Perchtoldsdorfer Todesrausch - Christian Schleifer - E-Book

Perchtoldsdorfer Todesrausch E-Book

Christian Schleifer

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Beschreibung

Perchtoldsdorf: Wie alles begann! Giftspeiende Schneekanonen und zwei tote Drogendealer: Damit ist die Entspannung für die Charlotte in ihrem wohlverdienten Urlaub in Schladming gründlich ruiniert. Mit ihrer vorlauten kleinen Schwester Flora im Schlepptau schaut sich die Ex-Polizistin die Sache mal genauer an – irgendwer muss den Job ja machen, wenn die lokalen Behörden nichts weiterbringen. Denn: einmal Polizistin, immer Polizistin. Und ganz nebenbei lernt sie auch noch ihre große Liebe kennen . . .

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Christian Schleifer, Jahrgang 1974, ist gebürtiger Perchtoldsdorfer, gefangen im Leben eines Wieners. Nach erfolgreichem Lehramtsstudium der Anglistik und Germanistik arbeitete er zwanzig Jahre lang folgerichtig als Sportjournalist bei zwei österreichischen Tageszeitungen, bevor er 2015 beschloss, sich mehr Zeit für seine Frau, die Zwillinge und das Krimi-Schreiben zu nehmen.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Irina Nartova, shutterstock.com/siloto, shutterstock.com/Igor Vitkovskiy, pixabay.com/Silke

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Uta Rupprecht

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-123-2

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Semmelblond Script Agency, Dresden.

Für meine Geschwister: Alexandra und Dominik

So a Dodl mit da Rodl auf da Pistnspü do jo kan Terroristenweu wir nemman diund sperrn di ein am Heisldann bist bestenfalls a Geislso a Dodl mit da Rodl eine Frechheitnur bei uns host du a Pech heit.

»So a Dodl mit da Rodl«, Georg Danzer

Weil i wü’, Schifoan, Schifoan, wow wow wow, Schifoan,weil Schifoan is des leiwaundste,wos ma si nur vurstelln kann.

»Schifoan«, Wolfgang Ambros

Prolog

Die Charlotte genoss das Panorama, das sich vom Gipfel der Planai, dem Hauptskiberg des Ennstals, vor ihr ausbreitete. Über ihr strahlend blauer Himmel, unter und vor ihr weiße Pisten und ganz unten das verschneite Ennstal und dessen Ski-Hauptstadt Schladming. Links und rechts waren die Skiberge Hauser Kaibling, Hochwurzen und Reiteralm verbunden durch eine gigantische Skischaukel, die Freunden des gepflegten Wedelvergnügens über hundertzwanzig Kilometer Pistenspaß versprach.

Tausende Skifahrer tummelten sich auf den Hängen und verwandelten die Gegend in ein riesiges lebendes Wimmelbild. Und mittendrin eben die Charlotte. Im Moment zwar gerade nicht auf der Piste, sondern auf einer Skihütte, aber man konnte schließlich nicht den ganzen Tag nur sporteln. Wer hielt das schon aus? Davon abgesehen kostete sie der ganze Spaß auch nichts, da konnte man schon etwas großzügigere Skipausen einlegen. Sie fasste die Hand von der Andrea und streichelte sie verträumt. War schon praktisch, wenn man vom Tourismusverband eingeladen war und Hotel, Liftkarte sowie Speis und Trank im kompletten Skigebiet umsonst bekam. Da ließ sich die Zeit im Liegestuhl auf achtzehnhundert Meter Höhe und mit der Sonne im Gesicht gleich noch einmal so gut genießen.

»Prost«, sagte sie und stieß mit ihrer Freundin mit einem Willi an. Der Willi war ein Birnenschnaps, dekoriert mit einem eingelegten Birnenstückchen am Spieß und verdünnt mit dem zuckersüßen Fruchtsaft aus der Konserve, in der die Birnenstückchen gelegen hatten. Die Sonnenstrahlen ließen sie die Grade knapp unter null vergessen, zudem wärmte der Schnaps sowieso von innen.

»Eigentlich unglaublich, dass diese Geschichte mit den Morden hier in Schladming jetzt auch schon wieder ein Jahr her ist«, meinte die Andrea verträumt.

»Mhm«, stimmte die Charlotte abwesend zu. Dann schlug sie die Augen auf. »Ein Jahr! Aber das heißt ja …«

»… dass wir eigentlich unser einjähriges Jubiläum feiern könnten«, vervollständigte die Andrea den Satz. Sofort war die Charlotte wieder hellwach. Sie bestellte noch eine Runde Schnaps. Das mit dem Birnensaft verdünnte Gschloder ging runter wie Wasser. Und hatte auch in etwa dieselbe Wirkung.

»Wahnsinn. Ein Jahr. Ein Jahr, in dem sich so viel geändert hat.«

»Nur zum Besseren, hoffe ich«, meinte die Andrea verschmitzt.

»Na ja, sagen wir: das meiste. Ein bisschen viel Morde hat es im letzten Jahr gegeben für meinen Geschmack«, entgegnete die Charlotte feixend. Wobei, lustig war das eigentlich nicht gewesen. Böse Zungen behaupteten sogar, dass Leichen den Weg der Charlotte pflasterten. Als ob sie etwas dafür konnte, dass mit ihrer Heimkehr nach Perchtoldsdorf auf einmal auch ein paar Wahnsinnige den beschaulichen Weinort südlich von Wien für sich entdeckt hatten.

»Aber genau wegen so einer Geschichte sind wir überhaupt erst zusammengekommen.«

»Schon. Aber wäre das nicht auch unblutiger gegangen?«

»He«, echauffierte sich die Andrea theatralisch, »ist ja nicht so, als ob ich die Morde angestiftet hätte!«

»Eh. Trotzdem ganz schön, dass jetzt mal ein paar Wochen Ruhe herrscht. Wann haben wir die letzte Leiche gehabt?«

Die Andrea musste kurz überlegen. »Um die Weihnachtszeit. Ist also schon ein paar Wochen her. Fast schon ungewohnt.«

»Mhm. Der Sommer und der Herbst waren echt brutal.«

Tja, und damit war das Wichtigste auch schon besprochen. Die beiden lehnten sich in ihren Sonnenstühlen zurück, kippten die Sonnenbrillen von der Stirn über die Augen und genossen das Leben.

Die Andrea hatte aber schon recht. Ziemlich genau zwölf Monate war es her, dass die Charlotte mit ihrer kleinen Schwester im Schlepptau zu einem Kurzurlaub nach Schladming gekommen und rund um den legendären Nachtslalom über eine Mordserie gestolpert war, die – wie sich später zeigen sollte – ihr Leben komplett auf den Kopf stellte. Danach war sie heimgekehrt nach Perchtoldsdorf, und dort hatte ein Mord den nächsten gejagt. Die Charlotte war mit Ermittlungsarbeiten fast mehr eingedeckt gewesen als zu ihren Zeiten als Polizistin.

Als Dank für ihre Hilfe war sie nun, ein Jahr später, von der Schladminger Bürgermeisterin eingeladen worden. Diesmal sollte die Charlotte das Ski-Spektakel in aller Ruhe genießen können. Statt wie vor einem Jahr in einer kleinen Pension, waren sie, die Andrea, ihre kleine Schwester Flora und Noah, der Ziehsohn der Familie Nöhrer, diesmal im besten Haus am Platz untergebracht. Für das Rennen selbst, zu dem es noch einen Tag hin war, hatte man ihnen Plätze auf der VIP-Tribüne reserviert. Die vier waren bereits seit Samstag im Skiort, und trotz ihrer Prominenz hatte man die Charlotte bislang nicht erkannt. »Prominent« war manchmal eben auch ein sehr lokal gefasster Begriff. Sie konnte in aller Ruhe durch die Fußgängerzone flanieren, sich auf eine Jause ins Café Mozart setzen und einfach nur chillen. Natürlich hatte sie sich auch mit all den alten Bekannten vom letzten Jahr getroffen und gleich am ersten Abend im »Schneeweißchen«, ihrem Stammlokal aus dem Vorjahr, einen gewaltigen Absturz hingelegt. Aber das gehörte wohl einfach dazu.

