Perchtoldsdorfer Totentanz - Christian Schleifer - E-Book

Perchtoldsdorfer Totentanz E-Book

Christian Schleifer

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Beschreibung

Mord, umstrittenes Fracking und eine Bordelleröffnung. Band 5 der erfolgreichen Weinkrimireihe: erfrischend anders! Perchtoldsdorf in heller Aufregung: Auf einem Kostümball bringt Darth Vader doch tatsächlich Batman um. Aber die Charlotte steht schon in den Ermittlungsstartlöchern. Erste Hinweise zeigen, dass die beginnenden Schiefergasbohrungen auf der naturgeschützten Perchtoldsdorfer Heide etwas mit der Sache zu tun haben. Und ausgerechnet in diesem Chaos muss die Magda auch noch ihr Nobel-Bordell im Ort aufsperren! Die Charlotte hat alle Hände voll zu tun.

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Seitenzahl: 436

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Christian Schleifer ist gebürtiger Perchtoldsdorfer, gefangen im Leben eines Wieners. Nach erfolgreichem Lehramtsstudium der Anglistik und Germanistik arbeitete er zwanzig Jahre lang folgerichtig als Sportjournalist bei zwei österreichischen Tageszeitungen, bevor er 2015 beschloss, sich mehr Zeit für seine Frau, die Zwillinge und das Krimischreiben zu nehmen.

www.christian-schleifer.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Uta Rupprecht

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-224-6

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für Uta Rupprecht, die seit Jahren diese Serie lektoriertund noch immer nicht an mir verzweifelt ist …

Die Damen und die Herren von dem Chemie-Konzern, der unsere Stadt versaut, die feiern heute laut, sie haben einen Grund, der geht von Mund zu Mund, wir Zombies halten dicht, nur unsere Fässer nicht, heut ist Zombieball, in the Grand Hotel, alle Zombies tanzen very well, aha!

»Zombieball«, Georg Danzer

Prolog

Ladies and Gentlemen – Vorhang auf, Bühne frei für den allerersten Perchtoldsdorfer »Zombieball«. Wieder so ein doofer Name, schon klar, aber der »Schüttelwein« von der Charlotte hatte ja auch keinen besseren Namen und verkaufte sich nun, gut ein Jahr nach seiner Markteinführung, wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln.

Ein mieser Name musste also nicht zwangsläufig etwas mit dem Erfolg eines Produkts zu tun haben. Und genau das war auch beim »Zombieball« der Fall.

Der Innovationsdrang der Charlotte hatte sich in den letzten Monaten auch auf andere Bereiche der Marktgemeinde Perchtoldsdorf ausgeweitet beziehungsweise diese infiziert. Und so kam es zur Premiere des ersten Perchtoldsdorfer Maskenballs außerhalb der Faschingszeit. Weil, warum nicht? Wer sagt denn, dass man sich nur in den wenigen Faschingswochen im kalten Winter verkleiden darf? Eben.

Und so hatte sich die Gemeinde in Form von Gina Blauensteiner, ihres Zeichens unglückliche Kulturgemeinderätin der UPÖ (Umweltpartei Österreich, und natürlich hätte sie viel lieber das dazu passende Umweltressort geführt), darangemacht, Ende April einen Maskenball zu organisieren. Ostern war vorbei, und bis zu den nächsten Festivitäten war es noch eine Zeit. Also: Paaarrttyyyy!

Natürlich durfte es nicht nur ein stinknormaler Maskenball sein. Nein, man wollte ja mit der Zeit gehen und nahm sich ein Beispiel an den auf der ganzen Welt wie die Schwammerl aus dem Boden schießenden Comic- und Fan-Conventions, um den »Zombieball« von den ein wenig angestaubten Faschingsgschnas-Festln zu unterscheiden. »Cosplay« hieß das Zauberwort, das die jungen Massen anlocken sollte. Dementsprechend auch der Untertitel des Maskenballs: »Be a hero!« Zombies konnten ja nur durch Helden besiegt werden. Und wenn schon kein Held, dann wenigstens ein Schurke. Oder wenigstens irgendeine Comicfigur.

Oder eine Filmfigur.

Halt irgendwas mit Popkultur-Bezug.

Und so tummelten sich in der altehrwürdigen Herzogsburg zu Perchtoldsdorf jetzt alle möglichen mehr oder weniger gelungenen Kostüme (samt deren Trägern): Batman, Superman, Spiderman, Wonder Woman, Darth Vader, Iron Man, Captain America, Captain Marvel, Captain Phasma, Hulk, Flash, Stormtrooper, Sailor Moon und andere. Sogar einen Nils Holgersson hatte man bereits gesehen. Gut, der war natürlich mehr was für echte Connaisseurs, weil: Wer kannte heute noch den Nils Holgersson?

Die Stimmung war ausgelassen, wie sie nun mal ist, wenn die Leute in eine andere Rolle schlüpfen dürfen und sich nicht mehr an die Konventionen ihres Alltagslebens halten müssen. Der Alkohol floss in Strömen, auf das allgemeine Rauchverbot wurde gepfiffen (die Gina, also die Veranstalterin höchstpersönlich, ging da mit gutem respektive schlechtem Beispiel voran), und ganz ehrlich, selbst in einem gutbürgerlichen Weinort wie Perchtoldsdorf wurden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf einer der zahlreichen Toiletten heimlich ein paar Linien gezogen.

Bei genauerer Überlegung: Wahrscheinlich sogar gerade hier. Geld war im Weinort ausreichend vorhanden und saß dementsprechend locker.

Die Musik wummerte aus den Boxen, und im großen Veranstaltungssaal versuchte der künstlerische Leiter des Balls – ein lokaler Tanzschulbesitzer – ebenso enthusiastisch wie erfolglos, eine Quadrille zu dirigieren. Eigentlich war es ein Wunder, dass bei den alkoholbedingten Zusammenstößen der Tänzer keine gröberen Unfälle passierten.

Wenn man genau schaute, gab es aber auch einige ruhigere, fast schon unbeobachtete Rückzugsecken. Der Ball fand nun mal in einer mittelalterlichen Burg statt, die von vielen größeren und kleineren verwinkelten Gängen und Treppen durchzogen war. Dort fiel nur spärlich Licht ein, und man konnte ganz gut Geschäfte besprechen, Gossip bequatschen oder auch einfach nur herumschmusen. Weil, geschmust gehört ja ganz allgemein viel mehr.

In genau so einem Eck standen nun zwei der prominenteren und häufiger anzutreffenden Kostüme. Eng genug, um verschwörerisch etwas zu besprechen, aber nicht so eng, dass sie miteinander schmusen konnten (aber viel fehlte dazu nicht). Was sich aufgrund der Ganzkörperverkleidungen allerdings auch durchaus schwierig gestaltet hätte. Das verschwörerische Getuschel wurde lauter und heftiger, die Gesten hektischer, der Lautstärkepegel immer höher. Aber keiner der vorbeieilenden Gäste bekam das mit. Alles wurde von den wummernden Disco-Klängen übertönt. Der DJ war musikalisch irgendwann in den frühen neunziger Jahren stecken geblieben. Eben in diesem Moment dröhnte irgendein Euro-Disco-Trash aus den Boxen.

Wäre man nahe genug dran gewesen, hätte man folgenden Dialog gehört:

»Nein!«

»Doch!«

»Nein!«

»Doch!«

Dann stach Darth Vader auf Batman ein.

Und Batman röchelte noch ein kurzes »Oh!«, während die Snap!-Sängerin »The First the Last Eternity« aus den Boxen trällerte.

Teil 1

Eröffnung

EINS

Am Anfang war das Wort. Oftmals war es »Geh«. Wie in »Geh weiter« zum Beispiel oder auch »Geh, nicht schon wieder«. Oder auch »Geh scheißen«. Eine schöne Wiener Redewendung, die in ihrer Bedeutung, trotz aller scheinbaren Deutlichkeit, doch einiges an Interpretationsspielraum offenlässt. Damit kann natürlich durchaus das gemeint sein, woran man hier als Erstes denkt. Nämlich, dass man verschwinden soll, sich in Luft auflösen, aus den Augen gehen, whatever. Natürlich könnte man es auch wörtlich nehmen, aber in diesem Zusammenhang wird »Geh scheißen« eher selten verwendet. Diese – sehr direkte – Aufforderung richtet sich dann eher an ein zappelndes Kleinkind. Aber da drückte man sich etwas gewählter aus. Man kann es auch als ungläubigen Ausruf verwenden. Also zum Beispiel: »Österreich ist Fußballweltmeister!« Und als Antwort dann: »Geh scheißen!« Also für den Fall, dass die Aussage auch tatsächlich stimmt. In diesem Fall ist es dann ein Ausdruck ungläubigen Erstaunens.

