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Flynne und Wilf leben auf zwei Seiten des »Jackpots«, der Apokalypse, die gegen Ende des 21. Jahrhunderts große Teile der Menschheit hinweggerafft hat. Jahrzehnte liegen zwischen ihnen, doch als ein Mord geschieht, nimmt Wilf Kontakt zu Flynne auf … Flynnes Heimatdorf liegt an der amerikanischen Ostküste, wo sie ihr Geld in einem 3D-Kopierladen verdient. Dort lebt auch ihr Bruder Burton, der heimlich Computerspiele testet, um seine spärliche Veteranenrente aufzubessern. Flynne springt eines Tages für ihn ein und findet sich in einer virtuellen, dunkelfremden Welt wieder, die an London erinnert. Sie ahnt nicht, dass diese Welt die Zukunft ist, in der Wilf lebt, ein PR-Mann, der Promis betreut und ein Problem hat, als eine seiner Kundinnen ermordet wird. Flynne ist die einzige Zeugin des grausamen Verbrechens – und wird von Wilf mithilfe eines Peripherals über den Zeitsprung hinweg kontaktiert. Dadurch wird sich Flynnes Welt ein für alle Mal ändern, während Wilf erfahren muss, dass die Vergangenheit einen langen Schatten hat und die Zukunft kein Spiel ist. Das Buch zur neuen Serie THE PERIPHERAL!
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Seitenzahl: 636
William Gibson
Peripherie
Roman
Aus dem Amerikanischen EnglischvonCornelia Holfelder-von der Tann
Tropen
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Das Motto entstammt H. G. Wells: Die Zeitmaschine. Aus dem Englischen von Annie Reney und Alexandra Auer
© 1980 by The Executors of the Estate of H.G. Wells und Paul Zsolnay Verlag Wien
Tropen
www.tropen.de
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Peripheral« im Verlag G. P. Putnam’s Sons, New York
© 2014 by William Gibson Ent. Ltd.
Für die deutsche Ausgabe
© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Datenkonvertierung: r&p digitale medien, Echterdingen
Printausgabe: ISBN978-3-608-50124-7
E-Book: ISBN 978-3-608-10048-8
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
1 Die Haptics
2 Todeskeks
3 Push
4 So verdient errungen
5 Libellen
6 Patcher
7 Wache
8 Doppelgemächt
9 Sicherheitsgewahrsam
10 Das Maenads’ Crush
Für Shannie
Ich habe Ihnen auch die Übelkeit und die Verwirrung schon geschildert, die einen auf einer Reise durch die Zeit überkommen.
H. G. Wells, Die Zeitmaschine
1
Sie glaubten, dass Flynnes Bruder keine posttraumatische Störung hatte, sondern dass ihn die Haptics manchmal glitchten. So was wie Phantomschmerzen, sagten sie, die von den Tattoos kamen, die er im Krieg hatte und die ihm sagten, wann er den Angriff beginnen sollte und wann stillhalten. Dafür bekam er ein bisschen Invalidenrente und wohnte jetzt im Trailer unten am Bach. Als sie klein waren, hatte dort ein versoffener Onkel gewohnt, der ältere Bruder ihres Vaters und Veteran eines anderen Krieges. Burton, Leon und sie, Flynne, hatten den Trailer als Fort benutzt, in dem Sommer, als sie zehn war. Später hatte Leon versucht, Mädchen dorthin mitzunehmen, aber es stank zu sehr. Als Burton aus der Armee entlassen wurde, war der Trailer leer bis auf das größte Wespennest, das sie je gesehen hatten. Der Trailer sei das Wertvollste auf ihrem Grundstück, sagte Leon, ein Airstream von 1977. Er zeigte ihr welche bei Ebay, die wie plumpe Flintengeschosse aussahen und noch im miesesten Zustand für ein Heidengeld weggingen. Der Onkel hatte seinen Trailer, um ihn abzudichten und zu isolieren, mit weißem Montageschaum überzogen, der inzwischen grau war. Leon sagte, das hätte ihn davor bewahrt, von irgendwelchen Typen ausgeschlachtet zu werden. Sie fand, er sah aus wie eine Riesenlarve, nur mit Schächten zu den Fenstern.
Auf dem Pfad, der hinunter zum Trailer führte, sah sie im dunklen Erdboden festgetretene Krümel dieses Isolierschaums. Drinnen brannte Licht, und als sie näherkam, sah sie durch ein Fenster, wie sich Burton gerade umdrehte. Auf seinem Rücken und an den Seiten die Stellen, wo die Haptics entfernt worden waren, die Haut dort irgendwie silbrig bestäubt wie toter Fisch. Angeblich konnte das auch noch entfernt werden, aber er wollte nicht mehr hin.
»Hey, Burton«, rief sie.
»Easy Ice«, antwortete er, ihr Gamer-Name. Mit einer Hand stieß er die Tür auf, nahm sich mit der anderen ein neues weißes T-Shirt, streifte es über den muskulösen Brustkorb, den er beim Corps gekriegt hatte, und über das silbrige Mal gleich oberhalb des Bauchnabels inForm und Größe einer Spielkarte.
Drinnen sah der Trailer aus wie Vaseline mit eingebetteten LEDs, denn er war mit Polymer aus dem Hefty Mart ausgekleidet. Sie hatte Burton geholfen, ihn vor seinem Einzug auszufegen. Er hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, den Sauger aus der Garage runterzuschleppen, sondern einfach nur alles etwa fingerdick mit diesem chinesischen Kunststoffzeug ausgespritzt, das klar und elastisch trocknete. Man sah darin noch Streichholzstummel oder den korkfarbenen zerdrückten Filter einer legal verkauften Zigarette aus der Zeit vor ihrer Geburt. Sie wusste, wo ein rostiger Feinschraubendreher war und wo ein Vierteldollar von 2009.
Jetzt räumte er einfach alle ein, zwei Wochen mal sein Zeug nach draußen, bevor er den Trailer mit dem Schlauch auswusch, als säuberte er eine Tupperdose. Leon sagte, der Kunststoff sei eine Art denkmalpflegerische Maßnahme, man könne ihn einfach abziehen, dann gehe der Dreck ja gleich mit ab, bevor man diese amerikanische Ikone auf Ebay anbiete.
Burton ergriff ihre Hand und zog sie rein.
»Du fährst nach Davisville?«, fragte sie.
»Leon holt mich ab.«
»Dort ist eine Demo von Lukas 4:5, hat Shaylene gesagt.«
Er zuckte die Achseln, bewegte dabei viele Muskeln, aber nur minimal.
»Das warst du, Burton. Letzten Monat. In den Nachrichten. Dieses Begräbnis in Carolina.«
Er lächelte ein wenig.
»Du hättest diesen Typ umbringen können.«
Er schüttelte den Kopf, nur leicht, mit schmalen Augen.
»Macht mir Angst, wenn du diesen Scheiß machst.«
»Machst du eigentlich immer noch die Squadführerin für diesen Anwalt in Tulsa?«
»Er spielt grad nicht. Zu viel zu tun mit seinem Anwaltskram vermutlich.«
»Du bist die beste Gamerin, die er je hatte. Hast du ihm ja bewiesen.«
»Ist ja nur ein Game«, sagte sie mehr zu sich selbst.
»So gut wie ein Marine.«
Sie glaubte dieses Zittern zu sehen, das von den Haptics kam, dann war es wieder weg.
»Du musst für mich einspringen«, sagte er, als wäre nichts gewesen. »Fünf-Stunden-Schicht. Einen Quadcopter fliegen.«
Sie schaute an ihm vorbei auf sein Display. Die Beine irgendeines dänischen Supermodels, die in ein Auto gezogen wurden, das niemand, den sie kannte, jemals fahren oder wohl auch nur auf der Straße sehen würde. »Du kriegst Behindertenrente«, sagte sie. »Darfst eigentlich nicht arbeiten.«
Er sah sie nur an.
»Wo ist der Job?«, fragte sie.
»Keine Ahnung.«
»Outgesourct? Das Veteranenamt wird dich erwischen.«
»Game«, sagte er. »Beta-Test von irgendeinem Spiel.«
»Shooter?«
»Gibt nichts zu erschießen. Du musst um drei Stockwerke von diesem Hochhaus patrouillieren, fünfundfünfzig bis siebenundfünfzig. Aufpassen, was aufkreuzt.«
»Und was kreuzt auf?«
»Paparazzi, so kleine Dinger.« Ungefähr so lang wie sein Zeigefinger. »Du versperrst ihnen den Weg. Drängst sie zurück. Das ist alles.«
»Wann?«
»Heute Abend. Ich setz dich dran, bevor Leon kommt.«
»Hab mit Shaylene ausgemacht, dass ich ihr nachher helfe.«
»Geb dir zwei Fünfer.« Er zog seine Brieftasche heraus, entnahm ihr zwei neue Scheine mit unzerkratztem Sichtfenster und leuchtendem Hologramm.
