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An einem sonnigen Aprilmorgen will Toni Schubert den prominentesten Kunden ihrer Gärtnerei besuchen - und findet ihn tödlich verletzt neben einer Kletterrose liegen. Wer hat den erfolgreichen Gartenbuch-Autor auf dem Gewissen? Weil Toni den Tatort kennt wie ihren eigenen Garten und zudem einen Onkel bei der Polizei hat, mischt sie sich in die Ermittlungen ein - ohne zu ahnen, dass die Vorgeschichte des Verbrechens Jahrzehnte zurückreicht und eng mit ihrer Familie verknüpft ist …
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Seitenzahl: 526
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Barbara Smrzka
Perle vom Wienerwald
Gartenkrimi
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Marijs Jan / shutterstock.com und Mira Arnaudova / shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-7552-8
Für meine Frau
Blumen anschauen
hat etwas Beruhigendes:
Sie kennen weder Emotionen
noch Konflikte.
Sigmund Freud
*
Here’s to the girls
covered in soil instead of glitter.
Anonymous
Rosa Gloria Dei
Diese berühmte blassgelbe Rose wurde 1939 von Francis Meilland gezüchtet, in Frankreich ist sie unter dem Namen der Mutter des Züchters als Madame A. Meilland bekannt. In Italien heißt sie Gioia, in den USA Peace und im deutschsprachigen Raum Gloria Dei. Sie trägt unterschiedliche Namen, weil die Verständigung unter Rosenzüchterinnen und Rosenzüchtern zum Zeitpunkt ihrer Entstehung, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, über Landesgrenzen hinweg nur eingeschränkt möglich war. Dessen ungeachtet sandte Francis Meilland Stecklinge seiner neuen Kreation in die Welt hinaus – auch nach Deutschland.
Im Jahr 1976 wurde Gloria Dei zur ersten Weltrose gekürt. Diese höchste Auszeichnung für eine Rose wird seither alle drei Jahre von der World Federation of Rose Societies vergeben.
*
Eden in Wien
Die Wiener Edenstraße liegt tatsächlich in Penzing und führt von der Knödelhüttenstraße auf den Wolfersberg. Die Autorin hat sich erlaubt, den Namen dieser öffentlichen Verkehrsfläche zur Edengasse abzuändern und diese auf den Südhang des Rosenhügels zu verpflanzen.
Die Familie Schubert
Toni Schubert, Chefin einer Gärtnerei nebst Blumenhandlung im Wiener Stadtteil Baumgarten
Annemarie Schubert, genannt Ama, Tonis Großmutter, vormals Chefin des Betriebes
Franz Stieglitz, genannt Flo, Tonis Wahlbruder, respektive Amas Wahlenkel
Christl Schubert, Tonis Großtante und Amas Schwägerin, Englischlehrerin im Unruhestand
Gitti, Ida und Erwin, Amas längst erwachsene Kinder – Ida, die Mittlere, ist Tonis Mutter
Beppo Schreckenfuchs, Chefinspektor bei der Wiener Kriminalpolizei und Gittis Ehemann
Martin Kaiblhofer, Tonis jüngerer Halbbruder
Schlawiner, getigerter Hauskater mit Streunervergangenheit
*
Die Gärtnerei
Paul Sedlasch, erfahrenster Gärtner des Betriebes
Rudolf Dürrler und Alfred Mastny, Gärtner
Edita und Karel Harvan, Saisonarbeitskräfte
Melitta Zimmerl, Bürokauffrau
Lea Herbst, Floristin
*
Die Dehmänner
Gerd Dehmann, pensionierter Augenarzt mit grünem Daumen, Bestsellerautor von Gartenbüchern
Arthur und Jürgen, Gerds Neffen – Piefkes
*
Sonst noch mit dabei
Manfred Anninger, Wiener Promi-Wirt, mit den Schuberts weitschichtig verwandt
Julius Fürst, Tonis Vater, Kunsthistoriker in Pension
Shirin Kainer-Karimi, Kunsthistorikerin
Franka Kowalski, Journalistin, schreibt für ein deutsches Gartenmagazin
Eva Palmer, Engländerin mit Wiener Vorfahren
Hilde Schiefer, Gerd Dehmanns Nachbarin
Kathi Schulmeister, Tonis beste Freundin seit Schultagen
Ingrid Wolf, Chefinspektorin bei der Wiener Kriminalpolizei
Im Paradies der Rosen
Vorabzug eines Artikels für die Zeitschrift Gartenzauber
Text: Franka Kowalski / Frühjahr 2004
In der Edengasse am Rosenhügel: So eine Anschrift weckt paradiesische Vorstellungen, umso mehr, wenn dort ein prominenter Autor von Gartenbüchern wohnt. Unter dieser Wiener Adresse lebt Gerd Dehmann. Als »Rosenpfarrer« schreibt er Gartenratgeber inklusive Lebenshilfe und landet damit regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Begleiten Sie uns auf den folgenden Seiten in sein Gartenparadies.
Der Rosenpfarrer begrüßt uns im schattigen Vorgarten, wo Funkien ihren großen Auftritt haben. Neben mehreren Sorten dieser beliebten Blattschmuckstauden wachsen hier Farne und Astilben, für Abwechslung im Grün sorgen gestreiftes Japanwaldgras und panaschierter Spindelstrauch.
Gerd Dehmann freut sich über unsere Begeisterung für seinen Vorgarten. »Schattenplätze haben zu Unrecht einen schlechten Ruf, sind sie doch bei standortgerechter Bepflanzung sehr pflegeleicht und wahre Erholungsoasen an heißen Sommertagen«, erklärt er und weist auf die Bank unter einer Magnolie.
Der weitaus größere Teil des Gartens liegt hinter dem Wohnhaus und fällt Richtung Süden ab. Diese Hanglage hat sich Gerd Dehmann zunutze gemacht und einen Terrassengarten für seine Rosen geschaffen: üppige Kletterrosen, die über Mauern fallen, Hochstammrosen in formalen, von Lavendel gesäumten Kiesbeeten, Rabatten mit Strauchrosen, begleitet von Blaurauten und Gräsern, Edelrosen neben Rittersporn über einer Wolke von Schleierkraut – eine prachtvolle Vielfalt an Sorten und Arrangements.
»In meinem Garten wachsen über 100 verschiedene Rosensorten«, erklärt der stolze Besitzer. Selbstverständlich ist auch das komplette Rosenpfarrer-Sortiment vertreten, allesamt Neuzüchtungen einer niederösterreichischen Gärtnerei, mit der Gerd Dehmann zusammenarbeitet.
Die Auswahl passender Rosen fällt vielen Hobby-Gärtnerinnen und Gärtnern schwer, das Sortiment ist schier überwältigend. Der Rosenpfarrer hat dazu Tipps parat:
»Geben Sie robusten Sorten den Vorzug, das schont die Umwelt und erhöht die Freude. Pflanzen Sie mehrere Exemplare einer Sorte, sie kommt dadurch besser zur Geltung – das gilt übrigens nicht nur für Rosen. Und wenn Sie den Bienen Gutes tun wollen, schaffen Sie sich zumindest eine fruchttragende Wildrose an.«
In Gerd Dehmanns Garten wachsen Wildrosen an der Mauer seines Kräutergartens, den er augenzwinkernd »Klostergarten« nennt. Ein Anlass nachzufragen, was es mit dem Pseudonym »Rosenpfarrer« auf sich hat, denn von Beruf war Gerd Dehmann Augenarzt, und kein Theologe.
»Zu meinen Patienten zählte ein Zeitungsherausgeber, der selbst einen grünen Daumen hat«, erinnert er sich, »und wie unter Garten-Narren üblich, unterhielten wir uns über unser gemeinsames Hobby. Irgendwann schlug er mir vor, eine Kolumne für die Wochenendausgabe seiner Zeitung zu schreiben. Ich war zu der Zeit noch in meiner Praxis tätig, wollte deshalb keinesfalls unter meinem wirklichen Namen publizieren und suchte ein Pseudonym. Weil ›Rosendoktor‹ zu sehr nach Pflanzenschutz klingt, griff ich auf mein anderes Steckenpferd, die Theologie, zurück. Ich bin davon überzeugt, dass jeder Aufenthalt in der Natur, ganz besonders die Arbeit im Garten, der Seele guttut. Das versuche ich, in meinen Büchern zu vermitteln. Praxistipps überlasse ich gerne professionellen Gärtnern, der Rosenpfarrer kümmert sich stattdessen ums Seelenheil von Gartenmenschen.«
Bei jedem anderen wäre man versucht, so viel Bescheidenheit für Koketterie zu halten, denn Gerd Dehmanns Fachkenntnisse sind unbestritten. Aber der Rosenpfarrer empfindet sein Wissen als Geschenk, nicht als Verdienst, und lebt damit das, was er in seinen Büchern predigt: Dankbarkeit für die vielen Vorzüge eines Lebens mit und in einem Garten.
»Eitelkeit«, diagnostizierte Gerd Dehmann, als er den Vorabzug des Gartenzauber-Artikels zum wiederholten Male überflog. Diese schmeichelhafte Reportage über seinen Garten war für ihn fast genauso befriedigend zu lesen wie seine eigenen Texte.
Denn das liebte er. Es gefiel ihm sehr, seine eigenen Worte gedruckt zu sehen, nach Hunderten Artikeln und Kolumnen, nach mehr als einem Dutzend Büchern noch wie beim ersten Mal. Deshalb hatte er seine aktuellen Publikationen griffbereit auf dem Schreibtisch liegen. Sie wanderten erst ins Regal, wenn der Platz am Schreibtisch knapp wurde. Die Zeitschriften mit seinen Artikeln ließ er Jahr für Jahr binden, so standen sie neben seinen Büchern.