»Frau Nöhrer?«

Die Charlotte musste trotz der Sonnenbrille blinzeln, dann drängte sich ein dunkler Schatten zwischen sie und die Sonne. Sie schob die Sonnenbrille auf die Stirn und konnte nun den Störenfried erkennen. Es war eine Frau im weißen Skioverall mit pelzumrandeter Kapuze. Die Nähte des Skianzugs waren aus blendend glänzendem Gold, dazu trug die Person eine riesige Sonnenbrille, die sie wie die Stubenfliege Puck aussehen ließ. Konnte aber nicht sein, denn die Fliege Puck trug keine Gucci-Brillen.

»Wer lässt fragen?«, antwortete die Charlotte leicht genervt.

»Gestatten, Lydia Hammerschmied. Ich bin Zeitungsreporterin.«

»Aha«, meinte die Charlotte noch immer wenig begeistert. »Für welche Zeitung denn?«

Die Hammerschmied schaute verdutzt drein. Offenbar hatte sie damit gerechnet, dass sie bekannt genug war, um eine Frage wie diese gar nicht erst aufkommen zu lassen. Sie schnaufte fast unhörbar und sagte dann: »Für ›Heimatland‹. Wir sind die größte Tageszeitung des Landes.«

»Zweitgrößte, meinen Sie wohl«, warf die Andrea ungerührt von der Seite her ein. Sie hatte sich weder aufgesetzt noch die Sonnenbrille abgenommen. »Und was die Größe angeht – großformatig ja, aber kleinformatiger Inhalt.«

»Und wer sind Sie?«, fragte die Reporterin säuerlich.

»Ich bin die Freundin von Frau Nöhrer«, antwortete die Andrea lapidar und nahm die Hand der Charlotte.

»Kommt schon, Mädels«, griff die Charlotte beruhigend ein. »Was wollen Sie denn eigentlich von mir, Frau Hammerschmied?«

Unaufgefordert setzte sich die Hammerschmied auf die Kante vom Sonnenstuhl der Charlotte. »Ich suche Sie schon seit gestern. War gar nicht so einfach, Sie zu finden. Wie Ihre Freundin (die Charlotte hatte gar nicht gewusst, dass man dieses Wort so abfällig aussprechen konnte) ja bereits angemerkt hat, befassen wir uns gerne mit den bunten Themen des Weltgeschehens. Da passt Ihre Geschichte natürlich hervorragend, um unsere Berichterstattung rund um den Nachtslalom ein bisschen aufzupeppen.«

»Was heißt, meine Geschichte?«

»Na, wie Sie letztes Jahr die Mordserie hier aufgeklärt haben.«

Die Charlotte richtete sich auf und betrachtete die Reporterin nochmals genauer. Ihre Augen waren dank der Stubenfliegen-Sonnenbrille nicht zu erkennen, der Rest des Gesichts schon. Schmollmund war noch eine Untertreibung, die Charlotte vermutete, dass bei den üppigen Lippen ein wenig (na ja, sehr) nachgeholfen worden war. Verstärkt wurde der Eindruck durch den übermäßig dick aufgetragenen rosa Lippenstift. Die Wangenknochen waren ebenfalls mit starkem Rosa betont, das Make-up selbst war so auffällig, dass sie unmöglich erkennen konnte, ob die Frau tatsächlich so braun oder einfach nur stark geschminkt war.

»Tun Sie das weg«, sagte die Charlotte streng und fuchtelte mit ihren Händen vor dem Gesicht herum. Ohne Umstände hatte ihr die Hammerschmied ein Handy mit bereits eingeschalteter Diktierfunktion direkt unter die Nase gehalten. Immerhin konnte sie sich jetzt auch die Hände der Dame genauer ansehen. Die Nägel waren in einem passenden Rosa lackiert und rasiermesserscharf zurechtgefeilt, die Haut des Handrückens war makellos.

»Entschuldigen Sie«, meinte die Hammerschmied, ohne dass in ihrer Stimme auch nur ein Anflug von Schuldbewusstsein mitschwang.

»Wieso wollen Sie die Geschichte noch mal hören?«, fragte die Charlotte verwirrt. »Ich habe sie doch letztes Jahr eh schon mehrmals erzählt. Sogar im Fernsehen.«

»Das mag schon sein«, rechtfertigte sich die Hammerschmied, »aber meiner Zeitung haben Sie damals kein Interview gegeben.«

»Braves Mädchen«, rief die Andrea aus dem Hintergrund dazwischen.

Die Hammerschmied begann sichtlich zu köcheln. Ihre Lippen zitterten, aber sie hielt sich vornehm zurück.

»Na, wird schon seinen Grund haben, dass ich euch das letztes Jahr nicht erzählt habe. Wieso sollte ich es also heuer tun?«

»Wieso nicht? Pressefreiheit und so weiter. Ist doch unfair, die anderen Zeitungen so zu bevorzugen. Außerdem haben die meisten Leute die Details ja schon längst wieder vergessen.«

»Ist das so? Ich kann mich nicht erinnern, dass die ›Heimatland‹ sehr zimperlich ist, was den Umgang mit anderen Leuten angeht. Oder mit der Wahrheit. Auch schön zu wissen, dass Sie die Intelligenz Ihrer eigenen Leser so hoch einschätzen.«

»Also bitte!«, echauffierte sich die Hammerschmied.

»Schon gut, schon gut. Wenn Sie mich dann in Ruhe lassen, werde ich Ihnen die Geschichte erzählen. Ganz so, wie Sie sie gerne hören möchten.«

»Wirklich?« Die Journalistin wirkte nun ehrlich überrascht.

»Charlotte!«, rief die Andrea empört und richtete sich endlich auf.

Die Charlotte wandte sich ihrer Freundin zu und zwinkerte schelmisch. »Lass nur, Andi, die Dame hat solche Strapazen auf sich genommen, da hat sie sich das redlich verdient. Kommen Sie!«, sagte sie zur Hammerschmied. Sie führte die Reporterin an einen nahe gelegenen Tisch. »Die Getränke gehen aber auf Sie!«, erklärte die Charlotte. Und was blieb der Hammerschmied schon über, als da einzuwilligen.

Ungeniert bestellte die Charlotte eine Flasche Champagner mit drei Gläsern. Der Hammerschmied schmeckte es überhaupt nicht, dass auch die Andrea mittrank, aber wiederum: Was sollte sie schon dagegen tun? Sie hatte einen Auftrag, und den wollte sie um jeden Preis erfüllen.

Die Charlotte leerte das erste Glas in zwei großen Schlucken. Sie hatte so ein Gefühl, dass die nächsten Stunden durchaus amüsant werden könnten. Auf Ski war die Journalistin vermutlich noch nie gestanden. Selbst hier herauf auf den Berg war sie quasi in Zivil gekommen. Als sie die Hammerschmied zum Tisch geführt hatte, war ihr aufgefallen, dass die Reporterin nicht einmal Skischuhe trug. Stattdessen hatte sie, passend zum restlichen aufgetakelten Look, Fell-Moonboots an. Unfassbar, dass so etwas heutzutage überhaupt noch verkauft wurde. Trug das außer einer Klatschreporterin denn überhaupt noch jemand?, fragte sich die Charlotte. Egal, sie wollte sich einen Spaß mit der Journalistin und ihrem Schmierblatt machen. Und dabei eine ordentliche Rechnung zusammenkommen lassen. Das war ja wohl das Mindeste, wenn man schon ungefragt beim Urlauben gestört wurde.