Wie auch immer. Es hätte an dieser Stelle auf jeden Fall ganz gut gepasst. Wurde aber trotzdem nicht verwendet. Hier und jetzt war es nämlich »Geh, schleich dich!«. Salopp dahingeflucht von der Charlotte Nöhrer, als sie plötzlich und – natürlich – völlig unvorbereitet vor einem regungslosen Batman stand. Neben ihm lag ein Spielzeuglichtschwert mit leuchtender roter Klinge, an dem ein paar dunkle Flecken klebten. Blut, mit ziemlicher Sicherheit. Oookkaayyy …

So etwas sollte eigentlich, wenn überhaupt, nur in einem Hollywood-Mega-Superüberdrüber-Blockbuster passieren. War es aber nicht. Nicht zuletzt, weil Batman und ein Lichtschwert aber so was von überhaupt nicht zusammenpassten. Weil das ja eigentlich zwei total unterschiedliche Franchises sind und so was deshalb grundsätzlich nicht funktionierte. Batman ist noch in keinem »Star Wars«-Film aufgetreten. Ganz. Sicher. Nicht.

Im konkreten Fall konnte es sowieso nicht wahr sein, weil es beim Perchtoldsdorfer Zombieball passiert war. Wie und wieso sollte da jemand mit einem Spielzeugschwert ums Eck gebracht werden? Hatte da jemand den Titel der Veranstaltung gar zu wörtlich genommen?

»Ums Eck« war jetzt übrigens doch wörtlich gemeint. Der tote Batman lag nämlich hinter einer Ecke auf den obersten Stufen einer Treppe, die ins untere Geschoss führte. Schön versteckt, kaum benützt, kurz: perfekt, um eine Leiche unauffällig abzuladen.

Die Charlotte, als überdimensionales kanariengelbes Pokémon verkleidet, beugte sich über den vermutlich toten Batman. Ihre Freundin, die Andrea, lugte ihr über die Schulter, um einen besseren Blick auf den gemeuchelten Superhelden zu erhaschen. Über die Schulter von der Andrea wiederum guckte die Renate Obermayer, verwitwete Kulturagentin und seit letztem Sommer Busenfreundin von der Charlotte und der Andrea, nachdem die beiden den Mord an ihrem Mann aufgeklärt hatten.

»Jetzt ist schon wieder was passiert …«, flüsterte die Andrea mit einem Anflug von Verzückung.

»Geh bitte«, fluchte die Charlotte leise zurück, »falscher Krimi!« Die Charlotte schwitzte unter ihrem dicken Pokémon-Kostüm wie … na, eh schon wissen. Und trotzdem lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Nicht weil sie der Anblick der Leiche so sehr schockiert hätte (davon hatte sie im letzten Jahr genug gesehen), sondern weil in der Stimme der Andrea fast so etwas wie Enthusiasmus mitschwang. Die Blondine war im letzten Jahr offenbar auf den Geschmack gekommen und roch jetzt, nicht zu Unrecht, einen neuen Fall.

Seit der Geschichte mit dem toten Pfarrer und dem vereitelten Bombenattentat auf die weihnachtliche Mitternachtsmette war nichts Großartiges mehr passiert. Ein krasser Gegensatz zu der Zeit davor, als die beiden praktisch im Monatsrhythmus über neue Leichen gestolpert waren. Das Aufregendste, was in der letzten Zeit passiert war, war ihr Ausflug nach Schladming zum Nachtslalom gewesen, den ihnen der Skiort spendiert hatte, nachdem sie im Jahr zuvor eine Mordserie rund um das Schladminger »Nightrace« geklärt hatten. Diesmal war alles friedlich abgelaufen. Wenn man mal von der nervigen Reporterin absah, die ihnen auf die Pelle gerückt war, um sich die Geschichte nochmals erzählen zu lassen. Mit der hatten sie dann tatsächlich ihren Spaß gehabt. Die Reporterin hatte das ein wenig anders gesehen. Aber sie hatte es ja nicht anders gewollt.

Die Andrea und die Renate hatten sich als Sailor Moon und irgendeine andere Manga-Tussi verkleidet. Hauptsache, wenig Stoff und sexy. Und so zogen die Andrea und die Renate in ihren knappen Kostümchen schon den ganzen Abend einen Rattenschwanz an sabbernden Männern hinter sich her. Völlig egal, dass die beiden in – mehr oder weniger – festen Händen waren. Die Andrea in jenen der Charlotte und die Renate in jenen vom Mario, dem Besitzer der besten (und einzigen) Cocktailbar in Perchtoldsdorf. Das »mehr oder weniger« traf in erster Linie natürlich auf die Renate zu, denn die Andrea war nach wie vor bis über beide ihr zur Verfügung stehenden Ohren in die Charlotte verknallt.

Was die Renate und die Andrea gemein hatten, war ihre Lust am Flirten und an der Provokation. Und dazu eigneten sich die retro-futuristischen japanischen Schulmädchen-Uniformen natürlich hervorragend. Da tat es nichts zur Sache, dass der Mario auch auf dem Ball war. Irgendwie halt. Denn er schmiss, was ja irgendwie naheliegend war, die Cocktailbar. Natürlich nur mit reduzierter Karte. Also, wie gesagt: Er war zwar da, aber irgendwie auch nicht. Denn die Bar befand sich im Dauerbelagerungszustand, und da hatte er so was von gar keine Möglichkeit, sich mal einen Moment wegzustehlen, um mit seiner Renate herumzumachen.

Die Charlotte tat sich auch schwer, was das Herumschmusen anging. Bei ihr lag das aber am Pokémon-Kostüm, in dem sie wie ein gelbes Michelin-Männchen aussah. Die Andrea hatte dank ihrer blonden Mähne frisurtechnisch gar nichts groß ändern müssen, um den Sailor-Moon-Look hinzubekommen. Die Figur passte sowieso. Die Renate hatte sich für ihre Rolle der Michiru kurzerhand für sauteures Geld eine grüne Perücke anfertigen lassen. Gut, dass bei ihr Geld kaum eine Rolle spielte, ihrer Künstler- und Eventagentur sei Dank. Für die Renate wäre es keinesfalls in Frage gekommen, eine billige Zehn-Euro-Perücke zu kaufen. So etwas hätte sie sich nie über den Kopf gestülpt.

Und die Charlotte? Neben den beiden gerade notdürftigst bekleideten Zeichentrick-Pin-ups schwitzte sie in ihrem Pokémon-Kostüm wie blöd. Zudem nervte eine ihrer kastanienroten Locken, die sich ausgerechnet heute besonders widerspenstig gab und ihr immer wieder in die Stirn rutschte. Und mit ihren Pokémon-Pranken schaffte es die Charlotte einfach nicht, dieser Locke Herrin zu werden. Neben den beiden supersexy Weibern sah sie in ihrem Kostüm sowieso nur zum Lachen aus.

Die Charlotte fuchtelte mit den Händen, bis sich einer der Pranken-Handschuhe endlich löste. Vom Gesicht des Batman war, wie es sich gehörte, nur die Mundpartie zu sehen. Vorsichtig zog sie ihm die Maske vom Kopf. Die Augen des Batman blickten starr zur Decke, Speichel war aus einem Mundwinkel gelaufen. Die Charlotte glaubte, das glatt rasierte Gesicht von irgendwoher zu kennen, konnte es aber nicht richtig einordnen. Sie legte zwei Finger auf die Halsschlagader von Batman, zu fühlen gab es aber nichts mehr. Der Mann war tot. Mausetot. Dead as a Dodo, wie Monty Python zu sagen pflegten.

»Was ist los?«, hechelte plötzlich die Flora über die Schulter ihrer großen Schwester. Die Charlotte drehte sich um und fragte sich, was genau die Flora eigentlich darstellen wollte. Irgendwie erinnerte das Kostüm an eine Mumie mit Röckchen. Eingewickelt in graue Stoffbinden, dazu ein Holzstock. Beim Herrichten daheim hatte sie ihr noch erklärt, sie wäre Rey aus »Star Wars«. Aber die Charlotte hatte die neuen »Star Wars«-Filme geflissentlich ignoriert und konnte damit überhaupt nichts anfangen. In den alten Filmen kam diese Rey jedenfalls nicht vor.