Dank der wöchentlichen Kolumne war der Rosenpfarrer in Österreich schon wohlbekannt gewesen, als sein erstes Buch erschienen war: Gloria Dei enthielt eine Auswahl seiner besten Kolumnen, dazu stimmungsvolle Fotografien. Weder Gerd Dehmann noch sein Verleger hatten damit gerechnet, dass das schmale Bändchen zum Bestseller werden sollte, und das nicht nur in Österreich, sondern im ganzen deutschsprachigen Raum. So hatte alles begonnen, zuerst die Kolumne, dann ein überraschender Verkaufsschlager, und heute hatte er ein Regal voll selbst verfasster Publikationen in seiner Bibliothek stehen.
Seine eigenen Texte wieder und wieder zu lesen, mochte ihn auch zum Schreiben inspirieren, aber Gerd gab sich keiner Illusion hin: Das Hauptmotiv war Eitelkeit. Nicht die schlimmste aller Sünden, befand der Theologe in ihm. Die bewusste Pflege kleiner Schwächen hielt er für ein probates Mittel gegen Hochmut. Zumindest heute, mit 80 Jahren, dachte er so.
Er legte den Artikel auf seinen Schreibtisch zurück. Es war spät geworden, zu spät, um zu schreiben, selbst für ihn, der in den Nachtstunden am produktivsten war. Die Aufregungen des vergangenen Abends, die unerfreulichen wie die erfreulichen, hatten ihn wachgehalten.
Zuerst die hitzige Diskussion beim Abendessen. Mag sein, dass sein Harmoniebedürfnis übertrieben war, aber er hasste laute Worte aus tiefstem Herzen.
Der Streit hatte ihn aufgewühlt, um zur Ruhe zu kommen, war er in den Garten gegangen und hier gelandet, in seinem geliebten Salettl. Gerd mochte diesen wienerischen Ausdruck, auch wenn ihm klar war, dass das Wort aus seinem Mund immer fremd klingen würde.
Im Salettl befand sich sein Arbeitszimmer, hier fand er die nötige Ruhe zum Schreiben, bevorzugt spätabends, zumal im Dunkeln auch die Versuchung kleiner war, in den Garten hinauszugehen und sich der praktischen Arbeit zu widmen. Mit zunehmenden Jahren schien es ihm immer wichtiger, seine Erfahrungen festzuhalten und weiterzugeben.
So war er spätabends am Schreibtisch gesessen, versunken in Ideen für sein nächstes Buch, als ihn ein nächtlicher Gast überrascht hatte. Gerd schüttelte lächelnd den Kopf. Wenn ihm das in jungen Jahren jemand erzählt hätte …
Im Salettl war manches möglich, für das in seinem Leben die längste Zeit kein Platz gewesen war. Kreativ zu sein. Ganz er selbst zu sein. Frei zu sein. Dafür brauchte er das Salettl. Es war sein Nest, sein Refugium. Deswegen hatte er darauf bestanden, dass es in der Reportage über seinen Garten nicht vorkam, mit keinem Wort erwähnt, auf keinem Bild zu sehen.
Das Gespräch mit der Journalistin vor zwei Wochen hatte seine Privatsphäre nicht verletzt, und auch dem Besuch des Fotografen sah er entspannt entgegen. Für Aufnahmen war es beim Interviewtermin noch viel zu früh gewesen – Mitte April blühten die Rosen noch nicht. Er hatte Frau Kowalski lediglich Fotos aus seinem Archiv vorgelegt und war erstaunt darüber, wie treffend sie die Rosenblüte antizipiert hatte.
Gerd erhob sich von seinem Schreibplatz. Ein schlichter Tisch, ein bequemer Stuhl, an den Wänden Regal um Regal voller Bücher – er liebte sein Arbeitszimmer, er liebte dieses Gartenhaus. Es war kein Salettl im eigentlichen Sinne, sondern ein vollwertiges, wenn auch kleines Nebengebäude seines jetzigen Wohnhauses. Ebenerdig, mit hohem Ziegeldach und einer von Rosen umrankten Veranda, sah das Salettl bezaubernd aus. Neben dem Arbeitszimmer gab es noch einen Wohnraum, eine Küche und ein winziges Badezimmer, das war alles.
Jahrzehntelang war das Salettl sein Zuhause gewesen. An Stelle seines Schreibtisches war damals das Bett gestanden, seine ersten Kolumnen hatte er am Esstisch verfasst. Dass er das kleine Haus heute ausschließlich zum Schreiben nutzen konnte, war ein Luxus, den Gerd sehr genoss.
Seinen späten Wohlstand hatte er dem Erfolg des Rosenpfarrers zu verdanken. Denn Rosenpfarrer war nicht nur sein Pseudonym, sondern auch eine Marke: Pflanzen und Samen, Gießkannen und Werkzeug, Strohhüte und Gummistiefel wurden unter diesem Namen verkauft. Kein Gartenzentrum und kein Baumarkt in Süddeutschland und Österreich konnte es sich leisten, auf diese Produkte zu verzichten.
Für eine beachtliche Zusatzpension musste Gerd nicht mehr tun, als sein Konterfei am Etikett zu dulden. Es zeigte einen attraktiven Mann, der Teint vom Aufenthalt im Freien gebräunt, sehr helle Augen und weißes dichtes Haar – weder dem Foto noch dem Original waren die 80 Jahre anzusehen.
Mehr als die Hälfte seines Lebens wohnte er nun schon in der Edengasse, aber erst vor zehn Jahren hatte er die ganze Liegenschaft erworben und war vom Salettl in das große Wohnhaus übersiedelt. Nur der Rosenpfarrer hatte sich diesen Schritt leisten können – der pensionierte Augenarzt allein hätte es nicht vermocht.
Gerd löschte das Licht im Salettl, trat aus der Veranda und schloss ab. Die Nachtluft war mild. Er atmete tief durch und lauschte. Irgendwo, weiter unten im Waldgarten, rief ein Käuzchen.
Obwohl es schon weit nach Mitternacht war, müde fühlte Gerd sich noch nicht. Vielleicht würde ihm eine Runde in seinem Garten helfen, zur Ruhe zu kommen? Ein nächtlicher Spaziergang, ganz vorsichtig und langsam? Gott behüte, er könnte stolpern und stürzen, in seinem Alter mochte das böse ausgehen. Aber sein Augenlicht war auch im Dunkeln gut, und die Wege im Garten kannte er wie seine Westentasche.
Gerd ging hangabwärts zum Klostergarten. Nicht ohne Ironie hatte er diesen Namen gewählt und sich ein quadratisches Gartenzimmer, eingefasst von schulterhohen Bruchsteinmauern, errichten lassen. Der entstandene Raum war geometrisch gegliedert, hier wuchsen vor allem Kräuter und Heilpflanzen. Die Mauern waren willkommene Wärmespeicher, denn der Boden war feuchter und das Kleinklima kühler als auf den oberen Terrassen. Im vergangenen Herbst hatte Gerd an der Mauer noch ein paar Rosenstöcke gepflanzt, zu ihnen führte seine nächtliche Visite. Sie trieben gut an, mehr war im ersten Frühjahr nicht zu erwarten. Gerd hatte sie wurzelnackt gesetzt, von Containerrosen hielt er nicht viel.
»Guten Abend, meine Damen«, begrüßte er sie. Nun ja, Yolande d’Aragon und Frau Karl Druschki waren noch eher Mädchen als Damen. Aber sie berechtigten zu den schönsten Hoffnungen, und ihr ergebener Gärtner war zwar alt, aber bei so guter Gesundheit, dass es ihm nicht verwegen erschien, sich auf die Blütenpracht kommender Jahre zu freuen.
Vom Klostergarten waren es nur ein paar Schritte in den Waldgarten hinunter. Seine Bäume waren Anlass ständiger Konflikte mit einer Nachbarin, deren angrenzendes Grundstück zugegebenermaßen ab Mittag im Schatten lag. Aber Gerd hatte diese Bäume nicht gepflanzt, einige waren sogar älter als das Wohnhaus. Und war es etwa seine Schuld, dass das Wiener Baumschutzgesetz auch für Privatgärten galt? Nun ja, den großen Nussbaum schützte das Gesetz nicht, den könnte er fällen lassen. Nur dachte Gerd nicht daran, einen gesunden Baum zu opfern, der köstliche, rosa überhauchte Nüsse trug.
Seiner Nachbarin waren vor allem die Birken ein Dorn im Auge, die Millionen Birkensamen den ganzen Sommer lang. Jetzt im Dunkeln war es kaum zu erkennen, aber tagsüber tat Gerd das Herz weh, wenn er die Birken ansah. Wie deformiert sie seit dem Schnitt im vergangenen Winter waren, alle Äste an der Grundgrenze brutal gekappt! Gott sei Dank, der Blutahorn stand außerhalb der Gefahrenzone, seine Krone ragte kaum über den Zaun. Gerd strich mit der Hand über den Ahornstamm und ließ seine Augen ins Unterholz wandern. Der Geißbart, Aruncus sylvestris, trieb mächtig aus nach seiner Winterruhe. »Den Auferstandenen« nannte Gerd ihn scherzhaft … und ein wenig blasphemisch.
Seltsam, dass die Journalistin sich so sehr für seinen Vorgarten begeistert hatte, den Waldgarten aber keiner Erwähnung wert fand? Gerd stieg in den höher gelegenen Teil des Grundstücks hinauf, vorbei am Salettl, von einer Rosenterrasse zur nächsten.
Frau Kowalski hatte ihn auch nach seiner Lieblingsrose gefragt – die Antwort war leicht: Gloria Dei. Nicht umsonst hatte er seinem ersten Buch ihren Namen gegeben. Von keiner anderen Sorte hatte Gerd so viele Exemplare im Garten stehen wie von dieser, eine ganze Terrasse war ihr allein vorbehalten, umrahmt von Frauenmantel und Blauraute. Vielleicht drei Wochen noch, dann würde es hier zauberhaft aussehen, dann würde der richtige Zeitpunkt sein für den Besuch des Fotografen.