Sie faltete die Scheine und steckte sie in die rechte Vordertasche ihrer Cutoffs. »Dreh das Licht runter, es tut mir in den Augen weh.«
Er tat es mit ein paar Winkbefehlen, aber danach sah das Innere des Trailers aus wie das Schlafzimmer eines Siebzehnjährigen. Sie machte es wieder ein bisschen heller.
Sie setzte sich auf seinen Stuhl, ein chinesisches Fabrikat, das sich auf ihre Größe und ihr Gewicht einstellte, während Burton einen alten Metallhocker heranzog, auf dem kaum noch Lack war, und einen Screen aufs Display winkte.
MILAGROS COLDIRON AG.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Unsere Arbeitgeber.«
»Wie bezahlen sie dich?«
»Hefty Pal.«
»Dann fliegst du bestimmt auf.«
»Geht auf ein Konto von Leon«, sagte er. Leon war ungefähr zur gleichen Zeit beim Militär gewesen wie Burton bei den Marines, aber Leon bekam keine Behindertenrente. Konnte ja nicht behaupten, sagte ihre Mutter immer, dass er sich die Dummheit dort eingefangen hatte. Wobei Flynne immer schon glaubte, dass Leon eigentlich schlau war. Und faul. »Du brauchst mein Login und das Passwort. Hattrick.« So sprachen sie beide sein Tag aus, Hapt-Rec, um es geheim zu halten. Er zog einen gefalteten Umschlag aus der Gesäßtasche und öffnete ihn. Das Papier war dick, cremeweiß.
»Ist das vom Fab?«
Er zog einen langen Streifen des gleichen Papiers heraus, bedruckt mit einem ganzen Absatz unterschiedlichster Buchstaben und Symbole. »Wenn du das scannst oder irgendwo anders eintippst als in das Fenster, sind wir den Job los.«
Sie nahm den Umschlag von der Platte, die wohl mal ein ausklappbarer Esstisch gewesen war. Es war eine von Shaylenes Top-Briefpapiersorten, die dementsprechend im obersten Fach lag. Wenn eine Briefpapierbestellung einer großen Firma oder Anwaltskanzlei kam, griff man dorthin. Sie fuhr mit dem Daumen über das Logo in der linken oberen Ecke. »Medellín?«
»Security-Firma.«
»Du hast doch gesagt, es ist ein Spiel.«
»Es sind zehntausend Dollar für dich, auf die Hand.«
»Wie lange machst du das schon?«
»Zwei Wochen jetzt. Sonntags frei.«
»Wie viel kriegst du?«
»Jeweils fünfundzwanzigtausend.«
»Dann gib mir zwanzig. Weil es so kurzfristig ist. Und außerdem versetz ich Shaylene.«
Er gab ihr noch zwei Fünftausender.
2
Netherton wurde davon wach, dass hinter seinen Lidern Raineys Sigil im Ruhepulstempo blinkte. Er öffnete die Augen. Den Kopf hielt er wohlweislich still und stellte fest, dass er im Bett lag, allein. Gut so, beides, unter den gegenwärtigen Umständen. Langsam hob er den Kopf, bis er sehen konnte, dass seine Kleidungsstücke nicht dort lagen, wo er dachte, dass er sie hingeworfen hätte. Denn dann, das wusste er, wären Cleaner unterm Bett hervorgekommen, um sie wegzutragen und zu durchflöhen, nach winzigsten Mengen Talg, Hautschuppen, Feinstaub, Essensspuren, Sonstigem.
»Dreckig«, erklärte er mit belegter Stimme, nachdem er sich kurz ähnliche Cleaner für die Psyche vorgestellt hatte, und ließ den Kopf wieder sinken.
Raineys Sigil blinkte jetzt fordernder.
Er setzte sich vorsichtig hin. Aufstehen würde der eigentliche Test sein. »Ja?«
Es blinkte nicht mehr. »Un petit problème«, sagte Rainey.
Er schloss die Augen, aber dann erschien da nur ihr Sigil. Er öffnete sie wieder.
»Sie ist dein verficktes Problem, Wilf.«
Er zuckte zusammen, und der Schmerz, den das verursachte, war erschreckend. »Hast du diese puritanische Ader schon immer? Ist mir noch gar nie aufgefallen.«
»Du bist PR-Mann«, sagte sie, »und sie ist ein Promi. Das ist eine widernatürliche Überschreitung von Artgrenzen.«
Seine Augen, zu groß für deren Höhlen, knirschten sandig. »Sie muss sich jetzt dem Patch nähern«, sagte er im reflexhaften Bemühen, so zu tun, als wäre er hellwach und absolut fokussiert statt erwartbarerweise heillos verkatert.
»Sie sind jetzt fast drüber«, sagte sie, »mitsamt deinem Problem.«
»Was hat sie getan?«
»Einer ihrer Stylisten«, sagte sie, »ist offenbar auch Tätowierer.«
Wieder dominierte das Sigil sein privates, schmerzerfülltes Dunkel. »Das ist nicht wahr«, sagte er und öffnete die Augen wieder. »Oder?«
»Doch.«
»Wir hatten da eine ganz eindeutige Vereinbarung.«
»Tu was«, sagte sie. »Sofort. Die Welt schaut zu, Wilf. Jedenfalls so viel davon, wie wir zusammenkratzen konnten. Sie fragen sich, ob Daedra West Frieden mit den Patchern erzielen wird. Sollen sie beschließen, unser Projekt finanziell zu unterstützen? Wir wollen ein Ja und ein Ja.«
»Die letzten beiden Parlamentäre haben sie gefressen«, sagte er. »Weil sie, von einem wirren Code-Dschungel gesteuert, halluziniert und ihre Besucher für schamanische Geister gehalten haben. Ich habe letzten Monat drei volle Tage darauf verwandt, Daedra im Connaught briefen zu lassen. Zwei Anthropologen, drei Neoprimitivismus-Kuratoren. Keine Tattoos. Eine funkelnagelneue, absolut leere Epidermis. Und jetzt das.«
»Red’s ihr aus, Wilf.«
Er stand versuchsweise auf. Humpelte nackt ins Bad. Urinierte so laut wie möglich. »Was genau?«
»Mit dem Parafoil einzuschweben …«
»Das war doch der Plan.«
»… bekleidet nur mit ihren neuen Tattoos.«
»Nicht im Ernst, oder?«
»Doch«, sagte sie.
»Deren Ästhetik besteht, falls es dir noch nicht aufgefallen ist, in gutartigem Hautkrebs und überzähligen Brustwarzen. Konventionelle Tattoos gehören fest zur Ikonenwelt des Hegemons. Das ist, wie mit einem Cockring zu einer Audienz beim Papst zu gehen und dafür zu sorgen, dass er ihn auch sieht. Ach was, noch schlimmer. Was sind das für welche?«
»Posthumaner Abschaum, dir zufolge.«
»Die Tattoos!«
»Haben irgendwas mit dem Wirbel zu tun«, sagte sie. »Abstrakt.«
»Kulturelle Vereinnahmung. Na wunderbar, schlimmer geht’s ja kaum. Im Gesicht? Am Hals?«
»Nein, zum Glück nicht. Wenn du sie überreden kannst, den Jumpsuit anzuziehen, den wir auf dem Moby gerade drucken, sind wir vielleicht noch immer im Geschäft.«
Er blickte an die Decke. Stellte sich vor, dass sie sich auftat. Und er emporfuhr, wohin auch immer.
»Außerdem ist da das Problem mit den Saudis und ihrem Anteil an unserer Finanzierung«, sagte sie, »der beträchtlich ist. Sichtbare Tattoos gehen grade noch. Nacktheit ist indiskutabel.«
»Sie könnten sie das Zeichen sexueller Verfügbarkeit auffassen«, sagte er, weil er das selbst auch schon getan hatte.
»Die Saudis?«
»Die Patcher.«
»Sie könnten die Nacktheit als Zeichen dafür verstehen, dass sie sich ihnen als Mittagessen anbietet«, sagte sie. »Ihr letztes, wenn. Sie ist ein Todeskeks, Wilf, noch etwa eine Woche lang. Wer ihr auch nur einen Kuss stiehlt, kriegt einen anaphylaktischen Schock. Mit ihren Daumennägeln ist auch irgendwas, aber das wissen wir noch nicht genau.«
Er schlang sich ein dickes weißes Frotteehandtuch um die Hüfte. Taxierte die Wasserkaraffe auf der Marmorplatte. Sein Magen krampfte.
»Lorenzo«, sagte sie, als ein ihm unbekanntes Sigil erschien. »Wilf Netherton hat deinen Feed, in London.«
Er musste von dem plötzlichen Input fast kotzen: helles, salziges Licht über dem Garbage Patch, das Gefühl der Vorwärtsbewegung.