»Wonach sieht es aus?«, gab sie zurück. »Hol lieber den Leo, statt hier blöd herumzugaffen.« Interessanterweise zischte die Flora sofort und ohne blödes Zurückmaulen ab. Der Noah, Charlottes und Renates Ziehsohn, blieb jedoch wie angewurzelt stehen. Mit seinem Kostüm konnte die Charlotte schon mehr anfangen: Er war als Nick Knatterton von Kopf bis Fuß in Karo gekleidet. Sie hatte keine Ahnung, wie er auf den gekommen war, schließlich waren die Kurzfilmchen schon lange vor seiner Zeit im Fernsehen gelaufen, und die Comics waren noch viel älter. Aber dem schlaksigen Siebzehnjährigen passte das Kostüm praktisch wie angegossen. Und irgendwie war es ja auch passend, dass der »Detektiv« hier am Schauplatz erschien.

Wenige Augenblicke später kam die Flora auch schon mit dem Leo im Schlepptau zurückgehetzt. Der Chefinspektor hatte sich als König Leonidas aus »300« verkleidet. Oder besser: entkleidet. Außer hohen Römersandalen, einem roten Cape und einem Lederlendenschurz trug er nicht viel. Wie die Andrea konnte aber auch er sich sein Kostüm leisten. Ein gutes Dutzend lechzender Singlefrauen folgte dem begehrtesten Junggesellen des Orts, aber an seiner Hand hielt er nur eine einzige Frau – die Elena. Ja, die Geschichte mit der tschechischen Nutte lief auch nach gut fünf Monaten noch. Inzwischen war die Elena sogar schon in der Junggesellenwohnung vom Leo eingezogen. Das wäre jetzt an und für sich noch keine große Geschichte gewesen. Abgesehen von der kleinen Tatsache, dass die Elena ihr Geld als Nutte verdiente, im demnächst neu eröffnenden Bordell an der Stadtgrenze zu Wien. Bis es so weit war, hatte sie sich als Kellnerin in der Turmbar verdingt. Wie das Ganze mal laufen würde, wenn das Puff eröffnet hatte … darüber wollte die Charlotte gar nicht erst nachdenken. Sie ging einfach mal davon aus, dass ihr Cousin schon wusste, was er da tat.

Die Elena hatte sich als Königin Gorgo, die Ehefrau von König Leonidas, verkleidet. Dazu reichte eine einfache weiße Tunika. Ihre platinblonden Haare hatte sie dunkelbraun getönt, und die Charlotte musste zugeben, dass sie hinreißend aussah. Wesentlich weniger nuttig als die Andrea und die Renate.

»Lass mich mal ran«, fauchte der Leo die Charlotte genervt an und kniete sich neben den toten Batman. Nicht mal auf einem Ball hatte man seine Ruhe. Auch er prüfte kurz den Puls. »Hat schon wer die Polizei gerufen?«, fragte er über die Schulter, ohne sich umzusehen.

»Na, du bist ja eh da«, konterte die Charlotte.

Jetzt drehte sich der Leo um. »Sehr lustig, Nöhrer! Bin ich im Dienst? Ich hab nicht einmal ein Handy mit.«

»Ja, wo solltest du es auch hinstecken?«, murmelte die Charlotte, drehte sich um und sah sich hilfesuchend um. Grundsätzlich hatte die Charlotte schon eine Idee, wo er ein Handy hätte verstauen können, aber die behielt sie angesichts der Situation und der Laune ihres Cousins lieber für sich.

»Was ist los? Wer braucht die Polizei?«, keuchte jetzt ein … Ja, was eigentlich? Sah irgendwie wie ein Stormtrooper aus »Star Wars« aus, aber die Rüstung war völlig verchromt. So einen Stormtrooper hatte die Charlotte bisher noch nie gesehen. War wohl auch so ein neumoderner Käse, um den sie sich bislang nicht gekümmert hatte. Und wer steckte da überhaupt unter dem Helm? Diese Verkleidung hatte sie den ganzen Abend über noch nicht gesehen, so etwas Auffälliges hätte sie sich garantiert gemerkt.

Als könnte der Kostümierte ihre Gedanken lesen, nahm er den Helm ab. Und entpuppte sich als eine Sie – Gina Blauensteiner, die Organisatorin und Gemeinderätin. Sie war eine beeindruckende Gestalt, vor allem in ihrer Rüstung. Nun schüttelte sie ihre halblangen blonden Locken in Form, was bei einigen Leuten rundherum für heftiges Gemurmel sorgte. Was wiederum die Charlotte überhaupt nicht verstand. Das war die Gina. Die kannte man doch.

Irgendwie musste auch sie gegafft haben, denn die Flora stieß ihr mit dem Ellenbogen in die Rippen.

»Ja, da schaust!«, zischte sie der Charlotte ins Ohr.

»Wieso sollte ich da schauen?«, zischte die Charlotte verwundert zurück. Sie hatte sich nicht über die Gina gewundert, sondern über die ganzen Schaulustigen, die die Gemeinderätin angafften wie das achte Weltwunder.

»Na, weil sie der Christie so ähnlich schaut. Das merkt man jetzt erst in dem Kostüm so richtig.«

»Wem bitte?«

»Na, der Gwendoline Christie. Der Schauspielerin!«

»Welche Schauspielerin?«

»Jetzt komm schon. Sie spielt die Captain Phasma in den neuen Star-Wars-Filmen. Das ist ja auch das Kostüm.«

»Aha«, meinte die Charlotte unbeeindruckt und beschloss, sich die neuen Filme jetzt vielleicht doch einmal anzusehen. Sonst konnte man bei den jungen Leuten ja gar nicht mehr mitreden.

»Nicht nur die. Sie spielt auch die Brienne of Tarth in ›Game of Thrones‹!«, warf der Noah begeistert und fachmännisch ein. Was der Charlotte jedoch ebenfalls nicht auf die Sprünge half.

Tatsächlich war die Ähnlichkeit mit der britischen Schauspielerin aber unübersehbar. Wenn man sie denn kannte. Die Gesichtszüge von der Gina waren vielleicht eine Spur gröber, aber sonst passte alles. Und erst ihr Kostüm! Das war kein billiges 08/15-Kostüm aus einem Faschingsgeschäft. Das hier war ein wahrscheinlich selbst und ganz sicher maßgefertigtes Kostüm aus hochwertigsten Materialien.

Die Flora pfiff anerkennend durch die Zähne. Sie hatte sich viel Mühe gegeben, um ihr Kostüm so nah wie möglich an das Filmvorbild zu bekommen, aber sie war ja noch neu in der Cosplay-Szene, und da musste man zu Beginn einfach Abstriche machen. So viel wusste sie aber schon: Die Blauensteiner musste da jede Menge Zeit, Liebe und vor allem Geld hineininvestiert haben.

Das Einzige, was nicht so richtig zu dem Kostüm passen wollte, war das kleine Handtäschchen, das an einer silbernen Kette über ihrer rechten Schulter baumelte. Aus dem zog sie jetzt ein Handy. »Sollten wir nicht lieber die Rettung rufen?«, fragte sie. Von da, wo sie stand, konnte sie nur die Beine des Batman sehen, weshalb sie wohl annahm, dass jemand kollabiert war.

»Nicht mehr nötig«, stöhnte der Leo und nahm der Gina, ohne zu fragen, das Handy aus der Hand. Er tippte ein paarmal drauf herum, und nach dem dritten Freizeichen wurde am anderen Ende der Leitung abgehoben. Der Leo beschrieb seinen Kollegen auf der Inspektion die Lage, beendete den Anruf und gab der Gina das Handy zurück.

»So, und jetzt alle weg da. Wir haben hier einen Tatort.« Damit scheuchte der Leo die Schaulustigen ein paar Schritte zurück.

In diesem Moment gesellte sich eine weitere Superheldin zu der ständig wachsenden Menschentraube. Es war die Inaaya, die als Ms. Marvel, eine muslimische Superheldin, verkleidet war. Man merkte, dass sich die Inaaya inzwischen gut im Westen eingelebt hatte. Sie legte einen Arm um die Schulter vom Noah, der sich das anstandslos gefallen ließ. Offenbar war dieser Abend für Noah ein Inaaya-Abend.

