sowieso aufstehen. Seufzend ließ sie sich zurück in ihr Kissen fallen. Der Clown war ihr so real vorgekommen, fast, als wäre sie nie eingeschlafen. Aber es musste ein Traum gewesen sein. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass Menschen spätestens dann aus einem Albtraum aufwachen, wenn sie darin sterben. Der Clown hatte versucht, sie zu töten, und in dem Moment war sie aufgeschreckt. Alles passte zusammen.

Es hatte keinen Zweck, weiter darüber nachzugrübeln. Isla knipste ihr Zimmerlicht an und widmete sich ihrer neuen Schuluniform, die auf einem der Kartons lag. Blauer Rock, blauer Blazer, weiße Bluse, weiße Strümpfe, schwarze Schuhe und blaue Krawatte. Typisch schottisch eben. Fertig angezogen ging sie ins Bad und betrachtete ihr Spiegelbild. Die Uniform sah ganz in Ordnung aus, doch ihr Gesicht benötigte dringend eine Schicht Make-Up. Hektisch durchwühlte Isla die Pappkartons, die natürlich auch im Bad herumstanden, und fischte schließlich ihre Schminktasche heraus. Nach wenigen Handgriffen war sie zufrieden mit ihrem Äußeren. Aus dem Spiegel blickte ihr nun kein Geist mehr entgegen, sondern eine durchschnittliche Teenagerin mit rotblondem Pferdeschwanz. Schnell ging sie zurück in ihr Zimmer und schnappte sich ihren Rucksack.

Von unten drangen leise Geräusche zu ihr hoch. Ihr Vater klapperte mit der Kaffeemaschine und ihre Mutter summte vor sich hin. Sie lief die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Auch hier fand das Chaos noch kein Ende, doch das rote Sofa gegenüber dem Fernseher gab dem Zimmer schon eine gemütlichere Atmosphäre. Der Esstisch mitten im Raum war schon gedeckt.

Islas Vater kam aus der kleinen angrenzenden Küche und lächelte sie strahlend an.

»Guten Morgen, mein Schatz, gut geschlafen?«, fragte er.

»Morgen. Geht so«, nuschelte Isla. Sie gähnte und setzte sich an den Tisch, wo ein frisch aufgekochter Kakao und ein Marmeladenbrot auf sie warteten. Jetzt kam auch ihre Mutter mit einer Kanne Kaffee und einem Teller, auf dem ein klein geschnittener Apfel lag, herein. Ihr geträllertes »Guten Morgen« klang für die frühe Stunde viel zu fröhlich.

Nach dem Essen lief Isla schnell nach oben und putzte sich die Zähne. Dann schnappte sie sich ihren Rucksack, gab ihren Eltern einen Kuss und verließ hastig das Haus. In zwanzig Minuten begann die Schule und an ihrem ersten Tag wollte sie auf keinen Fall zu spät kommen.

Es war noch ziemlich dunkel, als Isla durch das Straßengewirr von Glasgow irrte. Sie hatte sich den Weg schon Tage zuvor im Internet angeschaut, aber erst jetzt kam ihr in den Sinn, dass es eine gute Idee gewesen wäre, ihn vorher einmal abzulaufen. Verwirrt betrachtete sie die Karte auf ihrem Smartphone, als sie zum dritten Mal an derselben Kirche vorbeilief. Sie schaute auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Wie sollte sie das bloß schaffen? Die Kirche, vor der eine Reihe flackernder Laternen stand, hieß St Mungo’s Cathedral, wie sie auf dem Display ihres Handys lesen konnte. Die Kirche war kaum zu übersehen. Sie war ein riesiges Gebäude aus Stein mit Verzierungen, die Isla sich gerne näher angesehen hätte. Das Bauwerk hatte eine stolze Ausstrahlung und wirkte beinahe einschüchternd auf Isla. Fasziniert ließ sie ihren Blick über die Fassade schweifen. Diese prächtige Kirche musste der Mittelpunkt der Stadt sein. Mühsam riss sie ihren Blick von den grauen Mauern weg. Das war alles schön und gut, aber was sollte ihr das jetzt bringen? Sollte sie etwa hineingehen und zu Gott beten, dass er ihr doch bitte den Weg leuchten möge? Entnervt stöhnte sie auf und bog – auf gut Glück – in die nächste Straße ein. Plötzlich spürte sie einen Schlag gegen ihren Körper und taumelte zu Boden. Verwirrt drehte sie den Kopf und sah jetzt erst, wer sie zu Fall gebracht hatte. Neben ihr lag ein blondes Mädchen, das wohl in seiner Eile in sie hineingestolpert war. Isla hatte keine Gelegenheit, etwas zu sagen, denn im nächsten Moment stand der Blondschopf fluchend auf und rannte ohne Entschuldigung weiter.

Empört rappelte Isla sich hoch. Blöde Kuh, dachte sie sich, während sie dem Mädchen nachblickte. Doch da fiel ihr etwas auf. Der Blondschopf trug die gleiche Schuluniform wie sie! Ohne lange nachzudenken, sprintete sie los, dem Mädchen hinterher. Gleichzeitig versuchte sie, sich die Straßennamen zu merken, die auf den Schildern standen, an denen sie vorbeirannte, doch mehr als Clyde Street blieb nicht in ihrem Hirn hängen. Multitasking war eben noch nie ihre Stärke gewesen.

