Perfect Woman – Was weißt du wirklich über sie? - - Andrea Bartz - E-Book
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Perfect Woman – Was weißt du wirklich über sie? - E-Book

Andrea Bartz

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Beschreibung

Niemand ist perfekt – und wer so tut, muss sterben!

Die New Yorkerinnen reißen sich um eine Mitgliedschaft bei The Herd, dem exklusiven Co-Working-Space für Frauen. Alle wollen sie so sein wie Eleanor Walsh, die schillernde Gründerin des Unternehmens. Damit ist Eleanor das perfekte Thema für das neue Buchprojekt von Autorin Katie Bradley. Zum Glück gehört Katies Schwester Hana zum engsten Kreis von Eleanor. Doch dann verschwindet Eleanor eines Abends während einer Party. Könnte jemand ihr etwas angetan haben? Die Liste der Verdächtigen ist lang und Hana und Katie müssen bald feststellen, dass Eleanor nicht die Einzige war, die ein dunkles Geheimnis hütete.

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Seitenzahl: 509

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Zum Buch

THEHERD steht in Großbuchstaben hinter dem Empfang des exklusiven New Yorker Co-Working-Spaces – Das HER ist rot hervorgehoben, denn hier treffen sich ausschließlich Frauen. Eine Mitgliedschaft ist das Ticket zum Erfolg. »Was könnte also spannender sein als ein Einblick in das gut gehütete Privatleben von Eleanor, der scheinbar makellosen Gründerin von The Herd?«, denkt Buchautorin Katie Bradley und beginnt zu recherchieren. Katie und ihre Schwester Hana kennen Eleanor bereits seit ihrer gemeinsamen Zeit am College. Als PR-Chefin von The Herd ist Hana gerade damit beschäftigt, ein großes Event zu organisieren, bei dem Eleanor etwas verkünden will. Genau an dem Abend verschwindet sie jedoch spurlos. Die Polizei geht davon aus, sie habe sich ins Ausland abgesetzt. Aber das können die beiden Schwestern nicht glauben. Sie sind überzeugt: Eleanor ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Doch wer könnte etwas gegen diese perfekte Frau haben? Oder war sie gar nicht so perfekt, wie alle glauben?

Zur Autorin

Andrea Bartz arbeitet als Journalistin und lebt in Brooklyn. Sie ist Co-Autorin des erfolgreichen Blogs Stuff Hipsters Hate und schreibt für das Wall Street Journal, Marie Claire, Vogue, Cosmopolitan und viele andere namhafte Magazine. Seit ihrer Kindheit liest sie am liebsten Thriller.

ANDREA

BARTZ

PERFECT

WOMAN

WASWEISSTDU

WIRKLICHÜBERSIE?

THRILLER

Aus dem Amerikanischen

von Frank Dabrock

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe The Herd erschien erstmals 2020

bei Ballantine Books, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 07/2021

Copyright © 2020 by Andrea Bartz Inc.

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Anita Hirtreiter

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München,

unter Verwendung von FinePic®, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27729-1V001

www.heyne.de

Für Tom und Cathy

Prolog

Die Kälte kroch zunächst in die äußeren Körperteile, ließ die wasserhaltigen Zellen gefrieren und arbeitete sich Millimeter für Millimeter weiter ins Innere vor. In die spitze Nase. Die mit einer dicken Schicht Wimperntusche bedeckten Augenlider. Und die Ohrläppchen mit den kleinen Silberohrringen. Im Nu verwandelten sich die Fingerspitzen in Kristalle, und über die Knöchel breitete sich ein weißer Flaum aus, bis die mit schwarzem Lack und weißen Sternchen verzierten Nägel senkrecht abstanden. Das Blut wurde erst zähflüssig und dann fest und hart, bis es schließlich aufhörte, unermüdlich Sauerstoff, weiße Blutkörperchen und Nährstoffe durch den Körper zu schleusen.

Und das Gehirn – es war ein Jammer. Es handelte sich um ein ganz außergewöhnliches Exemplar, eine gewundene Masse voller Möglichkeiten, voller großartiger Ideen und verblüffender Erkenntnisse, die darin schlummerten. Eine Nervenzelle nach der anderen verwandelte sich das Gewebe in Eis, und die winzigen Synapsen, die gerade noch Funken gesprüht hatten, waren jetzt nichts weiter als ein kalter, toter Raum dazwischen.

In gewisser Hinsicht war das allerdings ein Segen. Es heißt, dass alles Gefrorene, zumindest theoretisch, ewig überdauern kann. Schönheit ist vergänglich; die weiche Haut und das glänzende Haar der Jugend weichen irgendwann Falten, Furchen und dünnen, stumpfen Strähnen. Die straffen Oberschenkel setzen Fett an oder werden kraftlos und dürr. Nicht so bei diesem Körper. Die eisige Luft, die jetzt seine gesamte Oberfläche umhüllte, sorgte dafür, dass er vollständig konserviert wurde. Dass die Zeit stehen blieb.

Es war fast Mitternacht, und der Körper wurde in helles unvorteilhaftes Kunstlicht getaucht. Mit einem dumpfen Schlag schloss sich eine Tür, Dunkelheit senkte sich herab, und der Körper blieb zurück, um in aller Stille zu gefrieren.

ERSTERTEIL

Kapitel 1

KATIE

MONTAG, 9. DEZEMBER, 10:48 Uhr

Mein Körper verkrampfte bereits, bevor ich die rot-blauen Blinklichter überhaupt bewusst wahrnahm. Jenes universelle Signal für einen Notfall. Ich blieb stehen und spähte zu dem Streifenwagen auf der anderen Straßenseite hinüber, dessen Blinklichter ohne eingeschaltete Sirene noch unheimlicher wirkten. Ich holte tief Luft und befahl meinem Brustkorb, sich zu entspannen. Seit zwei Wochen war ich zurück in New York, und trotz all der Warnungen machten mir die Geräusche, Gerüche, Menschenmassen und emporragenden Wände aus Glas und Stahl nichts aus, sodass ich mich nicht erst wieder daran gewöhnen musste. Aber als ich jetzt zum ersten Mal die hektisch blinkenden Lichter eines Polizeiautos sah, spannte sich wie bei einem pawlowschen Reflex jeder meiner Muskeln an.

Während ich die Straße überquerte, stellte ich fest, dass die beiden Cops, die gelangweilt auf der Fahrbahn standen und mir den Weg versperrten, sich vor The Herd mit einer zierlichen Frau unterhielten, die einen todschicken Anorak trug. Ich beugte mich zu ihnen vor und setzte mein breitestes Lächeln auf.

»Entschuldigen Sie die Störung.« Die anderen drehten die Köpfe genervt in meine Richtung. »Ist es okay, wenn ich reingehe?« Ich deutete auf die Tür hinter ihnen.

»Bist du Mitglied?«, fragte die Frau.

»Ich habe einen Termin mit Eleanor.«

Sie runzelte die Stirn und seufzte.

»Ich bin Hanas Schwester.«

Die Frau trat einen halben Schritt zurück. »Ach so, geh ruhig rauf. Der Gleam Room ist geschlossen, aber sonst ist, äh, alles wie immer.«

Ich bedankte mich bei ihr und eilte aus der Kälte ins Gebäude, wo ich auf den einzigen Aufzug wartete. Der Gleam Room? Was zum Henker war der Gleam Room?

Im neunten Stock öffneten sich die Türen, und ich trat in den sonnenbeschienenen Eingangsbereich. Überwältigt blieb ich einen Moment stehen. Kurz nachdem Eleanor die Etage angemietet hatte, war ich schon einmal hier gewesen. Unmittelbar vor meiner Abreise aus der Stadt hatte ich – ausgerüstet mit Schutzhelm und festen Schuhen – eine Führung bekommen. Aber das Durcheinander aus Staub, Gipskarton und schwitzenden Bauarbeitern hatte mit dem Raum vor mir kaum noch etwas gemeinsam. Er verströmte den weiblichen Schick einer Zeitschriftenreaktion, nur ohne den ganzen Plunder und die geschäftige Betriebsamkeit – hier herrschte Stille. Durch die Fenster fiel Tageslicht; es war warm, aber nicht stickig, und in der Luft hing der zarte Blütenduft von Frangipani. Im Empfang saß eine Frau mit glänzenden Zöpfen und einer schicken Brille, die mich freundlich anlächelte. An der Wand hinter dem Marmortresen prangte das inzwischen berühmte Logo: THEHERD, das H-E-R in Pflaumenblau, die anderen Buchstaben in Grau.

Die Rezeptionistin notierte meinen Namen, worauf ich mit dem Finger auf ein iPad meine krakelige Unterschrift kritzelte, und sie deutete auf den nächstgelegenen Aufenthaltsraum. »Eleanor wird benachrichtigt, dass du hier bist«, sagte sie gut gelaunt, und ich jubilierte innerlich. »Nimm doch Platz.«

Ich bedankte mich bei ihr und betrat den von dunkelgrünen Sitznischen gesäumten Raum, in dessen Mitte mehrere Sofas und Sessel standen. Dort streifte ich meine Jacke ab und schickte eine SMS: »Bist du da?«

Ich konnte Hana bereits hören, bevor ich sie sah, als ihre Stöckelschuhe über das Parkett klapperten. Sie betrat jedes Zimmer wie Lily Tomlin in einer Bürokomödie aus den Achtzigern. »Katie!«, rief sie mit ausgebreiteten Armen.