Gerd erreichte die oberste Terrasse, auf der eine Rosenakazie stand. Als Schattenspender für den Sitzplatz vorm Wohnhaus tat sie guten Dienst. Er trat an die Brüstung und sah in den Garten hinab. Das Salettl lag im Finstern. Er hatte vergessen, das Nachtlicht in der Veranda einzuschalten, diese Vorsichtsmaßnahme war ihm noch nicht zur Gewohnheit geworden. Nun, die Nacht war ohnehin bald vorüber, in wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen. Gerd war endlich schläfrig geworden und wandte sich zurück zum Haus. Direkt an der Fassade, neben der Terrassentür, stand eine prachtvolle Strauchrose der Sorte Eden, gut zwei Meter hoch. Gerd hielt noch einmal inne, bevor er ins Haus trat, und berührte vorsichtig einen ihrer Triebe.
Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein, ging es ihm unvermutet durch den Sinn.
Tilia cordata – Winterlinde
»Mörder! Elendiglicher Mörder!«, brüllte draußen eine Männerstimme.
Annemarie Schubert ließ sich davon nicht beirren. Sie hatte Wichtigeres zu tun. Langsam und konzentriert goss sie kochendes Wasser über das frisch gemahlene Pulver und genoss den aufsteigenden Duft, das köstliche Aroma ihres Frühstückskaffees.
Erst nachdem das erledigt war und weil die Schreierei gar nicht aufhören wollte, trat sie ans Küchenfenster und sah hinaus auf die Gärtnerei, die ihr Wohnhaus umgab.
Auf ihre Gärtnerei.
Annemarie Schubert, oder Ama, wie sie von ihrer Familie genannt wurde, war unverschämt stolz auf dieses Unternehmen, selbst wenn sie heute im Betrieb nichts mehr zu sagen hatte, weil das Ruder in jüngeren Händen lag.
Zu dieser frühen Stunde war die Blumenhandlung noch geschlossen, nur in der Werkstatt brannte schon Licht. Glashäuser, Freigelände und Parkplatz lagen wie ausgestorben vor ihr – abgesehen von einem schlanken blonden Mann, der unter dem Hausbaum der Gärtnerei stand und lautstark hinauf ins Astwerk schimpfte.
Seufzend öffnete sie das Fenster.
»Pscht! Schluss mit dem Theater, Flo, du weckst ja noch ganz Baumgarten auf!«
Er drehte sich zu ihr um.
»Ama? Guten Morgen! Tut mir leid, dass ich dich gestört hab, aber der Schlawiner …«
»Lass mich raten: Der Schlawiner hat eine Maus gefangen. Das ist aber kein Grund, sich so aufzuführen, verstehst du?«
»Keine Maus. Einen Vogel hat er umgebracht«, sagte Flo.
Sein Gesichtsausdruck erinnerte Ama an das schmächtige Bürscherl, das vor 20 Jahren seine Lehre in ihrem Betrieb begonnen hatte, eine Lehre zum Floristen. Was bis heute für Burschen eine unübliche Berufswahl war und dem Lehrling Franz Stieglitz seinen Spitznamen beschert hatte: Flo, der Florist. Na ja, ein rechtes Krespindl war er damals auch noch gewesen.
Keiner von all den Lehrlingen, die hier ihre Ausbildung absolviert hatten, war Ama so sehr ans Herz gewachsen wie Flo. Die Schuberts hatten ihn quasi adoptiert, er war sogar in die Gartenvilla eingezogen, ins alte Wohnhaus der Gärtnerei. Ama selbst lebte im Erdgeschoss und Flo zwei Stockwerke höher unterm Dach.
Er deutete auf den Boden zu seinen Füßen.
»Und was mach ich mit dem Vogel?«, fragte er kleinlaut.
»Herrschaftszeiten! Stell dich nicht so an, ich komm ja schon«, sagte Ama.
Sie ließ ihren Kaffee mit Bedauern in der Thermoskanne zurück und marschierte hinaus. Im Vorbeigehen schnappte sie sich eine Arbeitsjacke von der Garderobe, denn Ama wusste genau, wie frisch es draußen war. Punkt 5.30 Uhr in der Früh hatte sie wie jeden Tag die Außentemperatur abgelesen und in ihrem Kalender notiert.
Sie trat aus dem Eingangstor. Noch versteckte sich die Sonne hinter den Häusern im Osten, aber der klare Himmel verhieß für diesen letzten Apriltag des Jahres 2004 wunderbares Frühlingswetter. Vom nahen Wienerwald her wehte eine Morgenbrise durch Baumgarten, ihr heimatliches Grätzel im Westen Wiens. Was für eine vortreffliche Adresse für eine Gärtnerei, hatte Ama immer befunden.
Sie ging zum Ort des Verbrechens und sah sich die Bescherung an. Ein Häufchen Federn lag vor ihr, darunter knallgelbe und leuchtend rote. Was es einfach machte, das Opfer zu identifizieren.
»Jetzt kapier ich, warum du dich gar so aufregst«, brummte sie, »das ist ein Stieglitz.«
»Das war einmal ein Stieglitz«, sagte Flo.
»Schad’ drum. Aber Katzen sind halt Raubtiere.« Ama spähte in die Krone der alten Linde hinauf. »Schlawiner? Komm runter, der Flo beruhigt sich schon wieder, der tut dir doch nix.«
Erst raschelte es in den Zweigen, dann zeigte sich auf einem der unteren Äste ein stattlicher Tigerkater. Er maunzte empört.
»Jaja, ich weiß, Herr Schlawiner. Erst rackert man sich ab und dann bekommt man auch noch Schimpfa dafür, gell? Aber so geht’s im Leben. Ich versteh dich ja.«
Mit einem Satz landete der Kater am Boden. Er lief schnurstracks zu Ama und rieb sich an ihren Beinen.
»Wenn du ihn auch noch lobst, wird er sich nie ändern«, sagte Flo.
»Pah! Unfug! Er ist ein Katzenvieh und tut sowieso, was er will, egal ob ich mit ihm keppel oder nicht.«
Flo seufzte, woraufhin Schlawiner an seine Seite wechselte und sich nun innig an ihn schmiegte. Den toten Vogel ignorierte der Kater völlig.
Flo ging in die Hocke. »Keinerlei Schuldbewusstsein, alter Knabe, was? Ein Jammer.«
Der Kater maunzte zustimmend und stieß sein Köpfchen gegen Flos Hand.
»Ach ja«, sagte Flo, während er den Tiger, wie gewünscht, zwischen den Ohren kraulte, »du bist ein alter Schlawiner und kannst nicht anders. Simma wieder gut?«
»Na, bravo! Die Herrschaften versöhnen sich, und ich darf derweil das arme Opfer entsorgen, stimmt’s?« Ama zog einen Arbeitshandschuh aus der Jackentasche und hob damit den toten Vogel hoch.
»Wir ersuchen höflichst darum«, sagte Flo und grinste.
Kopfschüttelnd ging Ama zur Mülltonne und schmiss die kleine gefiederte Leiche hinein. Die wissen alle zwei genau, wie sie mich um den Finger wickeln können,dachte sie, oder um die Pfote.
Sie steckte den Handschuh ein und ging zurück zur Linde.
»Wieso bist du überhaupt schon auf?«, fragte sie.
»Ich bin nicht schon auf, liebe Ama, sondern noch! Soll heißen, ich bin grad erst heimgekommen, da hat mir dieser Schurke hier einen toten Namensvetter präsentiert.«
»Bist du narrisch? Mitten unter der Woche treibst du dich die ganze Nacht herum? Du musst heut noch arbeiten! Und überhaupt – wie du wieder ausschaust!«
Flo gegenüber hatte Ama keinerlei Hemmungen, ihre Meinung zu sagen. Bei ihren drei leiblichen Kindern, ja selbst bei den Enkelkindern, war das anders. Auch wenn es Ama nicht immer leichtfiel, den Mund zu halten. Aber Gitti, ihre Älteste, ging sofort in die Luft, wenn Ama es wagte, auch nur einen Vorschlag zu machen. Ida reagierte meistens beleidigt. Und Erwin, Amas Jüngster …
Wie immer gab es ihr einen Stich, wenn sie an Erwin dachte.
Flo hingegen nahm ihr keine Schimpftirade übel, ganz im Gegenteil. Er fiel ihr lachend um den Hals, während sich Schlawiner Richtung Kompostplatz davonmachte.
»Jössasna! Und stinken tust wie ein Tschickpackerl … Wo warst du denn um Himmels willen?« Ama wand sich aus seiner Umarmung.
»Liebste Ama! Erstens einmal ist heute Freitag, da beginnt, wie der Name schon sagt, eine Freiheit namens Wochenende. Und weil jeder Tag um Mitternacht anfängt, gilt das auch schon für den Donnerstagabend. Ich war im Heaven.«
»Im Häfen?« Ama war entsetzt.
»Aber nein! Ins Gefängnis stecken sie uns heutzutage nicht mehr«, sagte Flo, »Heaven ist ein Clubbing, eine Tanzerei. Für Schwule.«
»Pah! Ist mir doch herzlich egal, mit wem du dich herumtreibst.«
Flos Neigung – ein anderer Ausdruck kam Ama nicht über die Lippen – war ein Thema, das sie bevorzugt ignorierte. Er war ihr heiß geliebter Wahlenkel, Details über sein Liebesleben brauchte sie nicht zu wissen, Punktum.
Ein dunkelgrüner Lieferwagen mit dem Logo der Gärtnerei passierte die Einfahrt. Die Fahrerin reversierte schwungvoll und stellte das Fahrzeug mit dem Heck zum Betriebseingang ab, sprang aus dem Wagen und trabte quer über den Parkplatz zu Ama und Flo.
Sie war groß, hatte helles, fransig geschnittenes Haar und braune Augen. Augen, die denen von Ama auffallend ähnlich sahen. Die jüngere Frau gab der älteren zur Begrüßung ein Busserl auf die Wange.
