People of Deutschland -  - E-Book

People of Deutschland E-Book

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Beschreibung

Dass Deutschland ein Land ist, das von Vielfalt geprägt wird, ist unbestreitbar. Und dennoch erleben Eingewanderte und ihre Nachkommen täglich Ablehnung und Benachteiligung, sei es auf der Suche nach einer Wohnung, bei Bewerbungsgesprächen oder bei der Fahrscheinkontrolle. Es ist schockierend, wie stark Rassismus immer noch den deutschen Alltag durchzieht. Gleichzeitig sind solche Erfahrungen schwer nachzuempfinden, wenn man sie nicht selbst erlebt hat. Umso wichtiger ist es, Geschichten Betroffener zu erzählen, um die Gesellschaft zu sensibilisieren und Veränderung möglich zu machen. In »People of Deutschland« versammeln Martina Rink und Simon Usifo Stimmen zum Thema Rassismus in Deutschland. Persönlichkeiten aus Bereichen wie Mode, Sport, Medien, Wirtschaft und Kunst teilen authentisch sowie berührend ihre Erfahrungen und erzählen, wie es ist, heute als Person of Color oder Person mit sichtbarem Migrationshintergrund in Deutschland zu leben. Die persönlichen Geschichten geben Einblicke in die gesellschaftliche Vielfalt dieses Landes und machen Mut, Alltagsrassismus entgegenzutreten. Ergänzt werden die Texte durch die atemberaubenden Porträts des Fotografen Sammy Hart.

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Seitenzahl: 289

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Eden Books

Ein Verlag der Edel Verlagsgruppe

Copyright © 2023 Edel Verlagsgruppe GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edenbooks.de

 

Einige der Personen im Text sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.

 

Vermittlung: Elisabeth Ruge Agentur

Lektorat: Uwe Grothey, Alex Raack

Korrektorat: Rotkel. Die Textwerkstatt

Fotos: © Sammy Hart

Gestaltung Cover und Layout: Rosanna Motz

Satz: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

eISBN 978-3-95910-419-7

 

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

INHALTSVERZEICHNIS

Eine persönliche Vorbemerkung von JON AYLINGUniversell rassistisch?

MOLA ADEBISIDie Schwarze Zielscheibe der »Zillertaler Türkenjäger«

PENINAH AMANDADie Gesellschaft darf nicht müde werden

RAHIMA ARSALANAlltagsrassismus ist keine Lappalie

JIM AYDINErfolg ist die beste Antwort auf Rassismus

SMILEY BALDWINDer Mann von der Insel

BERHANE BERHANEWir sind alle Ausländer

IMAANI BROWNEinfach nur noch weg (aus Deutschland)

THELMA BUABENGWandel braucht Zeit

JOY DENALANEBerlin, die Musik und ich

LISANNE DORN BOTAKeine Toleranz für Ausgrenzung

CÉCILE DÜTSCHMein Traum? Selbstverständlichkeit für alle!

PATRICIA YEN LYN FREIMUTHDas Grundrauschen

EKO FRESHPerception is reality

DEEPA GAUTAM-NIGGEAnderssein ist meine größte Stärke

DR. MARTIN HYUNLetter to my younger self

ÖZGE JACOBSENDas Erbe und der Spagat

JALILÜber Berlin. Über mich

FRANK JOUNGHalbe Katoffl gegen Mückenstiche

KALED IBRAHIMWir sind (auch) Deutschland!

ADO KOJOWarum ich stolz auf meinen Sohn bin

JEFFREY LISKIm Zweifel die Schwarze Faust

MILKA LOFF FERNANDESIch fühle mich nicht anders – und dann bin ich es doch

PAPIS LOVEDAYIch bin Teil dieser Kategorisierung

ANDRÉ LUMENGORote Karte gegen Rassismus

JOANA MAYRDon’t forget where you come from

MIRRIANNE MAHNWas es für mich bedeutet, mir Raum zu nehmen

PATRICK MUSHATSI-KAREBADas Frankfurter Dreieck

JAMAL NAJISie sprechen aber gut Deutsch

CARLOTTA NWAJIDEMein Schwarzes Bewusstsein

CONSTANZE OSEIYou can’t be great in pieces

ROGER REKLESSIch kann gerade nicht mehr kämpfen

TYRON RICKETTSDas System auf den Kopf stellen

MARTINA RINKNoch lange keine Deutsche

DR. PHIL. REYHAN ŞAHIN AKA LADY BITCH RAYDas Problem heißt Rassismus

MINA SAIDZEWarum ich stolz darauf bin, Deutsche zu sein

MARA DANIELA SANDRASEKARAM OVERBECKKommunikation ist alles

HANS SARPEIEin Schwarzer, der Hans heißt?

SHABNAM SHABANYDas Lächeln, das die Seele verwüstet

LUKAS STAIER ALIAS COSSUWas habe ich getan, dass mich ein Mensch so sehr hasst?

NIKEATA THOMPSONEinigkeit und Recht und Freiheit

SERPIL TEMIZ UNVARWarum ich jetzt für Ferhat laut werde

SIMON USIFOZwischen Klischees und Chancen

INGRID YEBOAHIm Namen der Gerechtigkeit

EIN NACHWORT VON DÜZEN TEKKALDie neue Mehrheitsgesellschaft stellt sich vor

Glossar

»Die Welt, die wir heute erschaffen haben, ist ein Produkt unseres Denkens. Wir können sie nicht verändern, ohne unser Denken zu verändern.«

– Albert Einstein

EINE PERSÖNLICHE VORBEMERKUNG VON JON AYLING

Berater für Strategie & Innovation, Co-Gründer/CEO bei LOUPE 16

Universell rassistisch?

