Perry Rhodan 150: Stalker (Silberband) - Ernst Vlcek - E-Book

Perry Rhodan 150: Stalker (Silberband) E-Book

Ernst Vlcek

0,0

Beschreibung

Das Jahr 429 Neuer Galaktischer Zeitrechnung: Ohne jegliche Vorankündigung erreicht ein seltsamer Außerirdischer die Erde. Sein Name ist Stalker, und er bezeichnet sich als Bote einer sogenannten Superintelligenz. Die Menschen, die sich noch von einer Reihe großer Umwälzungen erholen müssen, sind anfangs skeptisch, verfallen dann aber seinem Charisma. Stalker ist imposant und undurchschaubar zugleich. Der Bote berichtet von den Wundern seiner Heimat, die angeblich nur darauf warten, von den Menschen besucht zu werden. Er spricht von Freundschaft und verkündet eine positive Botschaft – doch sein Besuch sorgt für wachsende Unruhe. Denn das Sternweh ergreift Millionen von Menschen. Mithilfe der sogenannten Virenschiffe sind sie in der Lage, das Universum zu durchstreifen. Viele von dieser Vironauten, wie sie sich selbst nennen, steuern Stalkers ferne Heimat an. Doch hinter den angeblichen Wundern verbirgt sich viel mehr – vielleicht sogar der Tod für die Vironauten …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 501

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nr. 150

Stalker

Cover

Klappentext

Kapitel 1-10

1. Fernweh I

2. Selbstanklage

3. Fernweh II

4. Schicksalssplitter

5. Die Maske fällt

6. Fernweh III

7. Hoffnungen und Wünsche

8. Irmina Kotschistowa

9. Reginald Bull

10. Ronald Tekener

Kapitel 11-20

11. Stalker

12. Erinnerungen

13. Die Verwandlung

14. Srimavo

15. Reisende

16. Tote Welt

17. Ein Überlebender?

18. Das Symbol des Kriegers

19. Eremit

20. Begegnung

Kapitel 21-29

21. Antikörper

22. Ein neuer Freund

23. Das Recht wahren

24. Seg-899 PIZARRO

25. Reginald Bull und das Archiv

26. Der Krieger erscheint

27. Begegnungen

28. In der Schaltstation

29. Bereit für die Letzte Schlacht

Nachwort

Zeittafel

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

Das Jahr 429 Neuer Galaktischer Zeitrechnung: Ohne jegliche Vorankündigung erreicht ein seltsamer Außerirdischer die Erde. Sein Name ist Stalker, und er bezeichnet sich als Bote einer sogenannten Superintelligenz. Die Menschen, die sich noch von einer Reihe großer Umwälzungen erholen müssen, sind anfangs skeptisch, verfallen dann aber seinem Charisma.

Stalker ist imposant und undurchschaubar zugleich. Der Bote berichtet von den Wundern seiner Heimat, die angeblich nur darauf warten, von den Menschen besucht zu werden. Er spricht von Freundschaft und verkündet eine positive Botschaft – doch sein Besuch sorgt für wachsende Unruhe.

1. Fernweh I

Solman Patermo spürte es ebenso wie alle aus seiner Sippe. Die Springer hatten sich nicht gescheut, mit der altersschwachen PAT-PRAMAR den Flug über 34.000 Lichtjahre zu wagen und die Armadisten der Armadaeinheit 1707 bis zum Solsystem zu begleiten. Die Patermo-Sippe hatte dabei ihren Walzenraumer fast zu Schrott geflogen, doch keiner bereute das Wagnis.

Si'it war ein Jülziish, ein Blue, wie die Terraner sein Volk nannten, und er spürte es ebenso stark wie jeder andere Blue im Bereich der Sonne Sol. Egal, ob sie auf Terra ansässig waren oder der Endlosen Armada aus der Eastside gefolgt waren – alle spürten es und konnten sich den eigenartigen Empfindungen nicht entziehen, die durch die Aktivierung des Chronofossils Terra geweckt wurden.

Das galt ebenso für Antis, Arkoniden, Akonen, für Unither, Ferronen, Haluter und die Angehörigen vieler weiterer Völker. Jeder von ihnen spürte es.

»Was wiegt schwerer?«, hatte ein Terraner vor nicht allzu langer Zeit gefragt. »Die Seele eines riesenhaften Ertrusers oder die eines nur eine Handspanne messenden Siganesen?« Die neu erwachte Lust an bislang nicht greifbaren Fernen machte keinen solchen Unterschied.

Diese Sehnsucht wuchs in allen Galaktikern und wurde mit jedem Tag stärker: Das Fernweh war geweckt.

Zunächst nur als ungewisse Ahnung präsent, wurde es nach der Aktivierung des Chronofossils Terra zum dominierenden Bestandteil jeder Emotion.

Die heimische Milchstraße war plötzlich nicht mehr als eine kleine Insel in der Unendlichkeit – nur ein Sandkorn am Strand der Unendlichkeit von Raum und Zeit.

Leonard Frood war Terraner und spürte es. Anne Piaget und Fredo Gopher spürten es ebenfalls.

Auch Nosh Yamido, der Naturhüter im Xenoforming-Reservat. Allerdings war Noshi schon zu alt, um sich dem aufkommenden Fernweh zu überlassen.

Neben der Sehnsucht war eine weitere Empfindung durch die Aktivierung des Chronofossils Terra geweckt worden, und ihr widersetzte sich keiner: das starke Gefühl der Zusammengehörigkeit.

»Wir sind zusammen eine große Familie – wir sind Galaktiker!« Der alte Noshi drückte es so aus, und er fügte stolz hinzu: »Das Fernweh, das wir fühlen, ist Sternweh!«

Das telepathische Wispern des Virenimperiums vermittelte diese Emotionen. Die spärlichen Überreste dieses einst so gewaltigen und geradezu ultimaten Machtinstruments der Kosmokraten, das sich in zigtausend Virenwolken aufgesplittert hatte und den Orbit über Terra vernebelte, regulierte das Fernweh und den aufkommenden »Zugvogelinstinkt«. Er handelte selbstlos und ganz im Sinn der neuen Situation.

Die Aktivierung des Chronofossils Terra wirkte sich auf die gesamte Milchstraße positiv aus.

2. Selbstanklage

»Perry!«, rief Homer G. Adams und verstellte Rhodan den Weg. »Ich brauche nur eine Minute deiner kostbaren Zeit!«

Perry Rhodan hatte soeben die Transmitterhalle im Hauptquartier der Kosmischen Hanse betreten wollen. »Ich bin in Eile, Homer«, versuchte er, den Finanzchef der Kosmischen Hanse abzuwimmeln. »Ich muss zur BASIS.«

»Ich weiß«, sagte Adams ungerührt. »Eine Minute, nicht länger.«

»Dann schieß los!« Rhodan seufzte ergeben.

»Ich möchte, dass du einer Sondersitzung der Kosmischen Hanse zustimmst«, sagte Adams ohne Umschweife. »Wir brauchen eine beschlussfähige Vollversammlung mit allen vierunddreißig Hanse-Sprechern. Ich muss mich selbst anklagen. Weil ich gegen die wichtigsten Paragraphen der Hanse verstoßen habe und ...«

»Die Sache mit dem Warner und seiner Medienpräsenz ist längst vergeben und vergessen«, fiel ihm Rhodan ins Wort. »Derzeit gibt es wichtigere und brisantere Dinge.«

»Du irrst dich, Perry!«, behauptete Adams mit einer Entschlossenheit, die Rhodan an ihm nicht kannte. Es schien gerade so, als würde er von einer Kraft aufgerichtet, die imstande war, sein körperliches Gebrechen zu neutralisieren. Adams spannte sich an, sein krummer Rücken reckte sich, und mit einem Mal stand er nahezu aufrecht da. »Es geht um den Fortbestand der Kosmischen Hanse und in der Folge um das Schicksal der gesamten Milchstraße!«, fuhr er bedeutungsvoll fort. »Und nicht zuletzt um die Erneuerung des universellen Weltbilds.«

Für einen Moment schien den Finanzchef die Kraft zu verlassen; er sank wieder in sich zusammen und breitete fast hilflos die Arme aus. »Diese Vollversammlung ist lebenswichtig, Perry!«

»Gut«, sagte Rhodan, ohne lange zu überlegen. »Setz die Versammlung aber so an, dass ich vorher meine Verpflichtungen erfüllen kann. Du weißt, was alles ansteht.«

Rhodan ging weiter, doch schon nach wenigen Schritten fiel ihm etwas ein, das er nicht unerwähnt lassen wollte. Er drehte sich zu Adams um und sagte: »Zumindest zwei Hanse-Sprecher stehen nicht zur Verfügung, Homer. Wie willst du eine Vollversammlung einberufen?«

»Es unerlässlich, für Atlan und Jen Salik Stellvertreter zu bestimmen«, antwortete Adams. »Ich kümmere mich bereits darum.«

»Tu das.«

Rhodan eilte weiter. Irgendwie traf es ihn hart, dass Adams mehr an einen Ersatz für zwei Hanse-Sprecher dachte als an das Schicksal ihrer beiden Freunde. Er selbst hatte es keineswegs schon überwunden, dass er in einer Vision des Geisteswesens ES, des Mentors der Menschheit, den Tod von Atlan und Salik miterleben musste. Mal klammerte Rhodan sich an die vage Hoffnung, dass es für die beiden eine wundersame Rettung geben würde, dann wiederum fand er sich damit ab, nun der letzte Ritter der Tiefe zu sein.

In den turbulenten Ereignissen der letzten Tage war ihm kaum Zeit geblieben, an Atlan und Salik zu denken. Nun, nachdem das Chronofossil Terra aktiviert worden war, kam die verdrängte Erinnerung mit voller Wucht zurück.

Perry Rhodan wäre am liebsten selbst mit der Endlosen Armada weitergeflogen, auch wenn die Aussicht äußerst gering war, den in der Tiefe verschollenen Kameraden beistehen zu können. Zudem wartete auf ihn eine Aufgabe, die keinen Aufschub duldete: die Aktivierung des Chronofossils EDEN II.