»Also, Frau Hammerschmied. Oder soll ich Fräulein sagen?«, fragte die Charlotte spöttisch.

»Nein, nein. Lydia ist schon okay«, antwortete die Reporterin. Entweder hatte sie den Sarkasmus überhört oder einfach nicht verstanden. Die Charlotte setzte auf Letzteres. »Beginnen Sie doch bitte mit den Toten unter den Schneekanonen.«

Die Charlotte schüttelte den Kopf. »Wenn Sie die Geschichte hören wollen, dann bitte die ganze. Denn um alles zu verstehen, müssen Sie meine Situation vor einem Jahr kennen. Die war ja doch ein wenig anders als meine heutige.«

»Ist das wirklich essenziell?«

»Auf jeden Fall!«, erwiderte die Charlotte entschieden. Sie hatte zwischendurch auf die Uhr geschaut und sich einen Plan für die Reporterin zurechtgelegt. »Ohne Kontext ist die Geschichte ja nur halb so lustig.«

»Aber –«

»Sie wollen also meine Geschichte hören?«, fuhr die Charlotte der Reporterin ins Wort.

»Ja, ja, natürlich! Habe ich doch schon mehrmals gesagt.«

»Na gut. Sie nehmen das Gespräch eh auf?«

Die Hammerschmied nickte genervt.

»Also: Am Anfang …«

Erster Durchgang

Eins

Am Anfang war das Wort. »Licht« soll es angeblich gewesen sein, was heute aber nur mehr schwer nachzuvollziehen ist. Obwohl, wenn man es sich richtig überlegt: kann schon so gewesen sein. Weil, wie hätten sich Adam und Eva sonst zurechtfinden sollen? Wie hätten sie sich die Erde untertan machen sollen? Und wie hätte Gott sehen sollen, dass sein Werk gut war?

Also: Am Anfang war ziemlich sicher das Wort »Licht«.

Am Ende ist aber auch immer das Wort. Und das ist normalerweise nicht »Licht«. Wenn man stirbt, ist die Überraschung meistens so groß, dass man wichtigere Dinge im Kopf hat als Licht. Wie man so hört, ist aber das erste Wort nach dem Tod auch wieder »Licht«. Doch damit ist dann wohl das Licht am Ende des langen schwarzen Tunnels gemeint, das so viele Menschen bei ihren Nahtoderfahrungen gesehen haben wollen. Oder das viele Politiker während schwerer Zeiten versprechen, um das wählende Volk bei Laune zu halten. Wohl wissend, dass dieses Licht am Ende doch nur der entgegenkommende Zug und nicht das Ende des Tunnels ist.

Also: Am Ende steht auch immer das Wort. Aber welches, wenn nicht »Licht«? Meistens ist es ein hässlich, aber klassisch hingeröcheltes »Aargh« oder ein sanft dahingehauchtes »Ächz«.

Wichtig: Am Anfang ist das Wort und am Ende ebenfalls. Und dazwischen gibt es noch viel mehr – Wörterbücher voll. Damit kann man ganze Bibliotheken füllen. Oder einen Krimi wie diesen … Hier ist sie nun also, die lange versprochene »Schladming-Geschichte«. Oder auch: Wie die Charlotte die Andrea kennenlernte, dabei gleich eine ganze Mordserie löste und ihrem Leben einen völlig neuen Dreh gab.

Zwei

Dreieinhalb Stunden war die Charlotte mit der Flora in ihrem alten, schrottreifen Volvo gesessen, um von Perchtoldsdorf nach Schladming zu fahren. Und das alles nur, weil die Flora, ihre fünfzehn Jahre jüngere Schwester, sich eingebildet hatte, unbedingt in DIESER Woche, dieser ganz speziellen Woche, die Charlotte auf ihr Versprechen eines gemeinsamen Kurz-Skiurlaubs festnageln zu müssen. Aber was tat man nicht alles, um das kleine Schwesterherz zufriedenzustellen? Vor allem, wenn man sich so selten sah wie diese beiden.

Was eindeutig nicht an der Flora lag. Die rief ihre große Schwester ja praktisch täglich an, hing ihr mit allem Möglichen in den Ohren und versorgte sie zudem noch mit dem neuesten Tratsch vom heimischen Weingut. Die Charlotte hätte es zwar nie zugegeben, aber natürlich interessierte es sie, was daheim so abging. Auch wenn sie viel zu stolz war, dort selbst einmal nachzufragen.

Wer hatte sie denn vor über einem Jahrzehnt von daheim vertrieben? Natürlich die Eltern, vor allem die Frau Mama, die ihr ständig in den Ohren gelegen hatte, wann sie sich denn endlich besinnen und einen ordentlichen Mann finden würde. Nun, darauf würde sie warten müssen, bis die Hölle zufror, denn mit Männern hatte die Charlotte nun wirklich überhaupt nichts am Hut. Mit Frauen momentan allerdings auch nicht so wirklich. Eigentlich war sie im letzten Jahr in ein richtig tiefes Loch gefallen. Job bei der Polizei verloren, danach nur mehr als Security und Nachtwächterin in der großen Shopping Mall im Süden von Wien untergekommen. In einer anderen Welt, einem anderen Universum wäre sie jetzt die Juniorchefin eines der größten Weinbaubetriebe in Perchtoldsdorf. In dieser Welt, in diesem Leben war sie – nichts. Meinte sie jedenfalls. Da tat es ganz gut, wenigstens ein paar Tage lang dem elendigen Alltagstrott zu entfliehen. Selbst wenn das bedeutete, dass man seine penetrant besserwisserische kleine Schwester an der Backe hatte.

Und überhaupt: Sie waren ja gerade erst angekommen. Die kleine Schwester war schon so überdreht, dass sie es gar nicht mehr aushielt. Kaum hatten sie in ihrem Zimmer in einer kleinen Pension am Ortsrand eingecheckt, hatte die Flora auch schon ihre Skisachen ausgepackt, auf ein kleines Prospekt am Nachtkästchen gezeigt und gemeint: »Das machen wir jetzt noch!« Widerstand zwecklos.

Die Flora meinte damit natürlich das Nachtskifahren auf der Hochwurzen. Von zwanzig bis dreiundzwanzig Uhr. Wären sie normal auf Skiurlaub gewesen, hätte die Charlotte vielleicht noch ein Nein über die Lippen gebracht und sich so aus dem folgenden Schlamassel heraushalten können. Aber nein, sie mussten ja gerade in DER Woche nach Schladming fahren. DIE Woche, in der alljährlich praktisch ganz Österreich (und überhaupt die gesamte Welt, wenn man dem staatlichen Fernsehen und dem Skiverband glauben wollte) zuerst zu den Weltcuprennen nach Kitzbühel und zwei Tage später nach Schladming blickte. Genauer gesagt, auf einen taghell beleuchteten Skihang, der »einzigartig in ganz Europa, direkt im Stadtzentrum endet« (so die Tourismuswerbung Schladming). Kurz: Es war die Woche des klassischen Nachtslaloms in Schladming. Des »Nightrace«.

»Fünfundvierzigtausend Zuschauer erwart ma«, hatte ihnen die Pensionsbesitzerin noch mit auf den Weg gegeben, bevor die Charlotte und die Flora zur Hochwurzen aufgebrochen waren.