Meine Erfahrungen mit Rassismus während meiner Zeit in Deutschland sind eher begrenzt und beschränken sich auf persönliche Begegnungen. Da gab es den leitenden Creative Director einer Werbeagentur, der beim Pitch für eine neue Lautsprechermarke erklärte, er wolle jetzt »keine kreativen Vorschläge, wo massenhaft Schwarze oben ohne rumtanzen«. Oder den Ü-80-Großvater auf jener Hochzeit, auf der ich als Einziger keinen Adelstitel trug. »Wo kommst du her, Junge?«, fragte er mich, weil er offenbar davon ausging, dass ich nur zu Besuch war und aus Bongo-Bongo-Land stammte und meine Speere in einer entfernten Ecke des Schlosses zur Aufbewahrung abgegeben hatte. Ich nahm es mit Humor.

In Deutschland begegnet mir so etwas deutlich seltener als in meiner Jugend, die ich in einer Stadt in Großbritannien verbracht habe, deren Bild einerseits von einer Universität und andererseits vom Militär geprägt war. Beide, Uni und Militär, konnte man damals nicht gerade als ethnisch divers bezeichnen.

Meine Erfahrungen als eines von zwei »Kolonialkindern« in der Schule könnte ich bestenfalls als »heiter bis wolkig« bezeichnen. Zufällige Anspielungen auf die Reggae-Pop-Gruppe UB40, die ein gemischtrassiges Mitglied hatte, oder ein abfälliges »Geh wieder nach Hause, Kanake« gehörten zum Alltag. Meine Großmutter väterlicherseits verglich mich mit dem Golly – dem Schwarzen kraushaarigen Golliwog-Maskottchen der britischen Marmeladenmarke James Robertson & Sons von 1910, das auf jedem Marmeladenglas prangte. Einem Leitartikel der Times zufolge wurden Golliwog-Puppen in Deutschland 1934 verboten, weil sie deutschen Kindern angeblich schadeten – »denn unter allem Unarischen ist nichts unarischer als dieses … manche glauben, der Golliwog verleihe dem Schwarzgesicht so viel Reiz, dass sich den Kindern immer schwerer beibringen ließe, sich zu waschen.«1

Ständig werden wir mit »Rassismus« als Begriff oder Thema konfrontiert, aber ich frage mich, ob die Menschen den Begriff in seiner Bedeutung auch wirklich verstehen. Einer bestimmten Doktrin zufolge besteht die menschliche Weltbevölkerung aus verschiedenen »Rassen«, welche die Wesenszüge und Fähigkeiten der Menschen hauptsächlich bestimmen. Das Konzept ist relativ neu und kam im Zeitalter des europäischen Imperialismus und im daraus folgenden Aufstieg des Kapitalismus auf und war vor allem für den Sklavenhandel auf der Atlantikroute eine treibende Kraft. Dieser Doktrin nach ist eine Rasse allen anderen überlegen. Sie gehört auch zu den wichtigen Antriebskräften der Rassentrennung, insbesondere in den USA im 19. und frühen 20. Jahrhundert und im südafrikanischen Apartheid-Regime. Rassistische Lehren werden allgemein von Hass und Diskriminierung zwischen den Gruppen begleitet und spielen eine wichtige Rolle bei Völkermorden wie dem Holocaust, dem Völkermord an den Armeniern, dem der Serben, ebenso wie im Kolonialismus und der Vertreibung indigener Minderheiten.2

Aus sozialwissenschaftlicher Sicht kommt Rassismus auf drei miteinander zusammenhängenden Ebenen vor.3 Es gibt:

1.) individuellen Rassismus – bestimmt von Individuen, die rassistische Überzeugungen vertreten. Rassistische Vorstellungen sind oft Teil eines von Vorurteilen, Xenophobie, religiösem Eifer und Intoleranz bestimmten Weltbildes. Das entscheidende Merkmal des individuellen Rassismus ist es, die Unterschiede zwischen den Gruppen als angeboren und unveränderlich anzusehen.

2.) situativen Rassismus – er tritt auf, wenn rassistisches Verhalten vom gesellschaftlichen Kontext bestimmt wird. Wo persönliche Begegnungen rassistischen Mustern folgen, ist eine Gruppe bei den Interaktionen zwischen den Gruppen unterlegen.

3.) strukturellen/kulturellen Rassismus – das Ergebnis von rassistischen Überzeugungen bestimmter gesellschaftlicher Institutionen. Die Folge ist die Diskriminierung ganzer Gruppen. Es gibt in der Gesellschaft keine Institution, die nicht rassistisch unterwandert werden kann. Rassismus unterteilt Menschen in sogenannte »Rassen«, was zu Einschränkungen von wirtschaftlichen Möglichkeiten und anderen Formen der Ungleichheit führt. Zum Beispiel durch Geschlechtsidentität, Volks- und Klassenzugehörigkeit.

In unterschiedlichen Gesellschaften können sich unterschiedliche Grade von Rassismus bilden. Deshalb ist es wichtig anzuerkennen, dass Rassismus eine weltweite Herausforderung darstellt. Peter Espeut, Umweltschützer und Experte für Entwicklungshilfe auf Jamaika, bemerkt zu Rassismus im karibischen Inselstaat Trinidad und Tobago: Als ehemals Zucker produzierende Kolonie hat Trinidad »Arbeitskräfte aus Indien angeworben, die Seite an Seite mit den Nachkommen der befreiten afrikanischen Sklaven arbeiteten«.4 Espeut stellt fest: »Heute, da die Wählergruppen afrikanischer und indischer Abstammung fast gleich groß sind, orientiert sich deren Politik fast völlig an den ethnischen Unterschieden. Der Wahlsieger sackt die gesamte politische Beute ein.«5 Aus dieser Perspektive sind Wahlen in Trinidad als »Rassenwettkämpfe«6 – ein Beispiel für strukturellen Rassismus. Allerdings müssen wir im Blick behalten, dass Rassismus auf vielen, oft weniger beachteten Ebenen und zwischen verschiedensten Rassen auftritt – nicht nur zwischen Weiß und Schwarz.