Aber wo befand sich EDEN II? Ernst Ellert, der von ES auserkoren worden war, EDEN II zu präparieren, war nicht zurückgekehrt. Dabei war Ellert der Einzige, der die Koordinaten des Planeten kennen konnte.

Es gab Probleme über Probleme, und da kam Adams und verlangte eine Vollversammlung der Hanse. Rhodan hatte nicht das geringste Verständnis dafür.

Der Transmitter war bereits für ihn justiert – Perry Rhodan erreichte ohne Zeitverlust die BASIS, das gewaltige Fernraumschiff der Terraner.

Der offizielle Aufbruch der Endlosen Armada stand an, veranstaltet für die Medien und als Dokument der Zeitgeschichte. Persönlich hatte sich Rhodan schon von allen ihm längst vertraut gewordenen Mitstreitern verabschiedet, besonders intensiv von Nachor. Der Armadaprinz würde den gewaltigen Heerwurm über 200 Millionen Lichtjahre hinweg nach Behaynien zurückbringen, besser gesagt, zur einstigen Position des Frostrubins, 2,8 Millionen Lichtjahre von Behaynien entfernt.

In seiner Rede, die über alle Hyperfunkrelais bis ans andere Ende der Milchstraße übertragen wurde, ging Rhodan auf die Hintergründe und die Entstehung von Ordobans Wachflotte ein. Er schilderte zusammengefasst die ersten Begegnungen mit Einheiten der Galaktischen Flotte, die Probleme mit den Armadaschmieden und kam schnell zur Entscheidung im Loolandre, der schließlich unumgänglichen Aktivierung der Chronofossilien und dem damit verbundenen Kampf gegen den Dekalog der Elemente. Sein Rückblick endete mit der Erkenntnis, dass die Endlose Armada endlich zu ihrer ursprünglichen Aufgabe zurückkehren und ihre Funktion erfüllen könne. Da sich der porleytische Anker des Kosmonukleotids TRIICLE-9 bereits ausreichend gelockert habe, sei die Präsenz der Endlosen Armada für die Aktivierung des letzten Chronofossils, EDEN II, nicht mehr nötig. Rhodan drückte seine Hoffnung aus, dass Ordobans Wachflotte ihr Ziel erreicht haben möge, wenn TRIICLE-9 an seinen Stammplatz in der Tiefe und im Moralischen Code zurückkehren werde.

Homer Gershwin Adams bereitete sich auf den schwersten Gang seines Lebens vor. Er hatte lange mit sich gehadert, ob er diesen Schritt tun sollte, doch nun gab es für ihn kein Zurück. Er hatte seinen Entschluss gefasst, und was er tat, geschah zum Nutzen der Kosmischen Hanse. Dabei war ihm keineswegs wohl bei dem Gedanken, sich in den Vordergrund zu drängen.

Seit über 2000 Jahren galt Homer Gershwin Adams als das Finanzgenie schlechthin. Er war einer der berühmtesten Männer der Milchstraße. Sein Name war auf vielen Planeten ein Begriff. Redewendungen wie »Geiziger Gershwin«, »Sparsam wie Homer« oder »Wundersame homersche Wertvermehrung« wurden in allen galaktischen Sprachen verwendet – nicht selten sogar, ohne dass den betreffenden Völkern der Ursprung dieser geflügelten Worte noch bewusst war.

Adams kannte seinen Stellenwert, hatte daraus aber niemals persönliches Kapital geschlagen. Schüchternheit und Zurückhaltung waren ihm angeboren – vermutlich, weil er alles andere als attraktiv war und ihm ein ausgleichendes Charisma fehlte.

Homer Gershwin Adams hatte einen verkrümmten Rücken und einen viel zu großen Kopf mit schütterem blondem Haar und blassblauen Augen. Sein Äußeres spielte zwar seit 2000 Jahren keine Rolle mehr, doch es hatte die verletzlichste Phase seines Lebens geprägt, seine Kindheit. Er war als Buckliger aufgewachsen, darum war er scheu und introvertiert, unzugänglich und zurückhaltend. Adams war aber zugleich zufrieden und glücklich, denn er tat das, was er konnte, indem er sich auf seine einmalige Begabung verließ.

Finanzpolitik war sein Leben, schon zur Zeit der Dritten Macht, im Jahr 1972 a. D. Damals gründete er die General Cosmic Company, jenes Wirtschaftsimperium, ohne das Perry Rhodan nie in der Lage gewesen wäre, eine terranische Raumfahrtindustrie aufzubauen. Später, als Finanz- und Wirtschaftsminister des Solaren Imperiums, war es seiner genialen Politik zu verdanken, dass das Solare Imperium zu einem galaktischen Wirtschaftsfaktor wurde. Seine Zurückhaltung verlieh ihm stets innere Ausgeglichenheit. Er strebte nicht nach unerreichbaren Zielen und erlebte deshalb keine Enttäuschungen.

Diese Lebensphilosophie war es auch, die ihn zunächst davon abhielt, sich für den Schritt zu entscheiden, den er nun doch tat. Aus eigenem Antrieb hätte er sich kaum auf solch ein Risiko eingelassen. Aber er hatte einen Berater, dessen Zuspruch ihm Mut machte. Und es gab überlebenswichtige Gründe, hervorzutreten und Forderungen zu stellen.

Rückblickend musste Homer Gershwin Adams sich eingestehen, dass die Ereignisse eine eigene Dynamik entwickelt hatten. Allerdings bereute er nichts. Er hatte nur die besten Absichten verfolgt, und manchmal heiligte der Zweck eben die Mittel. So wie in diesem Fall. Er musste die Dinge so sehen, wie sein Berater es gesagt hatte: »Wenn du als Arzt einen todkranken Patienten hast, dann wirst du alles tun, um ihn wieder gesund zu machen. Die Kosmische Hanse ist dein todkranker Patient, Gershwin.«

Das traf den Kern der Sache. Nachdem die Hanse ihre anfängliche Bestimmung verloren hatte, der negativen Superintelligenz Seth-Apophis entgegenzuwirken, kränkelte sie dahin. So sah es Adams als Finanzchef, und damit stand er zumindest nicht ganz allein. Er hatte junge Fachkräfte um sich geschart, die auf einer Wellenlänge mit ihm lagen und bereit waren, für ihn durchs Feuer zu gehen. Celeste Maranitares, Patricia Kolmeth und Timo Porante waren drei der neuen Namen.

Adams hatte zuletzt nur mehr Bedenken, ob der Zeitpunkt für seinen Coup günstig war. Vor allem diese Befürchtung wusste sein Berater zu zerstreuen.

»Die ganze Milchstraße steht im Sternenfieber, und du gibst ihr mit der Kosmischen Hanse die Möglichkeit, das Universum zu erobern. Würde mich das Sternweh plagen, mein Freund, dann würde ich dir für diese Chance die Hände küssen.«

Damit war die letzte Unsicherheit ausgeräumt. Adams ging zum Frontalangriff über. Hinter ihm lag eine lange Zeit voller Zweifel und quälender Fragen, von Rückschlägen und scheinbaren Niederlagen gezeichnet. Er war durch ein Fegefeuer gegangen. Im Nachhinein erschien ihm diese Prüfung notwendig, denn sie hatte ihm die nötige Selbstsicherheit gegeben.

In seiner Erinnerung wurde alles das noch einmal wach.

Vor drei Monaten, Anfang November vergangenen Jahres, hatte alles begonnen.

In der galaktischen Eastside tobte die Auseinandersetzung um das Chronofossil Gatas, wobei Adams sich für diese Geschehnisse nur beiläufig interessierte. Damit hatten andere zu tun. Für ihn sah es in dieser Zeit so aus, als sei er der Einzige, der sich für die Kosmische Hanse einsetzte – er selbst und das Mondgehirn NATHAN. Die meisten Hanse-Sprecher wie Ronald Tekener, Roi Danton und Geoffry Abel Waringer waren irgendwo in der Milchstraße unterwegs oder, wie Atlan und Jen Salik, für unbestimmte Zeit unerreichbar fern im Einsatz.

Alle großen Vorhaben lagen deshalb auf Eis. Es gab keine Hanse-Karawanen nach Magellan, Sculptor, Fornax und den anderen Galaxien der Lokalen Gruppe. Dabei wäre für die Hanse gerade zu dem Zeitpunkt Expansion unabdingbar gewesen. Statt ertragreich zu arbeiten, wurde die Handelsorganisation im Kampf gegen die Chaosmächte eingesetzt.

Adams hatte Initiativen ergriffen – in kleinem Rahmen nur, da ihm ohne entsprechende Vollmachten die Hände gebunden waren –, doch diese Aktionen würden sich erst in vielen Jahren positiv auswirken. Dazu hatte es gehört, zwanzig Raumschiffe der TSUNAMI-Spezialflotte für die Erkundung neuer Märkte loszuschicken.

Die entscheidende Wende brachte ein Tag im November. Adams hielt sich mit den Hanse-Sprechern Maranitares, Kolmeth und Porante im Stalhof auf, als NATHAN ihm den codierten Anruf übermittelte. Eine von Störgeräuschen verzerrte Stimme meldete sich: »Hier ist TSUNAMI-114. Ich rufe Homer Gershwin Adams ... Gershwin Adams, hier ist TSUNAMI-114 ...«

Adams hatte sofort alle Daten über das TSUNAMI-Paar 113 und 114 vor sich. Beide Kugelraumer waren in Richtung der Magellanschen Wolken geflogen, hatten dann die Millionen-Lichtjahre-Grenze überschritten und waren weiter in den intergalaktischen Raum vorgedrungen.

»Hier ist Homer Gershwin Adams«, meldete sich der Finanzchef der Hanse. »Ich rufe Kapitän Jan van Fleet. Wie ist eure Position? Seid ihr alle wohlauf? Was habt ihr zu berichten?«

Es entstand eine ungewöhnlich lange Pause. Adams nutzte die Zeit und fragte NATHAN nach der Herkunft der Funksignale. Die Antwort überraschte ihn.

»Jan, warum versteckt ihr euch im Asteroidengürtel?«, fasste er sofort nach.