Die Charlotte zuckte innerlich mit den Schultern. Was sollte sie sich da groß einmischen? In Wirklichkeit war bei allen dreien Hopfen und Malz verloren. Sie hatte einmal versucht, der Inaaya die Ausweglosigkeit ihrer Situation vor Augen zu führen, denn die Charlotte war sich sicher, dass sich der Noah am Ende wieder für die Flora entscheiden würde. Das hatte ihr aber nur bittere Tränen der Inaaya eingebracht und die Ansage: »Wenn mich Noah nicht liebt, hat mein Leben keinen Sinn mehr. Was soll ich denn tun?« Klar, ziemlich melodramatisch, aber welcher Teenager war das bei seiner oder ihrer ersten großen Liebe nicht? Danach hatte die Charlotte jedenfalls ihre Bekehrungsversuche eingestellt und ließ die drei herummachen, wie sie wollten.

»Was ist denn hier los?«, fragte jetzt ein anderer Kostümierter. Es schien im Moment die einzige Frage zu sein, die die Leute sich zu stellen trauten. Aber wenigstens erkannte die Charlotte, wen dieser Fragesteller darstellen wollte: Captain America. Er hatte sich dicht an die Gina gedrängt und schaute ihr über die Schulter. Für die meisten hätte das wegen der Größe der Gina eine unmögliche Aufgabe dargestellt, für diesen Captain America war es kein Problem. Er war ähnlich groß und gut gebaut wie der Leo und füllte sein Kostüm dementsprechend beeindruckend aus. Nachdem ihm niemand eine Antwort gab, drängte er sich ruppig an der Gina vorbei. Nach drei weiteren Schritten war aber Schluss, denn der Leo baute sich vor ihm auf. Die beiden standen sich Nase an Nase gegenüber.

»Na, was soll schon los sein?«, raunzte ihn der Leo an.

»Weiß nicht, Spartaner, erklär du’s mir«, gab Captain America zurück. Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass er es nicht gewohnt war, dass man ihm den Weg versperrte.

»Geht dich nix an«, knurrte der Leo, ohne auch nur einen Zentimeter zu weichen. Captain America sah ihm noch kurz in die Augen, trat dann aber doch zurück.

»Wer war denn der Vogel?«, flüsterte die Charlotte dem Leo ins Ohr.

»Ach, nur so ein Wichtigtuer aus St. Pölten. Hat irgendwas mit dem Landeshauptmann zu tun.«

»Das ist der Markus Maier«, sagte die Gina Blauensteiner konspirativ. Um ihre Expertise abzugeben – und wohl auch um einen besseren Blick auf die Leiche zu haben –, hatte sie sich zwischen die beiden gedrängt.

Die Charlotte nützte den Moment, um sich am Leo vorbeizuschummeln.

»He, Cousine!«, beschwerte sich der Leo, stieß aber bei der Charlotte wie üblich auf taube Ohren.

»Hast du eine Ahnung, wer der Tote ist?«, fragte sie, seinen Einwurf geflissentlich ignorierend.

»Nein, aber ich weiß ja auch noch nicht einmal, woran er gestorben ist.«

»Oh mein Gott!«, erklang es nun von direkt hinter ihnen. Die Charlotte und der Leo drehten sich um. Da stand die Gina, kreidebleich und die Hände vor den Mund geschlagen.

»Kennst du ihn?«, fragte die Charlotte vorsichtig.

Als Antwort kam ein langsames Nicken.

ZWEI

»Sag schon, wer ist es?«, bohrte die Charlotte nach.

Statt einer Antwort bekam sie zunächst nur ein leises Schluchzen zu hören. Die Charlotte wartete einige Momente, bevor sie ihre Frage wiederholte.

»Das … das ist der Dirk. Dirk Schuster.«

Dirk wer?, wunderte sich die Charlotte.

»Der Leiter von ÖL«, sprang ihr der Leo zur Seite, als er ihren fragenden Blick bemerkte. Die Gina nickte zustimmend.

Na, immerhin. ÖL sagte ihr etwas. ÖL stand für »Österreichische Lizenzen«, eine Bundesgesellschaft, die unter anderem die Rechte für die Ausbeutung von Bodenschätzen in Österreich verwaltete und vergab. Die Gesellschaft war in letzter Zeit öfter in die Medien geraten, so viel hatte sich die Charlotte gemerkt. Warum genau, natürlich nicht. Wieso auch? War ja nicht so, als ob die Charlotte in ihren Weingärten nach Öl bohren wollte.

»Ohne jetzt chauvinistisch klingen zu wollen, aber das hört sich doch stark nach einem deutschen Namen an«, meinte die Charlotte.

Die Gina nickte. »Ist es auch. Herr Schuster ist Deutscher, lebt aber schon lange in Österreich.«

»Du kennst ihn persönlich?«

Die Gina riss die Augen weit auf. »Nein!«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Also, nur flüchtig. Ich bin ja Politikerin, und da ist es meine Aufgabe, dass ich über den Leiter einer so wichtigen Gesellschaft Bescheid weiß.«

»Aha«, antwortete die Charlotte mit leichtem Zweifel in der Stimme. Das Dementi der Gina war ihr ein bisschen zu flott über die Lippen gekommen.

»So, genug geplaudert, die Damen«, mischte sich der Leo ein. »Machts jetzt Platz da, bevor auch noch die letzten Spuren verwischt sind.«

Der Rest der Schaulustigen hatte von der Unterhaltung nichts mitbekommen, dank der lärmenden Musik. Der Mob löste sich langsam auf, und so fiel es gar nicht besonders auf, dass ein paar Minuten später die Polizei eintraf und den Tatort genau untersuchte. Nachdem es sich dabei sowieso um eine dunkle, nicht stark frequentierte Ecke handelte, war das kein großes Problem. Abgesehen davon waren die meisten Ballbesucher ohnehin genug mit sich selbst beschäftigt. Beziehungsweise mit ihrem Gegenüber. Schmusen und so halt.

Die Leiche wurde über einen Notausgang am Fuß der Treppen weggebracht, der Ball ging weiter, als wäre nichts geschehen. Auf den Großteil der Gäste traf das ja auch zu. Für sie hatte es sich einfach um einen Komasäufer gehandelt, der seinen Rausch nun unter ärztlicher Beobachtung im Spital ausschlafen durfte. Aufregend, aber nicht so spektakulär, dass man sich deshalb gleich den ganzen Abend versauen ließ. Und so wussten zunächst nur die Nöhrers plus Anhang und die Gina, dass es am Perchtoldsdorfer Zombieball einen Toten gegeben hatte.

Nachdem der Tote abtransportiert worden war, zog sich die Gina zurück. Für sie war es natürlich ein Riesenschock, dass ausgerechnet auf »ihrem« Ball ein Mord passiert war. Die Charlotte beobachtete, wie sie sich die Treppen hinaufschleppte, wo sie in einem Lagerraum verschwand, der für den Ball zu einem provisorischen Büro umgestaltet worden war.

»Und was machen wir beide jetzt?«, fragte die Andrea aufreizend. Sie hatte die Renate, ihren Manga-Zwilling, irgendwo im Gewusel verloren. Wahrscheinlich war sie zum Mario gegangen, um sich einen Cocktail zu holen. Oder ein paar Schmuseeinheiten. Bei genauerem Überlegen wohl eher Letzteres. Man wusste ja, wie die Renate tickte.

»Willst du heim?«, fragte die Charlotte. Ihr war nach dem Toten alles recht. Gehen, bleiben. Völlig wurscht.

»Nöööö!«, erwiderte die Andrea lachend, der Tote ging ihr offenbar überhaupt nicht nahe. Gut, auch nicht schlecht, dachte die Charlotte. Sie erinnerte sich noch mit Schaudern an die Reaktion der Andrea beim Anblick ihrer letzten Leiche. Damals hatte sie direkt auf die Stiefel der Charlotte gekotzt. Natürlich, der Pfarrer hatte nach seinem Sturz vom Wehrturm auch etwas ungustiöser ausgesehen. Da war so eine Reaktion schon mal zu verstehen.