»Ich nehme alles zurück, was ich gesagt habe«, murmelte ich, gegen ihre Schulter gepresst. »Dieser Ort ist nicht von dieser Welt. Ich habe das Gefühl, als wäre ich im Bürohimmel.«

Mit einem lauten Lachen ließ sie von mir ab, trat einen Schritt zurück und musterte mich. »Das ist die Katie, die ich kenne«, sagte sie und klopfte mir auf die Schulter. »Du warst in den letzten zwei Wochen etwas neben der Spur. Ich hatte schon Angst, der Aufenthalt in Kalamazoo hätte dir endgültig den Sinn für Humor geraubt.«

Es war ja klar, dass Hana sofort wieder an mir herumnörgeln würde. »Gib nicht Michigan die Schuld daran. Ich musste mich erst wieder ein wenig zurechtfinden.« Ich warf einen Blick hinter sie. »Ist Mikki da? Ach ja, und weißt du, was bei euch los ist? Vor der Tür stehen die Cops.«

Sie machte ein finsteres Gesicht. »Gestern Nacht wurde eingebrochen, und man hat den Gleam Room mit irgendwelchen Obszönitäten vollgesprüht.«

Ich hob den Zeigefinger in die Höhe. »Ist das ein extravaganter Ausdruck für die Toilette? Denn ich werde ihn sicher nicht benutzen.«

Sie lachte. »Das ist ein Schminkzimmer mit Spiegeln. Man kann sich dort gegen Bezahlung frisieren oder schminken lassen oder auch einfach nur die Produkte verwenden, wenn man ein Meeting, ein Vorsprechen oder ein Date hat.«

Inzwischen waren ein paar der Mitglieder an uns vorbeigeschwebt, allesamt modisch frisiert und schick gekleidet. »Gut so, denn die Leute hier sehen echt beschissen aus«, erwiderte ich.

Eine Frau mit einem Dutt in der Größe und Form eines Bagels blieb hinter Hana stehen und beugte sich fragend zu uns vor. Als Hana sie bemerkte, zuckte sie zusammen.

»Katie, das hier ist Aurelia«, sagte sie. »Sie ist unsere Mitgliederbetreuerin.«

Sie war jünger als ich, Anfang zwanzig, und gab in ihrem maßgeschneiderten Overall eine todschicke Figur ab. Sie hatte ein strahlendes Lächeln, und ihre Zähne funkelten wie Perlen. »Du bist also Hanas Schwester!«

Plötzlich wurde mir klar, dass sie die Frau war, die ich vor dem Gebäude gesehen hatte. Ich schüttelte ihr eifrig die Hand, und im Gegensatz zu den meisten Leuten, die die lästige Angewohnheit hatten, zweimal hinzuschauen, wenn sie erfuhren, dass wir Schwestern waren, verzichtete sie darauf, ihren Blick zwischen uns hin und her wandern zu lassen, zwischen Hana mit ihrem dichten schwarzen Haar, den goldbraunen Augen und der dunklen Haut und meinem nichtssagenden Äußeren.

»Eleanor hat erwähnt, dass du vorbeikommst«, sagte sie. »Du bist gerade erst wieder hergezogen, oder?«

»Sie hat in Michigan für ein Buch recherchiert«, warf Hana ein. »Sie ist Journalistin.«

»Wow! Worum geht es in dem Buch?«

Auf der U-Bahn-Fahrt hierher hatte ich mir meine Antwort auf diese Frage genau zurechtgelegt: »Es gibt da dieses kleine Technologieunternehmen, das mehr oder weniger zufällig in das lukrative Geschäft mit der Manipulation der Realität eingestiegen ist: Fake News, glaubwürdige Bots, solche Sachen eben. Ich habe für Wired einen Artikel über die Firma geschrieben und mache jetzt ein Buch daraus.«

»Das ist echt interessant.« Irgendetwas an ihrem Blick beunruhigte mich, ein heftiges Funkeln. »Ich habe mich vorhin mit Eleanor über die Verlogenheit des Internets unterhalten und darüber, dass sich alle nach echter Kommunikation sehnen. Sie meinte …«

»Tut mir leid, aber sie hat ein Vorstellungsgespräch!« Mit einem strahlenden Lächeln schickte Hana Aurelia fort und zuckte mit den Achseln. »Sie ist ja wirklich reizend, aber sie kaut dir ein Ohr ab. Ich möchte, dass du vor deinem großen Bewerbungsgespräch durch nichts abgelenkt wirst.«

»Hoffentlich ist Eleanor nicht zu streng mit mir.« Ich ließ meinen Blick umherschweifen. »Ich glaube, man starrt uns an. Mikki und du, seid ihr beide so etwas wie Berühmtheiten?«

Hana verdrehte die Augen, aber ich spürte, dass sie stolz darauf war. Sie hatte bei The Herd eine Teilzeitstelle als Presseagentin, und Mikki, eine weitere ihrer Freundinnen aus Harvard, arbeitete hier als freiberufliche Grafikdesignerin. Doch vor allem waren die beiden Eleanors engste Vertraute. Inzwischen taten alle im Raum so, als würden sie uns nicht beachten; statt Hana direkt anzustarren, senkten sie ihre hohlwangigen Gesichter und tippten zügig auf ihren Tastaturen.

»Also, mach es dir bequem. Ich werde mal nach Mikki Ausschau halten.« Mit klappernden Absätzen eilte sie davon.

Ich marschierte hinter ihr her und spähte in das nächste Zimmer, in dem sie soeben verschwunden war. Darin erstreckten sich von einer Ecke zur anderen weiße Regale, in denen Bücher nach Farben sortiert waren. Sie waren so akkurat aufgereiht, dass ich am liebsten eines davon schräg herausgezogen und einige auf den Boden geworfen hätte, nur um zu sehen, was passieren würde. Weiter hinten befanden sich ein geräumiger, sonnendurchfluteter Raum und auf einer Seite ein kurzer Flur mit einer schicken Tapete, deren Muster aus grinsenden Mündern bestand, die die Zunge herausstreckten. Der Flur war mit Klebeband abgesperrt, und auf einem Post-it in der Mitte stand: VORÜBERGEHENDGESCHLOSSEN! Das war also der Gleam Room. Ich fragte mich, was man dort an die Wände geschmiert hatte – was den Streifenwagen vor dem Gebäude rechtfertigen könnte.

In diesem Moment kamen Hana und Mikki aus dem sonnenbeschienenen Zimmer zu der Tür herübermarschiert, neben der ich stand. Als Mikki mich umarmte, roch sie genau so, wie ich es in Erinnerung hatte – süßlich und ein wenig nach Moschus. Obwohl es Winter war, trug sie ein gehäkeltes schulterfreies Oberteil und eine weite Hose mit Elefantenmuster, und ihre lange Haarmähne im Seventies Style fiel in krausen Locken an ihrem ungeschminkten Gesicht herunter.

»Verdammt noch mal, Hana, warum hast du ihr nicht die Jacke abgenommen?« Mikki zog an der Lederjacke, die über meinem Unterarm hing. »Los, ich werde dich herumführen, und dann will ich wissen, wie es in Minnesota war.«

»Michigan.«

»Stimmt. Du musst mich wirklich dringend auf den neuesten Stand bringen.« Sie grinste, sodass sich die Sommersprossen auf ihren Wangen kräuselten, und drehte sich zu der sonnenbeschienenen Stelle am hinteren Ende des Raums um. Eigentlich hatte ich Mikki bereits vor ein paar Wochen treffen wollen; sie hatte in ihrer günstigen, heruntergekommenen Wohnung für all ihre Freunde, die sonst keine Anlaufstelle hatten, ein Thanksgiving-Essen veranstaltet. Aber ich war zu müde und durcheinander gewesen, um ihre Einladung anzunehmen.

Hana erklärte, dass sie einige Mails beantworten müsse, und verschwand, während Mikki auf einen schicken Kaffeetresen an der Wand deutete, auf dem altmodische Teller mit Avocadotoasts standen: »Der Kaffee ist umsonst, aber alles andere hier ist ziemlich teuer.« Sie tänzelte fröhlich lächelnd durch den Raum, ohne die verstohlenen Blicke zu bemerken, die die anderen Mitglieder in unsere Richtung warfen, während wir an ihnen vorbeigingen.

Mikkis Superkraft war, dass sie selten etwas wichtig nahm – eigentlich gar nichts. Als ich auf Facebook den Abschluss meines Buchvertrags bekannt gab – mein Post mit den bisher meisten Likes –, meinte sie in ihrem Kommentar bloß, dass der Geschäftsführer der Firma, über die ich schrieb, ziemlich sexy sei. Das hatte die ganze Zeit an mir genagt, aber jetzt war ihr heiteres Desinteresse eine Erleichterung: eine Person weniger, die mich über meine Recherchen ausquetschte und über die Monate, die alle miteinander verschmolzen waren und mit einem Krankenwagen und Sirenengeheul geendet hatten.

Wir bogen nach rechts und steuerten auf die letzten drei Türen zu; eine führte zur Toilette, und auf einer stand das Wort MOVE, mit einem blassen, großen L unter dem M. Doch Mikki führte mich durch die dritte Tür, in ein kleines Zimmer mit Schließfächern aus Birkenholz und Kleiderständern, an denen Mäntel in allen möglichen Farben hingen.

»Du kannst ein Schließfach mieten, wenn du deine Sachen über Nacht hierlassen willst«, sagte Mikki und hängte meine Jacke auf einen Kleiderbügel, »aber eigentlich wird hier nichts gestohlen. Ich habe gerade meinen Laptop auf dem Tisch stehen lassen.« Sie deutete in den sonnendurchfluteten Raum, zu den mit blauem Samt überzogenen Arbeitsplätzen und den glänzenden Acrylstühlen, die an einem langen, mittelalterlich aussehenden Tisch standen. »Alle Mitglieder wurden gründlich überprüft.«

»Aber gestern Nacht ist hier jemand eingebrochen, oder? Irgend so ein Vandale.« Ich folgte ihr zurück ins helle Licht. »Haben die Frauen hier nicht schreckliche Angst?«

Mikki beugte sich zu mir vor und senkte die Stimme. »Schätzchen, die meisten wissen nichts davon. Aber das Ganze ist echt merkwürdig, denn man braucht eine Reihe verschiedener Schlüssel, um hier reinzukommen. Nicht mal ich habe sie alle. Und im Aufzug gibt es eine Kamera mit Bewegungssensor – allerdings hat sie letzte Nacht nichts aufgenommen.« Sie blieb vor der Wand mit der extravaganten Tapete und dem provisorischen Absperrband stehen, duckte sich und stürzte wie ein Slapstick-Ninja darunter hindurch. Ich unterdrückte ein Kichern und folgte ihr.