»Ich bin nicht der Kommandant.« Die Antwort kam prompt. »Jan van Fleet ist verschollen. Ich bin auch kein Mitglied der Besatzung – und ich bin der Einzige an Bord.«

Adams erstarrte für einen Moment. Als der Unbekannte wieder sprach, konnte er den fremdartigen Akzent deutlich hören: »Ich habe das Schiff verlassen vorgefunden und weiß nicht, was aus der Besatzung geworden ist. Leider sieht es nicht gut aus, an Bord herrscht eine ziemliche Verwüstung.«

»Wer bist du?«

»Man nennt mich Sotho Tal Ker. Ich fürchte nur, damit kannst du wenig anfangen.«

»Dann sende mir ein Bild!«

»Einverstanden«, sagte der Fremde. »Danach unterbreche ich kurz die Verbindung. Ich bin zwar humanoid, wie ihr Terraner sagen würdet, trotzdem stamme ich nicht aus dieser Galaxis. Deshalb muss ich vorsichtig sein. Ich werde mich in einer Stunde deiner Zeitrechnung wieder melden. Außerdem bitte ich dich, nicht nach mir zu suchen. Siehst du: Das bin ich.«

Im Übertragungsholo erschien ein haarloser Kopf mit einem durchaus menschlichen Gesicht mit Augen, Nase, Mund und Ohren in der gewohnten Anordnung. Der breite Mund mit den sinnlichen Lippen lächelte freundlich. Insgesamt war das Gesicht etwas zu breit und zu derb, Letzteres mochte an den fehlenden Augenbrauen und der fliehenden Stirn liegen.

»Bevor du unterbrichst, beantworte mir eine Frage!«, verlangte Adams. »Wie kommt es, dass du dich ausgerechnet mit mir in Verbindung setzt?«

»Die Bordpositronik hat dich als Kontaktperson ausgewiesen und zudem den Funkcode geliefert«, antwortete der Fremde.

»Und wo ist TSUNAMI-113?«

»Das sind schon zwei Fragen.« Der Fremde seufzte. »Ehrlich, ich habe nur dieses eine Schiff vorgefunden. Bis in einer Stunde ...«

Das Holo erlosch, die Verbindung war unterbrochen.

Damit begann für Adams die längste Stunde seit Jahrhunderten. Seine erste Befürchtung war, dass der Dekalog der Elemente TSUNAMI-114 gekapert hatte. Bei dem Fremden konnte es sich durchaus um ein Maskenelement handeln.

Adams diskutierte das mit den drei Hanse-Sprechern und befragte zudem NATHAN. Die erste Hochrechnung wies eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür aus, dass das Element der Lenkung, Kazzenkatt, damit zu tun hatte. Allerdings sprach auch einiges dagegen. Eine größere Anzahl von Maskenelementen hätte die Besatzung von TSUNAMI-114 ersetzen können; weshalb sollte sich also Kazzenkatt die Umstände machen, sich als Angehöriger eines unbekannten Volkes auszugeben? Und zudem eingestehen, dass vermutlich ein Überfall auf den TSUNAMI stattgefunden hatte?

Je mehr Fakten Adams sammelte, desto geringer wurde die Wahrscheinlichkeit, die für eine Aktion des Dekalogs sprach. Und falls Sotho Tal Ker tatsächlich einem bislang unbekannten raumfahrenden Volk angehörte, dann bot sich für die Kosmische Hanse genau die Chance, die Adams herbeisehnte.

Genau eine Stunde später meldete sich der Fremde wieder, diesmal sofort mit Bildübertragung. Sein breites, derbes Gesicht zeigte ein einnehmendes Lächeln.

»Beantworte mir bitte eine Frage offen und ehrlich, Gershwin Adams!«, sagte er ohne Umschweife. »Hast du mich verraten?«

»Zweifellos nicht«, entgegnete Adams unangenehm berührt. »Außerdem weiß ich herzlich wenig von dir – ich kann mir nicht einmal sicher sein, dass du der bist, für den du dich ausgibst. Wer oder was bist du eigentlich?«

»Ich versichere dir bei meiner Ehre, dass ich weder mit Kazzenkatt und seinem Dekalog der Elemente zu tun habe, noch dass ich überhaupt aufseiten der Chaosmächte stehe«, sagte der Fremde betont.

»Immerhin weißt du sehr gut Bescheid«, bemerkte Adams.

»Ich habe mich informiert.« Der Fremde lachte spitzbübisch. Das ließ ihn jungenhaft erscheinen, obwohl sein Gesicht von gesetztem Alter zeugte. »Ich habe eure Technik studiert und gelernt, den TSUNAMI zu steuern«, fuhr er fort. »Ich kenne mich mit dem Antitemporalen Gezeitenfeld aus und verstehe mich ausgezeichnet mit dem Kontra-Computer. Ich habe mir alles Wissenswerte über die Milchstraße und die Terraner aus der Bordpositronik geholt. Vorher erlernte ich über den Hypnoschuler eure Sprache und informierte mich aus den Personalverzeichnissen über jedes einzelne Mannschaftsmitglied. Ich habe einiges über die angespannte Lage in der Milchstraße erfahren und über die prekäre Situation der Kosmischen Hanse. Vor allem weiß ich über das Kräftemessen zwischen Kosmokraten und Chaotarchen im Bereich eurer Galaxis Bescheid. Was ich über die Entwicklungen während der letzten Monate nicht wissen konnte, habe ich mir sofort nach meiner Ankunft erarbeitet. Ich bin überrascht – und zugleich enttäuscht –, dass sich die galaktische Situation derart zugespitzt hat, weil die Probleme bislang nicht gelöst wurden. Das bringt mich in eine eher unangenehme Position. Denn als Fremder stehe ich zwischen den Fronten und werde von allen Beteiligten als Gegner gesehen. Mir ist hinreichend deutlich, dass ich zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen bin, nur habe ich ihn mir nicht ausgesucht. Ich könnte mich zurückziehen und irgendwann wiederkommen, in der Hoffnung, dass ihr bis dahin alle Probleme gelöst habt. Aber dadurch würde viel wertvolle Zeit verloren gehen – und womöglich wäre es dann für eine Kontaktaufnahme schon zu spät.«

Adams hatte dem Fremden interessiert zugehört und ihn dabei fasziniert beobachtet. Sotho Tal Ker hatte ein ausdrucksstarkes Mienenspiel. Wenn er log und diese Persönlichkeit nur vortäuschte, dann war er ein guter Schauspieler.

Da Adams schwieg, redete der Fremde weiter: »Der momentane Stand ist für mich untragbar. Im Asteroidengürtel fühle ich mich trotz des Antitemporalen Gezeitenfelds nicht sicher, zumal andere TSUNAMIS im Solsystem sind. Außerdem habe ich das Versteckspiel satt. Ich suche eine Unterkunft. Du kannst mich unterstützen, Gershwin Adams.«

»Wie stellst du dir das vor? Ich habe nicht die Macht, einem Fremden, der keineswegs schon über jeden Verdacht erhaben wäre, Asyl zu gewähren. Ich kann keine derartige Entscheidung treffen, weder allein ...«

»Du bist die Kosmische Hanse!«

Sotho Tal Ker sagte das so eindringlich und überzeugend, dass Adams es beinahe selbst geglaubt hätte. Der Fremde lachte dazu, und vielleicht gerade deshalb entfaltete dieser eine Satz seine Wirkung. Du bist die Kosmische Hanse! Das war Unsinn, aber irgendwie stimmte es dennoch. Die Aussage war unrichtig, weil Adams nie nach Macht strebte. Andererseits war er der Einzige, der mit Leib und Seele hinter der Hanse stand.

»Ich kann keine solche Entscheidung treffen«, wiederholte Adams. »Ich habe nicht die Befugnisse dafür. Trotzdem versichere ich dir ...«

»Du hättest die Möglichkeiten, Gershwin Adams«, unterbrach ihn Sotho Tal Ker mit strenger Miene. »Du hast NATHAN und den Stalhof. Ich weiß darüber ein wenig Bescheid. Dort kannst du mich verbergen, oder sagen wir besser: unter Quarantäne stellen. Ich bin bereit, mich dir auszuliefern. Nur dir persönlich. Dir vertraue ich als Person, nicht hingegen der Verwaltungsmaschinerie deines Volkes. Verstehst du? Ich lege mein Schicksal in deine Hand. Du kannst mich für die Dauer der Quarantäne auf Herz und Nieren prüfen. Nur musst du dich schnell entscheiden.«

»Herz und Nieren, hast du solche Organe überhaupt?«

Der Fremde lachte hell. »Dein Humor gefällt mir, Gershwin Adams«, bemerkte er augenzwinkernd.

»Warum tust du das alles?« Adams gab sich äußerlich unberührt, dabei hatte der Fremde seine Sympathie schon gewonnen. Adams suchte nur nach einer plausiblen Rechtfertigung, einer Ausrede gewissermaßen, die es ihm erleichterte, über seinen Schatten zu springen. »Und vor allem: Warum gehst du ein solches Risiko ein?«

»Ich will deine Freundschaft, Gershwin Adams«, antwortete Sotho Tal Ker. »Und ich suche die Freundschaft deines Volkes. Ich bin vierzig Millionen Lichtjahre weit dafür gereist.«

Adams gab sich geschlagen. Er stellte nur eine Bedingung: »Nenn mich nicht mehr Gershwin Adams, Sotho Tal Ker.«

»Einverstanden, mein Freund – Gershwin.«

Es war – mit NATHANS Hilfe, wohlgemerkt – eigentlich recht einfach, den Fremden unbemerkt nach Luna und in den Stalhof zu holen.

Sotho Tal Ker bestand aus Sicherheitsgründen darauf, den TSUNAMI im Asteroidengürtel zurückzulassen. Er schlug vor, den Weg nach Luna über Transmitter zurückzulegen, lehnte eine Direktverbindung indes ab. Darum erarbeitete Adams eine Route in drei Etappen.