3
Sie schaffte es, das Telefonat mit Shaylene zu beenden, ohne Burton zu erwähnen. Shaylene war während der Highschool ein paarmal mit ihm ausgegangen, aber ihr Interesse hatte sich deutlich intensiviert, seit er mit diesem muskulösen Oberkörper von den Marines zurückgekehrt war und im Ort die Geschichten über Haptic Recon 1 umgingen. Flynne dachte, dass Shaylene das machte, was in den Beziehungsshows »krankhafte Muster romantisieren« hieß. Wobei hier in der Gegend allerdings kaum was Besseres zu kriegen war.
Sie und Shaylene befürchteten, dass Burton sich wegen Lukas 4:5 noch in Schwierigkeiten bringen würde, aber das war auch so ziemlich das Einzige, worin sie sich in Bezug auf ihn einig waren. Niemand konnte Lukas 4:5 leiden, aber Burton hatte mit denen wirklich ein Ding am Laufen. Flynnes Meinung nach waren sie für ihn nur ein Vorwand, aber Angst machte es ihr trotzdem. Sie hatten als Glaubensgemeinschaft begonnen oder jedenfalls in einer Glaubensgemeinschaft und waren gegen alles, was mit Schwulsein, Abtreibung oder Verhütung zu tun hatte. Demonstrierten gegen Militärbegräbnisse, was nicht ohne war. Aber im Grund waren sie Arschlöcher und betrachteten es als Beweis ihrer Gottgefälligkeit, dass alle anderen sie für Arschlöcher hielten. Für Burton waren sie eine Möglichkeit, sich über das hinwegzusetzen, was ihn sonst in Schranken hielt.
Sie bückte sich und sah unterm Tisch nach, ob der kleine schwarze Nylonkoffer da war, in dem er seinen Tomahawk aufbewahrte. Den hatte er doch hoffentlich nicht nach Davisville mitgenommen. Er sagte Axt, nicht Tomahawk, aber mit einer Axt hackte man Holz. Sie angelte den Koffer und war erleichtert, als sie sein Gewicht spürte. Musste ihn eigentlich nicht aufmachen, tat es dennoch. Der Koffer war oben am breitesten, für den Teil, mit dem man bei der Axt Holz spalten würde. Beide Seiten der Klinge waren so dick wie ein kleiner Finger, aber so scharf geschliffen, dass man die Schneide gar nicht fühlen würde, wenn man sich dran schnitt. Der Stiel war elegant geformt, ein bisschen geschwungen, das Holz mit irgendwas getränkt, das es haltbarer und elastischer machte. Der Tomahawk war in einer Schmiede in Tennessee hergestellt, und jeder bei Haptic Recon 1 hatte einen bekommen. Er sah benutzt aus. Gut auf ihre Finger achtend, schloss sie den Koffer und verstaute ihn wieder unterm Tisch.
Sie schwenkte das Telefon zum Scrollen, checkte die Badger-Karte des County. Shaylenes Badge war im Forever Fab, mit einem besorgten lilafarbenen Segment im Emo-Ring. Niemand schien was zu unternehmen, was nicht gerade überraschend war. Madison und Janice waren am Gamen, Sukhoi Flankers, da Vintage-Flugsimulationsspiele Madisons Haupteinkommensquelle waren. Bei beiden waren die Ringe beige für gnadenlose Langeweile, aber so waren sie immer. Also schon vier Leute, die heute Abend arbeiteten, sie eingeschlossen.
Sie bog ihr Telefon so, wie sie es zum Gamen am liebsten hatte, tippte Hapt-Rec ins Login-Fenster ein, dann das arschlange Passwort. Betätigte START. Nichts passierte. Dann blitzte plötzlich das ganze Display auf, wie ein Fotoblitzlicht in einem alten Film, silbrig wie die Spuren der Haptics. Sie blinzelte.
Und dann stieg sie auf, aus einer Startbucht im Dach eines Vans, hatte Burton gesagt. Wie im Fahrstuhl. Noch keine Kontrolle. Um sie herum, und das hatte er ihr nicht gesagt, waren Flüsterstimmen, leise, aber eindringlich, wie von einer einzigen riesigen Feenpolizeizentrale.
Und dieses andere Abendlicht, regnerisch, rosa und silbrig, und links der Fluss wie kaltes Blei. Dunkles Stadtgewirr, Türme in der Ferne, wenig Lichter.
Die Abwärtskamera zeigte ihr das schrumpfende weiße Rechteck des Vans drunten auf der Straße. Die Aufwärtskamera das endlos aufragende Hochhaus, eine Felsklippe, so groß wie die Welt.
4
Lorenzo, Raineys Kameraperson mit dem bedachten Blick des Profis, stet und ruhig, fand Daedra durch Fenster zum obersten Vorderdeck des Mobys hin.
Netherton hätte es weder Rainey noch sonst jemandem gegenüber zugegeben, aber er bereute seine Mitwirkung an dieser Sache. Er hatte sich vom wesentlich robusteren, simpleren Selbstkonzept eines anderen Menschen mitreißen lassen.
Er oder vielmehr Lorenzo sah sie jetzt, in Lammfell-Fliegerjacke, mit Sonnenbrille und sonst nichts. Bemerkte wider Willen einen Venushügel, dem ein neuer Iro zuteilgeworden war, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Die Tattoos waren wohl stilisierte Darstellungen des Nordpazifikwirbels. Neu und glänzend von irgendeiner Creme auf Silikonbasis, das hatte die Maske sicher genauestens kalkuliert.
Ein Teil eines Fensters glitt auf, und Lorenzo trat hinaus. »Ich habe Wilf Netherton dran«, hörte ihn Netherton sagen. Dann verschwand Lorenzos Sigil und das von Daedra erschien.
Ihre Hände hoben sich, packten die Revers ihrer offenen Jacke. »Wilf. Wie geht’s?«
»Schön, dich zu sehen«, sagte er.
Sie lächelte und zeigte dabei Frontzähne, deren Form und Platzierung ein Komitee beschlossen haben könnte. Sie zog die Jackenvorderteile zusammen, die Fäuste in Brustbeinhöhe. »Du bist sauer wegen der Tattoos«, sagte sie.
»Wir waren uns doch einig, dass du das nicht tun würdest.«
»Ich muss tun, was mein Innerstes will, Wilf. Es nicht zu tun wollte mein Innerstes nicht.«
»Ich bin der Letzte, der deinen Prozess infrage stellen würde«, sagte er und lenkte dabei heftigen Ärger in etwas um, das hoffentlich als Offenheit, wenn nicht gar Verständnis rüberkommen würde. Das war eine spezielle alchemistische Fähigkeit von ihm, wenn auch momentan durch den Kater etwas behindert. »Du erinnerst dich doch an Annie, die intelligenteste unserer Neoprimitivismus-Kuratoren?«
Ihre Augen wurden schmal. »Die Hübsche?«
»Ja«, sagte er, obwohl sie ihm nicht besonders hübsch erschienen war. »Wir haben noch zusammen was getrunken, Annie und ich, nach dieser letzten Sitzung im Connaught, als du schon gehen musstest.«
»Was ist mit ihr?«
»Ihr hatte es die Sprache verschlagen vor lauter Bewunderung, das ist mir da klar geworden. Sobald du weg warst, brach es aus ihr heraus. Wie untröstlich sie war, weil sie es vor lauter Ehrfurcht nicht geschafft hatte, mit dir über deine Kunst zu reden.«
»Sie ist Künstlerin?«
»Kunstwissenschaftlerin. Verrückt nach allem, was du je gemacht hast, schon seit ihrer Teenagerzeit. Bezieht sämtliche Miniaturen, obwohl sie’s sich eigentlich nicht leisten kann. Im Gespräch mit ihr habe ich deine künstlerische Entwicklung auf eine Art verstanden wie noch nie.«
Ihr Kopf legte sich zur Seite, Haar schwang. Die Jacke musste aufgegangen sein, als sie jetzt eine Hand hob, um die Sonnenbrille abzunehmen, aber Lorenzo machte da nicht mit.
Nethertons Augen öffneten sich etwas weiter, der Auftakt zu einem Pitch über etwas, das es noch gar nicht gab – nichts von dem, was er bisher gesagt hatte, war wahr. Dann fiel ihm wieder ein, dass sie ihn ja gar nicht sehen konnte. Sie sah nur jemanden namens Lorenzo auf dem Oberdeck eines Moby auf der anderen Seite des Globus. »Sie wollte dir vor allem etwas sagen, das ihr in der persönlichen Begegnung mit dir aufgegangen war. Dass da in deinem Werk so ein neuer Sinn für Timing ist. In ihren Augen ist Timing nämlich der Schlüssel zu deinem künstlerischen Reifungsprozess.«
Lorenzo wählte eine neue Kameraeinstellung. Plötzlich war es, als trennten Netherton nur Zentimeter von ihren Lippen. Er erinnerte sich an deren eigentümlich frischen, nichtanimalischen Geschmack.