»Jetzt geben wir erst so richtig Gas und feiern, dass wir noch am Leben sind! Außerdem ist die Tombola-Verlosung erst in einer Stunde, und ich habe zwanzig Lose gekauft!«

»Was ist denn der Hauptpreis?«, fragte die Charlotte. Sie hatte sich um die Tombola nicht gekümmert. Sie wusste nur, dass sie einen Preis gespendet hatte. Natürlich einen Karton von ihrem Schüttelwein.

Die Andrea zuckte mit den Schultern. »Ist doch egal, oder? Hauptsache, es gibt etwas zu gewinnen.«

In der Stunde bis zur Verlosung musste die Charlotte die Andrea beim »Lebenfeiern« irgendwann einbremsen, sonst hätte sie die Verlosung gar nicht mehr erlebt. Die Andrea goss sich einen Cuba Libre nach dem anderen rein. Was auch damit zu tun haben konnte, dass die Renate den Mario bezirzt und von der Bar weggelockt hatte. Nicht direkt in eine Besenkammer, aber doch etwas Vergleichbares. Und der Mario hatte die Andrea in Ermangelung von Personal gebeten, sich ein paar Minuten (am Ende wurde es eine halbe Stunde) um die Ausschank zu kümmern. Schließlich hatte die Andrea bis vor gar nicht allzu langer Zeit die Bar in einer Wiener In-Disco geschupft. Von Bezahlung war allerdings keine Rede gewesen, und da hatte es die Andrea nur fair gefunden, dass sie sich selbst bediente.

Die Charlotte wusste schon, dass ihre Freundin durchaus trinkfest war, auf jeden Fall mehr als sie selbst. Aber dieses Tempo hatte sie noch selten erlebt. Es war fast so, als würde man einem in der Wüste Verdurstenden beim Trinken der rettenden Schlucke Wasser zusehen. »Eher einem Kamel an der Tränke«, merkte die Flora sarkastisch an. Sie hatte sich zu ihrer Schwester und ihrer Beinahe-Schwägerin gesellt, nachdem der Noah mit der Inaaya irgendwohin verschwunden war.

Und jetzt wird es wirklich kompliziert. Denn eigentlich war der Noah ja inzwischen mit der Flora zusammen. Aber irgendwie auch nicht. Die hatte nämlich bei ihrem letzten Skiurlaub in Schladming, als die Sache mit dem Noah noch nicht so gaaaanz fix war, auch was mit einem jungen Franzosen angefangen, als der Noah an einem Abend mal etwas früher aus der Disco abgehaut war. Außerdem hatte die Flora dem Noah in einem Anfall von juvenilem Wahnsinn danach auch noch gestanden, dass sie über Silvester mit dem Luca, ihrem ehemaligen Italo-Lover, doch noch mal was gehabt hatte. Um diese Zeit war der Noah mit der Renate in Ägypten auf Urlaub gewesen, seinem ersten Auslandsurlaub überhaupt. So richtig genießen hatte er ihn nicht können, denn er hatte sich nach der Flora verzehrt und zuerst die Tage, dann die Stunden gezählt, bis er endlich wieder heimfliegen durfte. Das hatte er die Renate natürlich nicht merken lassen, immerhin war der Ägyptenurlaub ja ihr Weihnachtsgeschenk für ihn gewesen.

Und was hatte die Flora in der Zwischenzeit gemacht? In Noahs Vorstellung endlich endgültig Schluss mit dem Luca, der es sich ja nicht hatte nehmen lassen, nach der gebannten Terrorgefahr mit seinen Eltern in Perchtoldsdorf Silvester zu feiern. Tja, in Wirklichkeit hatte die Flora tatsächlich mit dem Luca Schluss gemacht. Aber dann hatte sie sich trösten müssen. Und weil der Noah ja unbedingt in Ägypten statt an ihrer Seite sein musste, hatte sie sich an das nächstbeste männliche Wesen gehalten, das gerade greifbar war. Das war nun leider wieder der Luca gewesen.

Danach sollte aber wirklich Schluss sein. Hoch und heilig hatte sie sich das selbst versprochen. Aber weil der Luca sich nicht vor seinen Eltern blamieren wollte und deshalb auch nichts von der Trennung erzählte, waren die Bianchis noch ein paar Tage länger in Perchtoldsdorf geblieben. Und in der Nacht vor der Abreise hatte sich die Flora noch einmal hinreißen lassen. Abschiedssex, quasi. Sie hatte sich eingeredet, dass sie nur deshalb noch mal mit dem Luca schlief, um sich zu beweisen, dass der Sex mit ihm gar nicht so toll war. Blöd nur, dass ihr in dieser Hinsicht jeglicher Vergleichswert fehlte.

Ja, und das war’s dann auch. Dem Noah hatte sie zuerst natürlich nichts davon erzählt. Weil, wegen ihm hatte sie mit dem Luca ja überhaupt erst Schluss gemacht. Nur halt auf Etappen.

Das Ganze war auch ein paar Wochen gut gegangen, bis ihr die Inaaya auf die Nerven zu gehen begann. Die junge Syrerin hatte ja schon seit Weihnachten ein Auge auf den Noah geworfen, und der Flora taugte es überhaupt nicht, dass der Noah die Syrerin nicht abweisender behandelte. Ganz im Gegenteil. Er war immer scheißfreundlich zu ihr. Und das viel zu oft, denn die Inaaya hatte inzwischen einen fixen Kellnerinnen-Job beim Nöhrer-Heurigen von der Charlotte angefangen.

Ja, und dann war es in Schladming eben wieder passiert. Die Inaaya hatte einfach keine Ruhe gegeben und dem Noah sogar in den Urlaub Whatsapp-Nachrichten geschickt. Die Flora hatte den Noah dann einmal zur Rede gestellt, aber der hatte ihre Vorwürfe einfach nur weggelächelt und gemeint, sie solle nicht eifersüchtig sein. Er sei mit ihr zusammen, und das habe er der Inaaya auch klargemacht. Als der Flora dann am selben Abend ein junger Franzose schöne Augen gemacht hatte, war sie trotzdem schwach geworden. Eh nur herumknutschen und so, aber sie wusste ja auch gar nicht, was der Noah jetzt gerade allein im Hotelzimmer machte. Ganz sicher die Whatsapp-Nachrichten von der Inaaya beantworten! Hundertprozentig! Also hatte sie halt mit dem Franzosen – Antoine hieß er – herumgeschmust. Blöd nur, dass in der Disco auch Fotos gemacht und im ganzen Lokal an die Wände geklebt wurden. Noch blöder, dass der Noah am nächsten Abend genau jenes Foto entdecken musste, auf dem der Antoine der Flora die Zunge so tief in den Mund gesteckt hatte, als führte er bei der kleinen Nöhrer eine Mandeluntersuchung durch.

Und wie hatte die Flora reagiert? Natürlich wütend und so, als wäre sie bei der ganzen Geschichte das Opfer gewesen. Zu allem Überfluss hatte sie dem Noah dann auch noch an den Kopf geworfen, dass sie während seines Ägyptenurlaubs noch zwei Mal mit dem Luca geschlafen hatte. Genau. So war das! Und dann hatte der Noah sein Handy genommen und eine Whatsapp geschrieben. An die Inaaya.

Seit damals ging es drunter und drüber, und keiner wusste mehr so recht, wer jetzt gerade mit wem was hatte. Aber immerhin gingen sich die Flora und der Noah nicht mehr gegenseitig an die Gurgel. Sie hatten so etwas wie einen Waffenstillstand geschlossen (mit zwischenzeitlicher Schmuserei). Nicht zuletzt wegen einer Comic-Messe in ein paar Wochen in Wien, zu der sie gemeinsam hingehen wollten.

Einen kleinen Nadelstich konnte sich die Charlotte doch nicht verkneifen. »Stört es dich gar nicht, dass der Noah so mit der Inaaya rummacht?«, fragte sie. Irgendwie fand sie es ja tatsächlich bewundernswert, wie locker die Flora die ganze Sache nahm. Wenigstens an diesem Abend.

Die Flora trank einen Schluck von dem Cocktail, den ihr die Andrea zuvor unaufgefordert hingeschoben hatte, und sagte: »Natürlich tut es das, aber was soll ich jetzt machen? Heulend nach Hause laufen?« In dem Moment machte es auf ihrem Handy »ping«. Sie schaute drauf und lächelte selig.

»Antoine?«, fragte die Charlotte.