Neben der Auffassung von den »unterdrückten Rassen« gibt es eine alternative Perspektive. Während der Hochphase der Black-Lives-Matter-Proteste interviewte die Zeitschrift GQ den Sänger Simon Webbe zu seiner Erfahrung des Schwarzseins. Seine Antwort: »Als einziger Schwarzer in der Gegend fühlt man sich im Leben meistens ziemlich allein.«7 Von meiner persönlichen Warte aus könnte ich dasselbe sagen. Oft war und bin ich der »einzige Schwarze in der Gegend« – schließlich bin ich in einer Stadt aufgewachsen, die zu 99,9 Prozent weiß war. In meinem Bachelorstudiengang war ich einer von drei Schwarzen Menschen, im Master der Einzige. Inzwischen bin ich seit Langem einer der wenigen People of Color in Terminen im beruflichen Kontext. Das hat mich nie gestört. Weil ich glaube, dass unser Verhalten von unseren Werten bestimmt wird. Viele Firmen stellen Menschen ein, welche die gleichen Werte teilen, was sich in Aktivitäten zeigt, die andere Menschen entweder bewusst oder unbewusst ausschließen. Vor vielen Jahren nahm ich an einer Reihe von Bewerbungsgesprächen von Werbeagenturen teil. Zu jeder Interviewrunde gehörte ein förmlicher Lunch in einem Restaurant mit fest angestellten Kellner*innen und und weißen Stofftischdecken. Das Ziel war herauszufinden, ob die Bewerber*innen Alkohol vertrugen, wussten, in welcher Reihenfolge das Besteck benutzt wird und dabei interessante Gespräche führen konnten. Für viele der Bewerber*innen war das die einfachste Sache der Welt. Aber wenn man nicht von klein auf (oder spätestens in der Studienzeit) gelernt hat, wie man den Suppenlöffel hält, wie sollte man das erfolgreich meistern? Ganz unabhängig von Rasse oder Gender zeigte dieser Bewerbungsprozess, welchen Hintergrund und welche Werte ein Mensch haben musste, um Zugang zum Marketingagenturumfeld zu haben. Aus dieser Sichtweise gab es keinen strukturellen Rassismus, es gab vielmehr die klassische britische Zugangsbeschränkung – Klassenzugehörigkeit.

Auf irgendeine Weise sind wir alle Rassist*innen. Durchgängiger Rassismus ist das Resultat der Werte, die unsere Denkweise und Weltwahrnehmung prägen. Wenn wir eine bessere Welt wollen, müssen wir an unseren Werten arbeiten, um anders denken zu können.

So ungern die Menschen es zugeben würden – wir leben nicht in einer Meritokratie, wo harte Arbeit den Aufstieg garantiert. Ganz unabhängig von Rasse gibt es in einer Gruppe mit geteilten Werten mehr Harmonie und Einigkeit. Ein Netzwerk zu haben, zum Beispiel über über die Schule, Universität oder die sogenannten »richtigen Kreise«, ist immer noch wichtig – egal ob man weiß oder Schwarz ist oder einer anderen »Rasse« angehört. Es geht um gemeinsame Werte, auf die man aufbauen und auf deren Basis man seine Lebensentscheidungen treffen kann.

Wenn wir unsere Werte verstehen wollen, müssen wir über unsere Kinderstube nachdenken. Wenn wir klein sind, liegt der Fokus auf Schutz und Geborgenheit aus, aber dann entwickeln sie sich rasch in andere Richtungen weiter – oft geprägt von unseren Eltern und anderen Bezugspersonen während der ersten Lebensjahre. Was aber, wenn wir ganz das Ergebnis der Wertvorstellungen, Denkweisen und Glaubenssätze unserer Eltern sind? Der englische Dichter Philip Larkin hat diese Sichtweise in der ersten Strophe seines Gedichtes This Be The Verse auf den Punkt gebracht:

They fuck you up, your mum and dad.

They may not mean to, but they do.

They fill you with the faults they had

And add some extra, just for you.8

(übersetzt: »Sie versauen dich, Mama und Papa. / Vielleicht nicht absichtlich, aber sie tun es. / Sie füllen dich mit Fehlern ab, mit ihren / Und mit extra noch dazu, nur für dich.«)

Vielleicht kommen wir einen Schritt weiter, wenn wir unsere Werte und unsere Herkunft kritisch hinterfragen, anstatt alles blind zu akzeptieren. Wir werden in Deutschland – das wird auf der ganzen Welt nicht anders sein – von begrenzten Wertvorstellungen und Denkweisen bestimmt, die uns blind machen für die Wirklichkeit. Auf irgendeine Weise sind wir alle Rassist*innen. Durchgängiger Rassismus ist das Resultat der Werte, die unsere Denkweise und Weltwahrnehmung prägen. Wenn wir eine bessere Welt wollen, müssen wir an unseren Werten arbeiten, um anders denken zu können.

(aus dem Englischen übersetzt von Robin Detje)

1)The Times vom 16. März 1934. S. 15

2)https://en.wikipedia.org/wiki/Racism

3)https://www.oxfordbibliographies.com/view/document/obo-9780199756384/obo-9780199756384-0162.xml

4)https://jamaica-gleaner.com/article/commentary/20200814/peter-espeut-how-racist-are-we-really

5)Ebd.

6)Ebd.

7)»What is it like to be the only black person in the room?« – https://www.gq-magazine.co.uk/politics/article/simon-webbe-radzi-chinyanganya-black-lives-matter

8)https://www.poetryfoundation.org/poems/48419/this-be-the-verse

MOLA ADEBISI

Moderator, Schauspieler, Synchronsprecher

Die Schwarze Zielscheibe der »Zillertaler Türkenjäger«

Im Herbst 1997 befand ich mich auf dem Höhepunkt meiner Karriere. Meine Singles Shake That Body und Get It Right waren Charterfolge, gleichzeitig wurde ich ständig für Live-Moderationen gebucht. Es verging kein Tag ohne Mola auf dem Bildschirm oder auf den Bühnen des Landes.