Sotho Tal Ker sollte zuerst einen Hanse-Stützpunkt auf dem Mars aufsuchen, wo die drei eingeweihten Hanse-Sprecher ihn erwarten würden. Sie begleiteten ihn dann zu einer Station im interplanetaren Raum, und erst danach ging es zum Mond. Dieser letzte Empfängertransmitter war ausschließlich Hanse-Sprechern, Hanse-Spezialisten und deren Gästen vorbehalten.

Die letzte Hürde war das Sicherheitssystem des Stalhofs. Ohne NATHANS Unterstützung wäre diese Hürde nie zu nehmen gewesen. Jedenfalls erhielt Sotho Tal Ker von der Hyperinpotronik ein eigenes Erkennungssymbol. Sotho Tal Ker wählte als Symbol ein Dreieck, von dessen Mittelpunkt drei Pfeile zu den Spitzen wiesen. Auf die Frage, warum er gerade dieses Bild wollte, antwortete er: »Es ist mein Hoheitszeichen, das Symbol der drei Wege.«

Es war eine fast unwirklich anmutende Begegnung, als sich Adams und der Fremde endlich im Stalhof gegenüberstanden. Sotho Tal Ker brach das Eis spontan, als er Adams begrüßte: »Ich danke dir, mein Freund, für deine Gastfreundschaft. Dies könnte ein historischer Augenblick werden, der Beginn einer innigen Freundschaft unserer Völker.«

Er reichte Adams, den er um Haupteslänge überragte, seine lange, schmale Hand, und Adams griff, ohne zu zögern, fest zu.

Adams brannten viele Fragen auf der Zunge, doch er verschob sie auf später.

Sotho Tal Ker redete schon weiter: »Ich danke dir auch dafür, dass du alles Nötige für die Geheimhaltung getan hast. Die Transmitterstationen, über die ich kam, waren alle verlassen, kein Außenstehender weiß demnach von meiner Existenz. Gerade deshalb wundere ich mich, dass du drei Personen in unser Geheimnis eingeweiht hast.«

Adams war ein wenig überrascht von dem strengen Unterton und dem unverhohlenen Vorwurf, der in der Stimme des Fremden mitschwang.

»Celeste, Patricia und Timo waren bei mir, als mich dein erster Anruf erreichte«, sagte Adams, und zugleich ärgerte er sich darüber, dass dies wie eine Rechtfertigung klang. »Wir können uns auf sie verlassen, sie sind mir treu ergeben.«

Er blickte zu den drei Hanse-Sprechern, die den Fremden begleitet hatten, und merkte an ihren Gesichtern, dass etwas vorgefallen sein musste, das ihnen Unbehagen einflößte.

Sotho Tal Ker überspielte das kurze Stocken. »Ich sehe euch zwar sehr ähnlich, aber ich habe einige Eigenheiten, die auf meine andere Mentalität zurückzuführen sind. Unsere drei Freunde waren ein wenig schockiert, weil ich bei unserer Begegnung etwas überreagierte. Ich entschuldige mich für meinen Fauxpas, dass ich im ersten Moment an Verrat dachte.«

»Fauxpas ist gut«, sagte Timo Porante, der jüngste der drei Hanse-Sprecher. »Ich dachte, er würde bei unserem Anblick Amok laufen und uns in Stücke reißen.«

»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Adams irritiert.

»Timo übertreibt«, wehrte Patricia Kolmeth unsicher lächelnd ab. »Es wird so gewesen sein, wie unser Gast sagt. Unser Erscheinen kam unerwartet für ihn und entsetzte ihn. Er hat sich umgehend wieder gefangen, als wir ihm die Sachlage schilderten.«

»Das Ganze war mein Fehler«, gestand Adams ein. »Ich hätte Sotho Tal Ker auf euch als Empfangskomitee vorbereiten sollen.«

»Ich hätte nicht so heftig reagieren dürfen«, sagte der Fremde entschuldigend. »Als Erklärung kann ich nur mein angeborenes Misstrauen anführen. Ich muss vorsichtig sein – als Einziger meiner Art in einer fremden Galaxis.«

»Du hast immerhin den Vorteil, dass du sehr viel über uns weißt«, entgegnete Adams. »Im Gegenzug bist du weiterhin der große Unbekannte für uns.«

»Das ist richtig. Darum ist es nur gerecht, dass ich dir für alle Auskünfte zur Verfügung stehe, mein Freund. Ich habe keine Geheimnisse vor dir.«

»Du sagtest, dass ich dich auf Herz und Nieren prüfen kann«, erinnerte Adams. »Ich habe NATHAN veranlasst, das bereits zu tun.«

Es entstand ein gespanntes Schweigen. Sotho Tal Ker schien leicht in sich zusammenzusinken. Die drei Hanse-Sprecher musterten ihn aufmerksam.

»Negativ«, meldete NATHAN in dem Moment. »Ein unbekanntes energetisches Kraftfeld macht eine Analyse unmöglich.«

Der Fremde duckte sich förmlich. Der große Kopf reckte sich an einem abgewinkelten Hals nach vorne. Die ungelenkig wirkenden Arme waren nach hinten gedreht, die Schultern hoben sich, und der Unterkörper wurde nach vorn durchgedrückt. Sotho Tal Ker machte mehrere unsicher stelzende Schritte, die zugleich etwas Wiegendes an sich hatten.

»Stalker!«, sagte Adams aus einer Eingebung heraus, und der Fremde zuckte dabei zusammen, als wäre er geschlagen worden. Aber Adams war zufrieden damit, einen Spitznamen für den Fremden gefunden zu haben, mit dem er sich für das ungeliebte »Gershwin« revanchieren konnte. »Stalker!«, wiederholte er und fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Was für ein Spiel treibst du? Ist das deine Antwort auf meinen Vertrauensvorschuss? Was hast du zu verbergen, dass du dich mit einem unsichtbaren Schutzschirm umgibst?«

Sotho Tal Ker war über zwei Meter groß und wirkte trotz seines weiten, lose fallenden Umhangs schlank.

»Das ist nur eine weitere meiner Eigenarten«, gestand er schuldbewusst. »Ich bin einem Kodex unterworfen, der mein Verhalten bestimmt. Dagegen komme ich nicht an. Ich hätte dich vorwarnen sollen, Gershwin, ich weiß. Deshalb werde ich versuchen, alles zu erklären. Falls du danach befindest, dass dir unter den gegebenen Umständen der Umgang mit mir nicht zuzumuten ist, kannst du mich fortschicken. Aber eines kannst du niemals von mir verlangen: dass ich mich vor dir oder sonst jemandem entblöße. Das verbietet mein Kodex.«

Adams verzog den Mund. »Wenn du unter ›Entblößung‹ eine eingehende Untersuchung verstehst, werden wir nicht weit miteinander kommen, Stalker. Wenn du deine Tarnung nicht aufgibst, muss ich annehmen, dass du dem Dekalog der Elemente angehörst.«

Der Fremde ließ seine Linke über die Vorderseite seines Umhangs gleiten. Wo die Fingerspitzen das Material berührten, teilte es sich. Auf diese Weise entstand ein Schlitz, und als er lang genug war, schlüpfte Sotho Tal Ker hindurch und warf den Umhang ab.

»Ich zeige mich dir, mein Freund«, sagte er fast feierlich.

Unter dem Umhang trug er eine knappe, eng anliegende Kombination. Nun stellte sich heraus, dass er einen schmalen, fast tonnenförmig gewölbten Oberkörper hatte. Der Unterleib war nach vorn gereckt, das Becken nach hinten geknickt, so dass es aussah, als recke er das Gesäß. Das gab seiner Haltung etwas Aufreizendes, doch in der Bewegung kam das weniger stark zum Ausdruck.

Sotho Tal Ker verdrehte den Körper und verrenkte die Glieder, er bewegte den Kopf auf dem langen, kräftigen Hals, schnitt Grimassen und ließ seine Hände schwingende Bewegungen machen. Es schien, als vollführe er einen Tanz oder eine überzeichnete Pantomime. Es war zugleich eine Bewegungsstudie, und zu dieser Ansicht neigte Adams zusehends, je länger der Fremde vor ihm tänzelte.

Adams konnte nicht anders, er schmunzelte. Es erschien ihm geradezu rührend, mit welcher Naivität sich Sotho Tal Ker bemühte, sich dem Betrachter zu offenbaren. Er redete nur einmal während dieser Vorführung, und was er sagte, machte seine Anstrengung deutlich.

»Sieh mich an, das bin ich! So ist mein Körper. Und wenn du mir in die Seele blicken willst, dann sprich mit mir. Auf diese Weise – und nur so – kann ich mich dir ganz offenbaren, mein Freund.«

Er gab damit auch zu verstehen, dass man ihn nur so kennenlernen konnte und keineswegs durch irgendwelche Messungen. Sein Kodex, was immer sich dahinter verbarg, ließ eine nüchterne Analyse nicht zu.

Sotho Tal Kers Bewegungen waren kraftvoll und geschmeidig und verrieten in der Tat die Grazie eines Tänzers. Ohne den Umhang wurde deutlich, dass Arm- und Kniegelenke höher saßen als beim Menschen. Die Oberarme waren nur halb so lang wie die Unterarme. Ebenso nahmen die Oberschenkel nur ein Drittel der gesamten Beinlänge ein. Das verlieh seinem Gang etwas Stolzierendes, und auf gewisse Weise mutete er wegen der langen Unterschenkel zugleich gestelzt an. Die Bewegungen waren jedoch keineswegs eckig. Der Fremde erschien geschmeidig wie ein exotisches Raubtier und vorsichtig wie ein Pirschgänger. Erst bei diesen Überlegungen wurde Adams richtig bewusst, wie treffend die Bezeichnung »Stalker« in diesem Zusammenhang war.

Stalkers Hände, schmal und feinnervig, wiesen jeweils fünf Finger auf. Auch die nackten Füße waren fünfgliedrig und schmal – und zugleich ungewöhnlich groß wegen eines ausladenden Fersenbeins.

Er beendete seine Vorstellung mit einer schwungvollen Verbeugung, die grotesk ausfiel, weil er die schmalen Schultern weiter nach hinten durchdrückte, den Unterleib aber nicht zurückziehen konnte. Der vorgereckte Kopf geriet ihm dabei fast zwischen die Beine.