Die Flora nickte und steckte das Handy wieder weg. »Außerdem weiß ich ja, dass die beiden nur ein bisschen herumschmusen«, fuhr sie schließlich weltmännisch fort. »Die Inaaya mag sich ja inzwischen gut bei uns eingelebt haben, aber sie würde nie mit dem Noah schlafen. Also zumindest nicht, bevor sie verheiratet sind.«

Na, wenn du dich da mal nicht täuschst, dachte sich die Charlotte. Beim Punschstand zu Weihnachten hatte sich die Inaaya sogar mal einen kleinen Damenspitz angetrunken, und ganz allgemein hatte die Charlotte den Eindruck, dass die Syrerin auf die meisten der von ihrer Religion auferlegten Regeln pfiff. Mit einem Kopftuch hatte sie die Inaaya noch nie gesehen, und auch sonst versuchte die junge Frau, sich in allem den westlichen Gegebenheiten anzupassen. In der Alia und der Bahira, zwei anderen syrischen Kellnerinnen am Nöhrer’schen Weingut, hatte sie in dieser Hinsicht zwei Verbündete gefunden. Für die beiden war die Flucht nach Europa nicht nur eine Flucht vor dem IS gewesen, sondern auch vor den Pflichten und Verboten, die ihnen daheim durch den Islam auferlegt worden waren. Bei den beiden – sie waren ein paar Jahre älter als die Inaaya – war sich die Charlotte auch ziemlich sicher, dass sie ihre Jungfräulichkeit bereits verloren hatten. Ganz ohne dass sie dafür einen Mann geheiratet hätten. Aber sie wollte jetzt keinen Streit mit ihrer kleinen Schwester vom Zaun brechen und beließ sie in ihrem Glauben.

Als der Mario zurückkam und die leeren Havanna-Club-Flaschen sah, leuchteten seine Augen. Die Renate stand neben ihm und zog genüsslich an einer Zigarette. Irgendwie saß ihr Kostüm nicht mehr so hundertprozentig, und auch die Perücke sah etwas zerzaust aus. Als der Mario schließlich in die Kassa blickte und kaum einen Unterschied zu dem fand, was er vor seiner kurzen amourösen Pause hinterlassen hatte, verschwanden das Leuchten und das Lächeln augenblicklich. Ein hysterischer Schreianfall stand unmittelbar bevor. Bevor er aber etwas sagen konnte, hing die Renate vorsorglich schon wieder an seinen Lippen. Hinter ihrem Rücken deutete sie der Andrea, dass sie verschwinden sollte.

Zum Glück hatte die vor der Rückkehr vom Mario nochmals alle Gläser randvoll nachgefüllt. Und so stöckelte sie jetzt, aufreizend mit dem Hinterteil wackelnd, zum großen Veranstaltungssaal. In der einen Hand ein volles Cocktailglas, in der anderen eine Zigarette. Die Charlotte und die Flora sahen sich kurz schmunzelnd an und hechelten der Blondine schließlich nach.

Wenig später war es endlich so weit. Die große Tombola-Verlosung stand auf dem Programm. Durchgeführt wurde sie vom Bürgermeister höchstpersönlich, immerhin hatte er ja auch den Ehrenschutz für die Veranstaltung übernommen. Eigentlich ein Wunder, wenn man bedachte, dass der Ball zwar von einer Gemeinderätin, aber eben einer politischen Gegnerin und noch dazu in Eigenregie (wenn auch trotzdem aus dem Gemeindebudget) veranstaltet wurde. Aber mehr als sechshundert verkaufte Eintrittskarten waren doch ein starkes Argument und eine Gelegenheit, die sich der Bürgermeister nicht entgehen lassen wollte. Nach der Wahl war ja bekanntlich vor der Wahl.

Von den zwanzig Losen der Andrea gewannen schließlich zwei einen Preis. Der eine war ein Gummibaum, frisch wie aus einem Möbelprospekt der siebziger Jahre, der andere war – Trommelwirbel – der Karton Schüttelwein, den die Charlotte gespendet hatte. Irgendwie eh klar. Wankend und schwankend versuchte die Andrea bei der Preisübergabe, den Bürgermeister dazu zu bewegen, den Preis umzutauschen. Am besten natürlich gegen den Hauptpreis, immerhin ein nagelneues Handy. Aber der Bürgermeister blieb hart. Am Ende war es die Flora, die die protestierende und geifernde Andrea unter dem Blitzlichtgewitter der anwesenden Lokaljournalisten von der Bühne zerrte.

Die Charlotte genierte sich so für ihre Freundin, dass sie am liebsten im Boden versunken wäre. Das war aber in ihrem knallgelben Pokémon-Kostüm unmöglich. Als sie von hinten auch noch den fluchenden Mario hörte, der sich endlich von seiner Renate hatte lösen können, sah sie nur mehr einen Ausweg. Sie schnappte sich die Andrea – ihre Preise hatte der Noah in Empfang genommen, weil die Flora beide Hände benötigte, um die Andrea von der Bühne zu zerren –, und im Laufschritt ging es zum Ausgang. Ohne sich umzublicken, rannte – oder vielmehr stolperte – sie mit der Andrea im Schlepptau zu ihrem Auto. Wie früher zu Polizeizeiten stopfte sie ihre Freundin auf den Beifahrersitz. Zuerst Hüfte und Hintern, dann die Hand auf den Kopf und rein mit ihr. Als sie sich selbst auf den Fahrersitz gezwängt hatte, was mit dem Kostüm gar nicht so einfach war, kicherte die Andrea wie blöd. Eigentlich war der Charlotte überhaupt nicht nach Kichern zumute, nach Lachen schon gar nicht. Aber irgendwie war die gute Laune der Andrea so ansteckend, dass sie schließlich beide einen richtigen Lachanfall hatten. Fünf Minuten und ein paar Küsse später konnte die Charlotte endlich den Motor starten und über Schleichwege den Heimweg antreten. In ihrem Zustand wollte sie ganz sicher nicht in eine Polizeikontrolle geraten.

Es sollte nicht weiter verwundern, dass die Charlotte und vor allem die Andrea den nächsten Tag, einen Samstag, völlig verschliefen. Was sie dabei versäumten? Nicht viel, außer den ersten wirklich warmen Tag des Jahres. Der Jahrhundertwinter hatte sich noch bis spät in den März hineingezogen. Danach war es zwar eine Spur wärmer geworden, aber von einem richtigen Frühling hatte bisher wirklich keine Rede sein können. Bis lange nach Ostern waren die Temperaturen in der Nacht noch in den niedrigen einstelligen Bereich gefallen, und erst in den letzten Apriltagen hatte sich das Wetter langsam gebessert. Das Skandälchen, das die Andrea beim Ball produziert hatte, war ganz ohne Medienberichterstattung auch bis zur Nöhrer-Mama vorgedrungen. Sie hatte es von einer ihrer Freundinnen im Ort unten erfahren, die selbst Zeugin des Auftritts gewesen war.

Die Eltern der Charlotte hatten den Ball nicht besucht, weil sie keine Lust gehabt hatten, sich zu verkleiden. Dennoch hatte die Frau Mama ihre Freundinnen, die den Ball besuchten, selbstverständlich angewiesen, ihr detailgetreu Bericht über die Vorgänge zu erstatten. Quasi eine Art Liveticker übers Handy.

Was sich die beiden durch ihr langes Schlafen also ersparten, war eine gewaltige Kopfwäsche von Muttern. Als sie sich am späten Nachmittag nämlich endlich aus dem Bett rollten, war die Mama schon unten im Ort beim Gottesdienst. Und nachdem die Charlotte und die Andrea von der Omama über die Laune der Frau Mama informiert worden waren, hatten sie sich ein kaltes Schnitzel geschnappt und waren ins Kino gefahren. Völlig wurscht, welche Filme gerade liefen, Hauptsache, nicht in der Nähe der Frau Mama sein, wenn sie heimkam.

Das hatte auch ganz gut funktioniert. Wenigstens bis zum nächsten Morgen, da wurden sie von der Frau Mama bereits am Frühstückstisch erwartet. Als die Charlotte und die Andrea die Küche betraten, hatte es draußen schon angenehme zwanzig Grad. Drinnen in der Küche schien die Temperatur aber um den Gefrierpunkt zu liegen.