Ama strahlte. Das war Toni Schubert, ihre älteste Enkeltochter und Nachfolgerin.
»Guten Morgen«, sagte Toni, »warum seid ihr zwei Hübschen denn schon wach? Wollt ihr mir vielleicht helfen?«
»Also, ich steh bekanntlich jeden Tag früh auf. Aber der Strizzi da«, Ama zeigte auf Flo, »ist grad erst heimgekommen.«
Toni lachte und nahm Flo in den Schwitzkasten – was er mit empörtem Protest quittierte.
»Autsch! Spinnst du? Lass mich gefälligst los!«
Toni lockerte ihren Griff, beide richteten sich auf und grinsten einander an. Wie sie so nebeneinander standen, gleich groß, beide schlaksig und blond, verstand Ama einmal mehr, warum die beiden häufig für Geschwister gehalten wurden.
»Wie alt seid ihr zwei g’schwind noch einmal?« Ama stemmte die Fäuste in die Hüften. »Benehmt euch gefälligst wie Erwachsene.«
»Man ist so alt, wie man sich fühlt, liebste Ama! Wir halten uns an die Familientradition – du schaust ja auch keinen Tag älter als 70 aus«, sagte Flo.
Womit er Ama um mehr als ein Jahrzehnt jünger machte, als sie tatsächlich war. Sie würde heuer noch ihren 84. Geburtstag feiern, wenn es der Herrgott so wollte.
»Schmähtandler!«
»Recht hat er, der Flo, wir haben die fescheste und fitteste Omama von Wien«, sagte Toni.
»Pah! Soll ich euch sagen, was ihr habt? Keine Ahnung habt ihr!« Ama schüttelte den Kopf.
Sicher, sie fühlte sich geschmeichelt. Allerdings wussten die beiden Jungen nicht, wie sehr alte Knochen schmerzen konnten. Wie oft sie sich morgens aus dem Bett quälte. Wie weh die ersten Schritte nach dem Aufstehen taten. Aber gut, sie wollte nicht undankbar sein. Verglichen mit anderen ihres Alters durfte sie wahrlich nicht jammern.
Um das Thema zu wechseln, fragte sie: »Und was treibst du schon in aller Herrgottsfrüh, Toni?«
»Ich war einkaufen.«
»Was, am Großgrünmarkt? Warum musst du das schon wieder selber machen? Kann das nicht einer von den Gärtnern übernehmen?«
»Das Auto ist voll mit Schnittblumen«, erklärte Toni, »wir haben einen großen Tischdeko-Auftrag. Für Manfred.«
Manfred Anninger war ein entfernter Verwandter der Schuberts und ein treuer Kunde. Den Blumenschmuck für seine Gastronomiebetriebe bestellte er stets bei ihnen.
»Na, dann schick halt in Gottes Namen eine Floristin! Warum nicht die Lea? Das kann doch nicht so schwer sein.«
»Lea brauch ich tagsüber im Geschäft«, sagte Toni, »außerdem fährt sie nicht gern mit dem großen Lieferwagen.«
Flo räusperte sich, und Ama schwieg.
Am liebsten hätte sie zu Toni gesagt: Du bist viel zu gutmütig mit deinen Leuten. Die Bagage tanzt dir auf der Nase herum! Ich hätt’ mir das mein Lebtag nicht bieten lassen.
Aber die Zeiten hatten sich geändert.
Als Ama von einem Tag auf den anderen in der Gärtnerei das Sagen gehabt hatte, mitten im Krieg und selbst noch blutjung, da wäre es gar nicht anders gegangen als mit Strenge.
Anton, ihr Mann, war zur Wehrmacht eingezogen worden, also hatte Ama einspringen müssen. Die Gärtnerei, die Sorge um den kranken Schwiegervater, die Reibereien mit Christl, Antons aufmüpfiger kleiner Schwester – wahrlich keine einfache Aufgabe für eine junge Frau.
Rückblickend war es ein Segen gewesen, dass der Storch erst später bei ihnen vorbeigeschaut hatte, nach Antons Heimkehr aus dem Krieg. Offiziell war er wieder der Chef gewesen, selbst wenn Ama in Wahrheit weiterhin die Hauptverantwortung für den Betrieb getragen hatte, lange vor Antons frühem Tod.
Ihr Mann hatte im Krieg nicht nur ein Bein verloren, sondern auch seine Lebensfreude und Tatkraft. Insgeheim fragte sich Ama, ob er nicht immer schon verzagter als sie selbst gewesen war? Dabei war Anton in diesen Betrieb hineingeboren worden. Sie hingegen hatte eingeheiratet, mit 17 Jahren, noch ein halbes Kind. Als Dienstmädchen war sie überglücklich gewesen, eine so gute Partie gemacht zu haben.
Im Jahr darauf hatte Österreich seine Unabhängigkeit aufgegeben, ein weiteres Jahr später war die Wehrmacht in Polen einmarschiert. Die Kriegszeit war zwar hart gewesen, aber immerhin hatten sie nie gehungert, der Gärtnerei sei Dank. Damals hatten sie noch ein paar Hektar Grünland im Tullnerfeld bestellt und dort während des Krieges Gemüse statt Zierpflanzen gezogen.
Die Gründe im Tullnerfeld waren längst verkauft. Heute erwirtschaftete die Gärtnerei Schubert ihren Ertrag mit der Gestaltung und Pflege von Grünflächen, dazu kam der Verkauf von Schnittblumen und Gartenpflanzen. Mit wenigen Ausnahmen stammte ihre Ware aus dem Großhandel, lediglich Gemüse und Sommerblumen wurden in den Glashäusern vorgezogen.
Aber dass die Chefin selbst zum Großgrünmarkt fuhr, fand Ama wirklich nicht nötig.
Toni schob das Kinn vor, und ihre Großmutter wusste, was das bedeutete: Diskussion sinnlos.
Das Kind hat denselben Sturschädel wie ich, dachte Ama, na ja, Hauptsach’, sie rennt nicht auch noch davon …
»Wisst ihr was«, schaltete sich Flo ein, »warum frühstücken wir nicht gemeinsam? Ich hol frische Semmeln vom Bäcker, Ama kocht Kaffee – na, was meint ihr?«
»Der Kaffee wär sogar schon fertig«, sagte Ama.
Toni schüttelte den Kopf. »Leider nein, keine Zeit. Ich muss mich um die neue Ware kümmern, die Schnittblumen gehören in den Kühlraum. Und sobald das erledigt ist, fahr ich in die Edengasse. Um 7 Uhr bin ich bei Gerd angesagt.«
Malus domestica – Apfelbaum
Toni quetschte den Lieferwagen mit einiger Mühe in eine Parklücke. Vor ihr ein Mercedes, hinter ihr ein BMW – Toni passte auf, keinem der teuren Vehikel zu nahe zu kommen. Nicht zu übersehen, wie nobel diese Adresse war. Der nahe Wienerwald und die vielen Grünflächen, die sich vom Lainzer Tiergarten her in die Stadt hineinzogen, machten den Rosenhügel zu einer äußerst begehrten Wohngegend. Für Menschen, die es sich leisten konnten.
Am Rosenhügel in der Edengasse lebte Tonis prominentester Kunde, Gerd Dehmann. Der pensionierte Augenarzt verfasste unter dem Pseudonym Rosenpfarrer Gartenbücher, die regelmäßig auf den Bestsellerlisten landeten. Außerdem war Gerd ein alter Freund der Familie Schubert. Als Kind hatte Toni ihn »Onkel Gerd« genannt und ihm andächtig gelauscht, wenn er von ihrem verstorbenen Großvater erzählt hatte.
Die beiden Männer waren einander kurz vor Kriegsende begegnet, genauer gesagt, der junge Sanitäter Dehmann hatte den versehrten Soldaten Schubert im Lazarett betreut. Nach der Kapitulation waren beide für kurze Zeit im gleichen Lager interniert gewesen, dann war Anton nach Wien zurückgekehrt, und der aus Tschechien stammende Gerd nach Westdeutschland.
Aber sie waren in Kontakt geblieben. Weil sich Gerd in der jungen Bundesrepublik nicht heimisch fühlte, hatte Anton ihn ermutigt, nach Wien zu übersiedeln. Gerd war zunächst in die Schubertsche Gartenvilla gezogen, in den ersten Stock, den jetzt Toni bewohnte.
Als ihm das Leben in der Gartenvilla – mit Anton, Ama und deren drei Kindern – zu turbulent geworden war, hatte Gerd hier, am Rosenhügel, ein neues Zuhause gefunden, und auch das hatte er Tonis Großvater zu verdanken. Das Grundstück hatte damals Leopoldine Anninger gehört, Antons verwitweter Cousine. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie einen Mieter für das Nebengebäude gesucht, der bereit war, sich um den großen Garten zu kümmern.
So hatte Gerd Dehmanns grüne Leidenschaft begonnen. Er sagte manchmal scherzhaft, sein Aufenthalt bei den Schuberts habe ihn für immer verdorben.
Toni stieg aus dem Auto und sah auf ihr Handy – Punkt 7 Uhr. Normalerweise wartete der Hausherr am Gartentor oder saß Zeitung lesend auf der Bank unter der Magnolie, wenn Toni auftauchte. Heute nicht. Sie holte ihr Werkzeug aus dem Auto. Gerd war zwar bestens ausgestattet, aber wie alle Gartenprofis hatte Toni ihre eigenen Scheren, und ohne ihre Handschuhe mit den langen Ledermanschetten näherte sie sich keiner Ramblerrose.
Während der Vegetationsperiode, passendes Wetter vorausgesetzt, kam sie regelmäßig frühmorgens hierher. Gerd schätzte ihre Hilfe bei der Pflege seiner Rosen. Es war eine hohe Auszeichnung für Toni, dass sie Hand an seine Lieblinge legen durfte, aufbinden, schneiden, was immer nötig war. Tonis Mitarbeiter mochten unter Gerds Anleitung jäten, Sträucher schneiden oder Rasen mähen, nur seine Rosen blieben ihr vorbehalten, die waren für alle anderen tabu.