Ihre Noten in Sport waren zwar immer einigermaßen gut, dennoch war sie außer Puste, als sie endlich vor der Schule ankam. Der Blondschopf war schon in das Gebäude gerast und zielstrebig eine der vielen Treppen hochgehüpft. Isla ging durch die Glastür am Eingang und versuchte vergeblich, wieder zu Atem zu kommen. Sie sah sich um und überlegte, welche Treppe sie wohl nehmen musste, um zum Direktorat zu gelangen. Ein paar Schilder waren zwar vorhanden, aber sie zeigten nur, wo es zu den Naturwissenschaften oder zur Turnhalle ging. Sie erblickte eine Frau, die aussah wie eine Lehrerin, und lief auf sie zu. »Entschuldigung, Miss, können Sie mir vielleicht sagen, wie ich hier zum Direktor komme?«, fragte sie. Doch die Lehrerin schien sie nicht zu hören, da sie einfach an ihr vorbeiging.

Es klingelte. Das war wohl das Zeichen für den Unterrichtsbeginn. Blondie hatte es anscheinend noch rechtzeitig geschafft, aber Isla stand hier inmitten des Flurs und hatte keine Ahnung, wo sie hinsollte. Na toll, jetzt würde sie an ihrem ersten Tag auch noch zu spät kommen. Obwohl, genau genommen war sie ja rechtzeitig da gewesen, sie hatte nur das Direktorat nicht gefunden. Ärgerlich sah sie auf den Schulhof hinaus, sie hätte sich für ihre Dummheit in den Hintern treten können. Ihr Blick schweifte über den Hof und zu dem Gebäudeeingang auf der gegenüberliegenden Seite. Über der Glastür konnte sie die Aufschrift Reception erkennen.

Erleichtert lief sie nach draußen und auf der anderen Seite wieder in das Gebäude hinein. Kaum war sie durch die Tür, kam schon ein Mann mittleren Alters auf sie zu, der ihr freudig die Hand entgegenstreckte. Das Namensschild an seinem Hemd wies ihn als Direktor Tom Fry aus.

»Willkommen! Sie müssen Isla Adams sein, stimmt’s?«, fragte er mit einer Euphorie in der Stimme, die für einen Lehrer recht ungewöhnlich schien.

»Ja, richtig. Tut mir leid, ich bin ein bisschen spät dran, ich habe nicht gleich hergefunden«, erwiderte Isla etwas schüchtern.

»Ach was, das ist mir heute noch egal«, sagte er leichthin, »aber in Zukunft würde ich mich an Ihrer Stelle um Pünktlichkeit bemühen. Jetzt zeige ich Ihnen erst einmal Ihre Klasse. Sie sind in der 10b untergebracht. Ich werde eine Ihrer zukünftigen Klassenkameradinnen beauftragen, Ihnen die Schule zu zeigen. Anfangs wird es für Sie schwierig sein, sich zurechtzufinden, unsere Schule ist ziemlich groß. Aber das sollten Sie schaffen.«

Er überreichte ihr einen Schülerausweis. Darauf war ein altes, hässliches Foto von ihr gedruckt und ihr vollständiger Name: Isla Amelia Adams. Ihre Eltern hatten sich nicht entscheiden können, welchen Vornamen sie ihr geben sollten, also hatte sie zwei bekommen.

Der Direktor führte sie drei Gänge entlang, zwei Treppen hinauf, zwei Flure weiter und unsinnigerweise wieder eine Treppe nach unten. Vor einer massiven Holztür blieb er stehen und klopfte mit der Faust dagegen, bevor er, ohne auf eine Antwort zu warten, eintrat.

Das Klassenzimmer war größer als alle, die Isla bisher kannte. Auf einer Seite waren riesige Fenster, die den Blick auf eine viel befahrene Straße freigaben. An der hinteren Wand des Raumes hingen Präsentationsplakate zu verschiedenen Themen, von Büchern bis hin zu berühmten Personen. An der Vorderseite gab es nur eine Tafel und ein Pult, neben dem ein Lehrer mit grauem Dreitagebart und altmodischer Nickelbrille stand. Die vierte Wand des Klassenzimmers war völlig kahl. An den Tischen, die in je drei Zweierpaaren hintereinander gruppiert waren, saßen ungefähr dreißig Schüler. Alle starrten Isla an, was ihr extrem unangenehm war. Sie versuchte, cool zu wirken, aber nicht überheblich auszusehen. Schließlich zählte der erste Eindruck. Sie durfte auf keinen Fall zu brav erscheinen, sonst würden sie alle als Streberin oder Nerd abstempeln. Wenn sie zu aufmüpfig rüberkam, würde man sie für eine Zicke oder Draufgängerin halten, was vor allem die Jungs gegen sie aufbringen könnte. Also versuchte sie, lässig dazustehen, und kam sich sofort bescheuert vor.

Dreitagebart ging auf sie zu, schüttelte ihr die Hand und stellte sich als Mr Hawn vor. Der Direktor schlug vor, dass Isla sich am besten selbst vorstellen sollte. Fieberhaft überlegte sie, wie sie das möglichst elegant bewerkstelligen könnte. Sie hatte allerlei Idealvorstellungen von einer ersten Begegnung mit fremden Menschen im Kopf. Doch die brachten sie im Moment nicht weiter. Schließlich warf sie alle Ideale über Bord und redete einfach drauflos.