Eine Viertelstunde lang sagte die Frau Mama überhaupt nichts. Sie saß nur mit verschränkten Armen da und beobachtete ihre Tochter und Schwiegertochter in spe beim Frühstücken. Der Herr Papa hatte sich ob dieser schlechten Laune bereits aus dem Staub gemacht, und die Omama werkte an den Mehlspeisen, weil der Heurige am nächsten Tag wieder einmal für drei Wochen aussteckte. Die Flora und der Noah warfen sich vielsagende Blicke zu und gaben sich alle Mühe, sich vor Lachen nicht zu verschlucken. Die Charlotte und die Andrea wiederum versuchten, die geladene Stimmung, so gut es ging, zu ignorieren.

Schließlich reichte es der Frau Mama, und sie ergriff das Wort: »Und von dem toten Politiker habt ihr nichts erzählen können?«

Aha, daher wehte also der Wind. Die Frau Mama war also nicht nur wegen des Verhaltens der Andrea so angepisst, sondern auch, weil man ihr nichts vom toten Batman erzählt hatte.

»Politiker?«, antwortete die Charlotte vorsichtig ausweichend. Ihr Blick hing an ihrem Marmeladebrot.

»Ja, der Dirk Schuster.«

»Ich dachte, der war Leiter einer Behörde.«

»Eh, und vorher war er der Pressesprecher und Assistent von unserem Landeshauptmann.«

»Ah, das wusste ich gar nicht.«

»Also?«

»Also was?«

»Jetzt komm schon, stell dich nicht so blöd.«

Jetzt reichte es der Charlotte. Sie legte das Marmeladebrot auf ihren Teller und schaute ihrer Mutter nun doch in die Augen. »Der Dirk Schuster ist tot. Mehr weiß ich auch nicht. Ist ja nicht so, dass sich der Mörder zu uns hingestellt und zu erkennen gegeben hätte.«

»Hmpf!« Okay, offenbar die falsche Antwort. Die Frau Mama knallte das Geschirrtuch auf den Tisch (ja, das geht wirklich, man muss nur wütend genug sein) und verließ wortlos die Küche.

»Charlotte!«, sagte die Flora.

»Was?«, fauchte die Charlotte zurück.

»Ein bisschen diplomatischer hättest du das schon angehen können.«

»Ja, danke für den guten Tipp, Frau Obergescheit.« Damit nahm die Charlotte ihr Brot und stürmte ebenfalls aus der Küche.

Der Rest des Tages verlief ruhig, die Familie ging sich, so gut es ging, aus dem Weg. Jeder erledigte seine Aufgaben für die Heurigenöffnung am nächsten Tag für sich allein. Die Charlotte hatte noch ein paar Extraaufgaben, denn am nächsten Vormittag stand neben der Öffnung des Heurigen noch eine ganz spezielle Veranstaltung auf dem Programm – die offizielle Einweihung ihres Show-Weinkellers. Und damit verbunden auch die der Goldmann-Gedenkstätte in ebenjenem Weinkeller.

DREI

Die Charlotte und die Andrea schafften es am nächsten Tag, dem Montag, tatsächlich, so früh aus den Federn zu kommen wie die Altvorderen. Ein eher seltenes Ereignis. Am Frühstückstisch hatte sich die schlechte Laune gelegt, die Frau Mama hatte sich wieder beruhigt. Wahrscheinlich, weil die Tratschtanten unten im Ort ihr auch nichts Genaueres zum Tod vom Schuster erzählen konnten.

Zudem stand heute die Eröffnung des neuen alten Weinkellers und damit verbunden auch die Eröffnung der Goldmann-Gedenkstätte am Programm. Dafür hatte sich hoher Besuch angesagt: Vom Landeshauptmann abwärts wollte praktisch alles kommen, was in Niederösterreich Rang und Namen hatte.

Nachdem die Charlotte vor Weihnachten die Auslöschung der Familie Goldmann durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg aufgedeckt hatte, war die Geschichte tagelang groß in den Medien gespielt worden. Ein damit verbundener geheimer Bunker mit lange verschollen geglaubtem Nazigold und die ebenfalls damit verbundene Tragödie der Familie Zaitler hatten die Geschichte noch interessanter gemacht. Da war es nur klar, dass sich die Politik nicht zweimal bitten ließ, wenn es darum ging, so eine geschichtsträchtige (und viel Publicity garantierende) Gedenkstätte zu eröffnen. Vor allem, weil die Nöhrers diese in Eigenregie und auf eigene Kosten hergerichtet hatten. Unter wissenschaftlicher Anleitung und Begleitung von Frau Professor Weber, der Geschichtslehrerin von der Flora und dem Noah. Das Bundesland hatte es also auch nichts gekostet, was nochmals ein Bonus war.

Die Flora und der Noah hatten auf Ansuchen der Eltern an diesem Tag schulfrei bekommen. Was auch nur halb so toll war, weil die Frau Professor Weber mit der ganzen Klasse sowieso bei der Eröffnung dabei sein würde. Offizielle Schulexkursion, quasi.

Die Eltern und die Omama hatten sich, wie nicht anders zu erwarten, bereits in Schale – sprich Dirndl und Weinhauertracht – geworfen. Das Herrichten des Lokals und des Gastgartens für das »normale« Ausstecken hatte das Personal übernommen.

Die ganze Familie war wegen des hohen Besuchs bereits in heller Aufregung. Wenn der Landeshauptmann höchstpersönlich aus seinem Palast in St. Pölten herabstieg, dann war das schon etwas ganz Besonderes.

Die Charlotte dachte da rebellischer, ihr war der Landeshauptmann nie besonders sympathisch gewesen. Aber sie war da eben ganz anders als ihre Eltern, bei denen man kein schlechtes Wort über den erzkonservativen Landesvater und seine Partei verlieren durfte. Egal, dass Perchtoldsdorf fast der vierundzwanzigste Bezirk des zutiefst sozialdemokratischen Wien war, im Herzen waren die meisten Einwohner hier ganz und gar konservativ. Um des lieben Friedens willen hielt die Charlotte aber brav ihren Mund. Sie hatte sich allerdings vorgenommen, den Landeshauptmann in einer stillen Minute zur Seite zu nehmen und ihn auf die bereits mehrmals versprochenen Fördermittel des Landes für die Gedenkstätte anzusprechen. Bislang war da nämlich noch kein einziger Cent geflossen, und so einfach wollte sie ihn nicht davonkommen lassen. Nur die Lorbeeren einstreifen und nichts dazu beitragen? Aber sicher nicht.

Kaum hatten die Nöhrers ihr Frühstück beendet, kam auch schon ein Wagen vom regionalen TV-Landesstudio am Weingut an. Eine Redakteurin und ein Kameramann stellten sich höflich vor und ließen sich die zu filmenden Örtlichkeiten zeigen. Noch am selben Abend sollte in den Regionalnachrichten ein Bericht über die Eröffnung gebracht werden, dafür hatte schon das Büro des Landeshauptmanns gesorgt. Wenn es so etwas Positives über ihn zu berichten gab, dann wurde nicht lange herumgefackelt. Und dem Landeshauptmann wurde sowieso nie ein Wunsch abgeschlagen. Die Charlotte hatte sich über diesen beinahe schon Kaiser-Kult immer nur wundern können. Aber so war das Land nun mal, und daran würde sie allein auch nichts ändern können.

Im Minutentakt trudelten nun diverse schreibende Journalisten ein. Kurz vor elf Uhr spuckte ein Kleinbus die Klasse von der Flora inklusive der Frau Professor Weber aus, in der Staubwolke dahinter parkte sich auch schon der Bürgermeister ein. Etwa zur gleichen Zeit kam dann die Gina Blauensteiner auf einem Elektrorad angestrampelt, ehe mit fünfminütiger Verspätung der Landesvater selbst eintraf. In einem Autokorso aus vier schwarzen, protzigen BMW-Limousinen. Der Landeshauptmann selbst entstieg der zweiten Limousine, allerdings erst, nachdem ihm ein Lakai die Autotür geöffnet hatte.

Die Charlotte musste zwar zwei Mal hinschauen, aber schließlich erkannte sie den Lakaien doch: Es war Markus Maier, der beim Maskenball noch als Captain America aufgetreten war. Heute war seine Rolle eine gänzlich andere, nämlich die des persönlichen Assistenten des Landeshauptmanns.