Gerds Vertrauen war für Toni ein großes Kompliment. Nur manchmal, wenn in der Gärtnerei so viel zu tun war, dass sie nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand, hätte sie gerne eine Vertretung geschickt. Aber genau dann taten ihr die ruhigen Stunden in der Edengasse besonders gut. Vielleicht war das der Grund, warum er auf ihrem persönlichen Kommen bestand?
War die Arbeit getan, tranken sie gemeinsam einen Tee, und manchmal schenkte Gerd ihr ein Buch. In den ersten Jahren hatte er Standardwerke der Gartenliteratur für sie gekauft, von denen er befand, eine professionelle Gärtnerin müsse diese unbedingt besitzen. Nach und nach war er dazu übergegangen, ihr Gartenbücher aus seiner eigenen Sammlung zu schenken. Du wirst sie ohnehin einmal alle bekommen,sagte er dazu, aber ich denke, dieses hier solltest du gleich mitnehmen.
Toni war befangen, wenn er auf seinen Nachlass anspielte. Ja, sie würde seine Gartenbibliothek bekommen, und das wusste sie auch zu schätzen. Aber sie hätte es bevorzugt, nicht regelmäßig daran erinnert zu werden.
7.10 Uhr, und noch immer kein Gerd zu sehen. Toni besaß zwar einen Schlüssel für seinen Garten, allerdings lag der, wie alle Kundenschlüssel, im Tresor. Toni benützte ihn nur, wenn Gerd verreist war, sonst ließ er sie stets pünktlich ein. Komisch.
Werkzeugtasche über der Schulter, stand sie vorm Gartentor und klingelte. Sie grinste beim Gedanken daran, Martin aufzuwecken – der schlief wahrscheinlich noch. Seitdem ihr jüngerer Bruder in Wien studierte, wohnte er in einem von Gerds Gästezimmern, unterm Dach mit Blick auf den Garten. Ob die Glocke in der Mansarde zu hören war?
Nichts rührte sich. Sie drückte ein zweites Mal auf den Klingelknopf und versuchte am Haus vorbeizuspähen – sinnlos, die Blütenhecke neben dem Wohnhaus schirmte den Großteil des Gartens vor neugierigen Blicken ab. War die Glocke kaputt? Toni wählte Gerds Festnetznummer und lauschte dem Freizeichen …
Unten im Waldgarten kreischte ein Eichelhäher laut auf und Toni erschrak. Sie drückte hemmungslos lange auf den Klingelknopf und wählte gleichzeitig Martins Handynummer.
Im ersten Stock öffnete sich das Fenster von Gerds vorderem Gästezimmer, ein Toni unbekannter Mann äugte misstrauisch zu ihr herunter. Ach ja, Gerd hatte Besuch aus Deutschland angekündigt, das musste Arthur sein, sein älterer Neffe.
»Guten Morgen«, rief Toni hinauf, »ich komme zu Ihrem Onkel, aber er macht nicht auf!«
»Toni, hm?«, meldete sich gleichzeitig Martins verschlafene Stimme am Handy, »was is’n?«
»Hallo, Martin, warte kurz«, sagte sie zu ihrem Bruder und dann zu dem immer noch skeptisch aussehenden Mann am Fenster, »alles in Ordnung! Tut mir leid, dass ich Sie gestört hab.«
Sie wandte sich wieder an Martin: »Ich steh vorm Haus und warte auf Gerd, aber er taucht nicht auf. Kannst du mir bitte aufmachen?«
Erst summte der Öffner des Gartentores, dann trat Martin aus dem Haus, noch ganz verschlafen, in T-Shirt und Shorts.
»Entschuldige, dass ich dich aufgeweckt hab! Weißt du, wo Gerd steckt?«
Eine zweite Gestalt im nachtblauen Pyjama tauchte neben ihrem Bruder auf.
»Ach, tut mir leid, jetzt hab ich Sie auch aufgescheucht! Sie sind sicher Arthur Dehmann, nicht wahr? Toni Schubert, guten Morgen!«
Der mutmaßliche Neffe blieb stumm und machte große Augen. Er schien keine Ahnung zu haben, was Toni hier wollte. Sie deutete auf ihre Werkzeugtasche.
»Ich bin da, um Ihrem Onkel im Garten zu helfen, wir haben vorgestern noch telefoniert. Ist ihm was dazwischengekommen? Hat er vergessen, mir abzusagen?«
Arthur Dehmann machte nun doch den Mund auf. »Nicht, dass ich wüsste«, sagte er mit ungewöhnlich tiefer Stimme.
»Na gut, dann geh ich hinunter in den Garten. Vielleicht ist er ja im Salettl und hat einfach die Zeit übersehen«, sagte Toni.
Arthur zuckte die Achseln, Martin gähnte und rieb sich den Nacken.
Schlafmützen, alle zwei,dachte Toni verärgert, unsereins arbeitet schon seit Stunden.
Sie ließ die beiden Männer stehen und ging rasch am Haus vorbei. Unter der Rosenakazie stellte sie ihre Tasche ab, beugte sich über die Brüstung der Terrasse und sah in den Garten hinunter. Kein Gerd zu sehen.
Sie stieg die Treppe hinab, die neben den Rosenterrassen in den tiefer gelegenen Teil des Grundstücks führte.
»Guten Morgen!«, rief sie im Gehen, um sich anzukündigen. Sie wollte den alten Herrn nicht erschrecken.
Nach den letzten Stufen führte der Weg über ein Rasenstück, vorbei an üppigen Staudenrabatten zu Gerds geliebtem Gartenhaus, seinem Salettl, in dem sich sein Arbeitszimmer befand. Vielleicht saß er am Schreibtisch, vertieft in einen neuen Text oder ein altes Buch?
Laut schimpfend flog eine Amsel knapp über Tonis Kopf hinweg und verschwand in der Krone des Apfelbaums.
»Hoppala! Alles gut, reg dich nicht auf!«, rief sie dem Vogel hinterher.
Ganz genau, reg dich nicht auf, ermahnte sie sich auch selbst.
»Guten Morgen! Onkel Gerd?«
Nichts rührte sich.
Im Salettl schien er nicht zu sein. Gerd ließ die Verandatür offen, wenn er sich drinnen aufhielt, und jetzt war sie zu. Toni drückte auf die Klinke – wie vermutet war die Tür versperrt. Sie spähte durchs Fenster in Gerds Arbeitszimmer – leer. Toni wollte gerade weiter Richtung Waldgarten gehen, da sah sie Arthur die Treppe herunterkommen.
»So, zweiter Versuch«, sagte er, »guten Morgen, Frau Schubert. Ich möchte mich für mein Benehmen vorhin entschuldigen.«
Toni registrierte amüsiert, dass er in der Zwischenzeit einen nahezu eleganten, zum Pyjama passenden Morgenrock übergeworfen hatte.
»Kein Problem«, Toni schüttelte seine Hand, »mir tut’s leid, dass ich Sie aufgeweckt hab.«
»Aber ich bitte Sie, es war hoch an der Zeit für mich aufzustehen. Um ehrlich zu sein, ich habe verschlafen. Und ich hätte auch sofort wissen müssen, wer Sie sind, denn mein Onkel hat gestern Abend noch davon gesprochen, dass er Sie heute erwartet. Er hat Ihr Kommen sicher nicht vergessen. In seiner Wohnung hält er sich nicht auf, also muss er wohl im Garten sein.« Er rüttelte an der Tür des Salettls. »Hallo, Onkel Gerd?«
»Wenn er drin wär, hätt er nicht abgesperrt. Komisch … sind Sie sicher, dass er nicht doch im Wohnhaus ist? Vielleicht im Keller, in seiner Werkstatt?«
»Wenn Sie es wünschen, kann ich noch einmal im Haus nachsehen. Waren Sie bereits überall im Garten?«
»Nein, aber Gerd hätt mich wahrscheinlich schon gehört, er hat noch sehr gute Ohren.«
Arthur runzelte die Stirn, drehte sich wortlos um und marschierte zurück zum Haus.
Schön langsam wird mir klar, warum Jürgen nicht gut mit ihm auskommt,dachte Toni. Sie hatte Arthur Dehmann zwar soeben zum ersten Mal gesehen, kannte aber seinen jüngeren Bruder recht gut. Jürgen war vor ein paar Jahren nach Wien gezogen. Er ähnelte seinem Onkel in vieler Hinsicht, beide waren ausgesucht höflich. Und pünktlich. Deshalb passte es so gar nicht zu Gerd, Toni warten zu lassen. Sie setzte ihre Suche fort.
»Hallo! Onkel Gerd?« Toni öffnete den großen Werkzeugschuppen gleich neben dem Salettl. Niemand drinnen.
Sie warf einen Blick hinter den Schuppen – und sah genau das, was zu sehen sie mehr und mehr befürchtet hatte.
Gerd lag am Boden, reglos und seltsam gekrümmt, einen Arm ausgestreckt zum Stamm der alten Kletterrose, die am Schuppen hochrankte.
Achillea millefolium – Wiesenschafgarbe
»Was?«, Toni sah ihren Bruder fassungslos an, »das ist nicht dein Ernst!«
»Mein voller Ernst«, sagte Martin, »ich hab die Polizei verständigt.«
Sie standen in Gerds Küche. Die Rettung war mit ihm unterwegs zum Krankenhaus, und Toni hatte beschlossen, die Arbeit hier im Garten für heute ausfallen zu lassen. Sie wollte nur kurz durchatmen, sich von der ganzen Aufregung erholen, bevor sie ins Auto steigen und zurück zur Gärtnerei fahren würde.
Nachdem sie den bewusstlosen Gerd gefunden hatte, war ihr die Zeit zugleich rasend schnell und wie in Zeitlupe vergangen. Die Riesenerleichterung darüber, dass Gerd noch atmete. Den Verletzten in Seitenlage bringen. Die Rettung anfordern. Martin und Arthur Dehmann alarmieren. Erste Hilfe leisten. Auf den Notarzt warten … warten.