»So what?«, hatte die Flora in ihrer unnachahmlichen Art gemeint. Die kleine Schwester hatte sich Schladming und just dieses Wochenende in den Kopf gesetzt, weil sie die österreichischen Skistars unbedingt einmal live erleben wollte. Vor dem Fernseher mitfiebern, das tat man in Österreich ja bereits ab dem Säuglingsalter, aber so ein Spektakel einmal live erleben, das war gerade für jemanden aus dem Osten des Landes eine völlig neue Erfahrung. Und mit ihren fünfzehn Jahren war die Flora ohnehin noch leicht zu begeistern.

Die Stars des ÖSV-Nationalteams vergötterte sie bereits seit Jahren wie … na ja, wie Götter halt. Die Charlotte konnte das nicht so richtig nachvollziehen, weil damals, als sie selbst noch jung gewesen war (»Also in der Steinzeit«, O-Ton Flora), da las man noch die Bravo (wahlweise auch den Rennbahn-Express) und stand auf Rockmusiker. Aber doch nicht auf Skifahrer! Okay, Ausnahmen hatte es natürlich immer gegeben. Den Klammer Franz (aber der war sogar noch vor der Zeit der Charlotte gewesen), später dann den Hermann »Herminator« Maier und den Stephan Eberharter und dann den GOAT, den vielleicht Größten aller Zeiten – Marcel Hirscher, dessen Rücktritt wie eine offene Wunde noch recht frisch im Gedächtnis der österreichischen Skifahrerseele klaffte.

Aber ein Poster vom »Herminator« im eigenen Zimmer? Oder eines vom Hirscher? Keinesfalls! Wer hätte damals den Maier dem, sagen wir mal, Axl Rose vorgezogen? So verrückte Mädels hatte es zu ihrer Zeit ja gar nicht gegeben. Gut, zugegeben: Die Charlotte stand auch damals schon mehr auf Sängerinnen als auf den Axl Rose, aber nicht wegen der Musik, das sollte man vielleicht auch gleich dazusagen. Die Charlotte war ein etwas eigener Fall. Heutzutage eh nicht mehr so schlimm, aber vor zehn, fünfzehn Jahren? Da war das noch ein bisschen anders. Wenigstens in einem konservativen Weinort. Und Hochzeit? Fehlanzeige.

Noch.

Die Charlotte hatte nach ihrer »Flucht« vor der Familie und aus Perchtoldsdorf als Polizistin in Wien gearbeitet. In der Josefstadt. Eigentlich sehr ruhig dort. Kleines Grätzel, nette Kollegen, geringste Kriminalitätsrate in ganz Wien. Kein Wunder, die Josefstadt beherbergte ja in erster Linie alte Leute und Studenten. Und vor allem: kaum riesige Gemeindebauten. Nicht, weil sich die Hofratswitwen und die lässigen, SUV-fahrenden Bobos im Bezirk dagegen gesperrt hätten. So weit konnte es gar nicht kommen. Nein, der achte Bezirk war dafür einfach zu klein, da gibt’s keinen Platz für einen großen Gemeindebau. Links der siebente »Hieb«, rechts der neunte, darunter der erste und oberhalb der sechzehnte. Das war halt etwas anderes als etwa der im Verhältnis noch noblere (und vor allem großflächigere) neunzehnte Bezirk, wo es einige richtig große Gemeindebauten gab. Da war zur Zeit der sozialen Bauwut aber auch noch jede Menge Brachland gewesen. Und von »nobel« konnte damals auch noch keine Rede sein.

Das größte Hallo im achten Bezirk gab’s bei einer erfolgreichen Premiere am Theater in der Josefstadt. Ganz rebellisch sind die alten Weiberln mit ihren Saisonabos dann vor dem Theater mitten auf der Josefstädter Straße gestanden, weil am schmalen Gehsteig vor dem Theater kein Platz mehr war. Und geschimpft und geflucht wurde, wenn die 2er-Straßenbahn sich erdreiste, wild zu klingeln, damit Platz auf der Straße gemacht wurde. Die Aufregung konnte allerdings auch daher stammen, dass im Theater mal wieder eine moderne Aufführung gegeben worden war. Weil, wo sind wir denn? An der Josefstadt hat klassisch gespielt zu werden. Bitte kein neumodernes Zeug! Das kann man sich ja eh einen halben Kilometer entfernt im Burgtheater antun.

Ganz aufgeregt war da die Seniorinnenpartie, so wie sonst nur die Tauben bei der Massenfütterung, die für gewöhnlich von derselben Seniorinnenclique im kleinen Schönbornpark, keine zweihundert Meter vom Theater in der Josefstadt entfernt, durchgeführt wurde. Schönbornpark? Da hat der Kardinal Schönborn im achten Bezirk nämlich einen eigenen Park, der nach ihm benannt ist, beziehungsweise nach seiner Familie. Gleich daneben auch noch das Palais Schönborn, in der Nähe auch noch die Schönborngasse und zum Drüberstreuen gab es früher sogar ein China-Restaurant namens Schönborn. Gut, vielleicht weiß der Kardinal Letzteres gar nicht, wird ihm wohl auch egal sein. Aber irgendwie schon witzig. Oder einfach nur bezeichnend für Wien.

Die Charlotte war also Polizistin mitten im Achten gewesen. Nichts Weltbewegendes. Einmal Dienst im Kommissariat, dann wieder Streifendienst. Eigentlich führte sie damals ein ziemlich zufriedenes und gechilltes Leben. Und dann war da noch ihre Kollegin. Die Gitti. Schön war die: groß, blond, vollbusig. Der Charlotte war sie sogar fast zu vollbusig. Aber wo die Liebe hinfällt … Die Charlotte selbst war in dieser Hinsicht ja nicht so gesegnet. Was ihr aber ziemlich wurscht war. Wenigstens hatte sie deswegen nie Minderwertigkeitskomplexe gehabt.

Und dann passierte diese unrühmliche Geschichte am Kommissariat. Mit der Gitti. Der Abend, der ihr Leben so richtig aus der Bahn warf.

Dieser spezielle Abend war selbst für die Josefstadt besonders ruhig gewesen. Keine Theaterpremiere und auch sonst nichts von Bedeutung. Zwei Kollegen waren auf Urlaub, die zwei anderen auf Streife, der Chef bei einem Empfang im Rathaus. Es hatte am Abend auch keine Anrufe gegeben, weil wieder mal der Nachbar den Fernseher zu laut aufgedreht hatte oder die durchgeknallte Nachbarin im Erdgeschoss ihre Tabletten vergessen hatte und das ganze Haus mit einer Klingelpartie auf die Palme brachte. Im Fernsehen lief auch nichts. Also tote Hose auf der ganzen Linie.

Die Charlotte und die Gitti waren sich da schon ein wenig nähergekommen. Erst waren sie ein paarmal gemeinsam unterwegs gewesen, aber nie war etwas passiert. So richtig gefunkt hatte es dann vor ein paar Wochen im U4. Zufällig hatten sie sich dort getroffen, natürlich genau am Gay-Abend. Frage nicht, ein paar überteuerte Cola-Rum und Cola-Whiskey später ist dann die Post abgegangen. Und die Charlotte war so glücklich. Wie ein Hutschpferd. Ein lackiertes.

Nach ihrer letzten langjährigen Beziehung und dem damit verbundenen Ende, das einer griechischen Tragödie zur Ehre gereicht hätte, war noch ein Ultrakurzintermezzo mit einem ewigen Studenten gefolgt, eine wirklich blöde Geschichte. Sie hatte kurzfristig an ihrer Homosexualität gezweifelt und sich gedacht: Schaun wir mal, vielleicht war es ja doch nur eine Phase. Dass die Phase da aber schon seit ihrer Pubertät andauerte, wollte sie sich da partout nicht eingestehen. Wie auch immer: den Studenten angetestet, für zu männlich empfunden und wieder entsorgt beziehungsweise höflich, aber kurz angebunden verabschiedet und wieder ab ins Nachtleben.