»Timing?«, fragte sie ausdruckslos.
»Ich wollte, ich hätte es aufgenommen. Schwer zu paraphrasieren.« Was hatte er zuletzt gesagt? »Dass du jetzt sicherer bist? Dass du immer schon mutig und furchtlos warst, dass dieses neue Selbstbewusstsein aber noch mal etwas anderes ist. Etwas, wie sie es formulierte, so verdient Errungenes. Ich wollte eigentlich bei unserem letzten Essen mit dir über ihre Thesen reden, aber irgendwie war es nicht der Abend dafür.«
Ihr Kopf war völlig bewegungslos, kein Blinzeln. Er sah im Geist hinter diesen Augen ihr Ego heranschwimmen – etwas Aalartiges, Larvales, mit durchsichtigen Knochen – und ihn misstrauisch mustern. Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit. »Wenn es anders gelaufen wäre«, hörte er sich sagen, »würden wir jetzt wohl dieses Gespräch nicht führen.«
»Warum nicht?«
»Weil Annie sagen würde, dass der Auftritt, den du erwägst, Ausdruck eines retrograden Impulses ist, etwas aus den Anfängen deiner Karriere. Nicht geprägt von diesem neuen Gefühl für Timing.«
Sie starrte ihn an oder vielmehr Lorenzo, wer auch immer das sein mochte. Und lächelte dann. Ein Reflex des Dings hinter ihren Augen.
Raineys Sigil dimmte auf Intim herunter. »Ich würde jetzt ein Kind von dir wollen«, sagte sie drüben in Toronto, »wenn ich nicht wüsste, dass es immer lügen würde.«
5
Sie hatte vergessen zu pinkeln. Hatte dann den Autopiloten des Copters eingeschaltet, der nun im Abstand von fünf Metern um das Kundengebäude flog, und war zu Burtons neuer Komposttoilette gerannt. Jetzt zog sie den Reißverschluss ihrer Cutoffs hoch, machte den Knopf zu, warf eine Schaufel voll Sägemehl aus Zedernholz in das Loch, stürmte hinaus und schmiss die Tür so schwungvoll zu, dass die Tube mit Händedesinfektionsgel, die Burton an die Außenseite gehängt hatte, gegen das Holz schlug und leckte. Schlug auf das weiße Plastik, fing ein bisschen Gel auf, verrieb es auf den Handinnenseiten und fragte sich, ob er die Tube im Armee-Krankenhaus geklaut hatte.
Wieder im Trailer, öffnete sie den Kühlschrank, nahm ein Stück von Leons selbst gemachtem Dörrfleisch und ein Red Bull. Schob den schiefen Rindfleischstreifen in den Mund, während sie sich hinsetzte und zu ihrem Telefon griff.
Da waren wieder Paparazzi. Sie sahen wie Doppeldecker-Libellen aus, die Flügel oder Rotoren drehten sich so schnell, dass sie durchsichtig wirkten, vorne war eine durchsichtige, kugelförmige Verdickung. Sie versuchte, die Paparazzi zu zählen, aber sie waren schnell und andauernd in Bewegung. Vielleicht sechs, vielleicht auch zehn. Sie interessierten sich für das Gebäude. Wie Insekten emulierende AI, aber das konnte sie auch. Sie schienen nichts weiter zu wollen, als Flitzbewegungen zu machen und auf der Stelle zu schweben, den Kopf zum Gebäude hin. Flynne stieß zwei, drei an, sah sie davonschießen, verschwinden. Sie würden wiederkommen. Es war, als ob sie auf irgendwas warteten, offenbar im sechsundfünfzigsten Stock.
Das Gebäude war aus manchen Blickwinkeln schwarz, eigentlich aber von einem dunklen Metallicbraun. Wenn es Fenster hatte, gab es in den Stockwerken, die sie schützen sollte, keine, oder aber sie waren mit einer Art Laden verschlossen. An der Fassade waren ohne erkennbares System große, flache Rechtecke angebracht, manche senkrecht, manche waagrecht.
Die Feenstimmen verstummten, als sie laut der Anzeige auf dem Display die zwanzigste Etage passierte. Ein strikteres Protokoll? Sie hätte die Stimmen gern wiedergehabt. Es war nicht gerade besonders spannend hier oben, immer nur Libellen klatschen. In einem Freizeit-Game hätte sie jetzt die Stadt von oben ausgecheckt, aber sie wurde ja nicht dafür bezahlt, die Aussicht zu genießen.
Schien da unten mindestens eine Straße zu geben, die durchsichtig und von unten beleuchtet war, als wäre sie mit Glas gepflastert. Kaum Verkehr. Vielleicht hatten sie den noch nicht designt. Sie glaubte, am Rand eines Walds oder Parks etwas gesehen zu haben, das sich bewegte, etwas Zweibeiniges, zu groß für einen Menschen. Manche Fahrzeuge hatten kein Licht. Und etwas Riesiges segelte wie ein Wal oder ein walgroßer Hai langsam vorbei, draußen hinter den fernen Türmen. Mit Lichtern wie ein Flugzeug.
Testete das Trockenfleisch auf Kaubarkeit. War noch nicht so weit.
Hielt voll auf eine Libelle zu, Frontkamera. Egal wie schnell sie flog, die Dinger verschwanden einfach. Dann klappte an der Fassade ein Rechteck in die Horizontale, wurde ein Sims, gab eine Wand aus Mattglas frei, die leuchtete.
Sie nahm das Trockenfleisch aus dem Mund und legte es auf den Tisch. Die geflügelten Dinger waren wieder da, rangelten um eine Position vor dem Fenster, wenn es denn eins war. Ihre freie Hand fand das Red Bull, öffnete es und trank.
Da erschien als dunkler Schatten der schlanke Hintern einer Frau an dem Mattglas. Dann darüber Schulterblätter. Nur Schatten. Dann Hände, der Größe nach Männerhände mit gespreizten Fingern, schräg über den Schatten der Schulterblätter.
Sie schluckte. Das Zeug war wie kalter, dünner Hustensaft. »Weg da«, sagte sie und flog mitten durch die Insekten, scheuchte sie auseinander.
Eine Männerhand löste sich von der Scheibe. Dann trat die Frau von ihr weg, wobei die andere Männerhand blieb, wo sie war. Flynne stellte sich vor, wie der Kuss, mit dem er gerechnet hatte, nicht zustande gekommen war oder jedenfalls nicht mit dem erhofften Ergebnis.
Ganz schön düster für ein Game. Damit könnte man ja eine ernsthafte Beziehungsshow anfangen. Dann war auch seine andere Hand weg. Sie stellte sich eine ärgerliche Geste vor.
Ihr Telefon klingelte. Sie stellte es auf Lautsprecher.
»Alles okay?« Es war Burton.
»Bin drin«, sagte sie. »Bist du in Davisville?«
»Grade angekommen.«
»Sind Lukas aufgetaucht?«
»Sind hier«, sagte er.
»Leg dich nicht mit ihnen an, Burton.«
»Bestimmt nicht.«
Klar. »Passiert da je irgendwas, in diesem Game?«
»Diese Cams«, sagte er. »Treibst du sie weg?«
»Yeah. Und da ist so eine Art Balkon rausgeklappt. Längliches Mattglasfenster, drinnen hell. Hab Schatten von Leuten gesehen.«
»Mehr als ich je gesehen hab.«
»Und einen Blimp oder so was. Wo soll das hier sein?«
»Nirgends. Halt einfach nur diese Cams fern.«
»Fühlt sich mehr wie ein Securityjob an als wie ein Game.«
»Vielleicht ist es ja ein Game über Securityjobs. Muss Schluss machen.«
»Warum?«
»Leon ist wieder da. Hotdogs mit Kimchi. Er sagt, schade, dass du nicht hier bist.«
»Sag ihm, ich muss einen bekloppten Job machen. Für meinen bekloppten Bruder.«
»Mach ich«, sagte er und war weg.
Sie attackierte die Libellendinger.
6
Lorenzo nahm auf, wie sich das Moby der Stadt näherte. Seine Hände auf der Reling und Nethertons Hände auf den gepolsterten Armlehnen des bequemsten Sessels im Raum schienen für einen Moment zu verschmelzen, ein Gefühl, so namenlos wie die Stadt der Patcher.
Keine Stadt, darauf hatten die Kuratoren bestanden, sondern eine inkrementelle Skulptur. Eigentlich ein Ritualobjekt. Durchscheinend gräulich, mit einem Stich ins Gelbliche, das Material als Schwebepartikel aus der oberen Wassersäule des Pazifischen Müllstrudels gewonnen. Jetzt schon geschätzte drei Millionen Tonnen schwer und immer noch weiter wachsend, schwamm sie problemlos, über Wasser gehalten von segmentierten Blasen, jede so groß wie ein größerer Flughafen des vorigen Jahrhunderts.