Als Sotho Tal Ker sich aufrichtete, flimmerte auf dem Brustteil seiner hellblauen Uniform das Dreieckssymbol silbern. Auch auf den Passen der Ärmel und der Hose leuchteten silberne Muster, ebenso auf den Schultern. Adams vermutete darin Rangabzeichen, die der Fremde nun erst zu erkennen gab.

Stalker sah sein vierköpfiges Publikum erwartungsvoll an. Celeste und Timo applaudierten begeistert, Adams und Patricia stimmten darin ein, als sie das freudige Leuchten in Stalkers Augen sahen.

»Danke«, sagte er ergriffen. »Ich bin froh, dass ihr mich akzeptiert. Ich wäre vor Gram gestorben, wenn meine Mission wegen eurer Ablehnung gescheitert wäre.«

Bei jedem anderen hätte das übertrieben gewirkt, nicht bei Stalker. Er wirkte so offen und ehrlich, dass alle ihm glaubten.

Zögernd breitete Stalker die Arme aus. »Hier wird für die nächste Zeit mein Zuhause sein«, sagte er. »Bis ihr mir euer volles Vertrauen schenkt und es wagt, mich den Völkern eurer Galaxis vorzustellen.«

»In welcher Mission bist du unterwegs?«, fragte Adams.

»Das sagte ich schon«, antwortete Stalker mit leichtem Staunen. »Das heißt, ich habe dir erst einen Teilaspekt verraten. Ich hoffe auf die Freundschaft der Terraner. Vor allem will ich sie nicht nur mit ideellen Werten erreichen, sondern zugleich durch Handelsbeziehungen zwischen unseren Völkern.«

»Sprichst du für dich allein? Oder bist du ein bevollmächtigter Vertreter deines Volkes? Welchen Status hast du, Stalker?«

»Ich habe einen ähnlichen Status wie du, Gershwin. Ich bin der Gesandte von ESTARTU. Als ich den TSUNAMI in der Peripherie der Galaxis Erendyra fand und mich aus den gespeicherten Daten über dein Volk informierte, da wurde mir schnell deutlich, dass ihr die richtigen Partner für ESTARTU sein könnt.«

»Wer ist ESTARTU?«

»Eine Superintelligenz wie euer ES. ESTARTU ist zugleich der Name für die Mächtigkeitsballung, zu der ein Dutzend Galaxien gehören. Und ESTARTU ist euer neuer Handelspartner – wenn ihr es wollt.«

»Darüber muss ausführlich geredet werden; das kann keine Ad-hoc-Entscheidung sein.«

Und sie redeten darüber. Je mehr Informationen Adams erhielt, desto stärker wurde seine Überzeugung, dass Stalker der Kosmischen Hanse eine reelle Chance bot, zu neuer Blüte zu gelangen. Adams konnte dem Fremden stundenlang zuhören, sobald er über die vielfältigen Möglichkeiten beiderseitiger Handelsbeziehungen sprach. Die gigantische Entfernung von 40 Millionen Lichtjahren tat er mit einer Handbewegung ab. Als Adams dennoch nicht lockerließ und immer weiter bohrte, ließ sich Stalker sein Geheimnis entlocken.

»ESTARTU verfügt über einen Raumschiffsantrieb, der praktisch unbegrenzte Geschwindigkeiten erlaubt«, erläuterte er. »Entfernungen dieser Größenordnung spielen deshalb keine Rolle.«

»Und warum hast du dann den zeitraubenden Flug mit dem TSUNAMI unternommen?«, erkundigte sich Adams.

»Ich brauchte diese Zeit, um mich hinreichend über meine neuen Freunde informieren zu können.«

Adams wunderte sich, dass niemand in der Milchstraße bislang ein Lebenszeichen von ESTARTU bekommen hatte. Er beantwortete seine Frage selbst mit der Vermutung, dass jede Superintelligenz die Grenzen ihrer Mächtigkeitsballung vermutlich eifersüchtig behütete.

»Es ist eher so, dass die Kosmokraten die Grenzen abstecken«, sagte Stalker darauf, und das in einem Tonfall, der Adams hellhörig werden ließ. Doch schon mit dem nächsten Satz wechselte er das Thema und schwärmte von den »Wundern von ESTARTU«.

Reden konnte Stalker wie kaum ein anderer. Einlullen ließ sich Adams davon nicht; er sorgte jedenfalls dafür, dass Stalker in den folgenden Wochen nie allein im Stalhof war. Stets musste wenigstens einer seiner drei Vertrauten anwesend sein. Stalker wurde eine von NATHAN abgesicherte Unterkunft zugewiesen, in die er sich zurückziehen konnte, sobald andere Hanse-Sprecher in den Stalhof kamen.

Adams verfolgte die Aktivitäten des Dekalogs der Elemente sehr viel aufmerksamer als zuvor, weil er nun nach Querverbindungen zu Stalker suchte. Dass er nicht einmal Andeutungen für mögliche Zusammenhänge aufspürte, beruhigte ihn. Besonders erleichtert war er, als sich Beweise dafür fanden, dass Kazzenkatt persönlich die Aktionen in der Eastside leitete. Damit fiel eine schwere Last von seinen Schultern.

»Kazzenkatt kannst du wenigstens nicht sein«, sagte er daraufhin zu Stalker, und sie lachten beide darüber.

Adams fasste immer mehr Zutrauen zu Stalker, auch wenn er manches an ihm als störend empfand. Stalker war der perfekte Verführer, zumindest erkannte Adams diese Wirkung. Stalker schaffte es jedenfalls, Adams für Dinge zu begeistern, die zuvor für ihn undenkbar gewesen wären. Schon das Risiko, einen Fremden im Stalhof unterzubringen, wäre er früher nie eingegangen. Stalker hatte ihn außerdem dazu gebracht, NATHAN zu manipulieren. Das war Verführung durch Motivation, nicht durch Beeinflussung.

»Ich hätte dich Mephisto nennen sollen«, sagte Adams scherzhaft.

»Stalker ist treffender«, erwiderte Sotho Tal Ker, und Adams glaubte ihm, dass er es tatsächlich so meinte. Adams fragte sich nur, in welcher Beziehung diese Bezeichnung auf ihn zutraf; es gab da mehrere mögliche Auslegungen.

Adams beruhigte sich schließlich damit, dass Stalker ihn nur verleiten konnte, Dinge zu tun, die er früher nie für möglich gehalten hätte, weil er selbst es so wollte. Weil er endlich das Schneckenhaus verlassen wollte, in dem er immer gelebt hatte. Etwas von Stalkers Selbstsicherheit färbte auf ihn ab. Und das lag eben weniger an der Verführungskunst des Fremden als an Adams' Bereitschaft, endlich die eingetretenen Pfade zu verlassen.

Sie verstanden sich mit jedem Tag besser. Adams speicherte alle Daten, die er von Stalker über ESTARTU erhielt, unter der Bezeichnung »Neuorganisation der Kosmischen Hanse zur Erschließung großer extragalaktischer Märkte«.

Dann kam es zu dem Warner-Zwischenfall, und dieser stellte ihre Beziehung auf eine harte Probe. Als Adams Stalkers Manipulationen erkannte, war er nahe daran, die ganze Sache platzen zu lassen. Er tat es nicht, und damit verstrickte er sich immer tiefer in Manipulationen, bis es keinen Ausweg mehr für ihn gab und ihm keine andere Wahl blieb, als die Angelegenheit bis zum Ende durchzustehen.

Nun stand das Finale vor dem Rat der Kosmischen Hanse bevor. Es würde die größte Entscheidung in Homer G. Adams' Leben bringen, so oder so.

3. Fernweh II

Tausende Raumschiffe aller Milchstraßenvölker waren der Endlosen Armada ins Solsystem gefolgt. In welchem Sonnensystem die Armadaeinheiten auch auftauchten, überall hatten sich ihnen Raumschiffe angeschlossen.

Angehörige aller Völker folgten der Endlosen Armada nach Terra, weil die Aktivierung dieses Chronofossils nicht nur für die Menschen Bedeutung hatte, sondern für die gesamte Milchstraße. Diese Überzeugung, so schien es, verbreitete die Armada während ihrer Durchquerung der Milchstraße. Nahezu alle kamen im Schlepp der Endlosen Armada – und sie erlebten das letzte Aufbäumen der Chaosmächte mit, als der Dekalog der Elemente die Finsternis in die Schlacht warf ...

Als alles vorbei war, wurden sie Zeuge der Aktivierung des bislang wichtigsten Chronofossils. Dieses Erlebnis vermittelte allen ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit, sie fühlten sich plötzlich als Galaktiker, als große Völkergemeinschaft. Die Saat der GAVÖK, der Galaktischen Völkerwürde-Koalition, ging nun erst richtig auf.

Dann kam die Zeit des Abschieds für die Endlose Armada. Das Umfeld des Solsystems lichtete sich nach und nach, weil zuerst das gewaltige Loolandre mit dem Armadaprinzen Nachor auf die Reise ging und eine Armadaeinheit nach der anderen folgte. Ein über Tage andauernder Prozess hatte begonnen ...

Nur die ungezählten Raumschiffe, die der Armada zum Solsystem gefolgt waren, blieben zurück. Ihre Passagiere spürten, dass noch etwas kommen würde, auf das sich zu warten lohnte ...

4. Schicksalssplitter

Argentina Galdo:

Mit dem Verschwinden der Virensäule aus Madrid war Argentina Galdos letzte Hoffnung geschwunden, ihren Geliebten je wiederzusehen. Gregor Manda war der Sturmreiter von Madrid gewesen. Argentina hatte ihn kennengelernt, als sie die Virensäule vor dem Palacio Real aufgesucht und statt mit dem Virenimperium mit dem Sturmreiter Kontakt bekommen hatte. Von da an waren Gregor und sie in seiner spärlich bemessenen Freizeit immer beisammen gewesen.