Zuerst war es natürlich schon ein wenig peinlich gewesen, die Kollegin ausgerechnet bei einem Gay-Abend zu treffen. Aber nur ganz kurz. Aus der Kollegin wurde plötzlich eine Freundin und dann ihre Freundin. Ja, das ging dann richtig schnell. Ein paarmal ausgehen und ab ins Bett (natürlich nicht alleine). Der Charlotte war vor so viel Glück ganz schwindlig geworden. Eine Freundin, und noch dazu eine, die mit ihrem Lebensrhythmus zurechtkam. Aber dann …

Zurück zu dem unglückseligen Abend. Die Charlotte und die Gitti waren wie erwähnt ganz alleine am Revier. Nicht einmal ein Betrunkener saß in der Ausnüchterungszelle, und kein Pensionist hatte sich wegen lärmender Studenten beschwert.

Die waren wegen der Semesterferien sowieso schon alle daheim in ihren nativen Bundesländern. Finden Sie mal einen Wiener Studenten an der Wiener Hauptuni. Viel Glück! Das ist wirklich interessant: Wenn man in Wien als Wiener studiert, ist man eine aussterbende Rasse. Da kommen fast alle Studenten aus den Bundesländern. Und die, die nicht aus den Bundesländern sind, kommen aus Südtirol.

Schnapsen war ihnen auch schon langweilig geworden, und es war bereits kurz vor Mitternacht, als die Gitti beim Schönborn-Chinesen anrief. Der hatte am Wochenende immer ein wenig länger offen, und selbst wenn schon Sperrstunde war, wurde eine Bestellung vom Polizeirevier immer noch angenommen und prompt geliefert.

Man konnte nie wissen. Auch das Gesundheitsamt konnte ja ein enger Freund der Polizei sein. Da sorgte man besser vor.

Die Gitti saß lässig da, die Füße am Tisch, den Hörer am Ohr und bestellte zweimal Knusprige Ente mit Reis und einen Doppler Rotwein. Na bumm, hatte sich die Charlotte da bereits gedacht, was hat die denn heute vor?

Das sollte ihr dann aber eh bald klar werden. Dass Charlottes Eltern Weinbauern und Heurigenbesitzer in Perchtoldsdorf waren, hatte sich leider nicht bis zu ihren Trink-Genen durchgesprochen. Die Charlotte war nämlich normalerweise schon nach zwei, drei Spritzern so streichfähig, dass man sie fingerdick für ein Butterbrot hätte verwenden können. Dank dem Essen war es etwas besser, aber nach dem gemeinsamen Doppler hatte die Charlotte dann doch ein ordentliches Damenspitzerl. Rustikaler könnte man auch sagen: Sie war blattlwach – oder auch blunzenfett. Egal. Wichtig: die Charlotte streichfähig, die Gitti quietschvergnügt. Die hat nämlich jede Menge vertragen.

Sie war eben das genaue Gegenteil von der Charlotte: blond und groß, die Charlotte rothaarig und keine eins siebzig. Die eine aus Simmering, die andere aus Perchtoldsdorf, wo man quasi mit dem Wein großgezogen wird. Das ist nicht so, dass es wirklich in den Genen liegt, das Trinken wird dort richtig anerzogen. Außer Heurigen gibt’s auch kaum was zum Ausgehen. Wenn man raus will, muss man nach Mödling fahren oder nach Wien. Und dann wieder Wein trinken. Konnte man also gleich daheimbleiben. Simmering ist dagegen nicht so der klassische Weinort. Eher Bier oder Inländer-Rum. Und die Gitti war trinkfest wie nur was. Die Charlotte eben nicht so.

Für die Charlotte war inzwischen schon alles sehr lustig. Die Reste vom China-Futter lagen noch am Schreibtisch, daneben die Lieferrechnung mit einer Gesamtsumme von null Euro und dem Vermerk: »Herzliche Grüße vom China-Restaurant Ihres Vertrauens«, halb vom Diensthemd der Gitti verdeckt. Die hatte das nämlich offenbar schon den ganzen Tag über geplant gehabt. So viel bekam die Charlotte in ihrem Dämmerzustand gerade noch mit. Es war auch auffällig, dass die Gitti unter ihrem Diensthemd keinen weißen Sport-BH, sondern einen weißen Spitzen-BH trug. Als sie dann ihren Haarknoten löste und die blonde Wasserstoffmähne wie in einem schlechten Film über ihre Schultern und Brüste wallte, ja, da wurde dann auch der Charlotte ein wenig anders zumute.

Den Rest kann man sich eigentlich denken. Als der Charlotte schließlich auch noch der Spitzen-Slip der Gitti um die Ohren flog, sagte sie nichts mehr.

Wie das Ganze ausgegangen ist? Eines kann man vorwegnehmen, noch bevor der Hammerle, ihr Chef, plötzlich reinplatzt: geheiratet haben die beiden am Ende nicht.

Als der Hammerle dann nämlich reingeplatzt ist, waren die zwei schon lange in der leer stehenden Ausnüchterungszelle. Aber nicht, um sich vernünftigerweise den Rausch auszuschlafen, sondern … na ja, halt andere Sachen zu machen. Ohne Handschellen ging es aber bei zwei Polizistinnen natürlich nicht. Und weil die Gitti das Sagen hatte, wurde die Charlotte an den Gitterstäben fixiert. Dann verschwand die Gitti, und als sie nach wenigen Minuten zurückkam, hatte sie einen dicken fetten Joint im Mund. Wobei, Joint war da fast noch ein Hilfsausdruck, das war schon ein richtiger Ofen. Hochofen sogar. In dieser Hinsicht war das Josefstädter Wachzimmer mit seiner Asservatenkammer schon ein Traum. Da hatte man es selten mit Koksern und Heroinsüchtigen zu tun, Marihuana gab es dafür umso mehr. Da reichte oft mal ein Kontrollgang bei einem der unzähligen Feste in den ebenso unzähligen Studentenheimen im Bezirk. Die Buben und Mädchen wurden verwarnt, und die Sache fiel unter den Tisch. Oder besser, sie wurde im Wachzimmer privat »entsorgt«. Das war natürlich praktisch, und am Ende hatten alle was davon: die Studenten, weil sie nicht angezeigt wurden, die Gesellschaft, weil wieder böse Drogen konfisziert worden waren, und die Beamten, die mit den beschlagnahmten Waren in besonders langweiligen Momenten die Zeit totschlagen konnten.

Die Gitti schob der Charlotte das Ding zwischen die Lippen, und die zog an, als würde sie eine »Milde Sorte« inhalieren. Das Ding war aber ein Joint und keine Zigarette, und für die Charlotte war das in ihrem illuminierten Zustand der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die nächsten Minuten verliefen wie im Nebel. Die Charlotte merkte zwar, dass die Gitti an ihr herumfummelte, aber so richtig wachte sie erst auf, als der Hammerle plötzlich in der Tür stand. Ganz ruhig, mit runtergelassenen Hosen. Der war scheinbar auch schon ziemlich dicht. Rote Nase, rote Wangen, blutunterlaufene Augen. Manche Zeichen konnte man sogar noch deuten, wenn man vollkommen zugedröhnt war. Und man glaubt auch gar nicht, wie schnell man wieder nüchtern werden konnte. Kaum hatte die Charlotte ihren Chef gesehen – zack, alles weg. Kein Alkohol mehr im Blut, und auch das Dope ist nicht mal mehr halb so gut gefahren wie noch ein paar Minuten zuvor. Dafür verspürte die Charlotte einen für diesen Moment völlig unpassenden Heißhunger. Nur die Gitti merkte nichts. Sie machte sich nach wie vor mit voller Hingabe an Charlottes nacktem Körper zu schaffen.