Glücklicherweise studierte Martin nicht nur Medizin, sondern war auch freiwilliger Sanitäter, er hatte das Kommando übernommen und Toni gesagt, was zu tun war. Vor allem hatten sie Gerd warm eingepackt, denn er schien unterkühlt zu sein. Wie lange er wohl in Pyjama und Schlafrock auf der kalten Erde gelegen hatte? Zumindest war sein Morgenmantel kuschelig warm, das hatte ihn vielleicht gerettet.
Arthur hatte sich währenddessen am Gartentor postiert, um die Rettung einzulassen, die zum Glück nicht lange auf sich warten ließ. Die Notärztin war mit Martin die Eckdaten von Gerds Gesundheitszustand durchgegangen, ja, er nimmt blutverdünnende Medikamente, nein, Diabetes ist kein Thema – schon hatte die Infusion zu tropfen begonnen.
Arthur hatte keine Anstalten gemacht, Gerd zu begleiten, nicht einmal gefragt, in welches Krankenhaus man seinen Onkel bringen würde, auch das hatte Martin übernommen.
Kaum war das Blaulicht außer Sichtweite gewesen, waren Martin und Arthur wie auf Kommando im ersten Stock verschwunden, und Toni hatte sich nach kurzem Zögern für Tee trinken entschieden.
Fühl dich wie zu Hause, sagte Gerd immer, wenn sie nach der Gartenarbeit noch eine gemeinsame Pause machten. Also war Toni in seine Küche gegangen, hatte den Wasserkocher aufgesetzt und ihre Gedanken geordnet: Sie musste im Geschäft Bescheid geben, dass sich eine Floristin krankgemeldet hatte. Sie musste eine Kundin zurückrufen und ihren Steuerberater. Und – das war die schwierigste Aufgabe – sie musste Ama schonend beibringen, was Gerd zugestoßen war.
Toni brühte sich gerade Schafgarbentee aus Gerds eigenem Garten auf, als Martin in die Küche kam und ihr von seinem Verdacht erzählte. Sie war völlig perplex.
»Wie kommst du auf die Idee, die Polizei zu alarmieren? Gerd ist 80, da denkt man doch automatisch an einen Sturz oder einen Herzinfarkt! Jedenfalls an ein gesundheitliches Problem und nicht an ein Verbrechen.«
»Normalerweise ja, aber … erstens kommt mir seine Kopfverletzung sehr heftig vor für einen Sturz. Zweitens war Gerd im Pyjama, also frag ich mich: Was hat er mitten in der Nacht im Garten verloren? Und dann noch der Pseudo-Einbruch vor ein paar Wochen – alles miteinander ist das sehr dubios.«
»Welcher Einbruch?« Arthur Dehmann trat zu ihnen in die Küche.
Er war nun korrekt gekleidet, im schwarzen Anzug mit ebenso schwarzem Hemd. Toni sah ihn irritiert an. Arthur wirkte mürrisch, nicht besorgt. Als sei die Tatsache, dass sein Onkel bewusstlos in Richtung Krankenhaus unterwegs war, eine lästige Störung.
Er ist Jürgen wirklich nicht ähnlich, nicht im Wesen und schon gar nicht im Aussehen,dachte sie. Im Unterschied zu seinem blassen, schmalen Bruder hatte Arthur Dehmann dunkles Haar, breite Schultern und ein prominentes Kinn.
»Also, was war das für ein Einbruch? Ich höre zum ersten Mal davon!«
Toni und Martin wechselten einen Blick.
»Erzähl du«, sagte sie. Arthurs Tonfall passte ihr überhaupt nicht.
»Vor ein paar Wochen hat Ihr Onkel in der Nacht die Polizei gerufen«, erklärte Martin. »Er hat behauptet, dass ein Einbrecher im Garten war, unten beim Salettl. Aber alle Fenster und Türen waren unbeschädigt, nichts war durchwühlt, nichts hat gefehlt. Also hat die Polizei gemeint, dass er sich wahrscheinlich getäuscht hat.«
»Das haben wir alle gedacht«, schaltete sich Toni ein, »ehrlich gesagt, ich hab sogar völlig drauf vergessen. Und jetzt vermutest du, Martin, dass doch was dran war an Gerds Behauptung? Dass er diesmal versucht hat, den Einbrecher zu stellen, und dabei verletzt worden ist?«
»Könnte doch sein, oder? Gerd war sich ganz sicher, er wollte die Schlösser tauschen lassen, vielleicht sogar eine Alarmanlage kaufen. Außerdem hat er seit dem Vorfall über Nacht das Licht im Salettl angelassen, und jetzt brennt es nicht, das ist mir auch aufgefallen. Also, wer hat’s abgedreht?«
»Vielleicht hat Gerd einfach drauf vergessen«, sagte Toni.
Martin sah nicht sehr überzeugt aus. »Möglich. Aber im Zweifelsfall bin ich dafür, dass sich die Polizei das anschaut. Ich hab dem Typen, der den Einbruch untersucht hat, eine Nachricht hinterlassen. Bis sich jemand meldet, sollten wir im Garten und im Salettl lieber nichts anrühren. Gerds Haushälterin hab ich für heute abbestellt.«
»Wenn Sie meinen, dass das notwendig ist«, sagte Arthur. »Ich halte es zwar für unwahrscheinlich, dass ein Einbrecher wiederkommt, wenn er schon beim ersten Mal erfolglos war, aber bitte.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Mir kommt das alles sehr ungelegen, ich muss heute Vormittag einen zwingenden Termin wahrnehmen, weswegen ich überhaupt in Wien bin. Ich gebe Ihnen meine Nummer, Frau Schubert, und Sie halten mich auf dem Laufenden, ja?« Er hielt Toni seine Visitenkarte entgegen.
Sie sah ihn verblüfft an. Wofür hielt dieser Mensch sie eigentlich? Für seine Sekretärin?
Martin schnappte sich Arthurs Karte und kam Toni mit einer Antwort zuvor. »Das übernehme ich, schließlich wohn ich hier im Haus.«
Dann wandte er sich an Toni. »Ich kann problemlos allein die Stellung halten, wenn du zurück ins Geschäft musst.«
»Nun gut«, sagte Arthur Dehmann, »sei es, wie es sei, ich hoffe, die Sache klärt sich rasch auf.«
»Und ich hoffe vor allem, Gerd wird schnell wieder gesund!«, sagte Toni, empört über seine Ungerührtheit.
»Gewiss, das versteht sich von selbst.« Arthur sah noch einmal auf seinen funkelnden Klotz von einer Armbanduhr, die vermutlich ein Vermögen gekostet hatte. »Sie entschuldigen mich.« Ein Nicken und weg war er.
»Ich pack den Typen nicht!«, rief Toni, sobald die Küchentür zugefallen war. »Der ist wirklich eiskalt! Kein Wunder, dass Jürgen nicht gut mit ihm auskommt – oh verflixt, wir müssen Jürgen Bescheid geben.«
»Der ist wahrscheinlich schon in der Schule, oder? Ich schick ihm eine SMS, für den Fall, dass er grad unterrichtet«, sagte Martin und tippte in sein Handy, »was meinst du, bekommen wir überhaupt Auskunft vom Krankenhaus? Wir sind ja keine Angehörigen. Wenn Arthur unterwegs ist und Jürgen vielleicht nicht erreichbar …«
Toni seufzte und nippte an ihrem Tee. »Keine Ahnung.«
Martin sah vom Display auf und warf einen kritischen Blick auf seine ältere Schwester. »Du schaust blass aus. Hast du heut schon was gegessen?«
»Jawohl, Herr Doktor-in-spe! Ich bin nämlich schon seit 4 Uhr früh unterwegs, soll heißen, ich hab schon gefrühstückt, als du noch im Tiefschlaf warst.«
Martin grinste verlegen. Trotz eines Altersunterschieds von über zehn Jahren und obwohl sie nur während der Ferien im selben Haushalt gelebt hatten – sie waren Geschwister. Standen einander nahe, gingen sich auf die Nerven und verdrehten synchron die Augen, wenn ihre gemeinsame Mutter eine ihrer esoterischen Anwandlungen hatte. Seitdem Martin in Wien studierte, sah Toni ihn öfter als zuvor, und sie freute sich, wie gut sie miteinander auskamen.
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Kommt dir das Ganze auch so unwirklich vor? Ich kann nicht glauben, dass jemand …«
»Ich weiß genau, was du meinst. Aber es ist schon ein komischer Zufall, oder? So kurz nach dem angeblichen Einbruch geht Gerd nachts allein in den Garten – um was zu tun?«
»Stimmt. Es ist schon in Ordnung, dass du die Polizei informiert hast. Sollen die sich das genauer anschauen.«
Toni sah auf die Edengasse hinaus. Arthur verließ gerade den Garten. Mit einer Aktentasche in der einen Hand und einer Planrolle in der anderen marschierte er zu dem fetten BMW mit Hamburger Kennzeichen, gleich hinter Tonis Lieferwagen. Das Auto war schwarz, genau wie sein Anzug, die Schuhe, die Tasche und selbst die Planrolle.
Der passende Wagen für so einen Schnösel, dachte Toni, der gehört sicher zu den Typen, die einem auf der Autobahn an der Stoßstange picken, weil sie Tempolimits unnötig finden.