»Hi, mein Name ist Isla, ich komme aus Perth und bin vor einigen Tagen mit meiner Familie nach Glasgow gezogen. Jetzt stehe ich hier, nach einem nervenaufreibenden Schulweg, und bin die Neue, die allerhöchstens in den ersten paar Tagen interessant ist.«

Die Klasse lachte und auch der Direktor konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nur Mr Hawn zog eine finstere Miene. Jetzt hatte sich Isla so vorgestellt, wie sie war: vorlaut, lustig, selbstbewusst. Ihre anfängliche Angst und Zurückhaltung ließen allmählich nach. Ihr Blick schweifte durch die Klasse und blieb an einem Mädchen hängen, dem sie schon früher, als ihr lieb war, begegnet war. Blondie saß in der zweiten Reihe am Fenster. Der Platz neben ihr war frei. Isla schwante Schreckliches.

Da ergriff der Direktor das Wort: »Isla, setzen Sie sich doch bitte neben Beth.« Das blonde Mädchen verdrehte leicht die Augen und hob ihre Hand. »Das bin ich«, sagte sie mit monotoner Stimme.

Sie schien mindestens genauso begeistert zu sein, Islas Sitznachbarin zu sein, wie Isla selbst. Als der Direktor ihr auch noch auftrug, Isla die Schule zu zeigen, sprühten ihre Augen rote Funken. Wenn Blicke töten könnten, wäre der Direktor auf der Stelle tot umgefallen. Doch Blicke konnten nun mal nicht töten, und so verließ der Direktor genauso gut gelaunt das Klassenzimmer, wie er es betreten hatte.

Der Unterricht begann – in der ersten Stunde stand Mathe auf dem Plan – und war genauso ätzend wie in Islas alter Schule auch. Nur einen Vorteil hatte sie hier: In Perth waren sie schon lange über Sinus- und Kosinusfunktionen hinaus gewesen.

KAPITEL 2

So ging es den ganzen Tag über. Mathe, Deutsch, Chemie, Physik, Englisch, Musik, Geschichte, Französisch und zum Schluss noch Biologie. Die Lehrer waren alle auf ihre Weise speziell. Da war Mr Court, der Biologie- und Chemielehrer: Er lebte in seiner eigenen Welt und erklärte den Aufbau von Molekülen so, dass es sogar einem Chemielaboranten schwergefallen wäre, ihm zu folgen. Dann Mr Miller: Er hatte zwar vor, seinen Schülern Physik beizubringen, schweifte aber ständig vom Thema ab, was seine Stunden immerhin abwechslungsreich machte. Und nicht zu vergessen: Mr Feed! Ihn hätte wohl jeder gerne als Telefonjoker bei einer Quizshow gehabt, denn es gab absolut nichts, worauf er keine Antwort wusste.

Nun zu den Damen der Schöpfung: Mrs Lee versuchte krampfhaft, unentwegt cool und lustig zu sein, was ihr leider nicht gelang, da ihre Witze so schlecht waren, dass es schon fast wehtat. Natürlich lachten die Schüler trotzdem, um Sympathiepunkte zu sammeln. Mrs Jones dagegen war eine Traumlehrerin. Sie erklärte die kompliziertesten französischen Grammatikregeln so gut und so ausdauernd, dass sie jeder verstand. Ihre freundliche Art machte sie zur Lieblingslehrerin der meisten Schüler. Aber eine Lehrerin war nicht zu toppen: Mrs Mey. Sie schaffte es irgendwie, die Schüler zu motivieren und ihnen den Lernstoff mit Spaß beizubringen. Das Ergebnis waren ein exzellenter Klassenschnitt in Klausuren und ein gutes Lehrer-Schüler-Verhältnis. So kam es, dass Mrs Mey jedes Jahr aufs Neue den ersten Platz beim Lehrer-Ranking belegte.

Alles in allem war Isla zufrieden mit den Lehrern. Es hätte viel schlimmer kommen können. Ihre Mitschüler – mal abgesehen von Blondie – schienen auch ganz nett zu sein. Im Lauf des Tages freundete sie sich mit Liv an. Liv war auch in ihrer Klasse. Sie saß eine Reihe vor ihr und hatte sich bereit erklärt, ihr – an Blondies Stelle – die Schule zu zeigen. Die beiden hatten sich sofort gut verstanden.

Liv war auch sechzehn Jahre alt und ungefähr so groß wie Isla. Ihre langen blonden Haare hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt. Sie trug kaum Make-up. Die Sommersprossen auf ihrer Nase verliehen ihrem Gesicht einen frechen Ausdruck. Mit ihren tiefbraunen Augen fixierte sie jeden, mit dem sie sprach.

Liv besuchte eine Kampfkunstschule in Glasgow und begeisterte sich hauptsächlich für Taekwondo. Sie erzählte, dass sie schon an vielen Wettkämpfen teilgenommen hatte und mehr als einmal als Siegerin aus dem Kampf hervorgetreten war. Das regelmäßige Training tat ihr gut und stärkte ihren Verstand, erklärte sie Isla. Diese konnte zwar nichts mit Kampfsport anfangen, lauschte Livs Erzählungen aber trotzdem interessiert.

Nach der letzten Stunde verließen sie zusammen das Schulgebäude.