»Eleanor würde ausrasten, wenn sie uns jetzt sehen könnte«, zischte sie, während sie mich in einen Raum führte und nach dem Lichtschalter tastete.

»Meine Schwester auch«, erwiderte ich. Inzwischen gingen die Lichter an – Hunderte altmodisch aussehende Glühbirnen, die sechs ovale Spiegel säumten; vor jedem stand ein violetter Hocker, und die Ablage war mit Gleam-Pflegeprodukten bestückt. Ich wusste, dass Mikki das Design für die Verpackungen entworfen hatte, den jadegrünen Schriftzug auf taubengrauem Untergrund. Gerade wollte ich – diebisch wie eine Elster, die einen glänzenden Gegenstand entdeckt hatte – nach einem der Lippenstifte greifen, als ich im Spiegel eine Bewegung bemerkte und mich umdrehte.

Mikki starrte, die Arme vor der Brust verschränkt, auf die Rückwand. Ich folgte ihrem Blick zu einer Stelle an der malvenfarben und weiß gestreiften Wand unterhalb der Decke. Dort stand mit schwarzer Sprühfarbe in akkuraten, bauchigen Buchstaben:

BLÖDEFOTZEN

»Da ist es echt jemandem schwergefallen, etwas Aufmunterndes zu schreiben«, sagte ich nach einem Moment.

Mikki fuhr herum und lächelte. »Irgendein neidischer Idiot. Wahrscheinlich ein Typ, der stinksauer ist, dass es auf diesem Planeten vierhundertfünfzig Quadratmeter gibt, wo er nichts zu melden hat. Vielleicht jemand von The Antiherd.«

»The Antiherd?«

Sie verdrehte die Augen. »Das ist eine geheime Hassgruppe im Internet, die es auf Eleanor und The Herd abgesehen hat. Zumindest gibt es Gerüchte darüber – ich bin noch nicht in ihrem Forum gewesen. Hast du eigentlich mitbekommen, dass uns dieses Jahr mehrere Typen verklagen wollten, weil wir gegen das Antidiskriminierungsgesetz verstoßen? Angeblich steckte The Antiherd dahinter.«

»Wie krass.« Und interessant. Meine journalistische Neugier war geweckt – das war Stoff für einen Artikel. Aber dann verwarf ich den Gedanken gleich wieder: Eleanor und Hana würden mich unter keinen Umständen darüber schreiben lassen. Ich sah mich erneut im Raum um. »Gibt es hier keine Kameras?«

»Nein. Aber deswegen musst du Hana fragen.« Sie fuchtelte mit der Hand. »Eleanor hat gesagt, dass heute Abend jemand die Stelle neu tapezieren wird. Sie war so entsetzt darüber, dass sie mir nicht mal erzählt hat, was dort steht. Sie hasst dieses Wort.«

»Was, ›Fotze‹? Komisch, dass man es benutzt hat.« Ich neigte den Kopf zur Seite. »Das heißt, es ist wohl doch nicht so komisch. Das ist die schlimmste Beleidigung für eine Frau.«

»Ihr dürft euch hier nicht aufhalten.« Ich zuckte zusammen, und als wir uns beide umdrehten, sahen wir Aurelia, die geschwätzige Mitgliederbetreuerin, mit finsterem Blick im Türrahmen stehen. Bei Mikkis Anblick jedoch wurde sie kreidebleich im Gesicht. »Ich meine – der Gleam Room ist heute geschlossen.«

»Ich hab nur etwas Gleam-Creme gesucht.« Mikki schlenderte in den Flur.

»Tut mir leid, dass du das sehen musstest«, sagte Aurelia zu mir, während wir in den Hauptraum zurückmarschierten und sie das Klebeband wieder an der Wand hinter uns befestigte. »Und sag Bescheid, falls du irgendwas brauchst.«

Ich winkte dankend ab, worauf sie uns allein ließ.

»Bleibst du heute hier, oder triffst du dich nur mit Eleanor?«, fragte Mikki.

»Ich würde gerne hierbleiben.« Ich folgte ihr in die Ecke des Raums, wo auf einem kleinen Sofa ihr MacBook und ihr Rucksack lagen. Der Rucksack war geöffnet, und ich konnte ein wildes Durcheinander von allen möglichen Gegenständen erkennen: mehrere Tampons und Lutscher, eine E-Zigarette, ein Set Bastelmesser, ein Klebestift sowie etwas, das aussah wie eine kleine Dose Pfefferspray. »Also, wenn Eleanor es erlaubt.«

»Wenn ich was tue?«, ertönte eine rauchige Stimme, und ich fuhr mit einem strahlenden Lächeln herum. »Katie!«, rief sie und nahm mich in den Arm. Ich schloss die Augen und spürte, wie sich unsere Hälse und Haare berührten, als wir uns herzlich umarmten.

Eleanor trat zurück und ließ ihre Hände auf meinen Schultern liegen. »Schön, dich zu sehen, meine Liebe. Du siehst fantastisch aus.«

»Du auch«, entgegnete ich. Das tat sie wirklich, wie eine Barbie-Unternehmerin in Brünett: mit ihren glänzenden braunen Locken, dem frischen Teint und den leuchtenden Augen. Als ich einen Blick über Eleanors Schulter warf, sah ich, dass Hana zurückgekehrt war; sie und Mikki strahlten übers ganze Gesicht.

Ich hatte Eleanor und Mikki kennengelernt, als ich Hana in Harvard besucht hatte. Damals war ich ein schlaksiges Schulmädchen und bewunderte die intelligenten, selbstbewussten Frauen, mit denen sich meine Schwester im Studentenwohnheim angefreundet hatte. Alle paar Monate flog ich nach Boston, und jedes Mal wenn ich mir allein meinen Weg durch das Terminal bahnte, kam ich mir unglaublich erwachsen vor. Die anderen behandelten mich immer wie ihre gemeinsame kleine Schwester – anfangs nahmen sie mich mit ins Kino und es gab Eis von Ben & Jerry’s, und später, sobald ich etwas älter war, durfte ich sie zu den Verbindungspartys begleiten. Als ich dann nach New York zog, um dort aufs College zu gehen, hielt Eleanor gerade in Manhattan Einzug, und ein paar Monate später folgte Mikki ihr nach. (Hana hingegen kehrte nach ihrem Abschluss unverständlicherweise nach L.A. zurück, was mir überhaupt nicht passte – aber vor etwa drei Jahren überredete Eleanor sie, nach New York zu ziehen. Und jetzt waren wir alle dort, wo wir hingehörten.)

Im Jahr 2010 – ich hatte gerade mein Studium an der NYU aufgenommen, und meine Schwester und ihre Freundinnen waren inzwischen frischgebackene Harvardabsolventinnen – begann Eleanor, Investoren für ihr erstes Projekt anzuwerben: Gleam, ein Sortiment mit fair gehandelten Kosmetikartikeln. Zur damaligen Zeit war das etwas völlig Innovatives, denn die Branche für natürliche Pflegeprodukte brachte immer noch Hautcreme mit Patchouliduft unter die Leute. Da Eleanor eine geborene Geschäftsfrau war, machte sie mit ihrem neu gegründeten Kosmetikunternehmen alles richtig: Sie richtete einen frechen, witzigen Lifestyle-Blog ein, der in Kürze Hunderttausende von Followern hatte, investierte in Pop-up-Stores statt in Verkaufsflächen und legte sich ein öffentliches Image zu, das sympathisch und authentisch wirkte, ohne dabei zu viel von sich preiszugeben oder sich anzubiedern.

Und ich bekam das alles hautnah mit. Auf Hanas Drängen hin setzte ich mich zögerlich mit Eleanor in Verbindung, um mich während meiner Orientierungswoche an der NYU mit ihr zum Abendessen zu treffen. Ich bewunderte Eleanor, aber ich war von ihr immer noch eingeschüchtert, und ich hoffte, dass ich sie im günstigsten Fall zu meiner Kontaktliste hinzufügen durfte, als eine der coolen »Erwachsenen«, die ich im Notfall anrufen konnte. Stattdessen wurde Eleanor zu meiner Familie – und Mikki ebenfalls. Ich war überwältigt und begeistert, von diesen großartigen Frauen Einladungen und Anrufe zu bekommen und mit ihnen bei einer Flasche Wein vertrauliche Gespräche zu führen. Über Skype telefonierten wir von Eleanors Sofa aus regelmäßig mit Hana, tauschten Klatsch und Neuigkeiten aus und hatten das Gefühl, als würde durch die Internetverbindung das warme Sonnenlicht von der Westküste in Eleanors heruntergekommene Wohnung an der Lower East Side strömen. Während ich für die Zwischenprüfung lernte und Mikki die Verpackungen für abstruse Start-up-Unternehmen (wie einen Versandhandel für Hundekronen) gestaltete, erlebte ich, wie Eleanor ihre Kosmetikmarke etablierte und einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde und dennoch sie selbst, meine Eleanor, blieb.

»Wie geht es deiner Mom?«, fragte sie jetzt, und Hana, die hinter ihr stand, erstarrte.