Martin trat neben sie ans Küchenfenster. »Auch kein einfacher Mensch, der Herr Architekt, was?«
»Auf wen genau bezieht sich das auch, Brüderlein?«
»Na, auf die anderen Dehmänner natürlich«, lachte Martin und stieß ihr den Ellenbogen leicht in die Seite. »Sag bloß, du fühlst dich angesprochen?«
»Nein. Aber Gerd und Jürgen sind doch recht nett, oder?«
»Schon … man weiß halt bei beiden nie, woran man ist.«
»Ich versteh, was du meinst, perfekte Manieren, stille Wasser und so weiter. Umso absurder kommt es mir vor zu glauben, dass Gerd auf Konfrontationskurs geht, selbst wenn er wirklich einen Einbrecher sieht.«
»Soll mir recht sein, wenn ich daneben lieg«, sagte Martin. »Warten wir ab, was der Polizist dazu sagt.«
»Wieso hast du überhaupt seine Nummer?«
»Promi-Faktor.« Martin grinste. »Der Typ hat Gerd um ein Autogramm gebeten und seine Nummer dagelassen. Gerd war ja total aufgeregt und überzeugt von dem Einbruch. Wenn wir ihn nicht ernst genug genommen haben, dann …«
»Dann bist du nicht der Einzige, der sich Vorwürfe macht, glaub mir. Aber warten wir ab … Sei ehrlich, soll ich bleiben, bis die Polizei kommt? Ich könnt im Geschäft Bescheid geben.«
Martin wirkte erleichtert. »Lieber wär’s mir schon. Dann kannst du selber erzählen, wie du Gerd gefunden hast, und wir spielen nicht Stille Post.«
»In Ordnung.« Toni tastete in ihrer Jackentasche nach dem Handy.
Stattdessen bekam sie ein Messingschild in die Finger. Sie hatte es dem bewusstlosen Gerd aus der Hand genommen, er musste sich in seiner Not daran festgekrallt haben. Perle vom Wienerwald, stand darauf eingraviert, das war der Name jener historischen Kletterrose, die am Schuppen emporwuchs.
Toni drehte das Pflanzenschild zwischen den Fingern und zögerte. »Es ist nur so … wenn ich in der Gärtnerei anrufe, dann bekommt womöglich Ama mit, dass was passiert ist, und macht sich Sorgen. Ich möchte es ihr aber lieber persönlich erzählen, es ihr schonend beibringen. Du weißt doch, wie sehr sie an Gerd hängt.«
»Verstehe. Und was ist, wenn du Flo Bescheid sagst?«
»Der war die ganze Nacht strawanzen. Wahrscheinlich schläft er jetzt, damit er fit genug zum Arbeiten ist.«
Flo hatte nach dem Ende seiner Lehrzeit erst einige Jahre in der Gärtnerei gearbeitet, dann aber eine Ausbildung zum Heilmasseur absolviert. Er arbeitete bevorzugt am Nachmittag, manchmal bis in den frühen Abend hinein, in einer Praxis nicht weit von der Gärtnerei. Dass in seiner Wohnung auch ein Massagetisch stand, wusste Toni sehr zu schätzen. Die Gartenarbeit bescherte ihr oft genug Rückenschmerzen, und einen Heilmasseur im Haus zu haben, war in solchen Fällen einfach großartig.
»Probier’s trotzdem bei ihm«, sagte Martin.
Toni nickte und fischte ihr Handy aus der Jacke. Irgendjemanden musste sie sowieso informieren. Wer weiß, wie lange sie hier festsitzen würde? Wenn sie bis Mittag nicht im Betrieb zurück war, würde das für Unruhe sorgen und Ama erst recht nicht verborgen bleiben.
Ohne großen Optimismus wählte sie Flos Nummer – und war überrascht, als er das Gespräch tatsächlich annahm.
»Hallo, Schatzerl! … Toni? Huhu!«
Flos vergnügte Stimme brachte Toni aus der Fassung, sie schluckte und bekam keinen Ton heraus.
»Hörst du mich nicht? Ist das ein Popsch-Anruf aus deiner Hosentasche, oder was?« Sie hörte ihn lachen.
Martin nahm ihr das Mobiltelefon aus der Hand.
»Flo? Hier ist der Martin. Ja, hör mal … Nein, nein, Toni geht’s gut, sie sitzt hier bei mir in der Edengasse, aber Gerd ist im Krankenhaus.«
»Nein!« Flos Stimme war deutlich zu hören. Ein Aufschrei, ein entsetztes Nein, mehr nicht.
Toni räusperte sich und nahm ihr Handy wieder an sich.
»Flo? Ganz ruhig, keine Panik! … Nein, nein, Gerd ist ja nicht tot, er war nur bewusstlos, als ich heut früh gekommen bin. Jetzt ist er im Spital, was ihm fehlt, wissen wir noch nicht. Ich bleib vorläufig bei Martin. Kannst du für mich ein paar Sachen erledigen? … Gut, hör zu: Erstens, gib im Büro Bescheid, dass ich später komm. Am besten sagst du, dass ich aufgehalten worden bin, das reicht. Zweitens, wir brauchen für Sonntag eine Vertretung, jemand soll eine Aushilfskraft organisieren.«
Toni hielt kurz inne und atmete tief durch. »Und jetzt kommt der schwierige Teil: Kannst du dich bitte um Ama kümmern? Ich überlass es dir, ob du ihr erzählen willst, dass Gerd im Spital liegt, oder lieber nicht … Nein, Details wissen wir noch nicht. Ich will vermeiden, dass sie allein ist, wenn sie’s erfährt, verstehst du? … Dank dir, bist ein Schatz … Ja, klar, ich melde mich, sobald’s was Neues gibt. Bis später, Busserl!«
Sie ließ das Telefon sinken.
Martin sah aus dem Fenster. »Na wusch, das ist aber schnell gegangen«, sagte er und lief aus der Küche.
Tatsächlich, da stand schon ein Polizeifunkwagen in der Parklücke, die Arthurs Limousine hinterlassen hatte, und daneben ein Zivilfahrzeug in zweiter Spur. Toni war gleichermaßen verblüfft wie erleichtert, als sie sah, wer aus dem dunklen Wagen ausstieg, und folgte ihrem Bruder.
Als sie im Vorgarten ankam, öffnete Martin das Gartentor für drei Polizisten. Zwei davon trugen Uniform, der dritte war in Zivil. Ein Chefinspektor, mit Namen Josef Schreckenfuchs – der zuerst Toni und dann Martin herzlich umarmte.
Josef Schreckenfuchs war Mitarbeiter des Wiener Landeskriminalamts, genauer gesagt, er war Gruppenführer im Ermittlungsbereich Leib/Leben der Außenstelle Süd. Außerdem war er Tonis und Martins Onkel, der Ehemann ihrer Tante Gitti.
Beppo, wie er allgemein genannt wurde, hatte den angeblichen Einbruchsversuch vor ein paar Wochen selbstverständlich nicht persönlich untersucht. So etwas war kein Fall für die Kriminalpolizei, sondern für die Sicherheitswache. Aber Beppo hatte ein Auge darauf gehabt. Nach Rücksprache mit den zuständigen Kollegen der nächsten Polizeiinspektion hatte er sich ihrer Meinung angeschlossen, Gerd sei vermutlich einer Täuschung aufgesessen. Seine professionelle Einschätzung hatte viel zur allseitigen Beruhigung beigetragen.
Martins heutige Nachricht über Gerd Dehmanns Verletzung war prompt an Beppo weitergeleitet worden, und der hatte sich sofort auf den Weg gemacht.
Während seine beiden Kollegen den Zugang zum Garten und zu Gerds Wohnung im Erdgeschoss mit einem Absperrband sicherten, ging Beppo mit Toni und Martin in die Mansarde hinauf, in Martins Zimmer, und ließ sich haarklein erzählen, was vorgefallen war: von Tonis Suche nach Gerd, über Martins erste Einschätzung seiner Verletzungen, bis zur Abfahrt der Rettung.
»Habt ihr gut gemacht, ihr zwei«, sagte Beppo.
Er stand am Fenster. Martin hatte es sich auf dem ungemachten Bett bequem gemacht, Toni saß an seinem Schreibtisch. Das Zimmer war einigermaßen aufgeräumt, Toni musste zugeben, dass sie selbst in Martins Alter nicht so ordentlich gewesen war.
»Na, wir werden sehen, was deine künftigen Kollegen zu sagen haben, Martin«, setzte Beppo fort, »ich hab im Krankenhaus Bescheid gegeben, dass Verdacht auf Fremdeinwirkung besteht, die schauen sich das ganz genau an und erstatten mir direkt Bericht.«
»Was auch immer passiert ist, Hauptsache Gerd übersteht es«, sagte Toni. »Super, dass du dich persönlich darum kümmerst, Beppo … das heißt, du nimmst den Vorfall ernst?«
»Ja, ich muss Martin leider recht geben, die zeitliche Nähe zu dem angeblichen Einbruch ist beunruhigend. Abgesehen davon hat Gerd, wie alle Prominenten, einen Haufen Fans, ein paar Narrische werden schon dabei sein.«
»Entgleistes Stalking?«, Martin lachte. »Also auf die Idee wär ich nicht gekommen! Wenn jemand auftaucht und um ein Autogramm bittet, dann sind das ältere Damen, die sind doch harmlos.«
»Du würdest dich wundern, wozu ältere Damen fähig sind«, Beppo grinste, »denk nur an deine liebe Großmutter. Harmlos würde ich die niemals nennen.«
»Verstanden. Soll ich Ama erzählen, was du gesagt hast, oder hängst du an deinem Leben?«, fragte Toni.
Sie lachten alle drei. Annemarie Schubert war die unumstrittene Matriarchin der Familie, ihre Tatkraft war ebenso legendär wie ihre Sturheit.
Toni biss sich auf die Lippen. War es pietätlos, in dieser Situation zu blödeln? Sich die Anspannung kurz von der Seele zu lachen? Beppo wirkte recht locker, aber er hatte ja laufend mit Gewalttaten zu tun. Selbst wenn im Normalfall kein guter Bekannter involviert war.