Sie hatte, soweit bekannt, keine hundert Bewohner. Da das, was permanent an ihr baute, anscheinend auch Cams fraß, wusste man jedoch wenig über sie.
Der Servierwagen schob sich ein bisschen näher an die Armlehne seines Sessels heran und erinnerte ihn an den Kaffee.
»Nimm jetzt das da auf, Lorenzo«, befahl Rainey, und Lorenzo schwenkte auf Daedra inmitten eines Rudels von Spezialisten. Ein weißes Porzellan-Michikoid in einem viktorianischen Seemannsoutfit kniete da und schnürte Daedras kunstvoll gealterte Leder-Hightops. Diverse Cams umschwebten sie, eine mit einem Ventilator, der ihren Pony flattern ließ. Der Windtest, sagte er sich, deutete wohl darauf hin, dass sie keinen Helm tragen würde.
»Nicht schlecht«, sagte er, wider Willen beeindruckt vom Schnitt ihres neuen Jumpsuits, »wenn wir sie dazu bringen können, ihn anzubehalten.« Als hätte sie ihn gehört, griff Daedra an den Reißverschluss, zog ihn ein Stückchen auf, dann noch ein bisschen weiter, und enthüllte ein fettglänzendes bogenförmiges Stück abstrahierte Wirbelströmung.
»Wir haben bei der Druckdatei für den Reißverschluss getrickst«, sagte Rainey. »Hoffentlich versucht sie nicht, ihn weiter aufzumachen, bevor sie unten ist.«
»Wird ihr gar nicht gefallen«, sagte er, »wenn sie’s tut.«
»Wird ihr auch nicht gefallen, dass du ihr das mit der Kuratorin vorgelogen hast.«
»Die Kuratorin hat ja vielleicht wirklich so was Ähnliches gedacht. Das wissen wir erst, wenn ich mit ihr rede.« Er ergriff, ohne hinzuschauen, die Tasse und hob sie an die Lippen. Sehr heiß. Schwarz. Er würde vielleicht doch überleben. Das Schmerzmittel begann zu wirken. »Wenn sie ihren Anteil bekommt, wird ihr ein klemmender Reißverschluss egal sein.«
»Das setzt voraus, dass das Powwow hier was bringt«, sagte Rainey.
»Sie hat allen Grund zu wollen, dass es etwas bringt.«
»Lorenzo hat zwei größere Cams auf den Weg geschickt«, sagte sie. »Müssten gleich da sein. Ringplätze.«
Er beobachtete die Kostüm- und Maskenleute, diversen Fluffer und Dokumentaristen. »Wie viele von diesen Leuten sind von uns?«
»Sechs, mit Lorenzo. Er glaubt, dieses Michikoid ist ihre eigentliche Security.«
Er nickte, weil er vergessen hatte, dass sie ihn ja nicht sehen konnte, und kleckerte sich dann Kaffee auf den weißen Leinenbademantel, als sich Feeds von zwei schnellfliegenden Cams in seinem Blickfeld öffneten, rechts und links von Daedra.
Feed von ihrer Insel verursachte ihm immer Juckreiz.
»Noch etwa einen Kilometer auseinander, auf Kurs West-Nordwest, konvergierend«, sagte Rainey.
»Für kein Geld der Welt.«
»Du musst ja nicht hin«, sagte sie. »Aber wir müssen beide zuschauen.«
Die Cams gingen jetzt immer tiefer, zwischen hohen, segelartigen Strukturen hindurch. Alles war gleichzeitig gigantisch und beängstigend substanzlos. Leere weite Plätze, absurd breite Straßen, auf denen Hunderte Leute nebeneinander hätten marschieren können.
Gingen noch tiefer, über krustig getrockneten Algen, ausgeblichenen Knochen, Salzverwehungen. Die Patcher, deren oberste Direktive es war, die verdreckte Wassersäule zu säubern, hatten diesen Ort aus zurückgewonnenen Polymeren erbaut. Die Form, die er dabei angenommen hatte, war nachrangig, nebenbei improvisiert, und von bemerkenswerter Hässlichkeit. Es weckte in ihm das Bedürfnis zu duschen. Kaffee sickerte allmählich durch den Bademantel.
Jetzt halfen sie Daedra, ihren Parafoil anzulegen, der in zusammengelegtem Zustand wie ein zweilappiger roter Rucksack aussah und das weiße Logo des Herstellers trug. »Ist der Schirm ein Placement von ihr«, fragte er, »oder von uns?«
»Von ihrer Regierung.«
Die Cams verharrten abrupt, fanden einander gleichzeitig über dem ausgewählten Platz. Stiegen in diagonal entgegengesetzten Ecken hinab und übermittelten dabei das Bild der jeweils anderen. Sie waren identische mattgraue Skelettovale, so groß wie ein Teetablett, um einen birnenförmigen kleinen Rumpf herum.
Lorenzo oder Rainey stellte den Ton lauter.
Ein tiefes Seufzen erfüllte den Platz, die charakteristische Geräuschkulisse der Insel. Die Patcher hatten jedes Bauwerk mit wurmartigen Röhren durchzogen. Wind blies über die Öffnungen und erzeugte einen schwankenden, zusammengesetzten Klang, den er hasste, seit er ihn das erste Mal gehört hatte. »Muss das sein?«, fragte er.
»Es macht so viel von der Atmosphäre des Ortes aus. Ich möchte, dass unsere Zuschauer das hören.«
Etwas bewegte sich in der Ferne, links. »Was ist das?«
»Windgetriebener Walker.«
Vier Meter hoch, ohne Kopf, mit einer nicht genau feststellbaren Anzahl von Beinen, war er aus dem gleichen hohlen milchigen Plastik. Wirkte wie das abgelegte Außenskelett von etwas anderem, bedient von einem ungeschickten Puppenspieler. Hin und her schaukelnd kam er näher, und ein Wald von Röhren über seine ganze Länge trug zweifellos zum Gesang der Plastikinsel bei.
»Haben sie ihn hergeschickt?«
»Nein«, sagte sie. »Die lassen sie einfach laufen, wohin der Wind sie treibt.«
»Ich will ihn nicht im Bild.«
»Bist du jetzt der Regisseur?«
»Du willst ihn nicht Bild«, sagte er.
»Das erledigt schon der Wind.«
Das Ding stelzte auf seinen hohlen, durchscheinenden Beinen schwankend weiter.
Auf dem Oberdeck des Moby, bemerkte er, hatte sich ihr Supportstab jetzt zurückgezogen. Das weiße Porzellan-Michikoid war noch da und kontrollierte den Parafoil, wobei sich seine Hände und Finger mit nichtmenschlicher Geschwindigkeit und Präzision bewegten. Die Bänder an seiner Matrosenmütze flatterten im Wind. Echtem, da die Cam mit dem Ventilator fort war.
»Es geht los«, sagte Rainey, und als eine Cam schwenkte, sah er den ersten Patcher.
Ein Kind. Oder jedenfalls etwas Kindgroßes. Über den Lenker eines geisterhaften kleinen Fahrrads gebeugt, dessen Rahmen genauso salzverkrustet-durchscheinend war wie die Stadt und der Wind-Walker. Es hatte keinen Motor, aber anscheinend auch keine Pedalen. Der Patcher bewegte sich vorwärts, indem er sich mit den Füßen von der Oberfläche der breiten Straße abstieß.
Die Patcher fand Netherton noch abstoßender als ihre Insel. Ihre Haut war mit einer optimierten Variante von aktinischer Keratose bedeckt, die sie paradoxerweise vor UV-Krebs schützte. »Ist da nur der eine?«
»Laut Satellitenbildern kommen sie von mehreren Seiten auf den Platz zu. Ein Dutzend mit dem da. Wie vereinbart.«
Er sah zu, wie sich der Patcher unbestimmten Geschlechts auf seinem Laufrad fortbewegte, die Augen oder vielleicht auch die Schutzbrille ein verwischter Querstreifen.
7
Sie bereiteten hinter dem Mattglas eine Party vor. Das Glas war jetzt aber nicht mehr matt, sondern klar, wie bei dem Trick mit den zwei Sonnenbrillen, den ihr Burton gezeigt hatte. Die geflügelten Dinger zwängten sich davor, also drängte Flynne sie weg, wobei sie ihr Bestes tat, den Angriffswinkel zu variieren. Sie hatte ein Pull-Down für Stunt-Manöver gefunden, sodass sie den Copter jetzt auf eine Art steuern konnte, auf die die Insekten weniger gefasst waren. Eins der Dinger hatte sie, indem sie sich drauffallen ließ, fast erwischt. Die räumliche Nähe hatte die Bilderfassung ausgelöst, Insekt in extremer Nahaufnahme, aber es war gleich wieder weg, und sie hatte keine Möglichkeit, es aufzurufen. Sah aus wie etwas, das Shaylene im Forever Fab gedruckt haben könnte, wie ein Spielzeug oder ein extrem hässliches Schmuckstück.