»Darf man mitmachen?«, lallte der Chef, und da merkte dann auch die Gitti, was los war.

Bei ihr hielt sich der Schock aber in überschaubaren Grenzen. Der Charlotte hingegen war die Situation alles andere als recht, blöd nur, dass das wiederum der Gitti völlig egal war. Als sich der Chef über sie hermachen wollte, brannten bei der Charlotte alle Sicherungen durch. Noch immer mit den Handschellen an den Gitterstäben festgebunden, trat sie ihrem Chef mit dem Fuß und in voller Wucht zwischen die Beine. Der fiel um wie ein gefällter Baum, nur dass gefällte Bäume normalerweise nicht wie ein Fragezeichen gekrümmt am Boden liegen und sich vor Schmerzen winden. Erst jetzt wachte die Gitti aus ihrer Trance auf und befreite die Charlotte von den Handschellen. Die sammelte ihre Sachen vom Boden auf, schmiss die Tür hinter sich zu und setzte sich im Wachzimmer erst mal hin. Und heulte.

In der Ausnüchterungszelle ging es derweil munter weiter. Der Charlotte reichte es, sie drehte das Bild der Überwachungskamera ab. Den Rest wollte sie gar nicht mehr sehen. In diesem Moment war ihr eines klar: Lange würde sie auf diesem Revier nicht mehr Dienst schieben. Und tatsächlich wurde sie Ende des Monats gekündigt.

Die Gitti auf der anderen Seite stieg dafür einen Rang höher. Sie war sich nicht zu schade gewesen, den Hammerle mit der Geschichte zu erpressen. Und nachdem er ja selbst mitgemacht hatte, hatte er mehr zu verlieren als sie. Welcher Beamte wollte schon einen einflussreichen Posten einbüßen? Andererseits war die Gitti damit aber auch aus dem Leben der Charlotte ausgestiegen. Kein großer Verlust, wie sich die Charlotte eingestehen musste. Charakterschweine gab es halt überall, so bitter diese Feststellung auch war.

Job weg, Freundin weg – in ihrer Verzweiflung zog die Charlotte erst mal zu ihren Eltern nach Perchtoldsdorf. Von Wien hatte sie die Nase voll. Und daheim gab es ja immerhin die Flora und – nicht zu vergessen – die Omama, den guten Geist der Familie. Die Omama war der Charlotte nie auf die Nerven gegangen. Die Frau Mama hatte sich zu Beginn auch zurückgehalten, aber schon nach zwei Wochen ging es wieder los: ihr unsäglicher Wunsch nach einem Enkelkind. Als ob sie nicht noch ein paar Jahre warten konnte, bis die Flora so weit war. Der Herr Papa hielt sich aus dieser Sache raus. Dafür nervte er die Charlotte damit, sie solle doch endlich in seine Fußstapfen treten und das Weingut als Juniorchefin übernehmen. Die Ausbildung dazu hatte sie ja. Einzig die Lust darauf fehlte ihr. Wobei, eigentlich gar nicht so sehr die Lust. Vielmehr war es das Grauen davor, Tag und Nacht mit den Eltern unter einem Dach zu leben.

Nach einem Monat wurde ihr die Situation zu anstrengend, egal, wie groß das Elternhaus auch war. Und das Haus war wirklich nicht klein, es hatte eher was von einem kleinen Anwesen. Schließlich handelte es sich auch um einen alten Vierkanthof, der mitten in den malerischen Weinbergen Perchtoldsdorfs lag. Heutzutage völlig undenkbar, dort etwas hinzubauen, aber vor hundert Jahren waren die Zeiten eben noch anders.

Ihr Vater verschaffte ihr dann eine Wohnung im Gemeindebau, hinter dem Gymnasium, das Charlotte in ihrer Jugend besucht hatte. Lauschiges Plätzchen. Heide gleich in der Nähe, Blick auf den Begrischpark. So ließ sich’s leben. Bedanken konnte sie sich bei den Verbindungen des Herrn Papa, der als einer der größten Weinbauern der Gegend natürlich auch jede Menge Einfluss auf der Gemeinde hatte. Ein paar Spezis angerufen, und schon war die Gemeindewohnung für das Töchterchen frei. Österreich, wie es leibt und lebt. Dem Herrn Papa war es zwar nicht recht, dass die Charlotte so schnell wieder von daheim auszog und sich außerdem seinen Plänen für sie widersetzte, aber immerhin behielt er sie so in der Nähe. Und aufgegeben wurde nur ein Brief. Aber niemals die Hoffnung.

Für die Charlotte war die Hauptsache, dass sie wieder eine eigene Wohnung hatte und weg war von daheim. Einen Job fand sie dann auch recht flott, nämlich als Security in einem nahe gelegenen Shoppingcenter. Das war natürlich kein Vergleich zum früheren Job als Polizistin, aber immerhin eine ähnliche Branche. Und shoppen gehen konnte sie da auch jeden Tag. Windowshopping eben, denn wenn ihr Dienst begann, hatten die Geschäfte schon alle geschlossen.

Beim Heurigen ihrer Eltern einzusteigen, dafür war sie noch nicht bereit. Lieber arbeitete sie jetzt als einfache Wachfrau. Frauen konnten ihr im Moment gestohlen bleiben. Und Männer sowieso.

Zwischenspiel

»Sex und Drogen am Kommissariat?«, unterbrach die Hammerschmied die Erzählung der Charlotte. »Das ist ja Wahnsinn! Also, wahnsinnig interessant.« Die Augen der Journalistin funkelten. Innerlich textete sie bereits die reißerischen Schlagzeilen.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Details auslassen«, ermahnte die Charlotte sie. »Es reicht doch, wenn Sie von einem kleinen Skandal schreiben, in den ich verwickelt war.«

»Wieso erzählen Sie mir das dann überhaupt?«

Die Charlotte lächelte sie zuckersüß an. »Damit Sie mich verstehen. Meine Geschichte. Ich denke nicht, dass die Details für Ihre Leser so wichtig sind. Ihre Zeitung ist ja auch sonst ganz gut darin, Details auszusparen. Wo es Ihnen halt passt, meine ich.«

Ein grantiges Schnauben der Hammerschmied war zunächst die einzige Antwort. Die Journalistin schien einen inneren Kampf auszufechten, dann sagte sie: »Gut, Frau Nöhrer, Sie hatten also eine schwere Zeit, bevor Sie letztendlich hierher nach Schladming gekommen sind, um mit Ihrer kleinen Schwester Urlaub zu machen. Wo ist Ihre Schwester eigentlich, wenn ich fragen darf?«

»Sie dürfen.«

»Also?«

»Ich weiß es nicht.«

Wieder ein Schnauben der Reporterin. Die Charlotte musste sich zurückhalten, um nicht vor Lachen vom Sessel zu fallen. Es machte einfach Spaß, die ungebetene Besucherin am Schmäh zu halten.

Die Hammerschmied nahm einen großen Schluck von ihrem Glas. Sie würde sich von so einer dahergelaufenen Promi-Neuwinzerin ganz sicher nicht bloßstellen lassen. Einfach ignorieren und weitermachen, sagte sie sich. Sie hatte in ihrer Karriere schon ganz andere Kaliber geknackt und deren Geschichten aufgeschrieben. Auch das waren naturgemäß nicht jene Geschichten gewesen, die es dann auch in die Zeitung schafften. Aber das war ein anderes Thema. Und versprochen hatte sie ihrem Gegenüber ja nicht, dass sie die Details NICHT verwenden würde.