Und doch war ich jetzt schon eine ganze Woche lang ohne öffentlichen Auftritt gewesen. Ich lechzte nach Publikum. Nur im Studio stupide in eine Kamera sprechen erfüllte mich nicht. Ich wollte und musste einfach raus – trotz aller Sicherheitsbedenken.

In der Stuttgarter Sparkasse fand an diesem Tag die Aktion Junge Girokonten statt, moderiert von Günther Jauch. Meine Aufgabe bestand darin, den Zuschauern einzuheizen und den Main Act des Tages anzukündigen – die englische Boygroup Worlds Apart. Jauch stand bereits auf der Bühne und erklärte dem Publikum gerade, wie man als junger Mensch an das Junge Konto kommen konnte. Ich wartete backstage, beobachtete ihn, hörte Applaus – spürte wieder dieses besondere Kribbeln, wie üblich vor einem Auftritt.

Jetzt folgte mein Part: Entertainment. Günther kündigte mich an. Ich betrat die Bühne, und das Gekreische ging los. Ein paar weibliche Fans versuchten, mich anzufassen und von der Bühne zu zerren. Also sprang ich schnell neben Günther und wechselte einige Worte mit ihm. Wir klopften ein paar Sprüche, dann übernahm ich die Bühne. Als ich das Mikro an die Lippen führte, waren alle Augen auf mich gerichtet.

»Hey, Leute. Ich sehe, euch geht’s super!« Ich hörte Jubelschreie als Bestätigung und sah in strahlende Augen. Im Publikum herrschte euphorische Stimmung, besonders unter den weiblichen Fans. »Wen wollt ihr hier auf der Bühne sehen?«, fragte ich die rechte Seite des Publikums. »WORLDS!«, hallte es mir entgegen. Dann feuerte ich die linke Seite an, und es schallte mir ein lautes »APART!« entgegen. Das Ganze wiederholte ich drei- oder viermal. Immer hin und her, bis es mir laut genug war. Auf dem Höhepunkt der Ekstase verließ ich die Bühne und übergab das Rampenlicht an die Jungs aus England. Die Sparkasse Stuttgart bebte – wahrscheinlich zum ersten und letzten Mal. Ich hatte meinen Job erledigt und sah zu, heil von der Bühne und in den Backstage-Bereich zu kommen.

Wenn sich Deutschsein so anfühlt, dachte ich, ist es verdammt schwer, sich deutsch zu fühlen.

Für mich gab es kein besseres Gefühl, als auf einer Bühne zu stehen. Von einem Auftritt zum nächsten, das liebte ich. Kurz vor dem Sparkassen-Auftritt war ich ganz in der Nähe auf einem Popfestival zu Gast gewesen. Erst Tausende Kids auf einem Festival, dann ein paar Hundert in der Sparkasse. Ich genoss diese Jobs. Die Musik, die Stimmung, die Bühnenaction. Und nicht zu vergessen: die Kohle. Von der Stuttgarter Sparkasse hatte ich viertausend Mark für knapp zehn Minuten Arbeit bekommen. All das gab mir wahnsinnige Energie. Die Sache rund um das Junge Konto und Worlds Apart hätte ein perfekter Tag sein können – wenn mich meine Security nicht hätte ermahnen müssen, besonders vorsichtig zu sein. Was war passiert?

Das Popfestival in der Nähe von Stuttgart war ohne große Vorkommnisse vonstattengegangen. Dafür wurde mein Feierabend zu einem großen Schock. Zurück in meinem Kölner Büro traf ich auf meinen Manager – was mich überraschte, denn verabredet waren wir nicht. Neben ihm saß eine ernst dreinblickende Frau, die sich mir als Beamtin der Kriminalpolizei vorstellte.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber mir war klar, dass etwas passiert sein musste. Grundlos würde mir die Kommissarin keinen Besuch abstatten. Sie drückte mir eine CD in die Hand, dessen Cover mich zunächst verwirrte. Es zeigte eine schlecht gemachte Fotomontage. Drei Menschen hingen am Galgen: Campino, Farin Urlaub – und ich.

Ich las den Titel der CD: 12 doitsche Songs. Darunter der Name der Band: Zillertaler Türkenjäger. Mein Magen verkrampfte sich. »Wir können Ihnen das leider nicht ersparen«, sagte die Kripobeamtin und spielte einen Song ab. Mir wurde schlecht, ich bekam Gänsehaut am ganzen Körper. Von »Affen gibt’s genug im Zoo« über das N-Wort bis hin zu »Deutschland braucht dich nicht« wurde ich hier auf das Übelste beleidigt.

Ich versuchte, cool zu bleiben. Doch das war leichter gedacht als getan. Als ich in mein Büro gekommen war, hatte ich mich noch bestens gefühlt. Jetzt das. Die Kripobeamtin erklärte uns, dass diese CD seit Kurzem ein Bestseller in der Neonaziszene war. Ich rief sofort meine damalige Freundin an und bat sie, in den Sender zu kommen. Wir waren noch nicht lange zusammen, aber ich brauchte ihren Beistand.

Noch heute fühle ich mich wie gelähmt, wenn ich an diese Stunden zurückdenke. Mein Kopf war voller Fragen. Warum ich? Was haben die gegen mich? Warum bin ausgerechnet ich deren Schwarze Zielscheibe? Gleichzeitig versuchte ich, mir immer wieder zu sagen, dass es doch völlig egal sei, welche Hautfarbe ein Mensch hat. Beziehungsweise: egal sein sollte. Doch die Realität sah offenbar völlig anders aus.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Erfahrungen mit Rassismus oder Fremdenhass gemacht. Scheinbar war ich etwas naiv und mit viel Glück durch das Leben gelaufen. Doch nun war alles anders. Bei jedem Auftritt wurde ich jetzt von Personenschützern begleitet, wenn ich unterwegs war, bedeutete das nicht mehr Party, Gekreische und gute Laune, sondern polizeiliche Sicherheitsstufe 3. Mein Studio betrat ich fortan nur noch über den Wareneingang.