Ihre Aufgabe war es, Insekten zu verjagen, und nicht, sie einzufangen. Sie würde sowieso eine Verlaufsaufzeichnung von allem haben, was sie gemacht hatte. Also würde sie die Insekten einfach nur verscheuchen, bekam dabei aber ziemlich gut mit, was drinnen vor sich ging.
Das Paar, das am Fenster gelehnt hatte, war weg. Überhaupt war da niemand Menschliches. Roboter, niedrig, klein und beigefarben, saugten den Fußboden und bewegten sich so schnell, dass man sie kaum sah, während drei fast gleich aussehende Robotergirls Essen auf einem langen Tisch auftrugen. Klassische Anime-Roboterbabes mit weißen glatten Porzellangesichtern hatten drei große Blumenarrangements aufgebaut und verfrachteten jetzt Essen von Wägelchen auf Platten auf dem Tisch. Wenn die Wägelchen reinkamen und selbsttätig zum Tisch rollten, teilte sich das verschwommene Beige gerade weit genug, um sie durchzulassen. Umfloss sie wie mechanisches Wasser mit perfekt rechtwinkligen Richtungsänderungen.
Sie hatte hier mehr Spaß, als Burton gehabt hätte. Sie wollte die Party sehen.
Es gab Shows, in denen man Leute bei den Vorbereitungen auf irgendwas sah, auf Hochzeiten, Trauerfeiern, das Ende der Welt. Die hatten ihr nie gefallen. Aber da hatte es auch keine Robotergirls oder superschnelle Roombas gegeben. Sie hatte Videos von Fabrikationsrobotern gesehen, die fast genauso schnell Sachen zusammenmontierten, aber von dem, was die Kids sich bei Shaylene ausdrucken ließen, hatte sich nichts je so bewegt.
Sie ließ sich auf zwei Insekten zufallen, schwebte auf der Stelle und konnte, ohne die Kameraeinstellung zu ändern, eins der Robotergirls betrachten. Es trug eine Steppweste mit einer Menge Taschen, aus denen kleine glänzende Werkzeuge ragten. Es benutzte eine Art Zahnstocher, um irgendwas Winziges auf Sushi zu arrangieren. In dem Porzellangesicht saßen runde schwarze Augen, die vorher nicht da gewesen waren, weiter auseinander als bei einem Menschen.
Flynne bog das Telefon ein bisschen mehr, um ihre Finger zu entspannen. Scheuchte die Insekten auseinander.
Das wirbelnde Beige auf dem Boden verschwand wie Licht, das man ausschaltete, bis auf ein armes seesternförmiges Ding, das, wie es schien, auf Rädern an seinen fünf Zackenspitzen außer Sicht humpeln musste. Vermutlich kaputt.
Eine Frau betrat das Zimmer. Brünett, schön. Nicht auf Boy-Game-Art scharf, sondern irgendwie realistischer. Wie Flynnes Lieblings-AI-Charakter in Operation Northwind, das französische Mädchen, die Résistance-Heldin. Schlichtes Kleid wie ein langes T-Shirt, in einem dunklen Grau, das dort, wo der Stoff ihren Körper berührte, schwarz wurde, was Flynne an die Schatten an der Fensterscheibe erinnerte. Es wanderte von allein abwärts, als sie am Tisch entlangging, und entblößte ihre linke Schulter.
Die Robotergirls hielten in ihrem Tun inne, hoben die Köpfe, die jetzt alle augenlos waren, die flachen Senken so glatt wie die Wangenknochenpartie. Die Kamerainsekten starteten eine Angriffswelle.
Sie hörte ihre Finger auf dem Telefon, als sie den Copter hin und her, rauf, runter und wieder zurückschnellen ließ. »Verpisst euch.«
Die Frau stand am Fenster und schaute raus, die linke Schulter nackt. Dann kletterte das Kleid in einer fließenden Bewegung wieder hoch, bedeckte die Schulter, der Halsausschnitt bildete ein V, rundete sich dann.
»Weg da!« Sie schoss auf die Insekten los.
Das Glas polarisierte sich wieder oder was auch immer das für ein Vorgang war. »Scheißviecher«, sagte sie zu den Insekten, obwohl die vermutlich nichts dafür konnten.
Sie drehte eine schnelle Kontrollrunde, für den Fall, dass noch irgendwo ein Fenster aufgegangen war und sie irgendwas verpassen könnte. Nichts. Auch kein einziges Insekt.
Als sie wieder zurückkam, tanzten die Insekten schon wartend vor dem Fenster. Sie flog mitten durch sie hindurch, verscheuchte sie.
Löste mit der Zunge das halb zerkaute Trockenfleisch von der Innenseite ihrer Wange und kaute. Kratzte sich an der Nase.
Roch Händedesinfektionsgel.
Jagte die Biester.
8
Der Patcher-Boss hatte in etwa die Gesichtszüge eines Ochsenfroschs und keinen Hals, sofern er keine Vollkopfmaske aus keratotischer Haut trug. und Zudem besaß er zwei Penisse.
»Ekelhaft«, sagte Netherton, ohne von Rainey eine Antwort zu erwarten.
Gut zwei Meter groß, mit disproportional langen Armen, war der Boss auf einem durchsichtigen Hochrad erschienen, dessen hohle Speichen den Knochen eines Albatros nachempfunden waren. Er trug ein zerlumptes Tutu aus Treibmüll-Plastikfolie, die von den UV-Strahlen zerfressen war und durch dessen zerfallende Rüschen man das sah, was Rainey sein Doppelgemächt nannte. Der obere, kleinere Penis, wenn es sich denn wirklich um einen solchen handelte, war erigiert, vielleicht permanent, und endete in etwas, das wie ein Partyhütchen aus rauhem grauem Horn aussah. Der andere darunter war zwar übergroß, wirkte aber konventioneller und hing schlaff herab.
»Gut«, sagte Rainey, »sie sind alle da.«
Zwischen den Okuli der beiden Cam-Feeds studierte Lorenzo Daedra im Profil, während sie vor den fünf Stufen verharrte, die auf die Reling des Mobys führten. Kopf und Blick gesenkt, sie stand da, als betete oder meditierte sie.
»Was macht sie?«, fragte Rainey.
»Visualisieren.«
»Was?«
»Sich selbst, würde ich vermuten.«
»Ich habe eine Wette verloren«, sagte sie, »als du mit ihr angebandelt hast. Jemand meinte, du würdest es tun. Ich habe gesagt, nie im Leben.«
»Es war ja nicht lange.«
»Wie ein bisschen schwanger sein.«
»Kurz schwanger sein.«
Daedra hob jetzt den Kopf und berührte fast schon geistesabwesend den farbunterdrückten Stars-and-Stripes-Aufnäher über ihrem rechten Bizeps.
»Money Shot«, sagte Rainey.
Daedra stieg die Stufen hinauf und machte einen eleganten Kopfsprung von der Reling.
Ein dritter Feed öffnete sich zwischen die beiden anderen, dieser von unten aufgenommen.
»Micro-Cam. Wir haben gestern ein paar reingeschickt«, sagte Rainey, als Daedras Parafoil sich gerade rot-weiß über der Insel öffnete. »Die Patcher haben uns wissen lassen, dass sie’s wissen, aber bisher ist noch keine gefressen worden.«
Netherton wischte mit der Zunge von rechts nach links über seinen Gaumen, damit sein Telefon-Display schwarz wurde. Sah das ungemachte Bett.
»Wie sieht sie für dich aus?«, fragte Rainey.
»Toll«, sagte er und stand auf.
Er ging an das vertikal konkave Eckfenster. Es änderte die Polarisierung. Er blickte hinab auf die Kreuzung, die total vorhersagbare Abwesenheit von Bewegung. Keine Salzverkrustungen, kein Drama, kein atonaler Windgesang. Jenseits der Bloomsbury Street hing eine ein Meter lange Mantis in leuchtendem britischem Renn-Grün mit gelben Aufklebern an einer Queen-Anne-Fassade und verrichtete irgendwelche minderen Instandhaltungsarbeiten. Vermutlich von irgendeinem Bastler teleoperiert. Ein unsichtbarer Assembler-Schwarm würde das besser erledigen.
»Sie wollte das allen Ernstes nackt machen«, sagte Rainey, »und mit Tattoos bedeckt.«
»Bedeckt wohl kaum. Du hast doch die Miniaturen ihrer früheren Häute gesehen. Das ist ›bedeckt‹.«
»Ich konnte es vermeiden, danke.«
Er doppeltippte auf seinen Gaumen, und die Feeds rechts und links zeigten ihm von ihrer jeweiligen Ecke des Platzes aus den Patcher-Boss und dessen elfköpfiges Gefolge; die Patcher blickten allesamt reglos empor.