Liv wohnte nur zwei Blocks von Isla entfernt, was praktisch war, denn so konnte sie ihr den schnellsten Weg zur Schule zeigen. Wie sich herausstellte, war Isla am Morgen einen weiten Umweg gelaufen.

Für den Abend hatten sie sich im nahe gelegenen Park verabredet. Sie saßen gemeinsam auf einer Decke und jede von ihnen hielt einen Döner in der Hand. Während sie aßen, tauschten sie sich über die verschiedensten Themen aus. Isla fand heraus, dass Liv zusammen mit ihrem kleinen Bruder bei ihrer Großmutter wohnte. Mike war erst sieben und ging seit einem Jahr in die Grundschule. Die beiden verstanden sich offenbar gut, was Isla bei dem Altersunterschied absolut nicht erwartet hätte. Livs Eltern lebten nicht mehr. Ihre Mutter war bei Mikes Geburt gestorben und ihr Vater vor zwei Jahren bei einem Autounfall in Frankreich ums Leben gekommen. Seitdem wohnten die Geschwister bei ihrer Großmutter, die sich liebevoll um sie kümmerte. Isla erzählte ihrerseits von ihren Eltern und von ihren Freunden in Perth. Verglichen mit Livs Geschichte kam ihr allerdings ihr eigenes Leben wie ein Wunschkonzert vor.

Langsam legte sich die Dunkelheit über den Park. Die ersten Sterne waren zu sehen und nach und nach gingen die Laternen an. Liv schaute hoch zum Himmel.

»Da oben sind sie bestimmt«, sagte sie nach einer Weile mit leiser Stimme.

Isla warf ihr einen irritierten Seitenblick zu. »Bitte was?«

Liv blickte weiterhin zu den Sternen hinauf. Sie schwiegen eine Zeit lang. Irgendwann brach Liv die Stille.

»Hast du dich noch nie gefragt, wo die Verstorbenen hinkommen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einfach so da unten in der Erde verrotten. Ich glaube, ihre Seelen sind da oben. Mama und Papa sind dort. Sie schauen zu mir herunter, da bin ich mir sicher. Ich kann sie fühlen, weißt du?«

Isla schaute sie ungläubig an. »Im Ernst?«

»Ja«, erwiderte Liv, während sie immer noch nach oben schaute. »Manchmal rieche ich Zigarettenrauch, obwohl niemand da ist. Das kann nur mein Vater sein.«

»Was meinst du damit?«, hakte Isla nach.

»Ich glaube, mein Papa ist irgendwo da oben im Himmel. Aber manchmal kommt er mich hier besuchen. Dann habe ich das Gefühl, ihn wahrnehmen zu können. Ihn zu spüren, zu riechen.«

Isla war nicht wirklich überzeugt. Ihr Großvater war gestorben, als sie zwölf Jahre alt war. Auch er war Raucher gewesen, aber Isla hatte nach seinem Tod nie Derartiges erlebt. Genau genommen fand sie diese Vorstellung albern, hütete sich aber davor, Liv das zu sagen. Sie wollte ihre einzige Freundin nicht gleich am ersten Tag verlieren. So nickte sie nur und starrte in den dunklen Himmel. Wo sollten da denn bitte Menschen oder Seelen oder was auch immer sein?

»Heißt das, du glaubst an Geister?«, fragte sie unsicher.

»Ich glaube auf jeden Fall, dass es nach dem Tod nicht vorbei ist. Keiner kann sagen, was passiert, wenn wir diese Welt verlassen. Ich bin zwar keine Christin, wie sie in der Bibel steht, aber ich glaube, es gibt einen Gott. Ich kann spüren, dass da mehr ist als nur diese Welt. Vielleicht kann man nach dem Tod ja wirklich als Geist die Menschen auf der Erde besuchen. Wer weiß schon, wie das Jenseits aussieht.«

Liv wandte ihren Blick vom Himmel ab und Isla zu. Diese hatte die Augenbrauen leicht zusammengezogen.

»Also, wenn du an Geister und Gott glaubst, denkst du dann auch, dass es einen Teufel gibt?«, fragte sie halb amüsiert, halb ernst.

»Vielleicht nicht unbedingt den Teufel mit Hörnern und Dreizack, aber das Böse gibt es auf jeden Fall. Schau dir die Welt nur an. Wenn ich daran glaube, dass das Leben nach dem Tod nicht vorbei ist, gilt das doch für alle Menschen, auch die bösen. Die Vorstellung von Himmel und Hölle ist vielleicht etwas übertrieben, aber so in der Art stelle ich es mir schon vor«, antwortete Liv mit Ernsthaftigkeit in der Stimme. Sie wusste in dem Moment selbst nicht, wieso sie einer Person, die sie gerade mal einen Tag kannte, so viel von ihren innersten Gedanken erzählte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie Isla vertrauen konnte, wusste aber nicht, woher dieses Vertrauen kam. Ob sie ihr von ihren Träumen erzählen konnte? Als sie das leichte Lächeln sah, das Islas Lippen umspielte, seufzte sie nur. Das war wohl die Antwort auf diese Frage.

»Du glaubst mir nicht«, sagte Liv mit herausfordernder Stimme. Sie saß jetzt im Schneidersitz da und starrte Isla aus dunklen Augen an.