Das Geschehen rund um meine Person verfolgte ich mit Argusaugen. Beleidigungen wie »dummes Negerlein«, die ich zuvor weitestgehend ignoriert hatte, ärgerten mich jetzt doppelt und dreifach. Neonazi-Foren waren voller Hasskommentare über mich.

Fortan hörte ich bei jedem Wort ganz genau hin, auch wenn etwas unbedacht ausgesprochen wurde. Überall registrierte ich latenten Nationalismus. Im Flugzeug wurde ich konsequent auf Englisch angesprochen. Vermeintliche Komplimente waren vergiftet und rassistisch durchtränkt: »Für einen Schwarzen siehst du aber gut aus.«

Wenn sich Deutschsein so anfühlt, dachte ich, ist es verdammt schwer, sich deutsch zu fühlen.

PENINAH AMANDA

Fashion Stylistin und Consultant

Die Gesellschaft darf nicht müde werden

Bevor ich mit meiner Mutter im Alter von vier Jahren nach Deutschland kam, lebten wir gemeinsam mit meiner Großmutter in Nairobi. Eine Stadt, in der das Denken noch stark von der britischen Kolonialzeit in Kenia geprägt war. Uns wurde schon früh mit auf den Weg gegeben, dass Weiße grundsätzlich »wertvollere« Menschen seien, es erstrebenswert sei, einen engen Kontakt mit ihnen zu pflegen und im besten Fall einen weißen Partner zu heiraten.

Meine Mutter lernte bei einem Deutschlandbesuch einen deutschen Mann kennen. Sie heiratete ihn, und wir zogen nach Hessen. An diese Zeit habe ich keine guten Erinnerungen. Dieser Mann war gewalttätig und nutzte unsere Situation und Abhängigkeit schamlos aus. Die Ehe hielt zum Glück nicht lange. Nach einem Aufenthalt im Frauenhaus wohnten wir für eine Weile allein in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Offenbach. Da wir noch immer nicht über vollständige Aufenthaltspapiere verfügten, konnte meine Mutter keinem Beruf nachgehen, wir waren von staatlicher Unterstützung abhängig.

Einige Monate später verliebte sie sich in meinen Stiefvater, und wir zogen zu ihm nach Essen. Hier fangen meine schönen Erinnerungen an. Da ich meinen biologischen Vater leider nie kennengelernt habe, war ich umso glücklicher, in meinem Stiefvater einen Ersatz gefunden zu haben. Unser Verhältnis war von Beginn an sehr eng und liebevoll. Zu diesem Zeitpunkt besuchte ich zwar erst die zweite Klasse, aber bereits die vierte Schule.

Ab dieser Zeit begann ich langsam, meine Hautfarbe als anders wahrzunehmen, da alle anderen Menschen um mich herum – meine Mutter ausgenommen – weiß waren. Wir waren also genau dort angekommen, wo sich unsere Großmutter immer hingewünscht hat: in einem komplett weißen Umfeld. Den einzigen Kontakt zu anderen dunkelhäutigen Menschen hatte ich durch die kenianischen Freundinnen meiner Mutter aus unserer Offenbacher Zeit. Tatsächlich hatte meine Mutter nie weiße Freundinnen.

Meine Schulzeit in Essen war geprägt von ständigen Hänseleien und verbalen Angriffen meiner Mitschüler*innen. Ich war dennoch ein sehr selbstbewusstes Kind und lernte, mich zu verteidigen. Trotzdem wünschte ich mir insgeheim immer, weiß zu sein.

Nach der Schule wusste ich, dass ich unbedingt etwas mit Mode machen wollte, und begann ein Praktikum bei einem Düsseldorfer Modefotografen. Auch hier hatte ich kaum Kontakt zu anderen dunkelhäutigen Menschen, dafür war ich nicht mehr den dauernden Hänseleien ausgesetzt und vergaß oft meine Hautfarbe. Mir fiel nicht auf, dass die meisten unserer Models weiß waren, genauso wie das Team hinter der Kamera. Nach zwei Jahren in Düsseldorf zog es mich nach Berlin. Ich assistierte einigen renommierten Stylist*innen mit dem Vorhaben, irgendwann selbst als Stylistin arbeiten zu können.

2014 ging ich für ein paar Monate spontan nach New York und lernte dort meinen ehemaligen Partner kennen, einen Afroamerikaner. Ich war völlig überrascht über meine Gefühle für ihn, da ich bis zu diesem Zeitpunkt gedacht hatte, dass ein dunkelhäutiger Partner für mich nie infrage käme.

Kurze Zeit später zog er mit mir nach Berlin, wo wir drei Jahre lang zusammenlebten. In dieser Zeit wurde mir meine Hautfarbe erneut bewusst, ich merkte, dass ich das nicht weiter ignorieren konnte. Mein Freund setzte sich ständig mit dem Thema Rassismus auseinander und machte mich immer wieder auf Missstände aufmerksam, vor denen ich bis dahin die Augen verschlossen hatte. Ich stellte fest, dass ich mich unterbewusst immer kleingemacht und mir wenig zugetraut, das aber nie in Zusammenhang mit meiner Hautfarbe gebracht hatte. Mir fiel auf, dass ich mir seit Jahren die Haare chemisch glättete, weil ich mich so optisch besser in die (weiße) Gesellschaft einfügte. Außerdem war ich seit Jahren nicht mehr in Kenia gewesen, sondern hatte lieber in anderen Ländern Urlaub gemacht. Ich hatte meine Schwarze Identität scheinbar immer mehr von mir weggedrückt. Durch die Gespräche mit meinem Partner erlangte ich ein neues Selbstbewusstsein bezüglich meiner Hautfarbe und setzte mich vermehrt mit meiner kenianischen Herkunft auseinander. Heute trage ich am liebsten Braids und kann mir sogar vorstellen, eines Tages wieder in Kenia zu leben.