»Momentan geht es ihr supergut«, erwiderte ich und spürte, wie mein Handy zu vibrieren begann, zwang mich jedoch, nicht dranzugehen – denn ich ahnte, wer am anderen Ende der Leitung war. »Sie erholt sich langsam wieder, und auf den Scans ist nichts mehr zu sehen. Hana und ich werden sie zu Weihnachten besuchen.«

»Da bin ich aber froh. Ich finde es so toll, dass du dich um sie gekümmert hast. Das kann ich dir gar nicht oft genug sagen.«

Ich räusperte mich. »Ich bin auch froh. Zum Glück war ich flexibel genug. Ich bin zwar erst vor ein paar Wochen zurückgekehrt, aber diesmal fühlt sich New York … anders an. Ich bin anders.«

»Jedenfalls ist es schön, dass du wieder hier bist.« Sie lächelte und sah mich mit ihren eindringlichen Augen an, die einem stets das Gefühl gaben, die einzige Person im Raum zu sein.

Hinter ihr verlagerte Hana ihr Gewicht und steckte eine Hand in die Hosentasche. Wir hatten die Angelegenheit mit Mom bisher nicht offen angesprochen – Hana redete nie über unsere Gefühle –, doch ich hatte ihr im letzten Jahr und danach bereits mehrfach versichert, dass sie kein schlechtes Gewissen haben musste, weil sie während der Behandlung unserer Mutter in New York geblieben war. Das Geschäft ihres PR-Büros hatte floriert, und ich war arbeitslos gewesen, weil Rocket, die Tech-News-Seite, für die ich als Journalistin tätig gewesen war, den Betrieb eingestellt hatte. Außerdem hätte Hanas Anwesenheit zu Hause für sie und Mom nur Stress bedeutet. Also hatte ich fast das ganze Jahr 2019 ohne Kontakt zur Außenwelt in Michigan verbracht, für mein Buch recherchiert und Mom zu ihren Behandlungsterminen gefahren. Es war ein günstiger Zeitpunkt gewesen, um im Mittleren Westen als freie Korrespondentin zu arbeiten: Die Politiker verkündeten ihre Kandidatur für die Wahl 2020, der Kulturkampf spitzte sich weiter zu, und die Zeitungen an den Küsten rissen sich um Statements aus dem Mittleren Westen, von Angehörigen der »Arbeiterklasse«, von den »verängstigten« weißen Leuten aus dem sogenannten Hinterland. Pflichtbewusst nahm ich an Kundgebungen teil, führte Interviews, notierte mir Zitate und setzte ein höfliches Lächeln auf, während die Menschenmenge meinen Berufsstand verunglimpfte. Anschließend tippte ich wie in Trance meine Artikel und begann jedes Mal zu schluchzen, nachdem ich sie an die Redaktion geschickt hatte. In gewisser Weise erschien mir das passend; niemand erwartete von einem, gut gelaunt zu sein, wenn die eigene Mutter an Brustkrebs erkrankt war.

»Gut, ich werde dich jetzt einen Moment entführen«, erklärte Eleanor und wandte sich ihren Freundinnen zu. »Aber es wird nicht lange dauern.«

Mein Puls begann zu rasen, während wir in Richtung Aufzüge liefen. Gestern Nacht hatte ich einen Albtraum gehabt, in dem ich zu spät zu meinem Termin erschienen war und dann mit wachsender Panik feststellte, dass ich mich noch in meinem Kinderzimmer in Kalamazoo befand und es nicht schaffte, die Tür zu öffnen.

»Oh, du musst unbedingt Stephanie kennenlernen«, sagte Eleanor. Plötzlich blieb sie stehen und schaute sich um, dann führte sie mich zu einer groß gewachsenen Frau in roter Zigarettenhose und Seidenbluse. Ich erkannte ihr kantiges Kinn und ihr kurz geschorenes Haar von ihrem Foto auf der The-Herd-Website wieder. »Stephanie, das hier ist Katie! Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe, dass Hanas Schwester wieder nach New York zieht?«

»Aber klar. Freut mich, dich kennenzulernen.«

»Mich ebenfalls! Du bist die … operative Geschäftsführerin, oder?« Gott sei Dank hatte ich gestern Abend noch ein paar Recherchen angestellt. Eleanor hatte Stephanie als ihre erste Vollzeitkraft von WeWork abgeworben.

»Genau, Eleanors Stellvertreterin.« Die beiden lächelten einander an.

»Du hast Glück, Stephanie heute anzutreffen – ab nächster Woche ist sie bis Neujahr nicht in der Firma.«

Stephanie strahlte übers ganze Gesicht. »Ich mache auf Goa eine Ausbildung zur Yogalehrerin. Das war immer ein Traum von mir.«

»Toll. Wo wirst du dann unterrichten?«

»Hoffentlich hier!« Sie deutete in den Raum, und ich begriff, dass das Zimmer mit der Aufschrift MOVE ein Fitnessstudio war.

»Ganz bestimmt«, sagte Eleanor.

Stephanie und ich tauschten erneut Höflichkeiten aus, und als Eleanor mit mir hinter dem Empfangstresen in einen kleinen Flur bog, verschlug es mir beim Anblick eines weiteren perfekt eingerichteten Zimmers den Atem: Es gab dort Tapeten mit Palmwedelmuster, Grünlilien in goldenen Hängetöpfen und einen Sitzbereich mit weißen Polsterstühlen und goldenen Regalen.

»Ich hoffe, ihr habt hier überall Defibrillatoren«, sagte ich und klopfte mir gegen die Brust, »denn ich glaube, dass mein Herz nicht noch mehr davon verkraftet. Es ist umwerfend, Eleanor. Jeder einzelne Raum. Es sieht sogar noch besser aus als auf Instagram. Was so gut wie nie der Fall ist.«

»Wow, danke.« Sie nahm ein gerahmtes Foto aus dem Regal und reichte es mir. Es zeigte Hana, Mikki und Eleanor mit leuchtenden Augen, während ihre dünnen Ärmchen aus paillettenbesetzten Oberteilen hervorragten. Die dilettantische, überbelichtete Aufnahme war in einem Zimmer des Studentenwohnheims gemacht worden; im Blitzlicht schimmerte die Haut von Mikki und Eleanor kalkweiß und die von Hana kupferrot.

»Darauf seid ihr ja noch blutjung!«, rief ich.

»Ich weiß. Es stammt aus dem ersten Studienjahr. Das Einzige, was auf dem Foto fehlt, bist du.«

»Mit meiner Zahnspange und meinen Pickeln hätte ich es nur ruiniert.« Ich gab ihr das Foto zurück. »Unglaublich, dass ihr alle so eng in Kontakt geblieben seid. Ich habe zwar auch Freundinnen vom College, aber das ist was anderes.«

»Ich weiß. Es ist wirklich ein großes Glück.« Eleanor stellte das gerahmte Foto wieder ins Regal, neben einen Stapel Notizbücher mit Ledereinbänden und einen Ständer, auf dem ein Messer mit geschnitztem Griff lag. Auf dem Brett darüber stand ein hübsches Foto von Eleanor und ihrem Freund – nein, inzwischen war er ihr Ehemann, die Hochzeit hatte ich verpasst. Es war im Urlaub an einem warmen Ort aufgenommen worden. Wahrscheinlich in Mexiko, der kunstvoll bestickten Tunika nach zu urteilen, die Eleanor trug, und dem Drink in Daniels Hand, der aussah wie eine riesige Margarita. Eleanor sprach fließend Spanisch und hatte das Land immer geliebt. Sie griff nach einem Notizblock auf ihrem Schreibtisch und nahm mir gegenüber Platz. »Seit wann bist du wieder in der Stadt?«

»Gestern waren es zwei Wochen.«

»Nachdem du ein ganzes Jahr in Michigan gewesen bist, oder?«

»Ja, etwa ein Jahr.« Ich ertappte mich dabei, wie ich an einem eingerissenen Fingernagel knibbelte, und faltete die Hände.

Eleanor lehnte sich zurück und lächelte. »Katie Bradley, und jetzt bist du also hier! Du bist tatsächlich hier.«

»Ja! Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat – ich hätte mich direkt nach der Ankunft melden sollen. Aber ich hatte wahnsinnig viel um die Ohren, mit dem Umzug, den Telefonaten mit meinen alten Redakteuren und …«

»Das verstehe ich.« Sie hob die Hände, um mich zum Schweigen zu bringen, sodass ihre blau-silbernen Nägel aufblitzten. »Ich dachte mir schon, dass du etwas Zeit brauchtest, um dich wieder einzugewöhnen. Schließlich hast du dich um deine Mutter gekümmert und schreibst gerade ein Buch. Du bist echt eine Superwoman.«

»Ich bitte dich. Das sagst ausgerechnet du.«

»Jede glaubt, sie könnte ein Buch schreiben, aber du machst es tatsächlich. Erzähl mir alles darüber.«

Ich verspürte ein Zwicken in der Brust, als würde man mich mit einer Zange kneifen, und ratterte meinen üblichen Spruch über das Technologieunternehmen herunter, das auf Fake News spezialisiert war.

»Das ist toll. Außerdem hast du bereits einen Verlag.«

»Ja, also – ich muss mit meiner Agentin noch ein paar Dinge klären«, murmelte ich.