»Schau sie nur an«, sagte er.
»Du kannst sie echt nicht ausstehen, was?«
»Da fragst du noch? Schau sie doch an.«
»Wir sollen ihr Äußeres offensichtlich nicht ansprechend finden. Der Kannibalismus ist ein Problem, wenn die Geschichten stimmen, aber sie haben die Wassersäule tatsächlich gereinigt und zwar praktisch ohne irgendwelchen Kapitalaufwand von irgendeiner Seite. Und sie besitzen jetzt das weltgrößte zusammenhängende Gebilde aus recyceltem Kunststoff. Das auf mich wie ein Land wirkt, wenn auch noch nicht wie ein Staat.«
Die Patcher bildeten jetzt mit ihren Rollern und Laufrädern einen ungefähren Kreis um ihren Boss, der sein Hochrad am Rand des Platzes hatte liegen lassen. Die anderen waren so klein, wie ihr Boss groß war, karikaturesk abstoßende Gestalten aus rauhem grauem Fleisch. Sie trugen Schichten von Salz und Sonne vergraute Lumpen. Natürlich gab es eine wilde Fülle an Modifikationen. Die offenkundiger Weiblichen unter ihnen hatten sechs Brüste, und ihre sichtbaren Körperregionen schmückten nicht Tattoos, sondern kompliziert-bedeutungslose Muster aus pseudoichthyotischen Schuppen. Sie hatten alle die gleichen zehenlosen, schuhartigen Füße. Ihre Lumpen flatterten im Wind, aber sonst bewegte sich auf dem Platz nichts.
Auf dem zentralen Feed schwebte Deadra jetzt herab, in weiten Kreisen, zwischendurch wieder aufsteigend. Der Parafoil änderte Breite und Profil.
»Da kommt sie«, sagte Rainey.
Daedra kam tief herangeschwebt, die breiteste der auf den Platz zuführenden Straßen entlang. Der Parafoil morphte jetzt rhythmisch, um zu bremsen, wie eine Qualle im Zeitraffer. Sie stolperte kaum, als ihre Füße auf dem Polymer aufkamen und Salzwolken aufwühlten.
Der Parafoil löste sich, schrumpfte augenblicklich und landete auf vier bizarren kleinen Beinen, aber nur für ein, zwei Sekunden. Dann lag er da, jetzt wieder zweilappig, mit dem Logo nach oben. Er wäre nie mit dem Logo nach unten gelandet, das war Netherton klar. Noch ein Money Shot. Der Feed der Micro-Cam schloss sich.
Auf den beiden Feeds der Cams über den entgegengesetzten Ecken des Platzes lief Daedra jetzt in beeindruckend aufrechter Haltung aus, genau in den Kreis der kleineren Gestalten hinein.
Der Patcher-Boss drehte sich schrittchenweise. Seine Augen, die in den Ecken seines riesigen, ganz und gar nichtmenschlichen Kopfes saßen, sahen aus wie etwas, das ein Kind hingekritzelt und dann ausradiert hatte.
»Jetzt!«, sagte Rainey.
Daedra hob die rechte Hand, sei es als Begrüßungsgeste, sei es, um zu demonstrieren, dass sie unbewaffnet war.
Ihre linke Hand, sah Netherton, wollte den Reißverschluss des Overalls aufziehen, doch der Reißverschluss verklemmte sich etwa eine Handbreit unter dem Brustbein.
»Bitch«, sagte Rainey fast schon fröhlich, während eine Mikroexpression geronnener Wut über Daedras Gesicht huschte.
Die Linke des Patcher-Bosses, die wie eine Art Fanghandschuh aus salzfleckigem grauem Leder aussah, schloss sich um ihre Rechte. Er hob sie hoch: Ihre kunstvoll abgewetzten Schuhe lösten sich von dem durchscheinenden Boden. Sie trat ihm mit voller Wucht in den schlaffen Bauch, direkt über dem zerlumpten Plastik-Tutu; Salz stob.
Er zog sie noch näher an sich heran, sodass sie jetzt über dem Pseudo-Phallus mit der hörnernen Spitze baumelte. Da berührte ihre linke Hand seine Flanke, direkt unterhalb der Rippen. Ihre Finger waren locker gekrümmt, die Daumenkuppe am grauen Fleisch.
Er erzitterte, schwankte.
Sie zog beide Beine an, stemmte die Füße wieder gegen seinen Bauch. Als sich ihre Hand von ihm löste, schien es, als zöge sie ein blutrotes Maßband aus. Einen Daumennagel, so lang wie ihr Unterarm, als er ganz draußen war. Das Blut des Patcher-Bosses knallrot vor einer Welt aus Grau.
Er ließ sie los. Sie landete auf dem Rücken, rollte sich sofort weg, der Nagel jetzt nur noch halb so lang. Er öffnete sein Riesenmaul, in dem Netherton nur Dunkel sah, und kippte vornüber.
Daedra war schon wieder auf den Beinen und drehte sich langsam um: beide Daumennägel konkav und leicht gekrümmt, der linke nass vom Blut des Patchers.
»Hyperschallobjekte im Anflug«, sagte eine unbekannte Stimme auf Raineys Feed, geschlechtslos, vollkommen gelassen. »Verlangsamung. Schockwelle.«
Er hatte hier noch nie Donner gehört.
Sechs makellos weiße senkrechte Zylinder in vollkommen gleichmäßigen Abständen erschienen, etwas nach außen versetzt, über dem Kreis der Patcher, die allesamt ihre Räder und Roller hingeworfen und einen ersten Schritt auf Daedra zu gemacht hatten. Eine senkrechte Linie aus winzigen orangefarbenen Nadeln tanzte jeden der Zylinder auf und ab, während die Patcher auf eine Art, die Netherton nicht begriff, zersprengt wurden. Die Oculi von Lorenzos Feeds gefroren: Das Bild wurde fast völlig von der perfekten, absurden tiefschwarzen Silhouette einer abgetrennten Hand ausgefüllt.
»Wir sind so was von am Arsch«, sagte Rainey, auf eine kindlich totale Art verblüfft.
Netherton, der sah, wie dem Michikoid auf dem Deck des Moby blitzartig multiple Spinnenaugen und Maulschlitze wuchsen, bevor es sich über die Reling schwang, konnte ihr nur zustimmen.
9
London.
Flynne hatte die LEDs runtergedimmt, weil sie gemerkt hatte, dass sie dann die Insektendinger besser sehen konnte. Jetzt ließ sie das Licht so. Sie hatte gehofft, sie würde wieder senkrecht absteigen, an der Fassade entlang zum Van, weil sie in dem Fall ja nicht mehr im Dienst gewesen wäre und sich richtig hätte umschauen können, aber sie hatten sie einfach direkt rausgeschmissen.
Sie bog das Telefon wieder gerader, ließ ihre Fingerknöchel knacken, saß im Schummerlicht da und machte eine Städte-Bildsuche. Dauerte nicht lange. Flusskurve, Textur aus älteren, niedrigeren Gebäuden, Kontrast zwischen denen und den höheren. Das reale London hatte nicht so viele hohe, und im realen London standen die hohen enger beisammen und waren unterschiedlicher in Form und Größe. Im Game-London waren es alles Megastapeltürme, regelmäßig angeordnet, aber in größeren Abständen. Wie auf einem eigenen Raster, denn London, das wusste sie, hatte nie ein Straßenraster gehabt.
Sie überlegte, wo sie den Zettel mit den Zugangsdaten lassen sollte. Entschied sich für das Tomahawk-Köfferchen. Als sie es gerade wieder unter den Tisch stellte, klingelte ihr Telefon. Leon. »Wo ist er?«, fragte sie.
»Homes«, sagte er, »Sicherheitsgewahrsam.«
»Festgenommen?«
»Nein. Festgesetzt.«
»Was hat er gemacht?«
»Rumgezofft. Die Homes haben total gegrinst und so, hinterher. Fanden es gut. Haben ihm eine chinesische Zigarette geschenkt, eine Aktive.«
»Er raucht doch gar nicht.«
»Kann sie ja gegen irgendwas tauschen.«
»Haben sie ihm das Telefon abgenommen?«
»Die Homes nehmen allen das Telefon ab.«
Sie schaute auf ihrs. Macon hatte es ihr erst letzte Woche gedruckt. Sie hoffte, dass er alles richtig gemacht hatte, wenn sich jetzt Homeland-Computer das Ding vornehmen würden. »Haben sie gesagt, wie lange sie ihn festhalten wollen?«
»Sagen sie nie«, sagte Leon. »Wär aber logisch, wenn’s so lange wär, bis die Lukas-Leute weg sind.«
»Und wie sieht’s mit denen aus?«
»Ungefähr so, wie als wir gekommen sind.«
»Was ist denn passiert?«
»Ach, so ein Typ, der ein Ende von so einem Gott-hasst-alles-Schild gehalten hat. Burton sagt, ich soll dir sagen, selbe Zeit, selber Ort. Das, was du für ihn machst. Bis er wieder zurück ist. Sagt, noch einen Fünfer drauf jedes zweite Mal.«
»Sag ihm, es macht jedes Mal noch einen Fünfer mehr. Das, was er kriegt.«
»Wenn ich dich hör, bin ich froh, dass ich keine Schwester hab.«
»Du hast eine Cousine, Arschkopf.«
»Ach nee.«
»Pass auf, was sie mit Burton machen, Leon.«
»Klar.«
Sie checkte Shaylene auf Badger. Immer noch da, immer noch mit Lila im Ring. Sie würde mal rüberfahren. Vielleicht mit Macon reden, ihn fragen, wegen Burtons Telefon und ihrem.