Dann war die Finsternis über die Erde hereingebrochen, und Argentina hatte weit weniger um das Chronofossil Terra gebangt als um ihren Geliebten. Leider war mit dem Großteil des Virenimperiums und der Finsternis auch Gregor verschwunden. Niemand konnte Argentina sagen, was aus ihm geworden war, er galt als vermisst.

Schließlich erhob sich die Virensäule, löste sich auf und schwebte als Wolke in den terranischen Orbit empor. Damit verschwand Argentinas letzte Hoffnung, Informationen über den Verbleib des Geliebten zu erhalten.

Sie würde Gregor nie wiedersehen. Argentina war wie benommen, nahm ihre Umgebung kaum noch richtig wahr und kümmerte sich vor allem nicht mehr darum, was die Galaxis bewegte. Die Endlose Armada, dieser gewaltige Heerzug aus Abermillionen von Raumschiffen, konnte ihr gestohlen bleiben. Sie war blind für die immer noch gigantischen Virenwolken, die Terra umgaben, und sie war taub für deren mentales Wispern.

Argentina Galdo durchstreifte verloren die ausgedehnte Parklandschaft Casa de Campo. Ihr fiel gar nicht auf, dass sie immer öfter Menschen begegnete. Da waren Einzelgänger wie sie, aber zunehmend häufiger auch Gruppen von Terranern und Angehörigen anderer Völker. Für Argentina waren alle irgendwie Luft, sie nahm keine Notiz von ihnen.

Erst als sie zu einem größeren See kam, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Am Ufer hatten sich schon viele Leute eingefunden, und es wurden immer mehr. Sie widmeten sich eigentlich nicht dem See, sondern starrten in die Höhe.

Argentina folgten den Blicken und sah, dass eine ausgedehnte Virenwolke langsam herabsank. In diesem Moment, als sie von ihrem Schmerz abgelenkt wurde, vernahm sie das seltsame Wispern.

Mach dich frei!, flüsterte es in ihr. Sei ungebunden! Löse dich von allen Banden und wirf die Fesseln ab! Sei einfach nur du!

Argentina öffnete ihren Geist weiter und gab sich dem lautlosen Flüstern hin. Es half ihr über ihre Einsamkeit hinweg. Sie fühlte sich auf einmal nicht länger verloren, sondern irgendwie den vielen unbekannten Menschen zugehörig. Zum ersten Mal seit Langem gebrauchte sie wieder bewusst ihre Sinne. Sie sah und hörte.

Die Virenwolke senkte sich auf den See herab. Sie erschien wie feiner Nebel, vermittelte jedoch zugleich den Eindruck materieller Beschaffenheit. Nebelfinger griffen zum Ufer und bildeten stabile Brücken.

Die Menschen zögerten, diese Übergänge zu betreten – oder verstanden sie die Einladung nicht?

Argentina dachte an ihren Freund Gregor. Sie betrat als Erste einen der von Viren gebildeten Stege. Es war eine eigenartige Empfindung, über Nebelschwaden zu schreiten und dabei keinen realen Boden unter den Füßen zu haben. Dennoch gab das Virengebilde ausreichenden Halt; Argentina sank nicht ein, sondern schwebte; sie glitt wie ... nun, eben wie auf Wolken dahin.

Gleich darauf stand sie in der Wolke. Die Nebelschwaden lichteten sich und wichen zurück, bis sich ein Hohlraum von gut zehn Metern Durchmesser um sie gebildet hatte. Die so entstandene Hohlkugel verformte sich ein wenig, verlor ihre Rundung und wurde zu einem Würfel ohne Kanten. Die Viren stabilisierten sich zu Wänden.

Ein Gefühl, eine lautlose innere Stimme, sagte Argentina, dass dies kein Gefängnis war und dass sie diesen Ort jederzeit wieder verlassen konnte. Sie war nicht eingeschlossen. Die Wände, so stabil sie auch schienen, blieben weiterhin so durchlässig wie in ihrer vorherigen Zustandsform.

Argentina brauchte nur daran zu denken – und schon lösten sich die Wände wieder in neblige Schleier auf. Sie konnte mit der Virenmasse spielen, sie formen, festigen und von Neuem diffundieren lassen. Das war ihr klar, obwohl ihr das scheinbar niemand gesagt hatte. Argentina erkannte, dass sich ihr das Virenimperium telepathisch mitteilte und ihr unaufdringlich das benötigte Wissen zukommen ließ.

Sie formte klar umrissene Gedanken, und plötzlich bildete sich aus der nebligen Virenmasse eine Konsole mit einem Holoprojektor und einem körpergerechten Kontursessel davor. Argentina nahm in dem Sessel Platz.

Sie dachte sehr konzentriert an ihren Geliebten. Als Sturmreiter hatte Gregor eine starke Bindung an das gesamte Virenimperium gehabt, nicht nur an jene Bereiche, die vom Element der Finsternis zerstört worden waren. Die Erinnerung an den Sturmreiter Gregor Manda musste demnach in den Resten des Virenimperiums erhalten sein.

»Wie kann ich den Holoprojektor bedienen?«, erkundigte sich Argentina laut. Sie war gar nicht verwundert, dass die Antwort ebenfalls laut und mit sanfter, dunkler Frauenstimme kam.

»Du kannst mich durch Gedankenkraft steuern, Tina«, sagte das Virenimperium. »Du brauchst dir nur etwas zu wünschen, und ich werde versuchen, deinen Wünschen zu entsprechen.«

»So einfach ist das?«, fragte sie und verlangte, ohne eine Antwort abzuwarten: »Projiziere mir aus deiner Erinnerung die Bilder, die du von Sturmreiter Gregor Manda hast!«

»Willst du das tatsächlich, Tina?«, fragte das Virenimperium. »Hast du es dir gut überlegt? Glaubst du nicht, dass solche Bilder nur neue Wunden aufreißen würden?«

Argentina war irritiert; sie hatte angenommen, dass das Virenimperium ihrem Wunsch nachkommen würde, ohne über Sinn und Zweck zu diskutieren.

»Kannst du mir keine Bilder von Gregor Manda liefern?«, fragte sie angriffslustig.

»Ich könnte«, antwortete das Virenimperium. »Aber wenn ich es tue, wird dich die Versuchung überkommen, deine unbewussten Wünsche zu nennen. Und die werde ich unter keinen Umständen erfüllen. Ich bin dir voraus, Tina, und weiß schon, was als Nächstes kommen wird. Ich will dir nur eine Enttäuschung ersparen.«

Argentina schluchzte trocken; sie fühlte sich durchschaut und verraten. Das Virenimperium hatte recht. Sie verlangte das Holo ihres Geliebten mit einem Hintergedanken.

»Sind die Viren nicht mehr mächtig genug, um alles aus sich zu machen?«, fragte sie.

»Obwohl ich den größten Teil meiner Masse verloren habe, bestehe ich weiterhin aus omnipotenten Viren«, erklärte das Virenimperium. »Ich habe entschieden, mich all jenen zum Geschenk zu machen, die mich brauchen. Ich könnte alles aus mir entstehen lassen, doch mein Verantwortungsbewusstsein verbietet mir das. Gewisse Grenzen darf ich einfach nicht überschreiten.«

Argentina wurde zornig. Sie wusste, wozu das Virenimperium imstande war, schließlich hatte es vor nicht zu langer Zeit schon Ernst Ellert zu einem neuen Körper verholfen.

»Du musst mir Gregor zurückgeben!«, verlangte sie. »Du kannst ihn für mich erschaffen. So, wie du schon Ellert geholfen hast.«

»Das darf ich nicht«, entgegnete das Virenimperium sanft. »Ich weiß nicht, was aus Sturmreiter Manda geworden ist. Vielleicht lebt er noch und wurde vom Element der Finsternis lediglich an einen fernen Ort verschlagen ... Warum suchst du ihn nicht?«

Argentina Galdo blickte ungläubig ins Leere. »Ihn suchen? Wo? Vor allem: wie?«

»Die Milchstraße ist groß. Ich kann dir weder garantieren, dass du deinen Geliebten findest, noch dass er tatsächlich lebt. Aber ich kann dir helfen, deinen Schmerz zu überwinden. Es hilft niemandem, dir selbst am wenigsten, wenn du dich vor Selbstmitleid und Sehnsucht zerfleischst. Schau nach vorn! Vor dir liegt ein ganzes Leben – und ein Universum voller Wunder und Rätsel. Reiß die Brücken zur Vergangenheit nieder und lebe für die Zukunft.«

»Ich soll ...?« Argentina fröstelte. Nicht aus Angst vor dem Wagnis, in einen neuen Lebensabschnitt einzutreten, sondern wegen der unglaublichen Wucht dieser Überlegung. Bislang hatte sie nicht das geringste Verlangen verspürt, Terra zu verlassen. Mit einem Mal erschien ihr diese Idee vielversprechend und gar nicht als Flucht vor den Problemen, die sie bedrückten.

»Du wärst nicht allein, Tina«, redete ihr das Virenimperium zu. »Um dich – innerhalb dieser Virenwolke – sind viele Gleichgesinnte. Manche von ihnen haben mich ebenfalls unter falschen Voraussetzungen aufgesucht. Genau wie du konnten sie ihre Wünsche nicht richtig artikulieren. Eigentlich willst du gar keinen Ersatz für deinen Geliebten. Nichts könnte dir Gregor ersetzen, und ein Doppelgänger würde dich immer nur daran erinnern, dass du falsche Gefühle pflegst. Es wäre eine Flucht vor der Wirklichkeit, nichts als falscher Schein. Wenn du in dich gehst, wirst du erkennen, dass ich recht habe. Stell dich den Tatsachen, ich helfe dir dabei.«

Argentina ließ das Gesagte auf sich wirken. Sie schwieg lange, bis sie fragte: »Was hast du mir zu bieten, Virenimperium?«

»Das ganze Universum als Lebensraum für eine neue Existenz.«

»Das hört sich vielversprechend an«, sagte Argentina und war der Verlockung bereits erlegen.