Eleanor lehnte sich in ihren Stuhl zurück. »Einige unserer Mitglieder arbeiten für Verlage. Die Leute sind aus den unterschiedlichsten Gründen hier. Einige wollen Kontakte knüpfen, und andere haben sich wegen eines Arbeitsplatzes im Co-Working-Space angemeldet. Aber – und damit haben wir überhaupt nicht gerechnet – etwa ein Drittel unserer Mitglieder hat schon einen Bürojob in Vollzeit. Was, warum lachst du denn?«

Mein unterdrücktes Kichern ging in ein breites Grinsen über. »Du hast dich gerade in Television Eleanor verwandelt. In Teleanor. Das war echt unheimlich.«

Sie rieb sich mit den Fingerknöcheln über die Stirn. »Mein Gott, wirklich? Tut mir leid – ich hatte in letzter Zeit so viele Pressetermine, weil bald der Standort in Fort Greene eröffnet wird. Es war nicht meine Absicht, dir einen Vortrag über Timesharing zu halten.«

»Nein, das meinte ich nicht. Du bist nur zu hundert Prozent bei der Sache. Pass auf, ich werde mich besser fühlen, wenn ich dich befrage.« Ich umklammerte ein imaginäres Mikrofon, worauf Eleanor die Augenbrauen hochzog. »Nun, Eleanor, zu meiner Verwunderung habe ich erfahren, dass sich einige Frauen für einen Platz im Co-Working-Space angemeldet haben, ohne Interesse an einer Zusammenarbeit zu haben. Lohnt es sich wirklich, dreihundert Dollar im Monat auszugeben, nur um am Feierabendprogramm von The Herd teilnehmen zu dürfen? Ich habe gesehen, dass es Veranstaltungen zum Afrofuturismus oder weltweiten Einfluss des Feminismus gibt, oder dazu, wie man sich um ein öffentliches Amt bewirbt.«

Eleanor verzog spöttisch das Gesicht und tat so, als wäre sie entsetzt. »Der Veranstaltungskalender geht nur die Mitglieder etwas an.«

»Vielleicht habe ich einen Maulwurf bei euch. Einen engen Familienangehörigen.« Wir mussten beide kichern.

Eleanor setzte ein vollkommen symmetrisches Lächeln auf, wie ich es aus den Kurzbiografien in der New York Times, im New Yorker usw. kannte. »Es geht nicht nur um das Veranstaltungsprogramm. Die Leute bezeichnen The Herd zwar als Verein, aber wir betrachten uns lieber als Community. Das hier ist ein geschützter Ort, der es unseren Mitgliedern ermöglichen soll, ein ausgeglicheneres, erfüllteres und kommunikativeres Leben zu führen.«

»Das ist ein verdammt guter Slogan.« Ich nickte anerkennend. »Aber ehrlich, ich habe diese Atmosphäre direkt beim Betreten gespürt. Ich finde es toll, wie die Raumaufteilung die Zusammenarbeit fördert.« Ich nahm die Hände zusammen und tippte die Fingerspitzen aneinander. »Das hier sind nicht bloß ein paar Arbeitsnischen zum Mieten. Offensichtlich kommen die Frauen auch wegen der anderen Frauen her.«

Eleanor hatte immer noch ihr Kameragesicht aufgesetzt. »Das stimmt. Es passieren wunderbare Dinge, wenn leidenschaftliche Frauen und marginalisierte Geschlechter zusammenkommen.«

»›Frauen und marginalisierte Geschlechter.‹ Mein Gott, wenn man in Michigan ist, vergisst man ganz, wie die ›liberale Elite‹ so redet.«

»Nur Leute, die sich der sozialen Missstände bewusst sind, sind bei uns willkommen.«

Obwohl das zweifellos ein Witz war, verspürte ich einen Anflug von Unbehagen. Während ich letztes Jahr in Kalamazoo langsam vor die Hunde gegangen war, hatten Eleanor, Hana und Mikki sich hier etwas aufgebaut und waren nicht so wie ich auf der Stelle getreten. Ich wünschte, ich könnte ins Jahr 2018 zurückreisen und von Anfang an bei The Herd dabei sein.

Eleanor lehnte sich zurück. »Und wie willst du The Herd für dich nutzen?«

Ich griff nach meiner Halskette. »Ich werde natürlich an meinem Buch schreiben«, sagte ich. »Außerdem möchte ich wieder als Freiberuflerin arbeiten. Ich werde meine alten Redakteure kontaktieren und Akquise betreiben.«

»Du hast ein paar viel beachtete Artikel veröffentlicht, oder?«

Ich war überrascht, dass sie mich im Auge behalten hatte. Mit stolzgeschwellter Brust ratterte ich die Zeitschriften herunter, für die ich geschrieben hatte: Vogue, New York Mag, People, Vanity Fair und Vice.

»Und du hast einen Artikel für The Atlantic über dieses sprachgesteuerte Ding von Titan geschrieben, oder?«

»Ja, den Zeus.« Wow, sie hatte meine Aktivitäten wirklich aufmerksam verfolgt. Mein Artikel über den bahnbrechenden Sprachassistenten des Technologieriesen – und die damit verbundenen Datenschutzverletzungen – war eines meiner Herzensprojekte aus diesem Jahr gewesen, auch wenn er nicht oft aufgerufen worden war. »Das war eine einmalige Angelegenheit.«

»Verstehe. Schreibst du auch noch deine Satiren? Dieser Beitrag über Steve Jobs, den du für den Blog verfasst hast, war in dem Jahr einer unserer meistgeteilten Artikel.«

Ich grinste. »Es war toll, für euch zu arbeiten. Aber eigentlich schreibe ich solche Sachen nicht mehr. Vielleicht werde ich es mal wieder versuchen.« Ich zuckte mit den Schultern. »Die meiste Zeit ist man als Freiberuflerin damit beschäftigt, Kontakte zu knüpfen – das ist einer der Gründe, warum ich mich um einen Platz bewerbe. Außerdem … gefällt es mir hier.«

Eleanor lächelte bedächtig. »Wir müssen uns auch bei dir an die übliche Prozedur halten. Es gibt eine Warteliste – wir wollen nicht unseriös erscheinen.«

Ich gab mir große Mühe, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Ja, ich habe ein paar heftige Sachen über das Bewerbungsverfahren von The Herd gelesen!« Es gab ganze Foren zur Aufnahmeprozedur, in denen die Teilnehmerinnen auf der Suche nach bestimmten Kriterien ihre Unterlagen analysierten.

»Das tut mir leid. Dank des Standorts in Fort Greene können wir bald noch mehr Mitglieder aufnehmen – er ist riesig. Aber natürlich brauchen die Handwerker ewig.« Sie schloss die Augen. »Ich wünschte, jemand würde eine Baufirma nur mit weiblichen Mitarbeitern gründen. Die könnten sich vor Aufträgen nicht retten! Am Freitag war ich auf der Baustelle in Brooklyn und habe mit dem Bauleiter über die Dielenbretter diskutiert, und dann ist der Monteur aufgekreuzt und hat buchstäblich über meinen Kopf hinweg mit ihm gesprochen. Er konnte von Glück sagen, dass er einen Werkzeuggürtel trug, sonst hätte ich ihm einen Tritt in die Eier verpasst.«

Es entstand eine Pause. Da ich nichts zu verlieren hatte, ging ich aufs Ganze.

»Eleanor, du hast mir gefehlt. Ich habe überall Artikel über dich gelesen. Ich kann nicht glauben, dass du das hier alles auf die Beine gestellt hast. Du bist meine Heldin.«

»Es ist schon erstaunlich, dass wir ohne deine Sprachkünste überhaupt irgendwelches Werbematerial veröffentlicht haben.«

»Ihr braucht mich!« Ich bedrängte sie zu sehr, und in meine scherzhafte Bemerkung mischte sich ein Anflug von Verzweiflung, doch ich konnte nicht aufhören. »Obwohl ich das vor einer Stunde noch nicht wusste – ich brauche diesen Ort. Ich möchte das hier zu meinem zweiten Zuhause machen, bis ich so altersschwach bin, dass man mich mit einem Rollstuhl in ein Seniorenheim verfrachten muss.«

»Das freut mich. Nun fügt sich alles, nicht wahr? Ich bin so …« Sie machte eine winzige Pause und schlug einen leicht veränderten Tonfall an. »Ich bin so glücklich.«

Meine Alarmglocken begannen zu läuten. Sie waren besonders empfindsam, nachdem ich elf Monate lang lächelnde, wortkarge Mittelwestler interviewt hatte, die mich für einen arroganten Eindringling hielten. Aber schließlich streckte Eleanor sich und grinste, sodass ich dachte, ich hätte mir das vielleicht nur eingebildet.

»Es ist bestimmt toll, wenn wir uns jeden Tag sehen können«, sagte ich.

»O ja, Katie«, entgegnete sie. »Das wäre toll.«

Nachdem ich Eleanor in ihrem Büro alleingelassen hatte, eilte ich auf der Suche nach Mikki und Hana durch die miteinander verbundenen Räume. Ich spürte ein Kribbeln in der Brust, und plötzlich wurde mir klar, dass dieser Ort und dieser Moment fast schon zu perfekt waren, aber dann verflog meine Beunruhigung wieder. Immerhin hatte ich anders als sonst nicht den ganzen Tag gegen meine Tränen ankämpfen müssen und seit fast drei Stunden nicht an Chris gedacht. Ein neuer Rekord. Irgendwann hatte ich begonnen, die Traurigkeit, die mein Gehirn und meinen Brustkorb wie eine Schicht aus schwarzem Schimmel umhüllte, als Dauerzustand zu betrachten, der für den Rest meines Lebens anhalten würde. Mikki winkte mich zu sich hinüber, und während ich aufs Sofa glitt, zog ich mein Handy hervor und erstarrte. Ich hatte eine SMS von Mom bekommen: Viel Glück für heute! xoxo

Außerdem hatte ich auf der Mailbox vier Nachrichten, alle von einer mir bekannten New Yorker Nummer. Ich warf einen Blick auf die Liste: Die erste war zweiundvierzig Sekunden lang, und sie wurden immer kürzer; die letzte dauerte nur noch zwölf Sekunden. Ich musste schlucken und spürte im Nacken das Pulsieren meines Herzschlags. Schließlich streckte ich die Hand aus und wischte mit dem Finger der Reihe nach über die Nachrichten: löschen, löschen, löschen, löschen.