10
Das Lokal war wohl eine stille Suffstube für Touristen, vermutete Netherton: ein bogenförmiges Gelass aus den Achtzehnhundertdreißigerjahren in einer Ecke der unteren Ebene von Covent Garden, bemannt mit einem einsamen Michikoid, bei dem er ständig mit einer Eruption von Laserzielstrahlen rechnete. Ein gewaltiges, höchst authentisch aussehendes Pub-Schild, das wohl mehrere Mänaden darstellte, hing über einer Bar, an die ganze vier Hocker passten, und dem Vorhang zu dem winzigen Separee, in dem er jetzt saß und auf Rainey wartete. Er hatte hier noch nie einen anderen Gast gesehen, weshalb er diesen Treffpunkt vorgeschlagen hatte.
Der Vorhang aus dickem weinrotem Samt bewegte sich. Ein haselnussbraunes Kinderauge erschien unter einem hellen Pony. »Rainey?«, fragte er, obwohl er sich sicher war.
»Sorry«, sagte das Kind und schlüpfte herein. »In Erwachsen gab es nichts mehr. Irgendwas Populäres in der Oper heute Abend, also war in der Gegend schon alles weg.«
Er sah sie im Geist vor sich, ausgestreckt auf einem Sofa in ihrem lang gezogenen Apartment in Toronto, einer Verbindungsbrücke zwischen zwei älteren Wohntürmen, schräg über einer breiten Straße. Sie trug jetzt ein Stirnband, um ihr Nervensystem glauben zu machen, die Bewegungen des Mietperipherals wären ihre eigenen.
»Von Michikoids hab ich erst mal genug«, sagte sie. Sie sah aus wie höchstens zehn und, was bei solchen Mietperipherals oft der Fall war, wie niemand Bestimmtes. »Ich habe das auf dem Moby beobachtet, während es Daedra bewachte. Fies. Bewegen sich wie Spinnen, wenn nötig.« Sie setzte sich ihm gegenüber und betrachtete ihn düster.
»Wo ist sie?«
»Keine Ahnung. Ihre Regierung hat irgendein Fluggerät hingeschickt, aber die Evakuierung selbst haben sie natürlich geblankt. Haben dem Moby befohlen, sich zu entfernen.«
»Aber du konntest trotzdem was sehen?«
»Die Evakuierung nicht, aber alles andere. Der große Boss bäuchlings am Boden, die übrigen allesamt gehäckselt. Es kamen sonst keine mehr, also keine weiteren Toten. Unser Glück, theoretisch jedenfalls – angenommen, das Projekt läuft irgendwie weiter.«
»Wünscht Ihre Freundin etwas?«, fragte das Michikoid durch den Vorhang.
»Nein«, sagte er, da es keinen Sinn hatte, guten Alkohol auf ein Peripheral zu vergeuden. Wobei es hier sowieso keinen gab.
»Er ist mein Onkel«, sagte sie laut.
»Du hast diese Art des Treffens vorgeschlagen«, rief ihr Netherton in Erinnerung. Er nahm einen Schluck vom billigsten Whiskey, der haargenauso schmeckte wie der teuerste, den er während des Wartens getestet hatte.
»Scheiße«, sagte sie, und die kleine Hand machte eine ausholende Geste. »Jede Menge Scheiße, die von allen Seiten runterkommt.«
Rainey stand seines Wissens im Dienst der kanadischen Regierung, auch wenn diese zweifellos von jeder Verantwortung für das, was Rainey tat, hermetisch abgeschirmt war. Ihm schien das ein verblüffend primitives Arrangement, da sie vermutlich – zumindest ungefähr – wusste, wer ihre Bosse waren. »Kannst du ein bisschen konkreter werden?«, fragte er sie.
»Die Saudis sind raus.«
Damit hatte er gerechnet.
»Singapur auch«, fuhr sie fort. »Ein halbes Dutzend unserer größten nicht staatlichen Organisationen.«
»Raus?«
Der Kinderkopf nickte. »Frankreich, Dänemark –«
»Wer ist denn überhaupt noch dabei?«
»Die Vereinigten Staaten«, sagte sie. »Und eine Fraktion der neuseeländischen Regierung.«
Er nahm einen Schluck Whiskey. Die kleine Feuerzunge auf seiner Zunge.
Sie legte den Kopf zur Seite. »Es wird als Attentat gewertet.«
»Das ist doch absurd.«
»Nicht nach dem, was wir hören.«
»Wer ist wir?«
»Frag nicht.«
»Ich kann das nicht glauben.«
»Wilf«, sagte das Kind und beugte sich vor, »das war Mord. Jemand hat uns dafür benutzt, ihn ermorden zu helfen, und seine Leute gleich mit.«
»Daedra hatte eine erhebliche Erfolgsbeteiligung. Aber selbst wenn man davon absieht – das, was passiert ist, kann doch für sie nur schlecht sein.«
»Notwehr, Wilf. Nichts auf der Welt ist leichter hinzudrehen. Wir beide wissen, dass sie ihn provozieren wollte. Sie brauchte einen Vorwand, um es als Notwehr hinzustellen.«
»Aber sie sollte schon immer die Kontaktperson sein, oder? Sie war doch bereits Teil des Pakets, als du dazugestoßen bist?«
Sie nickte.
»Du hast dann mich angeheuert. Wer hat sie denn ursprünglich an Bord geholt?«
»Diese Fragen zeigen«, sagte sie, und die Diktion des Kindes wurde jetzt präziser, »dass du unsere Situation nicht begreifst. Keiner von uns beiden kann es sich leisten, sich in irgendeiner Weise für die Antworten auf solche Fragen zu interessieren. Das ist ein Schlag für uns, Wilf – beruflich. Aber das …« Sie ließ den Satz unvollendet.
Er sah dem Mietperipheral in die Augen. »Ist immer noch besser als irgendetwas anderes, das uns ereilen könnte?«
»Wir wissen es nicht«, sagte das Kind entschieden, »und wollen es auch nicht wissen.«
Er blickte auf das Whiskeyglas. »Sie haben ihr mit einem Hyperschallwaffensystem Geleitschutz gegeben, stimmt’s? Irgendwas Orbitalem, das bereit war, jederzeit zuzuschlagen.«
»Das ist doch nur normal für ihre Regierung. So operieren sie. Aber wir sollten da gar nicht mehr drüber reden. Es ist vorbei. Für uns beide muss es vorbei sein. Ab sofort.«
Er sah sie an.
»Es könnte schlimmer sein«, sagte sie.
»Ach ja?«
»Du sitzt noch hier«, sagte das Kind. »Ich bin zu Hause, schön warm und gemütlich in meinem Pyjama. Wir sind am Leben. Und demnächst auf Arbeitssuche, schätze ich mal. Lass uns dafür sorgen, dass es so bleibt, okay?«
Er nickte.
»Das wäre wahrscheinlich etwas weniger kompliziert, wenn du keine sexuelle Beziehung mit ihr gehabt hättest. Aber das ging ja nur kurz. Und ist vorbei. Ist es doch, oder, Wilf?«
»Klar.«
»Keine losen Enden?«, fragte sie. »Kein vergessenes Rasierzeug? Es muss nämlich wirklich vorbei sein, Wilf. Es darf keinen Grund mehr geben, warum du je wieder mit ihr kommunizieren müsstest.«
Und da fiel es ihm ein.
Aber das konnte er bereinigen. Brauchte er Rainey nicht zu sagen.
Er griff nach dem Whiskey.
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Das E-Book erscheint am 27. August 2016
ISBN: 978-3-608-10048-8, € 19,99
William Gibson, geboren 1948 in South Carolina, verlor früh seinen Vater und wanderte mit neunzehn nach Kanada aus, um seiner Einberufung zum Vietnamkrieg zu entgehen. 1972 ließ er sich in Vancouver nieder, wo er noch heute mit seiner Frau und zwei Kindern lebt. Berühmt wurde er 1984 mit seinem Roman »Neuromancer«, für den er alle wichtigen Science-Fiction-Preise erhielt.