»Na ja … also, doch … schon … aber irgendwie auch nicht«, stammelte sie. »Meinst du nicht, das ist ziemlich surreal und …«

»Kannst du mir das Gegenteil beweisen?«

»Hä?«

Liv legte lächelnd den Kopf schief. »Ob du mir beweisen kannst, dass da oben nicht die Seelen der Verstorbenen sind.«

Isla öffnete den Mund, doch es kam kein Ton heraus.

Liv nickte lächelnd. »Siehst du? Du kannst etwas nicht als surreal bezeichnen, wenn du keine Ahnung von der tatsächlichen Realität hast. Ich weiß auch nicht, ob da oben wirklich die Seelen der Verstorbenen sind. Aber ich glaube daran. Genauso wenig kann ich mit Sicherheit sagen, dass wir nicht wiedergeboren werden. Ich glaube daran, dass meine Eltern da oben sind. Du musst nicht daran glauben, aber bitte respektiere meine Sichtweise.«

Isla starrte Liv mit offenem Mund an.

Liv blickte betreten zu Boden. »Tut mir leid, aber mir liegt sehr viel an meinen Eltern und deshalb halte ich so daran fest. Gerade ist es wohl ein bisschen mit mir durchgegangen.«

Isla löste sich endlich aus ihrer Starre. »Nein, nein, kein Problem. Ich war nur verwirrt von deinem philosophischen Ausbruch gerade eben. Ich kann verstehen, dass dir so viel an deinen Eltern liegt. Wir wünschen uns doch alle, dass wir unsere Liebsten nicht für immer verlieren.«

Liv blickte auf und lächelte. »Normalerweise bezeichnen mich die Leute als Freak, wenn ich so etwas sage.« Sie stand auf und zog Isla hoch. »Wir sollten gehen. Nachts treiben sich hier Leute rum, mit denen du lieber nichts zu tun haben willst.«

Schlendernd verließen sie den Park und machten sich auf den Nachhauseweg. Die Laternen, an denen sie vorbeikamen, waren bei Weitem nicht alle intakt, weshalb die Straßen umso dunkler wirkten. Nach einigen Minuten erreichten sie das Haus von Livs Großmutter. Bevor sie sich verabschiedeten, beschlossen sie, morgen gemeinsam zur Schule zu laufen.

Das letzte Stück des Weges musste Isla alleine gehen. Es fühlte sich komisch an, im Dunkeln durch eine fast fremde Stadt zu spazieren. Unwillkürlich spürte sie ihr Herz schneller schlagen. Ihre Unruhe war nicht nur der Tatsache geschuldet, dass sie die Umgebung kaum kannte. Da war noch etwas anderes. Obwohl es ihr albern vorkam, musste sie an den Clown denken, von dem sie in der vorigen Nacht geträumt hatte. Sie ärgerte sich, dass ihr dieses Bild ausgerechnet jetzt so lebhaft vor Augen stand. Beim Gehen schaute sie sich ständig um, um zu überprüfen, ob ihr jemand folgte. Sie versuchte sich zu beruhigen, aber ihr Herz raste dennoch wie verrückt. Es war schon fast zum Lachen, dass ein einfacher Traum solche Panik in ihr auslösen konnte. Nach einem weiteren Blick über die Schulter sah sie wieder geradeaus. Die Straßenlaterne einige Meter vor ihr flimmerte heftig. Es schien beinahe so, als würde das Flackern mit jedem Schritt, den sie näher herankam, zunehmen. Erneut musste sie fast kichern. Ein perfekter Horrorfilm, in den sie da geraten war. Sie riss sich zusammen und lief weiter. Doch als sie die defekte Laterne erreichte, ertönte plötzlich ein lauter Knall über ihrem Kopf. Tausende Funken regneten auf sie herab, die seltsamerweise nicht heiß waren, sondern sich fast so anfühlten wie Wassertropfen. In diesem Moment war es um sie geschehen. Alle gruseligen Wesen und Gestalten aus ihren Albträumen fuhren plötzlich Achterbahn in ihrem Gehirn. Sie schrie auf und sprintete los. Doch die Bilder wichen nicht aus ihrem Kopf.

Keuchend erreichte sie die Haustür und kramte verzweifelt in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Ihr Herzschlag raste. Sie hatte das Gefühl, jemand würde hinter ihr stehen und ihr jeden Moment ein Messer in den Rücken rammen. Sie konnte die Klinge schon formlich spüren. Da fand sie den Schlüssel, schloss in Rekordzeit die Türe auf und warf sie hinter sich wieder ins Schloss.

Es schien, als hätten die Dämonen es nicht ins Haus geschafft. Sobald die Tür zugefallen war, verschwand das Gefühl der Angst und die Bilder in ihrem Kopf verblassten. Isla schloss für einen Moment die Augen. Langsam fand ihr Herz wieder in seinen normalen Rhythmus zurück.

Als sie ihre Augen wieder öffnete, fing sie an, wie verrückt zu lachen. Es tat so gut, endlich die Anspannung los zu sein. Wie konnte sie sich von einer kaputten Laterne nur derart aus der Fassung bringen lassen? So etwas hatte sie noch nie erlebt. Eigentlich konnte man sie mit nichts schocken, doch in letzter Zeit spürte sie eine wachsende Unruhe in sich. Sicherlich lag es an dem Umzug und an der neuen Umgebung, der unbekannten Stadt. Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Wenn Liv sie so sehen könnte, würde sie sie garantiert auslachen. Vor allem, wo sie doch gesagt hatte, dass sie nicht an irgendwelche Geister oder Teufel glaubte.