Kapitel 2

HANA

MONTAG, 9. DEZEMBER, 11:06 Uhr

Ich beobachtete, wie Eleanor vergnügt plaudernd mit Katie in ihrem Büro verschwand. Katie trug Lederstiefel, die mit Salzflecken übersät waren, obwohl ich sie gebeten hatte, Pumps anzuziehen. Gestern Abend hatte ich mit dem Gedanken gespielt, ihr eine SMS zu schicken, um mich zu vergewissern, ob sie noch ein paar letzte Fragen hatte, und die Sorgen zu zerstreuen, die sie vielleicht umtrieben. Aber ich hatte der Versuchung widerstanden, während mir die ganze Zeit Mikkis Worte durch den Kopf gegangen waren: Sie ist erwachsen. Du bist nicht ihre Mutter. Du bist nicht für sie verantwortlich. Sie hatte recht, und das sagte ich mir jedes Mal stets aufs Neue, wenn Katie eine Reihe Tweets mit vulgären Witzen oder plötzlich eine Schimpftirade über die Rolle der Frau in der Gesellschaft vom Stapel ließ. Deine Worte haben eine starke Wirkung, hatte ich ihr einmal in einem SMS-Austausch mitgeteilt, der rasch zu einem Streit ausgeartet war. Deine Worte haben Einfluss auf das, was andere über dich denken. Eigentlich sollte ihr das als Journalistin klar sein.

Immerhin war sie heute Morgen pünktlich erschienen und sah bezaubernd aus, wenn ihre Kleidung auch ein wenig zu wünschen übrig ließ. Zum ersten Mal seit dem Umzug wirkte sie munter und aufgeweckt. Wochenlang hatte sie ihren Zustand mit schläfriger Stimme auf ihre Erschöpfung und eine Winterdepression geschoben, wenn ich sie um elf Uhr vormittags oder manchmal sogar erst um eins anrief. Es war offensichtlich, dass sie irgendetwas anderes bedrückte – ich tippte auf Liebeskummer –, aber ich hatte nicht weiter nachgefragt.

Katies Umzug war wirklich merkwürdig gewesen. Sie hatte über Freunde ein Zimmer in einer Zweier-WG in Bed-Stuy gefunden. Das Jahr über, das sie in Michigan verbracht hatte, waren ihre Möbel bei einem Unternehmen in Queens eingelagert gewesen. Als sie die Sachen letzten Monat dort abgeholt hatte, waren sie ihr wie die Teile eines 3-D-Puzzles entgegengekommen, und sie hatte mit großen Augen und aufgerissenem Mund dagestanden. Als hätte das Unternehmen ihr die Sachen einer anderen Person ausgehändigt.

Bisher hatte sie mich noch nicht in ihr neues Zuhause eingeladen, weshalb ich nicht wusste, wie das Auspacken gelaufen war. Sie war allerdings ein paar Mal bei mir gewesen, angeblich um Neuigkeiten auszutauschen. Doch in Wirklichkeit aßen wir zu Abend und schauten uns einen Film an, während meine Katze Cosmo zu einer pelzigen Kugel zusammengerollt zwischen uns lag. Katie erzählte nicht viel über Kalamazoo, über die letzten paar Wochen, in denen sie nichts mehr von sich hatte hören lassen, bevor sie dann ihre Rückkehr nach New York verkündet hatte. Aber ich versuchte nicht, sie zu bedrängen. Ich wollte, dass es diesmal anders – besser – lief, und Katie mochte es nicht, wenn man ihr ständig in den Ohren lag.

Katie würde The Herd lieben, sie war bereits schwer beeindruckt – das konnte ich spüren. Sie hatte ihre Vorbehalte gehabt, aber als dann beim Gang durch die Räumlichkeiten ihr Gesicht zu strahlen begann … Es war eine Genugtuung, wie ich zugeben musste.

Neben mir zog Mikki jetzt eine lange Strickjacke aus ihrem Rucksack hervor und warf sie sich über die Schultern. Sie schien sich in ihrer weiten Hose und der zeltartigen Strickjacke unglaublich wohlzufühlen; ich hingegen spürte jetzt, wie sich meine Kunstlederleggings über meiner Taille spannten.

»Eleanor und Katie haben sich also gerade zum ersten Mal gesehen?«, fragte sie. »Seit sie wieder hier ist, meine ich.«

»Ja.« Leider – denn wenn sie sich früher getroffen hätten, irgendwo privat, hätte Eleanor vielleicht die unvermeidliche Frage nach dem Wohlbefinden unserer Mutter stellen können, ohne dass ich vor Scham zusammengezuckt und rot angelaufen wäre. Das war nicht Eleanors Schuld, es war nett von ihr, sich zu erkundigen … Tja, und das war das Problem: Es war ganz allein meine Schuld. Ich war die ältere Schwester, verdiente gut und hatte als freiberufliche Presseagentin flexible Arbeitszeiten – es wäre also naheliegend gewesen, wenn ich wieder zu meiner Mutter nach Hause gezogen wäre. Trotzdem hatte ich die Sache hinausgeschoben, voller Panik bei der Aussicht, so viel Zeit mit Mom zu verbringen. Als Katie schließlich verkündet hatte, dass sie nach Michigan gehen würde, hatte ich vor Erleichterung und Scham geweint.

Ich räusperte mich. »Ich schätze, sie brauchte etwas Zeit, um sich wieder zurechtzufinden.«

»Na ja, außerdem ist Eleanor seit Katies Wegzug sehr viel erfolgreicher geworden. Vielleicht war sie auch eingeschüchtert.«

»Kann schon sein.«

Zwar war ich diejenige, die Psychologie studiert hatte, aber Mikki (mit einem Bachelor in Bildender Kunst) war ebenfalls eine scharfe Beobachterin. Darum war sie wahrscheinlich eine so gute Künstlerin: Sie beobachtete die Menschen und hatte ein Auge für winzige Details, aus denen sie dann ihre Schlussfolgerungen zog. Der protzige Verlobungsring, der unter einem ausgefransten Jackenärmel hervorlugte. Eine Uhr mit Goldarmband, die an einem dünnen Handgelenk baumelte. Andererseits entgingen ihr oft Dinge, die allgemeines Gesprächsthema waren: ein Meme, das sich im Internet verbreitete, eine wichtige Nachrichtenmeldung.

Eleanor und Mikki waren während des ersten Studienjahrs im Wohnheim zufällig Zimmergenossinnen gewesen – und weil es das Schicksal manchmal gut mit einem meinte, wohnte ich zufällig nur zwei Zimmer weiter. Eleanor und ich lernten uns am Tag des Einzugs kennen, und wir lächelten einander an in der fiebrigen Gewissheit, uns anzufreunden. Bald schon verbrachte Eleanor viel Zeit mit Mikki, einer künstlerisch interessierten, aber unprätentiösen Hipsterin aus Asheville und die Erste aus ihrer Familie, die ein College besucht hatte. In der Orientierungswoche, als die anderen Studienanfänger in verängstigten Gruppen über den Campus schlichen, bildeten wir bereits ein Trio.

In einer Ecke des Zimmers ertönte jetzt plötzlich lautes Stimmengewirr; eine Gruppe Frauen hatte zwei andere Frauen entdeckt, nach denen sie Ausschau gehalten hatten, und man nahm sich unter großem Hallo in die Arme. Einige von ihnen kannte ich: Sie hatten eine gemeinnützige Organisation gegründet, um die Katastrophenhilfe mit Kommunikationstechnologie zu unterstützen. Ringsum drehten weitere Mitglieder die Köpfe in ihre Richtung und bewegten sich wie ein Fischschwarm auf sie zu.

»Ich kann es kaum erwarten, bis der Standort in Fort Greene eröffnet wird«, sagte Mikki. »Hier geht es zu wie im Hühnerstall.«

»Ich vermisse es, draußen sitzen zu können. Du hast es dort als Letzte von uns ausgehalten.«

»Immerhin hatte ich da das ganze Dach für mich allein. Auch wenn ich mir einen abgefroren habe und mit fingerlosen Handschuhen in meine Tastatur hämmern musste.« Sie machte eine entsprechende Geste und wackelte mit den Fingern.

Die Schließung des Dachgartens hatte sich wie ein kleiner Tod angefühlt. Der Winter machte mir stets zu schaffen, wenn der Frost in meine Lunge kroch und sich dort niederließ und ein Gefühl tiefer Melancholie erzeugte, gegen die selbst eine teure Infrarotlampe nichts ausrichten konnte. Das war einer der Gründe, weshalb ich nach dem Abschluss nach L.A. gezogen war. Allerdings nicht der Hauptgrund – jener Vorfall, den ich in den hintersten Winkel meines Gehirns verbannt hatte.

Mikki nahm eine E-Zigarette aus ihrem Rucksack und zog daran.