Leos Kindergarten:

Es war ein phantastischer Anblick, als die Wolke sich am Rand der Bungalowsiedlung niederließ und den von der Finsternis verwüsteten Pflanzengürtel überdeckte. Leonard Frood und Anne Piaget beobachteten staunend, wie sich die gewaltige Wolke veränderte und Formen ausbildete.

Nach einer nicht genau zu bestimmenden Zeitspanne war die Virenwolke zu einem großen flachen Gebilde mit würfelförmigen Aufbauten geworden.

»Ich schätze, es sind an die achtzig Aufbauten«, flüsterte Anne Leonard zu, dem Gründer des Kinderdorfs.

»Sie sind eine verkleinerte Nachbildung unseres Kindergartens.« Leo lächelte, obwohl er nicht recht wusste, was das bedeuten sollte. Auf jeden Fall war er gerührt, dass das Virenimperium sich ihnen zur Verfügung stellte. »Das sieht fast aus wie eine Wiedergutmachung für die von der Finsternis angerichteten Zerstörungen.«

Anne blickte ihn fragend an. »Könnte Srimavo dahinterstecken?«, fragte sie.

»Vielleicht hat Sri nachgeholfen.« Leo antwortete, obwohl ihm keineswegs nach Reden zumute war. »Aber das allein kann es nicht sein. Ich vermute, dass an vielen anderen Orten Ähnliches vorgeht.«

»Was bezweckt das Virenimperium damit?«

Leo schwieg. Er hatte sich eben etwas überlegt und eine vage Vorstellung entwickelt, was dem Virenmodell seines Kindergartens zur Vervollkommnung fehlte. Und kaum gedacht, da sah er diesen Gedanken schon real werden. Aus der Plattform schoben sich transparente Wände vor die Aufbauten, wölbten sich und bildeten ein kuppelförmiges Dach. Auf den freien Flächen zwischen den Bungalows begannen Pflanzen zu sprießen.

»Xenoforming«, murmelte Anne. »Ich verstehe das nicht.«

»Ich habe eine Ahnung«, sagte Leo mit belegter Stimme. Er musste sich räuspern, um überhaupt noch ein Wort herauszubekommen. »Weck die Kinder! Sie sollen sehen, welches Wunder sich hier vollzieht.«

»Und du?«

»Geh schon!«, drängte er.

Anne Piaget lief zögernd in Richtung des Hauptgebäudes. Als sie sich auf halbem Weg umwandte, sah sie, dass Leo auf das Virengebilde zu ging, das wie ein leicht abgewandeltes Modell der Siedlung aussah. Die Nachbildung wirkte kompakter und in sich geschlossener. Anne fragte sich, ob die Zöglinge auf diesem engen Raum ausreichend Bewegungsfreiheit haben würden ... Es kam allerdings darauf an, wofür diese Nachbildung gedacht war.

Leo hatte inzwischen das Virengebilde erreicht. Er tastete über das kühle, glatte Material und suchte nach einem Zugang ins Innere. Tatsächlich öffnete sich nach wenigen Sekunden vor ihm ein Türschott.

»Tritt ein!«, sagte eine sanfte, tiefe Frauenstimme. »Hab keine Scheu, Leonard Frood. Ich habe dein Rufen gehört und bin ihm gefolgt.«

»Ich habe nicht gerufen«, entgegnete er, während er durch eine kurze Röhre in eine kahle, steril wirkende Kammer eintrat. Er war enttäuscht, obwohl er nicht zu sagen vermocht hätte, was er erwartet hatte.

»Es liegt an dir, die Inneneinrichtung zu gestalten«, sagte das Virenimperium.

Leonard Frood wurde schlagartig bewusst, dass die Virenwolke seine Gedanken gelesen hatte.

»Ich weiß nicht ...«, sagte er unsicher und räusperte sich. »Ich weiß nicht, welche Einrichtung zweckmäßig wäre.«

»Was hättest du am liebsten?«

Leos Gedanken überschlugen sich. Er stellte sich dieses Gebilde als neue Heimstätte für seine Zöglinge vor – und tat es zugleich als ungeeignet ab. Dies war kein Ersatz für seinen Kindergarten. Alles war nüchtern, kalt und ohne wohlige Atmosphäre.

»Warum scheust du dich, das auszusprechen, was du möchtest?«, ermunterte ihn das Virenimperium. »Ich gehöre dir, Anne und euren Zöglingen. Ihr könnt mich nach euren Wünschen gestalten. Nicht einmal die ungewöhnlichste Idee wäre zu phantastisch, um realisiert zu werden. Ich kann alles aus mir machen. Die Viren sind omnipotent und werden jede Form, Konsistenz und Eigenschaft annehmen. Sind sie jedoch spezialisiert, dann verlieren sie ihre Wandlungsfähigkeit. Was ihr aus mir macht, das wird von Bestand sein. Es gilt also gut zu überlegen, welche endgültige Form ihr mir geben wollt.«

Leos Gedanken wirbelten im Kreis. Erst allmählich wurde ihm bewusst, dass sie sich nur um einen Vorfall drehten. Es war die Erinnerung an jenen Augenblick, als Ernst Ellert die Virensäule auf dem Platz vor dem Hauptquartier der Kosmischen Hanse verließ, nachdem er sie viele Tage lang blockiert hatte.

Die Medien hatten jenes Schauspiel übertragen, und nun sah Leo wieder vor seinem geistigen Auge, wie sich eine Virenwolke auf Ellert herabsenkte. Aus der Virenwolke war ein Raumschiff in Form eines stilisierten Vogels geworden.

Dieser Anblick hatte Leo in seinen Bann geschlagen und ihn seither nicht wieder losgelassen.

ZUGVOGEL – so hatte Ernst Ellert sein Virenraumschiff genannt. Von da an hatte sich Leonard Frood ebenfalls einen solchen »Zugvogel« gewünscht.

»Warum zögerst du?«, ermunterte ihn das Virenimperium. »Glaubst du mir nicht, dass dieses Virenfragment euch gehört? Zweifelst du daran, dass es nach euren Wünschen geformt werden kann?«

»Du kannst wirklich alles aus dir machen, was wir wollen?«, vergewisserte sich Leo.

»So ist es.«

»Auch ein Raumschiff?«

»Sogar ein Raumschiff«, bestätigte das Virenimperium.

Anne kam mit etlichen Kindern. Als sie den kahlen Raum betraten, erweiterte sich dieser, um sie alle aufnehmen zu können.

»Wir haben unser eigenes Raumschiff, Freunde«, eröffnete Leo den Zöglingen. »Und wir dürfen es nach unseren Bedürfnissen gestalten und ausbauen. Leos Kindergarten ist nicht länger an die Schwerkraft Terras gebunden, sondern wird demnächst seinen Jungfernflug zu den Sternen antreten.«

Er zog Anne Piaget an sich. Zugleich stürmten die Zöglinge mit lautem Hallo los, um das Virenschiff zu erobern.

Patriarch Patermo:

Solman Patermo war ein Springer wie aus dem Bilderbuch: groß und korpulent, ein Hüne von über zwei Metern. Er war ein polterndes Raubein mit brandroter, zu Zöpfen geflochtener Mähne – durch und durch ein Patriarch. Auf der PAT-PRAMAR war sein Wort Gesetz, wer dagegen verstieß, hatte wenig zu lachen.

Mit dem Flug über 34.000 Lichtjahre bis ins Solsystem hatte Solman sich eindeutig übernommen. Nahe bei Terra waren sogar die Normaltriebwerke des vor sehr langer Zeit einmal stolzen Flaggschiffs der Sippe fast ausgebrannt; der Walzenraumer konnte kaum noch manövrieren. Kurz bevor das Element der Finsternis über Terra hergefallen war, hatte eine Raumstation die PAT-PRAMAR angefunkt und verlangt, auf größere Distanz zu gehen. Die alles verschlingende Finsternis hatte Solman davor bewahrt, die Manövrierunfähigkeit eingestehen zu müssen.

Nun meldete sich die Raumstation zum wiederholten Mal und gab Kursdaten vor. »Entweder ihr geht in die euch zugewiesene Kreisbahn, oder ...«

Solman hörte nicht mehr hin. Seine Aufmerksamkeit galt plötzlich den Resten des Virenimperiums, die den Heimatplaneten der Terraner wie feiner Nebel umhüllten. Es war für ihn, als käme von den Virenwolken eine lautlose Botschaft. Sie ließ ihn weit in die unbekannte Tiefe des Weltraums blicken, zu fernen Galaxien und darüber hinaus. Dorthin wollte er.

Der Kommandant der Raumstation aktivierte einen Traktorstrahl, der die PAT-PRAMAR einfing und stabilisierte. Zudem schickte er die Rechnung für diese Aktion: 5433 Galax. Zu allem Übel zog der Traktorstrahl das Schiff immer weiter weg von den wie Wattebäusche schwebenden Virenwolken.

»Wir wollen in die entgegengesetzte Richtung«, schimpfte der Springer-Patriarch. »Wir sind manövrierunfähig und können uns aus eigener Kraft nicht den Virenwolken nähern.«

»Eben darum seid ihr eine Gefahr«, lautete die lakonische Antwort. »Repariert eure Schrottwalze, das ist die einzige Möglichkeit ...«

Solman Patermo war ein gebrochener Mann, dem das Fernweh und die eigene Hilflosigkeit schlimmer zu schaffen machten, als er jemals zugegeben hätte. Eine Stimme in ihm schien dieses Fernweh noch zu schüren, indem sie ihm all die Wunder anpries, die in unbekannter Weltraumferne seiner Sippe harrten. Solman träumte mit offenen Augen davon, dass die Patermo-Sippe eine intergalaktische Handelsorganisation gründete ...

... aber die PAT-PRAMAR entfernte sich weiter von den Virenwolken, und schließlich trieb sie im freien Fall von Terra fort.

Dann geschah das Unerwartete. Eine Virenwolke kam näher und passte sich in geringem Abstand der Fahrt des Walzenraumers an.