Langsam schlich Isla die Treppe hoch, denn ihre Eltern schliefen längst. Sie ging ins Bad und putzte sich die Zähne. Als sie wenige Minuten später erschöpft ins Bett fiel, wollte sie nur noch schlafen.

Mitten in der Nacht schlug sie die Augen auf. Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte. Ihre Glieder waren wie gelähmt und sie konnte nicht einmal ihre Finger rühren. Angst kroch ihre Wirbelsäule hinauf und verwandelte sich augenblicklich in Panik. Sie ließ ihren Blick durch das fast dunkle Zimmer schweifen. Nichts Auffälliges. Kein Clown in Sicht. Die Panik ließ etwas nach, bis sie plötzlich auf ihrer Bettkante eine nicht identifizierbare Gestalt erblickte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, was ihren Schock noch verstärkte. Ihre Arme begannen zu kribbeln. Sie verspürte ein Stechen in der Brust.

Die dunkle Silhouette bewegte sich nicht. Es war nicht zu erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Wie konnte die Gestalt einfach so in ihrem Zimmer erscheinen? Noch vor Sekunden hätte Isla schwören können, dass niemand hier war! Am merkwürdigsten aber war, dass die Matratze keinen Millimeter nachgab, so als wäre die Erscheinung aus Luft.

Islas Herz raste. Sie konnte kaum atmen. Ihr Körper war wie eingefroren. Sie versuchte sich einzureden, dass sie nur träumte und gleich aufwachen würde. Doch das passierte nicht. Das Kribbeln in ihren Gliedmaßen wurde stärker. Bald fühlte es sich an, als würden lauter kleine Nadeln in ihre Haut gepikst. Sie spürte ihren rasenden Herzschlag. Es war ein furchtbares Gefühl. So, als würde ihr Herz nicht genügend Blut transportieren können. Ihre Atmung wurde immer flacher. Sie bekam kaum noch Luft. Es fühlte sich schlimmer an als in der Nacht zuvor.

Die Gestalt bewegte den Arm und deutete mit dem Zeigefinger auf Islas Herz. Dieses schlug nun noch schneller. Ein kaltes Gefühl breitete sich in ihrer Körpermitte aus, es strahlte bis in ihre Hände und Füße. Als die Kälte ihren Kopf erreichte, verlor Isla komplett die Kontrolle. Alles um sie herum wurde weiß. Nun konnte sie weder sehen noch hören. Sie spürte nur noch einen dumpfen Schmerz am ganzen Körper. Sie dachte nichts, sie tat nichts. Sie fühlte sich gefangen, so als wäre sie in einem weißen Zimmer ohne Tür und Fenster eingeschlossen. Die Angst und die Schmerzen, vor allem in ihrem Herzen, blieben. Was auch immer die Gestalt getan hatte, es hatte funktioniert und es war grauenvoll.

Ihr Körper fühlte sich an wie ein Stein – schwer, steif und kalt. Sie spürte feuchtes Gras unter sich und überlegte, was mit ihrem Bett geschehen war. Offenbar befand sie sich nicht in ihrem Zimmer, denn sie hörte Vögel zwitschern und ein leises Plätschern von Wasser, nicht weit von ihr entfernt. Als sie blinzelte, konnte sie vor Helligkeit kaum etwas sehen. Schützend hielt sie die Hand vor ihre Augen und versuchte die Umgebung zu erkennen. Wenige Sekunden später wusste sie, wo sie war. Sie lag im Park, direkt neben dem kleinen Brunnen.

Verwirrt setzte sie sich auf und zuckte erschrocken zusammen, als ihr ein stechender Schmerz in den Nacken fuhr. Kein Wunder, sie hatte die ganze Nacht auf dem harten Boden geschlafen. Sie blickte sich um, während sie sich mit der Hand den Nacken rieb. Wäre sie nicht so schockiert gewesen, hätte sie die Szenerie fast idyllisch gefunden. Wie zum Teufel war sie hierhergekommen?

Mühsam stand sie auf und testete, ob all ihre Gelenke noch funktionierten. Erleichtert bewegte sie ihre Arme und Knie. Sie sah an sich herunter und bekam gleich den nächsten Schock. Sie trug ihren Schlafanzug! Irgendwie war das ja klar gewesen, aber die Tatsache, dass sie hier mitten im Park im Pyjama stand, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wie sie hergekommen war, machte ihr ziemliche Angst. Kurz überlegte sie, ob sie vielleicht geschlafwandelt war, doch diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Sie war noch nie im Schlaf irgendwohin gelaufen, wieso sollte sie gerade jetzt damit angefangen haben? Außerdem hätte sie auf dem Weg zum Park ein paar Straßen überqueren müssen. Sie kannte sich doch kaum in der Gegend aus und fand sich selbst am Tag nur mit Mühe zurecht! War so etwas überhaupt möglich? Was zur Hölle war heute Nacht passiert?

Dunkel erinnerte sie sich daran, wie sie gestern Abend die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Irgendetwas war auf dem Weg zwischen Livs und ihrem Zuhause geschehen – aber was? Sie wusste nur noch, dass sie sich ins Bett gelegt hatte. Ab diesem Moment war ein Schwarzes Loch auf ihrem Zeitstrahl. Vielleicht hatte sie ja Demenz? Aber nein, in Anbetracht ihres Alters schien das unwahrscheinlich. Isla schüttelte alle Gedanken aus ihrem Hirn. Jetzt musste sie erst mal nach Hause, bevor ihre Eltern merkten, dass sie nicht da war. Wie spät war es eigentlich? Dem Sonnenstand nach zu urteilen, musste es zwischen sechs und sieben Uhr morgens sein. Verdammt! Um die Zeit war ihr Vater garantiert schon wach.