»Hat Eleanor dich deswegen noch nicht angeschnauzt?«

Sie grinste süffisant. »Das ist Cannabidiol. Ich muss schließlich dafür sorgen, dass mein Körper entspannt bleibt. Jetzt komm schon, du weißt doch, dass wir hier tun und lassen können, was wir wollen.« Mikkis Lieblingsbeschäftigung war es, mich in Verlegenheit zu bringen. »Hey, bleibst du noch auf eine Runde Mocktails? Heute Abend ist die Barkeeperin aus dem Bamboo da.«

»Ist das die neue Tiki-Bar in SoHo?« Ich neigte den Kopf zur Seite. »Wundert mich, dass Eleanor das nicht für kulturelle Ausbeutung hält.«

»Wenn das New York Mag deinen Cocktails drei Seiten widmet, hast du offensichtlich einen Freibrief. Ich glaube, die Bar bezeichnet ihren Stil selbst als ›Pazifik-Kitsch‹ oder so was in der Art.«

»Das passt.« Ich trommelte mit den Fingernägeln auf meinen Computer. »Um vier habe ich ein Treffen mit einem Kunden, darum muss ich die Mocktails heute ausfallen lassen. Aber du solltest Katie fragen. Es wäre schön, wenn sie sich mit ein paar der Frauen hier ein wenig anfreundet.«

»Du solltest dir ihretwegen keine Gedanken machen.« Mikki deutete mit dem Kopf auf die anderen Räume, auf Eleanors Büro hinter dem Gleam Room, in den ich mich heute Morgen in einem unbeobachteten Moment geschlichen hatte: BLÖDEFOTZEN. »Sie hat ja eine einflussreiche Freundin.«

»Hana!«

Ich eilte gerade auf die Fahrstühle zu und beantwortete auf meinem Handy eine Mail, als ich jemanden rufen hörte. Ich drehte mich um und sah, dass Eleanor sich aus ihrem Büro lehnte und wie in einer albernen Sitcom lediglich ihr Kopf und ihre Schultern herausragten. Sie hatte ein gezwungenes Lächeln aufgesetzt, aber ihre Augen straften sie Lügen.

Ich ging zu ihr. »Was kann ich für dich tun?«

»Setz dich.« Sie lehnte sich zurück, als wäre es an mir, das Gespräch zu beginnen. Das Telefon in meinem Schoß leuchtete auf, und ich drehte es herum.

»Und, wie ist es mit Katie gelaufen?«, fragte ich munter.

»Sie macht ziemlich Karriere. Das ist wirklich toll.«

»Ich weiß. Ich bin unglaublich stolz auf sie.«

Sie verschränkte die Finger. »Du weißt, dass mir viel an Katie liegt.«

»Ich höre da ein ›aber‹.«

»Ich würde gerne deine Meinung hören. Falls du Zeit hast.«

»Sicher doch.« Mein Handy hatte gerade 15:30 Uhr angezeigt – wenn ich nicht rasch hier wegkam, würde ich zu spät zu meinem Treffen erscheinen. Hin und wieder schlug Eleanor selbst mir oder Mikki gegenüber einen geschäftsmäßigen Tonfall an. Das war unerlässlich und der Grund dafür, dass wir sowohl beste Freundinnen als auch Kolleginnen sein konnten, ohne uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Aber deshalb war es nicht weniger lästig.

Ihr Blick wanderte zur Seite, als würde sie sich ihre Worte sorgfältig überlegen. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir jemanden wie sie normalerweise aufnehmen würden«, sagte sie schließlich. »Sie ist talentiert, keine Frage. Aber sie ist jung.«

Ich sah sie von unten an. »Eleanor, deine Mitgliederbetreuerin ist gerade alt genug, um Alkohol kaufen zu dürfen.«

»Ich meine unreif. Wir wählen unsere Mitglieder sehr gründlich aus, und wir sind eine äußerst … verschwiegene Gemeinschaft. Katies Umgang mit den sozialen Medien ist manchmal etwas unbedacht, sie ist zu mitteilsam, und ich finde, dass sie mitunter redet, ohne nachzudenken …«

Ich seufzte. Eleanor hatte natürlich recht, aber mir war nicht klar, was sie von mir wollte.

»Hana, du weißt, dass einige unserer Mitglieder ziemlich prominent sind, und ein Grund, weshalb sie The Herd so sehr schätzen, ist die vertrauliche Atmosphäre – das hier ist ein sicherer Ort, an dem sie vor der Öffentlichkeit geschützt sind.«

Ich konnte es mir nicht verkneifen, die Augen zu verdrehen. »Komm schon, Eleanor, du weißt, dass Katie diskret und verantwortungsbewusst ist. Außerdem solltest du das nicht mit mir besprechen. Katie ist siebenundzwanzig; ich bin nicht ihre Aufpasserin.«

»Das ist mir schon klar, und das wollte ich auch gar nicht andeuten.« Ich kannte Eleanors Pokerface gut genug, um die Verärgerung hinter ihrer gelassenen Miene zu bemerken – und ich war ebenfalls gereizt. »Ich dachte nur, dass du vielleicht weißt, wie sie sich in diesem Umfeld machen würde. Zumal du selbst so viele prominente Kunden hast. Ich möchte, dass sich hier alle wohlfühlen.« Sie gestikulierte mit den Händen vor ihrer Brust, als würde sie ein paar unsichtbare Messer jonglieren.

»Also, ich weiß das wirklich zu schätzen«, log ich. Ich begann, meine Sachen zusammenzupacken, und steckte mein Smartphone wieder in die Handtasche. »Ich glaube, dass Katie ein wunderbarer Neuzugang für The Herd wäre, und ich hoffe, dass du aufgrund ihrer Verdienste genauso denkst. Hör zu, es tut mir leid, aber ich habe um vier ein Treffen in der Fourteenth Street. Willst du sonst noch irgendwas von mir? Wegen der Veranstaltung nächste Woche?«

»Nein, es läuft alles bestens, danke.«

Wir lächelten einander an. Das Thema war ein weiterer Streitpunkt zwischen uns: Eleanor hatte mich gebeten, für nächsten Dienstag eine Veranstaltung zu organisieren, ohne mir zu sagen, worum es bei dieser verdammten Bekanntmachung ging.

»Jedenfalls danke, dass du Zeit für mich hattest.« Sie strich sich eine Haarlocke von der Wange. »Übrigens, tolles Kleid.«

»Danke!«, trällerte ich, und erst als ich fast die Aufzüge erreicht hatte, wich das Lächeln in meinem Gesicht einem finsteren Blick.

Ich umklammerte das Messer noch fester und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das Fleisch vor mir, das in einer Lache rosaroter Flüssigkeit lag. Das Rezept für gefüllte Hähnchenbrust hatte sich nicht besonders kompliziert angehört, aber als ich nun in meiner kleinen Küche stand, stellte ich fest, dass viele Angaben fehlten.

»Wie läuft es mit dem Spinat?«, rief ich.

»Gut, glaube ich?« Katies Stimme nahm einen fragenden Tonfall an. »Ich hoffe, das ist fein genug. Im Rezept steht nur ›gehackter frischer Spinat‹.«

Ich drehte mich um und warf einen Blick auf die Rezeptkarte auf der Arbeitsfläche, während ich meine Hände wie ein Chirurg weiter in die Höhe hielt. »Ich glaube, er muss feiner gehackt werden.«

»Sei nicht so streng«, murmelte sie und spähte auf die Karte. »Findest du nicht, es sieht genauso aus?«

»Ist schon okay. Schneidest du jetzt die Zwiebeln?«

Ich gab eine schreckliche Küchenchefin ab, aber Katie bestand darauf, dass ich in der Küche das Kommando übernahm. Jahrelang hatten wir angenommen, dass wir beide nicht gerne kochten, weil unsere Mutter es hasste, Essen zuzubereiten. Jedes Mal wenn sie im Fernsehen zufällig auf eine Kochsendung stieß, deutete sie mit der Fernbedienung auf den Bildschirm und rief: »Leute, ihr schaut gerade jemandem bei der Hausarbeit zu!«

Doch zu meiner Überraschung hatte sich Katie nach ihrer Rückkehr aus Michigan ein neues Ziel gesetzt: Sie wollte kochen lernen. Außerdem wusste ich, wie ungesund meine Angewohnheit war, mir abends irgendwo etwas zu essen zu holen. Da standen wir nun also in meiner voll ausgestatteten Küche über eine Kochbox gebeugt.

Als wir jedoch kurz darauf das Gericht aus dem Ofen holten, starrten wir es stumm vor Entsetzen an.

»Wir haben einen schrecklichen Fehler gemacht«, flüsterte Katie. Käse und Spinat waren überall herausgelaufen und verkohlt.

Ich konnte nicht anders und stieß ein Lachen hervor, das ich mit dem Geschirrtuch, das ich immer noch in der Hand hielt, unterdrückte. Katie musste ebenfalls kichern, und dann krümmten wir uns beide hemmungslos vor Lachen. In diesem Moment kam Cosmo hereinspaziert, setzte sich kurz hin, hob ein Bein und putzte sich, bevor er schließlich wieder davontrottete, worauf wir erneut in hysterisches Gelächter ausbrachen.

Ich schnappte mir die Rezeptkarte von der Arbeitsfläche und rieb mir die Augen trocken, um einen Blick darauf zu werfen. »Wir hätten die Hähnchenbrust mit Zahnstochern verschließen müssen!«, stieß ich kichernd hervor.

»Das hast du vergessen?«, brachte Katie mit erstickter Stimme hervor. Schließlich beruhigte sie sich wieder und stieß einen hohen, fröhlichen Seufzer aus, als wäre ihr Lachanfall nur noch eine ferne Erinnerung. »Ich schätze, dass wir wohl keine staatliche Zulassung als Geflügelchirurgen bekommen werden.«

Erneut brach ich in Gelächter aus, und sie stimmte mit ein, sodass ihr Kopf rot anlief. Plötzlich regte sich in meinem Brustkorb etwas, und mir wurde klar: Zum ersten Mal seit ihrem Umzug hatte ich das Gefühl, dass Katie ganz sie selbst war.

Nachdem wir unser kulinarisches Desaster aufgegessen hatten, schlug Katie vor, einen Spaziergang zu machen. Sie hatte das bereits häufiger getan, aber mir war nicht ganz klar, warum: Ob sie auch schon in Michigan lange, ausgiebige Spaziergänge unternommen hatte, um in ihrer Einsamkeit für ein wenig Abwechslung zu sorgen, oder ob sie versuchte, sich in New York wieder zurechtzufinden, einer Stadt, die sich selbst in den elf Monaten ihrer Abwesenheit so sehr verändert hatte. Ich genoss unsere Spaziergänge – sie erinnerten mich an die Nachmittage in Kalamazoo, wenn wir mit unserem tollpatschigen Golden Retriever Gassi gegangen waren. Als ich die Mittelstufe und Katie die Grundschule besuchte, streiften wir durch unser Viertel, und ich erzählte Katie alles über Popularität, Make-up, Jungs und Mode, obwohl ich von diesen Themen selbst kaum Ahnung hatte.