»Das ist unsere Rettung!«, erkannte Solman; er war fast zu Tränen gerührt. »Wir räumen das Schiff und übersiedeln auf die Wolke. Nehmt unsere ganze Habe mit. Ampor, rechne aus, was die Verschrottung dieses Wracks kosten wird. Genau den Betrag lassen wir zurück. Die Kosten des Traktorstrahls ignorieren wir.«

Die meisten in seiner Nähe behaupteten, dass Solman den Verstand verloren habe, aber er blieb dabei, dass die Virenwolke für sie alle die Rettung sei. »Die Viren sagen es mir«, erklärte er. »Sie laden uns ein, an Bord zu kommen und über sie zu verfügen. Hört das denn keiner außer mir?«

Obwohl Solman Patermo keineswegs alle Familienmitglieder überzeugen konnte, wechselten viele mit ihm zur Virenwolke über.

Solman machte einen ersten Rundgang. Vorerst war das Innere der Wolke wenig beeindruckend. Die innere Stimme sagte ihm jedoch, dass alles sich nach Belieben formen ließ. Da er ein traditioneller Springer war, wünschte er sich eine 200 Meter lange Walze.

Die Virenmasse nahm dieses Aussehen an.

Solman Patermo zwirbelte nachdenklich seine Bartzöpfe, während er die Inspektion fortsetzte. Es gab unendlich viel zu berücksichtigen. Selbstverständlich musste die Möglichkeit geboten sein, Wohnzellen aufzustocken, sobald eine Familie Zuwachs bekam. Besonders wichtig war, dass der Patriarch nicht die Übersicht verlor und stets seine sorgende Hand über alle halten konnte. Auf der PAT-PRAMAR hatte es damit nicht zum Besten gestanden – nun musste alles anders werden.

Solman brauchte seine Ideen nur detailliert zu denken, schon veränderte sich die Virenwolke nach seinen Wünschen. Er staunte darüber gar nicht mal so sehr, sondern nahm es beinahe schon als selbstverständlich hin.

»Die Triebwerke müssen robuster sein als die meines alten Schiffes«, sagte er laut.

»Das Triebwerk ist wartungsfrei, du würdest sagen, selbstregenerierend«, entgegnete das Virenschiff.

»Klingt nicht schlecht. Und wie steht es mit der Geschwindigkeit? Ich möchte schneller im Rusumasystem sein als mir der Bart wächst.«

»Das kann ich garantieren.«

»Die Reichweite?«

»Praktisch unbegrenzt.«

»Ich komme damit jederzeit bis Magellan oder Andromeda und wieder zurück?«

»Nach Magellan, nach Andromeda, sogar sehr viel weiter«, antwortete das Virenschiff geduldig.

»Was ist das für ein Antrieb?«, erkundigte sich Solman, von einem aufkeimenden leichten Misstrauen getrieben.

»Du kannst ihn als Enerpsi-Antrieb bezeichnen. Er ermöglicht die Fortbewegung entlang des psionischen Netzes, das dieses Universum durchzieht. Die erreichbare Geschwindigkeit kommt der Absoluten Bewegung nahe.«

Solman nahm die Antwort gelassen hin.

»Bist du im Service inbegriffen?«, fragte er. »Du hast eine Stimme wie eine begehrenswerte Frau. Eine solche fehlt mir bislang zu meinem Glück.«

Das Virenschiff lachte. »Derartige Wünsche kann ich nicht erfüllen. Lebewesen will ich nicht erschaffen. Darüber hinaus kannst du alles haben. Bislang hast du dir noch kaum Gedanken über die technische Einrichtung gemacht.«

»Das überlasse ich meinem Schwager«, sagte Solman herablassend. »Aber ich möchte eine Kommandozentrale wie ein Thronsaal: Sitzbezüge aus echter terranischer Seide; aus Diamant geschliffene Kontrollleuchten; überall Verzierungen aus Howalgonium und anderen Hyperkristallen ...«

»Überlege dir, ob du vielleicht Dinge von praktischem Nutzen brauchst«, redete ihm das Virenschiff zu. »Reichtümer kannst du auf deinen Reisen zu fernen Welten erwerben. In Wahrheit verabscheust du synthetisches Glück, Solman, oder? Lebensfreude, echte Lebensfreude, kann niemand programmieren. Du kannst sie nur erreichen, indem du lebst.«

In Solmans Hinterkopf entstanden bereits andere Gedankenbilder. Sie priesen ihm die Reisen zu fernen Galaxien, die Erforschung fremder Welten und Kulturen und die damit verbundenen Abenteuer als wahre Erfüllung an. Er sah ein, dass er kurzfristig auf Abwege geraten war.

Solman dachte an die vielen Tausend Virenwolken, die noch im Orbit über Terra schwebten. Zweifellos hatten alle ähnliche Eigenschaften wie diese, die sich ihm angeboten hatte, und waren potenzielle Raumschiffe. Wenn er sich beeilte, konnte er die Wolken der Reihe nach aufsuchen und schon eine beachtliche Handelsflotte für sich aufbauen.

»Schade«, sagte das Virenschiff bedauernd und begann sich vor Solmans Augen aufzulösen. Alles, was er sich in mühevoller Gehirnakrobatik erarbeitet hatte, drohte wieder zu zerfließen.

Solman Patermos Träume von Macht und Herrlichkeit zerplatzten wie eine Seifenblase.

»Halt! Nein!«, rief er entsetzt. »So war es nicht gemeint. Ich habe schon verstanden. Ich gebe mich mit einem Raumschiff zufrieden, wenn es wenigstens nur fliegt.«

5. Die Maske fällt

»Es wird Zeit, Stalker«, sagte Homer G. Adams.

»Hast du dir alles gut überlegt?«, fragte Sotho Tal Ker.

Adams rieb sich das Kinn. »Es gibt keine andere Möglichkeit«, antwortete er und ahmte Stalkers Tonfall nach. »Die Stunde der Wahrheit ist gekommen, und eigentlich wurde es Zeit.«

Der große Humanoide wich leicht zurück. Sein Kopf blieb weiterhin leicht vorgereckt, in seinem derben Gesicht zuckte es nervös. »Was geschieht, wenn deine Freunde gegen dich stimmen?«, fragte er. »Hast du das bedacht? Was willst du in dem Fall tun?«

»Ich werde zurücktreten«, antwortete Adams lakonisch. »Mich endgültig von der galaktischen Bühne zurückziehen. Hast du mitbekommen, was mit den Virenwolken um Terra passiert? Möglicherweise hätte ich dort ebenfalls eine gute Chance.«

»Du kannst nicht abdanken«, widersprach Stalker. »Die Kosmische Hanse ist dein Leben. Also musst du dich durchsetzen, um jeden Preis. Vielleicht wäre es besser, wenn du mich für dich sprechen lässt ...«

»Nein!« Adams' Stimme klang so schneidend, dass Stalker erneut zusammenzuckte. »Du hast mir schon genug eingebrockt. Die Sache mit dem Warner könnte uns zu Fall bringen.«

»Du weißt, wie alles gemeint war, Gershwin«, entgegnete Stalker bedrückt. »Ich hatte die besten Absichten, es ist nur ein wenig aus dem Ruder gelaufen.«

»Du hast dich sehr zweifelhafter Methoden bedient.« Adams machte eine abschließende Handbewegung, eine Geste, die wie ein Schlussstrich anmutete. »Aber lassen wir das. Die Hanse-Sprecher sollen abstimmen – und ich werde mich ihrem Urteil beugen.«

Bevor sie den Stalhof verließen, hielt Stalker Adams zurück und fragte: »Glaubst du, es könnte schaden, wenn ich die Warner-Erscheinung noch einmal annehme?«

»Warum willst du dich hinter dem silbernen Schutzschirm verstecken?« Ein Hauch von Irritation erschien plötzlich in Adams' Blick.

»Nicht verstecken ...«, antwortete Stalker. »Ich glaube, dass es eine gelungene Überraschung wäre, wenn ich zu deinen Erläuterungen die Tarnung aufgebe. Außer dir und NATHAN weiß bislang niemand, wer der Warner war. Nicht einmal die drei Hanse-Sprecher erinnern sich an mein Aussehen.«

Auch Ronald Tekener erinnert sich nicht an dich, ergänzte Adams in Gedanken. Trotzdem schwieg er.

Stalker wertete das Schweigen als Zustimmung. Binnen Sekunden wurde sein Körper von einem silbernen Flimmern eingehüllt.

Sie verließen den Stalhof. Adams stellte umgehend eine Verbindung zu NATHAN her. »Das Hanse-Siegel von Sotho Tal Ker ist augenblicklich zu löschen!«, ordnete er an.

»Hanse-Siegel gelöscht!«, bestätigte NATHAN.

»War das nötig?«, fragte Stalker. Als silberner Schemen begleitete er Adams zum Transmitterraum. Mehrmals legte er eine Schrittfolge ein, die an den Stepptanz erinnerte, den er als Warner praktiziert hatte. Ein ungleicheres Paar als die beiden konnte man sich kaum vorstellen.

»Wie die Sache auch ausgeht, in den Stalhof wirst du nicht zurückkehren«, stellte Adams fest.

»Selbstverständlich nicht«, bestätigte Stalker.

In der Transmitterhalle wurden sie von zwei Frauen und einem Mann erwartet. Es handelte sich um die drei Hanse-Sprecher Celeste Maranitares, Patricia Kolmeth und Timo Porante. Adams hatte keine andere Wahl gehabt, als sie zu suspendieren und für eine Weile nach Olymp zu schicken. Sie waren zu tief in die Angelegenheit verstrickt gewesen und hatten deshalb untertauchen müssen.

Adams schüttelte jedem von ihnen die Hand. »Ich brauche euch als Zeugen«, sagte er und lächelte ermunternd. »Zweifellos werdet ihr rehabilitiert und bekommt euer Stimmrecht zurück.«

Sie nickten. Patricia, die Älteste der drei, musterte aus zusammengekniffenen Augen die silberne Flimmererscheinung Stalkers. »Wir werden für dich stimmen, Homer«, sagte sie.

»Dann also los.« Adams atmete hörbar aus.

Sie ließen sich nacheinander zum HQ Hanse im Zentrum Terranias abstrahlen. Dort wurden sie von einer Eskorte erwartet, die sie in den Sitzungssaal geleitete.