Ich blicke positiv in die Zukunft, auch wenn mir natürlich bewusst ist, dass wir noch einen sehr langen Weg vor uns haben. Ich freue mich über die stetig wachsende Diversity in Castings und hoffe, dass diese bald endlich auch Einzug in den Teams hinter der Kamera erhält. Die Gesellschaft darf nicht müde werden, sich selbst mit dieser wichtigen Thematik immer und immer wieder zu konfrontieren.

Als meine Mutter 2016 sehr schwer erkrankte, wurde mir bewusst, dass ich ohne sie den Bezug zu meiner kenianischen Familie und meiner Identität vermutlich komplett verlieren würde. Zum Glück wurde sie wieder gesund, seitdem reisen wir regelmäßig zusammen nach Kenia.

Seit 2014/2015 arbeite ich selbstständig als Stylistin für Mode- und Werbekunden. Mein Verhältnis zu meiner Hautfarbe in meinem Beruf hat sich seitdem sehr verändert. Neben meinem neuen Selbstbewusstsein plagen mich hin und wieder noch Zweifel, ob meine afrikanische Frisur für manche Kund*innen nicht »too much« ist. Ich denke dann ernsthaft darüber nach, meine Haare wieder zu glätten, um dadurch kompetenter zu wirken. Glücklicherweise schwindet diese Angst immer mehr, und ich fühle mich zunehmend in der Lage, meine Hautfarbe und meinen Hintergrund als persönliche Stärke zu begreifen und auszudrücken.

Seit ein paar Jahren lege ich großen Wert darauf, möglichst nur noch PoC-Assistent*innen zu beschäftigen. Darüber hinaus bin ich seit Mai 2022 Teil eines ehrenamtlichen Mentor*innenprogrammes, das sich dafür einsetzt, jungen Menschen mit Migrationshintergrund den Einstieg in die Kreativbranche zu erleichtern. Ich freue mich auf die Herausforderung, einer jungen Person die Angst und Unsicherheit im Job bezüglich der eigenen Herkunft hoffentlich nehmen zu können, insbesondere weil mir in meinen Anfängen ein PoC-Role-Model fehlte. Mein Mentee begleitet mich im Job-Alltag und erhält Einblicke in meinen Beruf als Stylistin. Dabei profitieren wir beide voneinander – sie gewinnt durch unseren Austausch neues Selbstbewusstsein, ich bekomme die Möglichkeit, meinen Job und meine Position neu zu reflektieren.

Ich blicke positiv in die Zukunft, auch wenn mir natürlich bewusst ist, dass wir noch einen sehr langen Weg vor uns haben. Ich freue mich über die stetig wachsende Diversity in Castings und hoffe, dass diese bald endlich auch Einzug in den Teams hinter der Kamera erhält. Die Gesellschaft darf nicht müde werden, sich selbst mit dieser wichtigen Thematik immer und immer wieder zu konfrontieren.

RAHIMA ARSALAN

Fachzahnärztin für Kieferorthopädie

Alltagsrassismus ist keine Lappalie

Jede Person, die in diesem Buch vertreten ist, kennt die Frage. Die unsägliche Frage nach der Herkunft. Es ist noch gar nicht so lange her, als ich mich in diesem Dialog wiederfand. Allerdings in der Rolle der Fragenden.

Vor ein paar Monaten stellte mir ein Freund auf einer Party einen dunkelhäutigen Herrn vor, der meiner stillen Analyse zufolge aus Nordafrika stammen musste. Umso verblüffter war ich, als er zu sprechen begann und einwandfreies Hochdeutsch mit österreichischem Dialekt sprach. Völlig empathielos fragte ich ihn, wo sein Ursprung läge. Als ob ich nicht wüsste, was diese Frage in einem Menschen auslösen kann. Er antwortete: »Südtirol.« Da dies meines Erachtens in diesem Moment unmöglich erschien, stellte ich ihm die Frage erneut. Woraufhin er erwiderte, dass er adoptiert sei und seine genetischen Wurzeln nicht kenne. Anschließend fügte er hinzu, dass ich mich von dem Gedanken lösen sollte, »wo denn jemand her sei«. Da wurde mir blitzartig klar, dass ich in dieselben Gedankenmuster verfallen war, die ich zuvor immer wieder verurteilt hatte und die solch negative Gefühle in mir geweckt hatten. Zusätzlich wurde mir bewusst, dass ich meinen Gesprächspartner mit meinen Fragen ausgegrenzt und ihm das Gefühl gegeben hatte, keiner von »uns« zu sein – zu denen ich mich ja paradoxerweise zählte. Meine Intention war keineswegs böswilliger Natur gewesen – was mir zu erkennen half, dass auch mir diese Frage nicht zwangsläufig feindselig gestellt wird. Doch meine Intention spielte in diesem Fall keine Rolle für die Gefühle, die ich in ihm möglicherweise ausgelöst hatte.

Meine Eltern wurden Mitte der Siebzigerjahre in Afghanistan geboren. Damals kam es dort zu mehreren politischen Umbrüchen. Nach Rebellionen durch islamistische Soldaten marschierten sowjetische Truppen ins Land. Rund um die religiösen Führer formierten sich Rebellen, die Mudschahedin, die den »Heiligen Krieg« ausriefen und nach langen Kämpfen die sowjetische Besatzungsmacht zum Abzug zwangen. Aufgrund der Uneinigkeit der Rebellenführer entbrannte ein Bürgerkrieg, der vor allem Kabul und seine Bewohner betraf. Im Dezember 1988 wurde die Lage so dramatisch, dass meine Eltern die Flucht aus Kabul als einzigen Ausweg sahen.