»Also, liebe Frau –«, setzte sie an, wurde aber sofort wieder von der Charlotte unterbrochen.

»Hast du auch Hunger, Andrea?«, fragte sie an der Reporterin vorbei.

»Au ja!« Die Andrea konnte sich sofort für die Idee begeistern. Wieder kontrollierte die Charlotte die Uhrzeit. Es ging auf Mittag zu, und für das, was sie mit der Hammerschmied vorhatte, musste sie noch den ganzen Nachmittag totschlagen. Nicht, dass ihre Geschichte dafür zu kurz war, aber sie wollte auf Nummer sicher gehen.

Außerdem war da ja noch die Herausforderung, die Rechnung für die Hammerschmied und ihr Schmierblatt ordentlich in die Höhe zu treiben. Deshalb durften es als Vorspeise gleich einmal die Riesengarnelen sein. Völlig egal, dass die Charlotte so etwas auf einer Skihütte für völlig deplatziert hielt, aber es war einfach die teuerste Vorspeise. Das rosa gebratene Lammkarree um wohlfeile neunundzwanzig Euro war dann schon eher nach ihrem Geschmack.

»Wollen Sie mir vielleicht während des Essens weitererzählen?«, flehte die Hammerschmied schließlich, ganz entgegen ihrer eigenen Vorsätze. »Vielleicht, wie Sie die ersten Leichen gefunden haben? Ihr Privatleben in Ehren, aber meine Leser interessieren sich wahrscheinlich mehr für die für die Allgemeinheit interessanten Aspekte Ihrer Geschichte.«

»Sie meinen, für die grauslichen Teile? Wie die Leichen ausgeschaut haben? Wie ihnen der Schaum vorm Mund …«

»Ja, ja, genau so etwas«, stimmte die Hammerschmied glücklich ein.

»Gerne.«

»Na, dann los!«

»Nach dem Essen.«

Die Hammerschmied sackte wieder in sich zusammen. Und die Charlotte blieb hart. Natürlich redete sie während des Hauptgangs fleißig weiter. Nur halt nicht über die Geschichte, die die Journalistin hören wollte. Dafür bekam die Hammerschmied eine Abhandlung über die Weinherstellung, die Herausforderungen, als lesbische Winzerin in einer Männerdomäne zu bestehen, und andere Aspekte aus dem wahrlich nicht langweiligen Leben der Charlotte.

Erst als das Dessert – frisch gemachter Kaiserschmarrn (dessen Herstellung dementsprechend lange gedauert hatte) – auf dem Tisch stand, bekam die Charlotte ein wenig Mitleid mit der Reporterin und setzte ihre Erzählung fort. Im Hintergrund bestellte die Andrea inzwischen eine zweite Flasche Champagner. Die Feste musste man schließlich feiern, wie sie fielen.

Zwischenspiel Ende

Drei

»He, Tim, jeht da vorn schon was weiter?« Breiter Berliner Dialekt, noch dazu völlig besoffen. Der Charlotte hat das Ganze gleich nicht gefallen, aber was tat man nicht alles für sein kleines Schwesterherz?

Die Charlotte zog ihre Schwester ein Stück weg von der betrunkenen Berliner Meute, die sich mit Ski und – viel gefährlicher – Skistöcken ihrem Zustand gemäß eine zuerst schmale und dann immer breiter werdende Schneise durch die am Lift anstehenden Skifahrer gebahnt hatte.

»Sind das nicht die von vorhin?«, fragte die Flora. Die Charlotte nickte nur abwesend und reihte sich mit etwas Sicherheitsabstand hinter den besoffenen Berlinern wieder in die Schlange ein.

Natürlich ging nichts weiter. Kein Wunder. Es war ja auch erst zehn Minuten vor acht, und das Nachtskifahren auf der Hochwurzen in Schladming ging eben erst um zwanzig Uhr los. Da konnten sich die besoffenen Berliner noch so aufführen. Die Liftwarte im Planai-Skigebiet waren ja einiges gewöhnt (gut, in welchem Skiort war das nicht so?), so eine besoffene Bande kam hier wahrscheinlich sowieso jeden Abend vorbei, dachte die Charlotte und hatte damit nicht einmal so unrecht.

Auch die Flora konnte es kaum mehr erwarten, sie blickte nervös auf ihre Uhr und zählte die Sekunden bis zum Start ins nächtliche Skivergnügen herunter. Natürlich verging die Zeit dadurch auch nicht schneller, aber wenigstens war sie abgelenkt. Derweil sah sich die Charlotte aus purer Langeweile und weil es bei der beißenden Kälte nichts anderes zu tun gab, die betrunkenen Berliner genauer an. Alte Gewohnheiten waren eben schwer abzulegen. Die Gruppe bestand aus sechs oder sieben Leuten. Ganz sicher war sich die Charlotte nicht, weil der mögliche Siebente sich etwas zurückhielt. Entweder gehörte er doch nicht zur Gruppe, oder das Gehabe seiner Freunde war ihm einfach zu peinlich.

Die Berliner waren nach einem offenbar gehörigen Hüttenexzess keinesfalls fähig, noch normal eine Piste runterzufahren. Ihrem Enthusiasmus tat das aber keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil, es war der Enthusiasmus der anderen Skifahrer, der sich jetzt langsam, aber stetig verflüchtigte. Die Gruppe sang lautstark DJ-Ötzi-Hüttenhymnen und drängte sich dabei gleichermaßen forsch wie rücksichtslos immer weiter nach vorne durch. Wie die Charlotte mit Genugtuung feststellte, nutzte ihnen das alles nichts, denn kaum vorne angekommen, wurden sie von den Liftwarten durch ein Seitentor wieder hinauskomplimentiert – und mussten sich erst recht wieder hinten anstellen.

Die Berliner wurden dadurch aber nur noch lauter und aggressiver. Als die Gondelbahn endlich ihren Nachtbetrieb aufnahm, wälzten sie sich halb benommen im Schnee, rieben sich gegenseitig die Visagen ein und sangen noch immer DJ Ötzi. Insgesamt kein schöner Anblick.

Wirklich schlimm wurde es für die Charlotte aber erst, als sie mit ihrer Schwester endlich das Drehkreuz passiert hatte. Das war ein wenig wie in den Sommerferien vor dem Brennertunnel in Richtung Italien: Stillstand im schlimmsten, Schneckentempo im besten Fall. Hinter dem Drehkreuz stand man nämlich noch immer an wie beim Schlussverkauf. Und dann machte irgendein Holländer den Fehler, die Berliner verbal zurechtzuweisen. Einer von ihnen wurde jetzt – man mochte es kaum glauben – noch lauter. »Arschloch, Vollidiot, Trottel«, motzte der Berliner zurück, und dann flogen auch schon die Fäuste. Und auf einmal war keine Rede mehr von Schlussverkauf.

Die zwei Raufhanseln hatten nämlich plötzlich ein schönes Fleckerl ganz für sich allein, so weit wichen die restlichen Skifahrer zurück. Wer jetzt erwartete, dass die Liftwarte dazwischengehen würden, weil die so was ja schon Hunderte Male erlebt hatten, wurde bitter enttäuscht. Nix da, sie drängten nur die Schaulustigen hinter dem Drehkreuz etwas zurück, damit keiner auf die Idee kam, drüberzuspringen und mitzuraufen. Erst als der Holländer schon fast vor einer der heransausenden Gondeln lag und der Berliner auf ihm draufsaß, erbarmte sich endlich einer der Liftwarte und bereitete dem unwürdigen Spiel ein Ende. Der Holländer flog raus, der Berliner durfte bleiben. Bei einem Betrunkenen nahm man wohl an, dass er oben auf der Hütte noch fleißig weiterkonsumierte. Wer hat je behauptet, das Leben sei fair?