Bevor die Charlotte ihre Mama zurückhalten konnte, war diese dem Landesvater bereits entgegengeeilt. Die silbergraue Mähne hatte der Politiker in einem Pferdeschwanz zusammengebunden, seine Augen wurden von einer dunklen Sonnenbrille geschützt. Mit diesem Look kam er auch bei der jungen ländlichen Bevölkerung gut an, und Wählerstimmen waren am Ende das Einzige, was zählte. Die Frau Mama erreichte den Landeshauptmann, und es hätte nicht viel gefehlt, dass sie einen Hofknicks vor ihm machte. Der Landeshauptmann ließ dafür total den Gentleman und Charmeur heraushängen. Er nahm eine Hand der Frau Mama, führte sie formvollendet an seine Lippen und sagte etwas, das sie erröten ließ. Was das war, konnte die Charlotte nicht hören, weil sie zu weit entfernt stand.

Auch der Herr Papa begrüßte den Landeshauptmann überschwänglich, nur die Omama hielt sich dezent im Hintergrund und musterte den Politiker mit zusammengekniffenen Augen. Die Charlotte war froh, dass man sich wenigstens auf eine in der Familie noch verlassen konnte.

Die Gina Blauensteiner hingegen wurde vom Landeshauptmann nicht einmal eines Blickes gewürdigt. Die Charlotte dachte sich allerdings nicht viel dabei, denn bei aller Skepsis gegenüber dem Landeshauptmann musste man ihm doch zugestehen, dass er nicht alle Gemeindepolitiker des Bundeslandes persönlich kennen konnte.

»Wie geht’s?«, fragte die Charlotte die Gina, nachdem diese ihr Elektrorad an die Mauer des Weinguts angelehnt hatte.

»Gut, danke. Kann ich das Rad hier stehen lassen?«

»Von mir aus. Wird schon keiner stehlen.«

Die Gina musterte das Tamtam um den Landeshauptmann. »Hat sich der Sagmeister also schon bei deiner Mutter eingeschleimt?«

»Schaut fast so aus. Was soll ich machen?«

»Ja, eh. Kannst eh nix machen. Aber so ein Widerling. Du solltest mal hören, wie der hinter geschlossenen Türen über sein Stimmvieh spricht.«

»Will ich das?«

»Glaub ich nicht.«

»Woher weißt du das überhaupt?«, hakte die Charlotte skeptisch nach. »Nicht falsch verstehen, aber du bist eine kleine Gemeinderätin. Wie viel hast du denn schon persönlich mit ihm zu tun gehabt?«

Die Gina lief rot an. »Ja, nein. Hast eh recht. Das sind Sachen, die man so zu hören bekommt. Hinter den Kulissen halt.«

»Also nur Gerüchte?«

»Wie das wieder klingt … Aber, ja. Trotzdem, meistens steckt schon ein wahrer Kern darin. Ich und meine Partei haben es uns eben zur Aufgabe gemacht, dass wir ihn stürzen. Irgendwie. Er wird schon mal einen Fehler machen, und dann haben wir ihn.«

»Was für einen Fehler? Wieso ihn haben?«, fragte die Charlotte. Sie hatte gerade überhaupt keinen Tau, worüber die Gina da schwadronierte.

Das brachte ihr nur einen abschätzigen Blick der Umweltpolitikerin ein. »Bekommst du eigentlich gar nichts mit? Der Sagmeister behandelt das Land wie sein Eigentum. Da wird nirgendwo Rechenschaft abgelegt, Freunde und Gönner werden umstandslos in hohe Ämter gehievt, das Geld wird links und rechts mit offenen Händen rausgeworfen. Aber halt immer nur, wenn es seiner Partei etwas nützt. Die Gemeinden, die sich erdreistet haben, einen Bürgermeister zu wählen, der nicht aus seiner Partei ist, die werden … na ja, nicht gerade ausgehungert, aber die bekommen halt nicht die finanziellen Mittel, die sie gerne hätten. Das ist die reinste Korruptionsmaschine.«

Zugegeben, die Charlotte hatte mit Politik nicht viel am Hut. Da war sie die Erste, die das zugab. Und dass jetzt im Bundesland so viel falsch laufen würde, wie die Gina gerade erzählte, war ihr auch noch nie aufgefallen. Wahrscheinlich übertrieb sie einfach nur, so wie es Oppositionspolitiker nun mal taten. Missstände anprangern war ja auch deren Aufgabe. Dass die Leute zuhörten, ging halt meist nur, indem man die Sachen überzeichnete.

Mittlerweile trieben sich gut sechzig Leute im Innenhof des Nöhrer’schen Weinguts herum. Die Kellnerinnen des Heurigen huschten mit liebevoll angerichteten Tabletts voller kalter Köstlichkeiten herum, und der Herr Papa legte dem Sagmeister eine Flasche vom Schüttelwein ans Herz. Das machte die Charlotte dann doch wieder ein bisschen stolz. Es war noch nicht einmal ein Jahr her, da hätte sie ihren Schüttelwein am liebsten wieder eingestampft. Also, nicht den Frizzante selbst, der war ja hervorragend, aber die bereits vorgedruckten Etiketten mit dem Namen »Schüttelwein«. Nach ihrer Rückkehr in den Schoß der Familie war dieser Rosé Sparkling ihre erste Eigenkreation gewesen. Extra für die Theater-Sommerspiele, wo man Shakespeares »Sommernachtstraum« gab. Und die Charlotte hatte urwitzig sein wollen und den Frizzante nach einem wenig gelungenen Wortspiel auf Shakespeare benannt. Das hatte ihr bei der Kundschaft jede Menge schiefe Blicke eingebracht, aber der Geschmack hatte die meisten schließlich doch überzeugt. Als sie dann auch noch die Theatermorde während der Sommerspiele aufgeklärt hatte und wieder einmal ungewollt in die Medien gekommen war, hatte auch ihr Schüttelwein überregionale Bekanntheit erlangt. Daher hatte sie gemeinsam mit dem Herrn Papa beschlossen, ihn nicht umzubenennen. So doof der Name auch war, inzwischen war er Kult geworden und hatte sich zu einem der Bestseller der Nöhrer’schen Produktpalette entwickelt. Roséweine waren derzeit sowieso total in, und ein richtig guter Sparkling mit einer sprichwörtlichen Mördergeschichte dahinter war natürlich das Tüpfelchen auf dem i.

Es hatte auch geholfen, dass die Renate Obermayer, deren Mann das erste Mordopfer gewesen war, ihr Versprechen eingelöst und der Charlotte die Bewirtung bei einigen finanziell einträglichen und vor allem prestigeträchtigen Kulturevents zugeschanzt hatte. Die Renate war eigentlich auch zur heutigen Eröffnung eingeladen gewesen, hatte sich aber nicht für die Charlotte freimachen können. Ausnahmsweise ließen es ihre Geschäfte nicht zu.

Bei so viel Politprominenz war es kein Wunder, dass auch die Polizei vor Ort war. In diesem Fall in Gestalt vom Leo, der mit einem zehnköpfigen Trupp angerückt war, um die notwendige Sicherheit der Veranstaltung zu gewährleisten.

Bevor die Eröffnungsfeier begann, wollte die Charlotte noch ungestört ein paar Worte mit dem Leo reden. Da passte es gut, dass die eingetroffene Prominenz vor dem eigentlichen Festakt noch ordentlich mit Nöhrer-Wein versorgt werden musste. Die Charlotte versuchte, den Leo unauffällig von der Menge wegzulocken, und deutete mit einem Kopfnicken auf den Eingang zur Schank. Als der Leo nicht reagierte, nickte sie noch auffälliger. Bis es schließlich »knack« machte und sie vor Schmerzen laut fluchte.

Immerhin wurde der Leo jetzt auf sie aufmerksam. Die Charlotte rieb sich den schmerzenden Nacken, als er sie besorgt fragte, ob alles in Ordnung sei. Ein beliebter Satz, vor allem in Hollywoodfilmen, wo sogar gerade Verblutende noch gefragt wurden, ob alles in Ordnung sei. Die Charlotte hatte in dieser Hinsicht einen klaren Verdacht: Entweder war es in den Gewerkschaftsstatuten für Drehbuchautoren vorgeschrieben, dass dieser Satz ausnahmslos in jedem Film vorkommen musste, oder die Hollywood-Autoren hatten untereinander eine Wette laufen, und der Erste, der diesen Satz nicht in seinem Drehbuch unterbrachte, musste bei der nächsten Oscarverleihung für alle Anwesenden eine Runde schmeißen.