»Genug geplaudert«, sagte er und klatschte in die Hände, »ich muss weiter, und du hast wahrscheinlich auch zu tun, Toni?«
»Mehr als genug.«
»Kann ich mir denken. Also lassen wir den jungen Mann allein«, Beppo zerzauste Martins Haare, »am Ort des Verbrechens zurück, das hoffentlich gar keines ist, okay? Und ich melde mich bei euch beiden, sobald es Neuigkeiten aus dem Krankenhaus gibt. Bis dahin bleibst du im ersten Stock, Martin, verstanden? In Gerds Wohnräumen und im Garten wird nichts angerührt, bis wir Entwarnung von den Ärzten bekommen. Das gilt auch für die Neffen, für Jürgen und – wie heißt der andere schnell – richtig, Arthur. Ihr habt nicht zufällig Telefonnummern von den beiden?«
Beppo zog ein Notizbuch aus seiner Jackentasche und notierte die Nummern, die Martin laut von seinem Handy ablas.
»Bestens. Falls dieser Arthur auftaucht, bevor ich ihn erreiche, richtest du ihm bitte aus, er soll sich sofort bei mir melden«, sagte Beppo zu Martin und steckte das Notizbuch ein.
Nach kurzem Zögern setzte er hinzu: »Wie soll ich mir den vorstellen? Auch so ein Warmduscher wie sein Bruder?«
Martin schüttelte lachend den Kopf.
»Ein Wichtigtuer, auf den ersten Blick nicht rasend sympathisch. War besorgter um seine Termine als um seinen Onkel«, sagte Toni. »Mir war übrigens nicht bewusst, dass ihr Jürgen nicht leiden könnt?«
»Stimmt auch nicht, hab ich dir schon erklärt«, sagte Martin.
»Sagen wir so: Es ist mir ganz recht, dass sich meine Lieblingsnichte nicht lang mit ihm abgegeben hat«, erklärte Beppo. »Wenn du mich fragst: Jürgen geht mit seiner Sensibilität hausieren, das geht mir auf die Nerven. Mit vorwurfsvollen Vorträgen über soziale Ungerechtigkeiten versorgt mich meine liebe Frau zur Genüge.«
Toni grinste. Die verbalen Duelle zwischen Gitti und Beppo, oder vielmehr zwischen der Sozialarbeiterin und dem Polizisten, waren legendär. Und ihr eigener Flirt mit Jürgen – eine Beziehung mochte sie die paar gemeinsamen Wochen gar nicht nennen – lag schon eine Weile zurück, sodass sie Beppos Urteil gelassen aufnahm.
»Jürgen ist schon in Ordnung«, sagte sie zu seiner Verteidigung, »wir kommen gut miteinander aus. Außerdem hängt er an Gerd und hätte sich heute sicher nicht so deppert benommen wie dieser Arthur.«
»Stimmt. Die zwei Brüder vertragen sich auch nicht gut, soviel ich mitgekriegt hab«, sagte Martin.
Beppo zog die Brauen hoch. »Wie meinst du das?«
»Gestern haben sie gestritten, war nicht zu überhören. Sie waren beide zum Abendessen da, der Lautstärke nach sind ziemlich die Fetzen geflogen.«
»Worum ging’s?«
»Keine Ahnung. Ich hab’s nur mitbekommen, weil das Esszimmer genau hier drunter liegt«, Martin deutete mit dem Daumen nach unten, »verstanden hab ich kein Wort.«
Hypericum – Johanniskraut
Toni stellte den Lieferwagen am Parkplatz der Gärtnerei ab, blieb aber im Auto sitzen und atmete tief durch. Der Vormittag war fast vorüber und – ein kurzer Blick aufs Handy – noch keine Nachricht aus dem Krankenhaus. Sollte sie Ama informieren, bevor klar war, wie es um Gerd stand? Oder lieber abwarten?
Vielleicht hat Flo schon mit ihr geredet, dachte sie, ich hätte nichts dagegen, wenn mir das erspart bliebe …
Beim Aussteigen aus dem Fahrzeug warf sie gewohnheitsmäßig einen Blick durch die Auslage in die Blumenhandlung und entdeckte neben Lea auch Flo hinter dem Ladentisch. Kundschaft war keine zu sehen.
Das Windspiel über der Eingangstür schlug an, als Toni eintrat.
»Hallo, ihr beiden! Na, da staune ich aber, der Herr Florist steht auch im Geschäft! Hast du nicht behauptet, du wirst nie wieder Bouquets binden? Hab ich das falsch in Erinnerung?«
Flo sah unglücklich aus, seine Augen waren gerötet. »Bitte nicht blödeln. Sag mir lieber, was Gerd hat und wie es ihm geht. Besser?«
»Und wie fühlst du dich, Toni?«, fragte Lea. »Das war sicher schlimm, Gerd … ich meine, Herrn Dehmann bewusstlos zu finden.«
»Mir geht’s gut, nur hab ich leider noch keine Neuigkeiten aus dem Krankenhaus gehört.«
Flo schloss einen Moment lang die Augen. Lea, die nicht nur die tüchtigste Floristin des Betriebes war, sondern auch Flos beste Freundin, griff nach seiner Hand. Angesichts seiner Verzweiflung kam sich Toni geradezu gefühlskalt vor.
»Sorry, wir müssen abwarten …Weiß Ama schon Bescheid?«, fragte sie zögernd.
»Nein, ich hab’s noch nicht übers Herz gebracht, mit ihr zu reden. Ich war unsicher, was ich ihr sagen soll. Du hast mir ja nicht viel erzählt«, sagte Flo.
»Weil es nicht viel zu erzählen gibt. Gerd war heute früh bewusstlos und ist jetzt im Krankenhaus. Was ihm fehlt, wissen wir noch nicht.«
Flo schluckte mehrmals, dann presste er heraus: »Der arme Gerd.«
»Ja«, sagte Lea und umarmte ihn mit beiden Armen, »und der arme Flo!«
Er legte sein Kinn auf Leas dunklen Lockenkopf.
Flos Schmerz berührte Toni eigenartig.
Aber Flo ist schnell einmal den Tränen nahe, dachte sie, und Gerd zählt eben mehr oder weniger zur Familie.Sie wandte den Blick ab.
Auf dem Ladentisch stand ein Gesteck aus bronzefarbenen Rosen, weißen Inkalilien und roten Johanniskraut-Beeren.
Toni wartete, bis Lea ihre Arme sinken ließ, dann deutete sie auf das Arrangement und sagte: »Übrigens, die neue Ware hab ich für den Tischschmuck im Restaurant Anninger gekauft und nicht für den Laden. Hätt ich dir vermutlich aufschreiben sollen.«
»Das war mir schon klar«, sagte Lea, »aber Herr Anninger hat am Vormittag vorbeigeschaut und sich erkundigt, was wir morgen liefern. Da hab ich schnell ein Muster für ihn gesteckt, und es passt ihm so. Ich stell’s gleich in den Kühlraum.«
»Sehr gut«, sagte Toni, »muss eine wichtige Sache sein, wenn der Chef persönlich den Blumenschmuck checkt?«
»Er war zufällig in der Nähe, deshalb.«
»Übrigens war Manfred bei Ama zu Besuch, während Lea das Gesteck gebastelt hat. Da wollte ich erst recht nicht mit einer schlechten Nachricht reinplatzen.«
»Verstehe«, sagte Toni und holte tief Luft, »dann geh ich jetzt zu ihr, hat keinen Sinn, das noch länger hinauszuschieben.«
Toni fand ihre Großmutter, wie zu erwarten, in der Küche. Annemarie Schubert kochte sehr gerne. Solange sie den Betrieb geleitet hatte, war ihr wenig Zeit dafür geblieben, umso mehr genoss sie es seither, am Herd zu stehen.
Freitags kochte sie meistens ein Gericht, das sich gut aufwärmen ließ, in ausreichender Menge für ihr eigenes Mittagessen und ein gemeinsames Nachtmahl mit Toni, Flo und ihrer Schwägerin Christl. Flo zuliebe, der von Kindheit an kein Fleisch aß, gab es meistens etwas Vegetarisches. Nur wenn Ama befand, es sei wieder einmal Zeit für ein Rindsgulasch, dann musste Flo mit einem Käsebrot vorliebnehmen.
Amas Kochkünste waren allerdings nicht der Grund dafür, dass Toni fast jeden Freitagabend in dieser Runde speiste, sondern eine gemeinsame Leidenschaft. Zuerst wurde gegessen und getratscht, dann der grüne Filz ausgerollt. Sie spielten Karten, Königrufen, um genau zu sein.
Die freitägliche Tarockpartie war seit Jahrzehnten ein Fixpunkt im Hause Schubert. Lange Jahre hatte Ama mit Christl und deren Freundinnen gespielt, anfangs im Kaffeehaus, später in der Gartenvilla. Toni war, genau wie Flo, durch stundenlanges Kiebitzen in die Runde hineingewachsen. Als Teenager war sie vor Stolz fast geplatzt, wenn sie fallweise für eine der Spielerinnen hatte einspringen dürfen.
Von der ursprünglichen Runde waren nur mehr Ama und Christl übrig, die anderen waren entweder schon verstorben oder nicht mehr fit genug für einen langen Kartenabend. Toni vermied es, die Abwesenden zu erwähnen. Dass Ama und Christl oft an ihre früheren Mitspielerinnen dachten, war ihr klar, sie wollte nicht zusätzlich an diese Erinnerungen rühren.
Genauso wenig wie sie jetzt Ama Kummer machen wollte. Sie holte tief Luft – es half alles nichts.
»Ama«, sagte Toni sanft.
Ihre Großmutter, die gerade am Küchentisch stand und Frühkraut in einen Weidling hobelte, legte Krautkopf und Hachel beiseite, dann setzte sie sich.
Für ein paar lange Sekunden sahen sie einander wortlos an. Toni konnte ihrer Großmutter am Gesicht ablesen, dass sie sich auf schlechte Nachrichten einstellte. Wer mit Annemarie Schubert nicht vertraut war, mochte sie in diesem Moment für grantig halten, dabei wappnete sie sich nur.
»Wer?«, fragte Ama schließlich.