Sie eilte die Straßen entlang, die ihr seltsam vertraut vorkamen. Vertrauter als noch am Vortag. Trotzdem fühlte sie sich denkbar unwohl. Es sah bestimmt sehr seltsam aus, wie sie hier im Schlafanzug und mit zerzausten Haaren durch das Viertel spazierte. Wen überraschte es da, dass ein Junge aus der Nachbarschaft sie anstarrte, als wäre sie eine Außerirdische. Als er grinsend sein Smartphone aus der Tasche zog, senkte Isla den Kopf. Auf keinen Fall wollte sie, dass sich ein solches Bild von ihr in der Schule oder, schlimmer noch, im Netz verbreitete. Ihr ganzes Leben kam ihr wie ein Witz vor. Wäre das alles nicht ihr passiert, sondern irgendjemand anderem, hätte sie wahrscheinlich gelacht. Vielleicht hätte sie sogar genauso reagiert wie der Junge eben.

Sie legte noch einen Gang zu und erreichte nach wenigen Minuten die Straße, in der sie wohnte. Da fiel ihr das nächste Problem auf. Wie sollte sie denn jetzt hineinkommen? Sie hatte doch keinen Schlüssel dabei. Klingeln kam auch nicht infrage. Ihr Vater würde sofort unangenehme Fragen stellen, die sie, selbst wenn sie gewollt hätte, nicht beantworten könnte. Fieberhaft überlegte sie, was sie jetzt tun sollte. In Perth hatte ihre Mutter für den Notfall immer einen Schlüssel vor dem Haus deponiert. Kaum war ihr der Gedanke gekommen, begann sie schon, die Mauern und den Türrahmen abzutasten. Es war fast wie an Ostern. Aber an Ostern machte das Suchen wenigstens Spaß und man fand Süßigkeiten.

Nach einer gefühlten Ewigkeit und nicht weit von einem Nervenzusammenbruch entfernt, ertastete sie endlich etwas Kaltes, Metallenes. Tatsächlich, in einer kleinen Mauerritze lag der Schlüssel! Er war so gut versteckt, dass man ihn unmöglich von außen hätte sehen können. Erleichtert atmete Isla auf. Blieb nur zu hoffen, dass ihr Vater noch nichts bemerkt hatte.

Leise schloss sie auf und legte den Schlüssel wieder dorthin, wo sie ihn gefunden hatte. Sie schlich vorsichtig die Treppe hinauf. Aus dem Badezimmer hörte sie das Plätschern von Wasser. Anscheinend hatte niemand etwas mitbekommen, denn sonst wäre das ganze Haus in Aufruhr gewesen. Schnell huschte Isla in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Das Zimmer sah so aus wie am Tag zuvor. Noch immer lagerten die vollen Umzugskartons im ganzen Raum. Noch immer waren die Wände kahl und noch immer stand das Bett einsam an seinem Platz. Nichts machte den Anschein, als sei hier etwas Merkwürdiges passiert. Ohne viel zu überlegen, griff Isla nach ihrer Uniform, zog sich an und versuchte verzweifelt, ihre Haare halbwegs zu bändigen. Es dauerte ewig, bis es ihr einigermaßen gelungen war. Sie stürmte aus dem Zimmer und hoffte, dass man ihr ihre Verwirrung nicht gleich ansah.

Ihr Vater hatte inzwischen das Badezimmer verlassen. Hektisch wusch Isla sich das Gesicht und trug notdürftig etwas Wimperntusche auf. Danach eilte sie zurück in ihr Zimmer, packte ihre Schultasche und rauschte nach unten. Sie brummte ihrem Vater ein ungewollt genervt klingendes »Guten Morgen« entgegen, was ihr einen skeptischen Blick einbrachte. Glücklicherweise beließ er es dabei und sie verzichtete auf eine Erklärung für ihre schlechte Laune. Ohne viel zu schmecken, stopfte sie sich ein Marmeladensandwich in den Mund und schüttete ein Glas Milch herunter. Sie hatte das Gefühl, verrückt zu werden, wenn sie nicht bald mit jemandem über das Geschehnis in der Nacht sprechen konnte.

Mit dem Schulrucksack auf dem Rücken eilte sie aus dem Haus. Sie lief an zwei Häuserblocks vorbei und klingelte bei Liv. Doch niemand öffnete. Fluchend hastete sie weiter. Wahrscheinlich war Liv längst losgelaufen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass in knappen zehn Minuten der Unterricht begann. Ein weiterer Schwall Flüche brach aus ihr heraus, was sie selbst überraschte. Das passte überhaupt nicht zu ihr.

Sie versuchte, sich an den Weg zu erinnern, den Liv ihr erklärt hatte. Wider Erwarten fand sie sich in dem Straßenwirrwarr zurecht und erreichte innerhalb von nur acht Minuten das Schultor. Auf gut Glück raste sie eine der Treppen hinauf, inständig hoffend, das richtige Klassenzimmer zu finden. Sie öffnete die nächstbeste Tür und tatsächlich – sie hatte »de la chance«, wie ihre neue Französischlehrerin zu sagen pflegte. Sie hatte die richtige Tür erwischt. Gleichzeitig mit dem Klingeln zur ersten Stunde betrat sie das Klassenzimmer. Liv starrte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und erwiderte ihren Gruß mit einem verständnisvollen, fast schon wissenden Blick.