Mein Vater war damals 28, meine Mutter 18 Jahre alt. Meine Brüder waren neun beziehungsweise zwanzig Monate alt. Die Flucht war mit großem finanziellem Aufwand und einem enormen Risiko für ihr eigenes und das Leben ihrer Kinder verbunden. Dennoch sahen sie keine andere Möglichkeit. Mit gefälschter Identität flohen sie nach Indien, das Land sollte als sicherer Zwischenstopp dienen. Inmitten dieser Flucht war meine Mutter mit mir schwanger. Ein indischer Arzt informierte sie darüber, dass ich abgetrieben werden müsse. Er begründete das mit einer vermeintlich hochgradigen Behinderung, mit der ich auf die Welt kommen würde. Zudem würde meine Mutter die Entbindung nicht überleben. Am 19. März 1989 sollte ich abgetrieben werden.

Einen Tag vor diesem Termin eröffnete sich für meine Eltern die Möglichkeit zur Flucht nach Deutschland. Mit erneut gefälschten (diesmal mexikanischen) Reisepässen gelangten sie nach Frankfurt. In Deutschland suchte meine Mutter umgehend einen Gynäkologen auf, der ihr versicherte, dass alles in Ordnung sei und ich bei bester Gesundheit auf die Welt kommen würde. Ich verdanke Deutschland also nicht nur eine sichere Heimat, sondern meine Existenz.

Für mich war es immer selbstverständlich, dass ich in Deutschland aufgewachsen bin. Die Geschichte der Flucht meiner Eltern war kaum greifbar für mich, fast schon abstrakt. Die schockierenden Aufnahmen, die uns letztes Jahr aus Kabul erreichten, lassen mich jedoch erahnen, wie groß die Verzweiflung damals gewesen sein muss.

Ich bin meinen Eltern unglaublich dankbar dafür, dass sie den Mut aufbrachten, um meinen Geschwistern und mir ein freies Leben in Deutschland zu ermöglichen. Ich wuchs mit meiner Familie in Aachen auf, habe dort auch studiert und promoviert und übe heute als Kieferorthopädin den Beruf aus, den ich mir frei gewählt habe. So ein privilegiertes und freies Leben bleibt den Menschen und vor allem den Frauen in Afghanistan in der Regel verwehrt. Die Politik der Taliban vor zwanzig Jahren beinhaltete, dass sowohl die Bildung junger Mädchen als auch Dinge des alltäglichen Lebens, wie zum Beispiel Musik, verboten wurden. In Anbetracht der Berichte von Verwandten, die noch in Afghanistan leben, fühlt es sich an, als wiederhole sich die Geschichte nun erneut.

Während direkter und offensichtlicher Rassismus häufig auf Gegenwehr stößt, besteht die Gefahr bei Formen des Alltagsrassismus, dass dieser als Lappalie abgetan wird. Doch Rassismus sollte nie ignoriert oder gar toleriert werden, egal in welcher Form er passiert. Es sollte sukzessive ein Bewusstsein für die subtileren Formen des Rassismus geschaffen werden.

Deutschland ermöglichte mir nicht nur meine Existenz, sondern auch ein friedvolles Aufwachsen, das Besuchen der Schule, mein Studium und gegenwärtig die Ausübung meines selbst gewählten Berufs. Vermeintlich selbstverständliche Dinge, die in der Heimat meiner Eltern keineswegs als solche gegolten hätten. Daher bin ich umso dankbarer für die Möglichkeiten, die mir in Deutschland geboten wurden. Während des Studiums hatte ich nie das Gefühl, aufgrund meiner Herkunft benachteiligt zu werden. Als erste Studentin meines Semesters erhielt ich die begehrte Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer Uniklinik und wurde dadurch zu einer der jüngsten Kieferorthopädinnen Deutschlands. Rückblickend würde ich nicht behaupten, dass ich die fähigste Studentin in unserem Semester war. Ich hatte eher das Gefühl, dass man mir meine Leistungen aufgrund meines Backgrounds höher anrechnete.

Ich fühle mich als Deutsche, da ich hier groß geworden bin und alle Freiheiten genießen durfte. Schon allein deshalb habe ich nie verstanden, warum ich beinahe wöchentlich nach meiner Herkunft gefragt wurde. Mich verdutzt und verärgert diese Frage immer wieder, da es für mich selbstverständlich ist, aus Deutschland zu »stammen«. Beantworte ich die Frage auch so, erkenne ich in den Reaktionen der Fragenden immer eine subtile Unzufriedenheit. Offensichtlich liegen meine Wurzeln nicht in Deutschland. Aber wieso ist das so wichtig, und warum wird das stets thematisiert? Diese Frage löst eine Art Unzufriedenheit in mir aus. Ich fühle mich ausgegrenzt und auf die wenigen (äußerlichen) Merkmale reduziert, die mich von anderen unterscheiden. Ich erwische mich oft dabei, wie ich diese Reaktion als unangemessen erachte und mir selbst keinen Raum für entsprechende Emotionen gebe. Wieso löst eine Frage ein solches Gefühl in mir aus? Es ist nicht die eine Frage an sich, sondern die Kontinuität, mit der sie sich durch mein Leben zieht.

Und ausgerechnet ich löste mit derselben Frage dieses Gefühl bei meinem Gesprächspartner auf der erwähnten Party aus.

Rassismus beginnt dort, wo sich Menschen ausgegrenzt oder verletzt fühlen. Auf diesen Alltagsrassismus möchte ich aufmerksam machen. Genau hier sollte ein Umdenken stattfinden. Deshalb hat der von mir so unmöglich befragte Herr aus Südtirol auch recht damit, dass wir uns davon lösen müssen, Menschen auf ihre Herkunft zu reduzieren.

Mir ist bewusst, dass direkter und offenkundiger Rassismus nach wie vor ein gravierendes Problem in unserer Gesellschaft darstellt – auch wenn ich persönlich nie davon betroffen war. Ich möchte darauf aufmerksam machen, welchen Einfluss Formen des Alltagsrassismus auf einen Menschen und seine Emotionen haben können – denn diesen erlebe ich täglich. Während direkter und offensichtlicher Rassismus häufig auf Gegenwehr stößt, besteht die Gefahr bei Formen des Alltagsrassismus, dass dieser als Lappalie abgetan wird. Doch Rassismus sollte nie ignoriert oder gar toleriert werden, egal in welcher Form er passiert. Es sollte sukzessive ein Bewusstsein für die subtileren Formen des Rassismus geschaffen werden. Und ich hoffe, dass meine geteilten Erfahrungen und all die anderen Geschichten in diesem Buch ihren Teil dazu beitragen können.