Wir traten jetzt hinaus in die Kälte, und unser Atem bildete im Schein der Straßenlaternen Wölkchen. Ich lief mit Katie aus meiner Straße, die von Boutiquen und Cafés gesäumt wurde, die gerade Feierabend machten, in eine Wohnstraße, auf der sich zu beiden Seiten Reihenhäuser mit stilvoller Weihnachtsdekoration erstreckten.

»Mom lässt dich grüßen«, sagte Katie und steckte ihr Telefon in die Jackentasche. »Ich habe ihr ein Foto von unserem malträtierten Vogel geschickt.«

Ich prustete los. »Er sah aus wie etwas, das Mom gekocht haben könnte.«

»Nur dass es besser geschmeckt hat.« Schweigend liefen wir weiter, und ich wartete ab, ob sie noch mehr von Mom erzählen und so unbeabsichtigt mein Unbehagen weiter verstärken würde. Als sie das jedoch nicht tat, wechselte ich das Thema: »Und wie war die Mocktailrunde?« Wir hatten uns während des Essens die meiste Zeit über ihr Vorstellungsgespräch unterhalten. Soweit ich das sagen konnte, hatte Katie keine Ahnung, dass Eleanor Zweifel an ihrer Eignung für The Herd hegte.

»Alle haben bloß über die Schmiererei gesprochen«, sagte sie. »Falls man die Sache geheim halten wollte, ist das gründlich misslungen. Warum hat man nicht sofort jemanden kommen lassen, der das beseitigt?«

»Das habe ich auch gesagt. Aber Eleanor besteht darauf, dass sich einer ihrer Freunde um so was kümmert. Und er hat erst nach Feierabend Zeit.«

Katie zog ihre Mütze ins Gesicht. »Ich fand es nur nervig, dass ich mich um drei Uhr nachmittags nicht nachschminken konnte. Welches Arschloch verwehrt Frauen einfach ihre Gleam Cream?« Ich versetzte ihr einen Stupser, und sie wankte grinsend zur Seite. »Aber mal im Ernst, sie sollte es stehen lassen. Es zur Kunst erklären. Fotzen sind großartig – sie bringen kleine Menschen zur Welt. Das ist nicht bloß eine Schmiererei, das ist ein Slogan.«

»Eleanor verabscheut das Wort. Es ist zwar nicht das erste Mal, dass es irgendein Frauenhasser auf sie abgesehen hat, aber ich habe gemerkt, dass sie diese Aktion geärgert hat. Dabei hat sie normalerweise ein ziemlich dickes Fell.«

Wir brachten beide unser Missfallen über die Sache zum Ausdruck, indem wir die Nase rümpften und die Mundwinkel nach unten zogen. Die Leute fanden, dass wir eine ähnliche Mimik hatten, obwohl wir keine gemeinsamen Gene teilten – laut einem teuren DNA-Test, den ich während meiner Collegezeit in Auftrag gegeben hatte, kamen meine Vorfahren aus dem Nahen Osten, Osteuropa und Südasien, und Katie war eine Weiße.

»›Auf sie abgesehen‹? Was ist passiert?«

Ich seufzte. »Es tauchen immer irgendwelche Idioten auf, sobald man in der Öffentlichkeit steht, zumal als Frau, und erst recht als Frau, die gegen die Vorherrschaft der Männer ankämpft, indem sie ein Umfeld schafft, das andere Frauen fördert.« Wir liefen nach rechts, vorbei an einem Sammelsurium aus Mülltüten und alten Bürostühlen, die wie zu einer Skulptur aufgetürmt waren. »Sie redet nicht über diese Sache, so wie Filmstars auch nicht über ihre Stalker sprechen. Das Schlimmste, was man tun kann, ist, einer Person, die Aufmerksamkeit sucht, diese Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Aber sie ist eine Berühmtheit. Die Leute sind regelrecht besessen von ihr. Und sie bekommt Morddrohungen und dergleichen.«

»Tatsächlich?« Katie drehte sich in meine Richtung und sah mich erstaunt an.

»Sicher.« Wir waren an einen kleinen Gemeinschaftsgarten gekommen, in dessen Mitte ein Weihnachtsbaum mit blauen Lichtern stand. Ich blieb am Tor stehen, und Katie betrat den Garten. »Ich meine, es gibt eine Menge wütender Männer auf der Welt«, fügte ich hinzu und folgte ihr. »Aber Eleanor lässt sich von ihnen nicht mundtot machen.«

Statt etwas zu erwidern, marschierte Katie zum Sockel des Baums und betrachtete ihn, während ihr elfenhaftes Gesicht mit den großen Augen in einen kobaltblauen Lichtschein getaucht wurde. »Eine Menge«, sagte sie leise.

»Was?« Ich trat zu ihr, und das vertrocknete Gras knirschte unter meinen Füßen.

»Es gibt eine Menge wütender Männer.« Sie wandte sich in meine Richtung. »Auf der Welt.«

Ich neigte den Kopf und musterte sie eingehend, als hinter uns ein Scheppern ertönte. Katie wich zurück, als hätte man ihr einen Schlag verpasst, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie das Metalltor zugefallen war. Wir eilten zurück und stellten fest, dass es jedoch nicht eingerastet war. Katie trat auf den Gehweg.

»Alles okay?«, fragte ich, während wir weiterliefen.

»Sicher. Ich bin nur – Mikki meinte, dass ihr keine Ahnung habt, wie der Sprayer reingekommen ist. Außerdem hat er nichts verwüstet oder so, er hat nur diese Botschaft hinterlassen. Das ist doch seltsam, oder?«

»Total seltsam. Aber das ist kein Grund, sich Sorgen zu machen. Eleanor meinte heute, dass sie die Sicherheitsmaßnahmen verstärken würden. Mit Kameras am Eingang und so weiter.«

Katie nahm ihre Mütze ab und stopfte sie in die Tasche. »Mikki sagte, ich soll dich fragen, warum im Gleam Room keine Kamera angebracht war?«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Willst du etwa dabei gefilmt werden, wie du den Gleam Room benutzt?«

»Und warum gibt es in den anderen Räumen keine?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Als wir The Herd geplant haben, gab ich zu bedenken, dass laut verschiedenen Studien Frauen in Büros mit Überwachungskameras weniger produktiv sind und sich nicht wohlfühlen. Das trifft vor allem auf einen Kundenkreis wie unseren zu – was, wenn sich jemand ins System hackt und zum Beispiel Aufnahmen davon in die Hände bekommt, wie Myla Robin eine Schüssel Pitayas über sich ausschüttet?«

»Was zum Henker sind Pitayas?«

»Ach, Katie. Du hast wirklich eine Menge verpasst.« Ich klopfte ihr auf die Schulter.

»Aber offensichtlich haben die Forscher nur Arbeitsplätze für beide Geschlechter untersucht.« Sie trat über einen Zigarettenstummel hinweg. »Denn auch wenn die Studien ergeben haben, dass sich Frauen wie auf dem Präsentierteller fühlen, trifft das auf The Herd wohl nicht zu. Man ist dort keinen männlichen Blicken ausgesetzt.«

»Aber dieses Verhalten ist anerzogen – eine unbewusste Reaktion darauf, dass wir unser ganzes Leben lang beobachtet werden«, sagte ich. »Allerdings war das keine Frage von lebenswichtiger Bedeutung für mich. Ich dachte bloß, das sei vielleicht nicht ganz unerheblich, und darauf beschloss Eleanor, lediglich im Aufzug eine Kamera installieren zu lassen.«

In diesem Augenblick kam ein Motorrad um die Ecke gerast, und Katie zuckte zusammen.

»Alles okay?« Ich legte ihr den Arm um die Schultern. »Was war das denn? Ist das die Reizüberflutung nach deiner Zeit in Kalamazoo?«

Sie wandte sich langsam in meine Richtung und drehte dann den Kopf weg. »Alles okay.«

Wir hatten meine Wohnung fast erreicht und liefen jetzt im Gleichmarsch, als Katie in ihre Tasche griff und ihr Handy herauszog. Erst nach ein paar Schritten merkte ich, dass sie nicht mehr neben mir war, und ich drehte mich um und sah, dass sie mit gerunzelter Stirn wie reglos auf dem Gehweg stand.

»Was ist los?«, rief ich.

Ihr Blick wanderte noch ein paarmal über das Display, bevor sie schließlich den Kopf hob. »Nichts. Also, ich werde –«

In diesem Moment nährte sich ein Taxi mit eingeschaltetem Leuchtschild, Katie streckte den Arm aus – selbstbewusst wie eine alteingesessene New Yorkerin –, und der Wagen kam quietschend zum Stehen.

»Wir sehen uns morgen!«, rief sie, nahm mich kurz in den Arm und hüpfte auf die Rückbank. Ich warf einen Blick durch das Fenster, um zu sehen, ob sie mir zuwinkte, doch sie hatte die Augen bereits wieder auf das Handy gerichtet.

Als ich meine Haustür erreichte, begann mein eigenes Handy zu vibrieren, und ich zog es hervor. Ich hatte von Katie eine SMS erhalten: Ich habe meinen Laptop in deiner Wohnung liegen lassen. Kannst du ihn morgen mit ins Büro bringen?

Katie vergaß ständig irgendwo irgendwelche Dinge. Nicht dass sie sie verlor, sie bekam sie jedes Mal zurück – das Glück ließ sie nie im Stich. Erneut schickte sie eine Nachricht: Tut mir leid, dass ich so plötzlich aufgebrochen bin. xo