Die Schulstunden zogen sich bis ins Unendliche hin. Es war hier kaum anders als in Perth. Die Lehrer unterrichteten auf einschläfernde Weise und erzählten allerlei Dinge, die nur teilweise für das Leben relevant schienen. Wenigstens nervte Blondie heute nicht, sondern hielt die Klappe. Trotzdem konnte sich Isla auf nichts konzentrieren. Mr Hawn musste sogar mit der Handfläche auf ihr Pult schlagen, um sie aus ihren Gedanken zu reißen. Letztendlich stammelte sie dann etwas von Ableitungen, was natürlich komplett falsch war. Dennoch ließ Mr Hawn von ihr ab. Er gab die Aufgabe an Blondie weiter, die Isla einen abwertenden, beinahe tödlichen Seitenblick zuwarf.

Als es am Mittag endlich zum Schulschluss läutete, überlegte Isla nicht lange. Sie packte Livs Oberarm und zog sie, unsanfter als geplant, nach draußen. Erst als sie den Bürgersteig erreichten, konnte sich Liv von ihr losreißen und sie starrte Isla entrüstet an.

»Sag mal, hast du sie noch alle? Ich bin doch kein Hund, den du hinter dir herziehen kannst!«

Isla machte ein zerknirschtes Gesicht. »Tut mir leid, ehrlich. Ich bin total am Durchdrehen. Ich muss dir unbedingt was erzählen, aber das geht hier nicht. Ich will nicht, dass es jeder mitbekommt. Du bist die Einzige, mit der ich darüber reden kann.«

Liv sah ihr prüfend in die Augen. »Okay. Dann kommst du mit zu mir und erzählst mir alles.«

In diesem Moment war Isla endgültig klar, dass sie in Liv eine vertrauenswürdige Freundin gefunden hatte. Nicht jeder würde ihr – der Neuen in der Klasse –, ohne groß zu zögern, Hilfe anbieten. Vor allem nicht, ohne zu wissen, worum es überhaupt ging.

Es war still im Haus. Livs Großmutter war mit ihrem kleinen Bruder direkt nach der Schule einkaufen gegangen. Somit würden sie wohl noch einige Zeit alleine sein. Liv holte zwei Teller aus dem Küchenschrank und machte Sandwiches mit Schinken und Käse. Dann stellte sie zwei Gläser und eine Flasche Wasser auf ein Tablett. Beides balancierte sie anschließend auf ihren Unterarmen und führte Isla die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

Obwohl der Raum sehr klein war, sah es hier wesentlich gemütlicher aus als in Islas Zimmer. Das Bett stand an der Wand neben dem Fenster. Auf der anderen Seite befand sich ein Schrank, dessen Türe mit einem körpergroßen Spiegel versehen war. Ansonsten gab es nur einen Schreibtisch, ein kleines Regal und einen einfachen Holzstuhl.

Liv deutete wortlos auf den Stuhl. Isla setzte sich und nahm dankend den Teller entgegen, den Liv ihr hinhielt. Liv selbst ließ sich auf ihrem Bett nieder, biss von ihrem Sandwich ab und lehnte sich an die Wand.

»Na, dann spuck mal aus. Was hat deine vier Grundsäfte so durcheinandergebracht?«

Isla sah sie irritiert an. Was sollte das schon wieder heißen? Musste dieses Mädchen immer in Rätseln sprechen?

Liv sah Islas verdutztes Gesicht und verdrehte theatralisch die Augen. »Herrje, dann eben so: Warum bist du so aufgewühlt?«

Isla überging den Kommentar und begann zu erzählen, was ihr passiert war. Sie begann mit dem Auftauchen des Clowns in ihren Träumen, schilderte die Gestalt an ihrem Bett und endete mit dem unerklärbaren Schlafwandeln in dem Park.

Livs Miene verfinsterte sich zunehmend. Kaum hatte Isla zu Ende gesprochen, stand Liv auf, ging zum Fenster und starrte hinaus auf die Straße. »Ich dachte nicht, dass es so schnell passiert. Wenigstens noch ein paar Monate hätten sie warten können!«

Isla sah sie perplex an. Wusste Liv etwa, was das alles zu bedeuten hatte? Wie konnte das sein, wenn sie doch selbst keine Ahnung hatte, was mit ihr los war?

»Was zur Hölle meinst du? Was ist so schnell geschehen? Wieso weißt du Bescheid und ich nicht?«, fragte Isla außer sich.

»Ich habe dir gestern nicht alles erzählt. Du schienst meinen Glauben nicht zu teilen, deshalb habe ich dir nicht von meinen Träumen erzählt, aber ich habe dieses ungute Gefühl, dass meine Träume mit deinen Erlebnissen zusammenhängen könnten«, erwiderte Liv langsam. Isla wurde langsam ungeduldig. »Was träumst du denn. Wieso sollten Träume etwas mit meinem Schlafwandeln zu tun haben? Träume haben keine Bedeutung!«, fragte sie, ohne einmal Luft zu holen.