Für den geschassten Holländer durfte dafür noch einer der betrunkenen Berliner auf die Liftplattform. Damit waren es bereits vier. Die Charlotte verzog sich mit ihrer Schwester möglichst weit ans andere Ende der Plattform, es half aber nicht viel. Die Berliner marschierten schnurstracks in ihre Richtung.

Beim Einsteigen in die Zehnergondel ging das Gedränge erst recht wieder los. Jeder wollte der Erste sein, so, als ob man deshalb irgendwie früher oben am Berg ankäme. Und dann standen sie drinnen wie die Dosensardinen im Öl. Im Öl waren allerdings in erster Linie die Berliner.

Durchhalten, so lange kann die Fahrt ja nicht dauern, dachte die Charlotte leicht angepisst, als sich die Gondel bereits von der Talstation entfernte. Falsch gedacht. Es folgten die wohl längsten zehn Minuten in ihrem Leben. Für die Charlotte fühlte es sich wie zwei Stunden an. Besonders schlimm wurde es, als die Berliner in der kleinen Kabine verbotenerweise auch noch zu rauchen begannen. Die Charlotte hatte jetzt per se nichts gegen Zigaretten, sie rauchte ja sogar selbst. Aber es gab halt Situationen, wo man sich das einfach verkniff. Den Mut, etwas zu sagen, brachte aber keiner auf. Man hatte die Lektion in der Talstation gelernt. Mit Betrunkenen legte man sich besser nicht an. Vor allem nicht in derart beengten Verhältnissen.

Eine Holländerin hüstelte immerhin leise vor sich hin. »Jesundheit«, lallte einer der Berliner. Manchmal wäre es schon ganz gut, wenn ein Wink auch gleich mit einem eingebauten Zaunpfahl daherkäme. Den man dem betreffenden Typen über den Schädel ziehen konnte.

Das war so ein Moment.

Die Charlotte hatte natürlich auch keinen Zaunpfahl eingesteckt, und weil sie sich keine Probleme einhandeln wollte, schwieg sie einfach. Ein bisschen übel wurde ihr schon, als die Berliner auch noch anfingen, mit ihren Zigaretten blöd herumzufuchteln. Das konnte man ja ständig in den Zeitungen lesen, wie schnell ein Skianorak Feuer fing, und auch wenn das Kaprun-Unglück schon einige Jahre zurücklag, hatte es sich doch in ihr Gehirn eingebrannt. Die Charlotte warf sicherheitshalber einen Blick aus der Gondel, um abzuschätzen, wie tief es runterging – nur für den Fall der Fälle natürlich. Sie konnte erleichtert durchatmen. In der Mitte zwischen zwei Stützen hing die Gondel mit Vollbelastung vielleicht drei Meter über dem Boden. Ein Absprung im Notfall wäre also nicht das Riesenproblem. So weit kam es dann zum Glück nicht, trotzdem war sie heilfroh, als sie endlich die Bergstation erreicht hatten und aussteigen konnten. Innerlich machte sie sogar ein Kreuzzeichen, und das war etwas, was ihre Frau Mama sicher unendlich gefreut hätte.

Die Charlotte verließ mit Riesenschritten die Gondel. Es ging ein paar Stufen hinauf, dann ein paar hinunter, und dann war man schließlich draußen vor der Bergstation angekommen. Die Flora hatte es richtig schwer, mit ihrer großen Schwester (im Sinn von älter, denn sie waren beide gleich groß – oder klein, wie man wollte) Schritt zu halten.

»Was ist denn? Musst ja nicht gleich so rennen, Charly!«, beschwerte sie sich nicht ganz zu Unrecht.

Die Charlotte gab keine Antwort, weil von der kleinen Schwester musste man sich nun wirklich nicht zurechtweisen lassen. Außerdem war der Blick auf die nächtlich erleuchteten und unter ihnen liegenden Ortschaften Schladming und Rohrmoos atemberaubend.

»Schau dir lieber das Panorama an«, riet die Charlotte der Flora jetzt, »und spar dir die Luft für die Abfahrt. Der Papa verzeiht mir das nie, wenn du dir ein Bein brichst.« Und, man mag es nicht glauben, aber die Flora streckte ihr daraufhin mit ihren fünfzehn Jahren doch tatsächlich die Zunge raus. Immerhin war sich die Charlotte nicht zu blöd, ihr ebenfalls die Zunge zu zeigen, und gleich darauf wälzten sie sich im Schnee. Kindergarten ein Kloster dagegen.

Als sich die beiden wieder beruhigt hatten, konnten sie endlich den Ausblick genießen. Da fiel es dann auch gar nicht so ins Gewicht, dass eine der beiden geöffneten Flutlichtpisten »Panoramapiste« hieß. Normalerweise hasste die Charlotte so einfallslose und generische Bezeichnungen ja wie die Pest, in diesem Fall konnte allerdings auch sie nur nicken und sagen: »Trifft es genau.« Bevor die beiden die Abfahrt starteten, setzten sie sich auf eine Bank an der Wand der Bergstation.

Es war fast schon kitschig schön. Die Flutlichtbeleuchtung tauchte die Nacht in ein sanftes orangenes Licht, passend zu den vielen kleinen erleuchteten Fenstern im Tal unten. Weiter rechts konnte man sogar das WM-Stadion der Planai sehen. Dort knallte ein viel stärkeres Flutlicht – grellweiß war der Zielhang erleuchtet, der in wenigen Tagen der Schauplatz für das Nightrace sein würde. Daran dachte die Charlotte jetzt aber noch gar nicht. Vielmehr wunderte sie sich, wie es sein konnte, dass es hier heroben am Berg spürbar wärmer war als unten bei der Talstation. Der Flora war das egal, sie bettelte ihre Schwester lieber um einen Schnaps an.

»Komm schon, Charly. Ein Willi zum Einsteigen?« Der Schmollmund der Flora hätte sogar Marilyn Monroe die Schamesröte ins Gesicht getrieben.

Aber die Charlotte sagte nur: »Nix da, kein Alkohol für dich«, weil große Schwester und Verantwortung und so weiter, und dämpfte ganz schnell auch noch ihre eigene Zigarette aus. Die war zwar noch nicht einmal zur Hälfte runtergebrannt, aber das schlechte Gewissen … Fehlte nur noch, dass die Flora sie auch um eine Zigarette anhaute.

»Ich trink ja zu Hause auch«, bettelte die Flora weiter.

»Sicher, aber nicht vor Mama und Papa.« Das war genug. Kleine Kinder konnten ja so trotzig sein. Gut, dass die Charlotte das nicht laut sagte, weil, wenn man die Flora Kind nannte, konnte man froh sein, wenn man mit oberflächlichen Verletzungen davonkam.

»Machen wir uns auf«, schlug die Charlotte schließlich vor, denn jetzt juckte es sie auch schon so richtig. Es war ja doch schon vier Jahre her, seit sie das letzte Mal Skifahren gewesen war. Dabei war sie eigentlich eine ganz gute Skifahrerin. In ihrer Kindheit war sie jedes Jahr mit den Eltern auf Skiurlaub gefahren, und Schulskikurse hatten damals auch noch jedes Jahr auf dem Programm gestanden. Nach so einer langen Pause und spätabends (und nach der langen Anfahrt mit dem Auto) nahm sie jetzt aber doch lieber die Familienabfahrt. Lieber mal vorsichtig anfangen.