JIM AYDIN

Textilunternehmer und Designer

Erfolg ist die beste Antwort auf Rassismus

Ich wurde 1979 in Kassel geboren und habe dort meine ersten fünf Lebensjahre verbracht. Damals gehörtest du als Türke in Deutschland zu einer klaren Minderheit. Besonders in dem reichen Vorort, in dem meine Mutter putzen ging.

Im Kindergarten war ich der einzige Türke und wurde behandelt wie ein Außerirdischer. Ich war der »Kümmeltürke« oder »Kanake«. Ich musste früh lernen, mich durchzusetzen – selbst gegenüber meinen Erzieher*innen, von denen ich mich ausgegrenzt fühlte. Dabei sah ich aus wie alle anderen: immer fein angezogen, blond und weiß. Trotzdem wurde ich hardcore gemobbt. Ich hatte kaum Freunde, hauptsächlich, weil die Eltern der anderen Kinder das nicht wollten. Als ich schließlich nicht mal mit ihnen spielen durfte, fing ich an zu rebellieren.

Nach dem Kindergarten in Deutschland zog ich zu meinem Vater in die Türkei. Aber dort hörte der Rassismus nicht auf, denn hier war ich plötzlich der Deutsche oder Nazi. Aber ich ließ mich nicht unterkriegen und besuchte trotz allem Gegenwind ein Elite-Gymnasium.

Mit zwölf Jahren kam ich dann voller Hoffnung zurück nach Deutschland, doch hier war ich gerade mal gut genug für die Realschule. Gleich am ersten Tag auf meiner neuen Schule fragte mich der Direktor: »Warum seid ihr überhaupt hierhergekommen? Wieso gehst du nicht in deinem Land zur Schule?« Als Zwölfjähriger fällt es einem schwer, mit so etwas umzugehen. Ich wehrte mich nie körperlich, aber so etwas habe ich mir nicht gefallen lassen. Egal ob nun eine Autoritätsperson vor mir stand oder nicht.

Mit 14 habe ich die Liebe zur Mode entdeckt. Meine Mutter war hauptberuflich Schneiderin, da konnte ich mir einiges abschauen. Ich war kreativ und entwarf eigene Designs. Mit 15 gründete ich meine ersten eigenen Unternehmen. In der Türkei kaufte ich kofferweise Kleider und verkaufte sie in Deutschland auf dem Schulhof. Plötzlich hatte ich so viel Geld, dass meine Mutter dachte, ich wäre in Drogengeschäfte verwickelt.

Als ich schließlich sogar von der letzten Schule flog, die mich genommen hatte, wollte mich keine andere mehr aufnehmen. Dabei waren meine Noten gut. Das einzige Problem war, dass ich mir den Rassismus von meinen Lehrer*innen nicht gefallen ließ. Also baute ich mir meine eigene Welt auf.

Die National-mannschaft hat uns gezeigt, dass wir gemeinsam erfolgreich sein können. Und mit dieser Philosophie können wir noch so viel mehr erreichen.

Mit 19 zog ich dann nach München, um meinem Traum, Modedesign zu studieren, nachzugehen. Doch daraus wurde nichts, weil ich es mir finanziell nicht mehr leisten konnte – meine Freundin war schwanger geworden. Ich war auf mich allein gestellt. Also fing ich an, meine Mode online zu verkaufen – und wurde damit zum ersten Mal richtig erfolgreich. Heute produziere ich hauptsächlich für andere Labels und baue meine eigenen Marken auf. Durch meine jahrelange Erfahrung weiß ich genau, wie man gute Jeans oder T-Shirts produziert, worauf man achten muss bei der Herstellung und wie man sie an den Mann bringt.

Mein eigentlicher Name ist Fuat, doch damit kam ich nicht weit. Wenn du den vermeintlich falschen Namen hast, spürst du das im Business oder bei der Wohnungssuche. Deshalb habe ich meinen Namen ändern lassen. Auf Modemessen kam ich mit meinem türkischen Namen einfach nicht rein. Populismus und Rassismus boomen. Wo du früher der Kanake warst, wirst du heute als Muslim mit deiner Religion konfrontiert. Selbst wenn du sie nicht praktizierst.

Im Land der Dichter und Denker wird man noch immer gefragt: »Wo kommst du her?« Heutzutage sprechen Schwarze besseres Deutsch als manche Einheimische. Trotzdem wird jeder in Schubladen gesteckt. Schuld daran ist auch die einseitige Berichterstattung unserer Medien. Rassistische Denkmuster werden immer wieder verbreitet. Das führt zu Unruhe und Aggressionen, die ein Zusammenleben deutlich erschweren.

Der schlimmste Virus in Deutschland heißt Rassismus. Für Corona findet man innerhalb von acht Monaten eine Impfung, aber für Rassismus gibt es seit Ewigkeiten keine Lösung. Im Gegenteil: Es wird immer schlimmer.

Aus meiner Sicht wird beim Thema Rassismus oft an falscher Stelle diskutiert. So manch eine Klatschpresse stürzt sich auf Prominente, die aus Unwissenheit oder ohne böse Absicht Aussagen getätigt haben, aber keine Rassisten sind. So eine Sprache ist gang und gäbe. Aber es gibt einfach Leute und Parteien, die dürfen machen, was sie wollen.

Viele Deutsche haben höllische Angst vor ausländischen Gangs oder Terrorismus, verstehen aber nicht, dass sie genau damit Diskriminierung fördern. Für schlechte Menschen ist Rassismus ein Segen, denn verletzte Menschen sind viel anfälliger für Gehirnwäsche.