Perry Rhodan 46: Der Todessatellit (Silberband) - Clark Darlton - E-Book

Perry Rhodan 46: Der Todessatellit (Silberband) E-Book

Clark Darlton

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Beschreibung

Dank Perry Rhodans genialem Schachzug ist die Menschheit einem verheerenden Bruderkrieg entgangen: Die angreifenden Flotten des Imperiums Dabrifa und anderer gegnerischer Sternenreiche stießen buchstäblich ins Leere. Im Schutz des Antitemporalen Gezeitenfeldes befindet sich das Solsystem nun um fünf Minuten in der Zukunft, unangreifbar durch Feinde von außerhalb. Doch die Terraner wirken aus ihrem Versteck heraus weiterhin in der Galaxis. Dabei stoßen sie mehrmals auf die gefährlichen Energieblasen der Accalauries, die aus einem Antimaterie-Universum kommen. Sie versetzen die Bewohner der Milchstraße in Angst und Schrecken. Als es endlich zur Verständigung mit den Fremden kommt, macht einer von ihnen im Solsystem eine furchtbare Entdeckung: Die Sonne steht kurz davor, sich in eine alles Leben verschlingende Nova zu verwandeln. Schuld daran ist ein geheimnisvoller Todessatellit, den Unbekannte vor 200.000 Jahren in der Tiefe der Sonne installierten. Die Tage der solaren Menschheit scheinen gezählt zu sein .

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Seitenzahl: 631

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Nr. 46

Der Todessatellit

Dank Perry Rhodans genialem Schachzug ist die Menschheit einem verheerenden Bruderkrieg entgangen: Die angreifenden Flotten des Imperiums Dabrifa und anderer gegnerischer Sternenreiche stießen buchstäblich ins Leere. Im Schutz des Antitemporalen Gezeitenfeldes befindet sich das Solsystem nun um fünf Minuten in der Zukunft, unangreifbar durch Feinde von außerhalb.

Doch die Terraner wirken aus ihrem Versteck heraus weiterhin in der Galaxis. Dabei stoßen sie mehrmals auf die gefährlichen Energieblasen der Accalauries, die aus einem Antimaterie-Universum kommen. Sie versetzen die Bewohner der Milchstraße in Angst und Schrecken.

Vorwort

Zum zweiten Mal in der PERRY-RHODAN-Serie (nach den Druuf) wird in diesem Buch die Begegnung von Wesen aus zwei verschiedenen Universen geschildert. Es ist allerdings das erste Mal, dass der Bearbeiter sich dabei zu vergegenwärtigen hat, unter welchen immensen Schwierigkeiten der Transit von einem Universum zum anderen in der aktuelleren Handlung der Heft-Erstauflage vonstatten gegangen ist (gemeint sind die Reisen vom und ins Universum Tarkan, Stichwort Strangeness).

Insofern ist es gut, dass das Geheimnis der Accalauries, wie sie »zu uns« gekommen sind, auch ein solches bleibt. Andere Universen sind, genau wie die Zeit, ein ebenso faszinierendes wie gefährliches Thema. Die Gefahr, sich in Widersprüche zu verzetteln, ist gewaltig. Entsprechende Passagen wurden daher »entschärft«. Und andere Universen, wozu brauchen wir die, solange es in unserem eigenen noch so viele Rätsel und Geheimnisse gibt, wie etwa das um die Konstrukteure des Todessatelliten und ihre Herkunft?

Als die Romane geschrieben wurden, die diesem Buch (und Zyklus) zugrunde liegen, fühlten sich die Autoren unter dem Zwang, »immer weiter« hinaus zu müssen, um der Handlung des vorigen Zyklus immer wieder noch eins draufzusetzen. Dass dies überhaupt nicht nötig gewesen wäre, wird sich in den nächsten Büchern eindrucksvoll zeigen. Es kommt nicht auf Lichtjahre und technische Rekorde an, sondern darauf, was im bekannten Rahmen verborgen auf uns wartet – und darauf, entdeckt und geweckt zu werden ...

Die Autoren des 46. PERRY RHODAN-Buches sind schnell genannt. H. G. Ewers verfasste die Originalromane (in Klammern die Heftnummern): Das neue Element (407), Gefahr von Sol (412), Die Sonnenforscher (413), Der Supermutant (416) und Report eines Neandertalers (421). Von Clark Darlton stammen die Romane Freunde aus einem anderen Universum (415) und Die Rätsel der Vergangenheit (420).

Mein besonderer Dank gilt diesmal den Machern des »PERRY RHODAN-Zeitraffers« vom PR-Club UNIVERSUM um Hans-Dieter Schabacker. Der dritte Band dieses vorbildlichen, mit viel Engagement und Mühe erstellten Werks über die einzelnen Zyklen und Romane (!) der Serie war mir eine wertvolle Hilfe bei der Erstellung dieses und der nächsten Bücher, von denen der Leser verlangen darf, dass sie nicht unter den oft noch konfusen Handlungssprüngen des 400er Zyklus an gewohnter Qualität verlieren. Lückenfüller und Romane mit unhaltbaren Aussagen werden konsequenter ausgelassen als gewohnt – dafür kommt die Handlung an sich schneller voran, ohne dass die »Highlights« wegfallen. Eine Hauptaufgabe des Bearbeiters ist und war immer, die zu verschiedenen Zeiten in der PR-Serie getroffenen Aussagen bis zum aktuellen Stand der Hefterstauflage stimmig zu machen.

Das ist nicht leicht, aber eine immer wieder stimulierende Aufgabe.

Zeittafel

1971 – Perry Rhodan erreicht mit der STARDUST den Mond und trifft auf die Arkoniden Thora und Crest.

1972 – Mit Hilfe der arkonidischen Technik Aufbau der Dritten Macht und Einigung der Menschheit.

1976 – Das Geistwesen ES gewährt Perry Rhodan und seinen engsten Wegbegleitern die relative Unsterblichkeit.

1984 – Galaktische Großmächte (Springer, Aras, Arkon, Akonen) versuchen, die aufstrebende Menschheit zu unterwerfen.

2040 – Das Solare Imperium ist entstanden und stellt einen galaktischen Wirtschafts- und Machtfaktor ersten Ranges dar.

2326–2328 – Gefahr durch die Hornschrecken und die Schreckwürmer. Kampf gegen die Blues.

2400–2406 – Entdeckung der Transmitterstraße nach Andromeda; Abwehr von Invasionsversuchen von dort und Befreiung der Andromeda-Völker vom Terrorregime der Meister der Insel.

2435–2437 – Der Riesenroboter OLD MAN bedroht die Galaxis, und die Zweitkonditionierten erscheinen mit ihren Dolans, um die Menschheit für angebliche Zeitverbrechen zu bestrafen. Perry Rhodan wird in die ferne Galaxis M 87 verschlagen. Nach seiner Rückkehr Kampf um das Solsystem. Rhodans Sohn Roi Danton wird im entscheidenden Kampf gegen die Erste Schwingungsmacht getötet.

3430–3432

Prolog

Seit den dramatischen Ereignissen, die in der Vernichtung der Uleb durch die Okefenokees aus M 87 gipfelten und die Bedrohung der Menschheit durch die Erste Schwingungsmacht und deren Helfer endgültig beendeten, sind 993 Jahre vergangen. Auf Terra und den Welten des Solaren Imperiums schreibt man den Monat Oktober des Jahres 3430.

Die Menschheit existiert inzwischen nicht mehr als geschlossene Einheit. Die meisten Kolonialwelten haben sich vom Solaren Imperium gelöst, drei große Machtblöcke sind in der Milchstraße entstanden. Daneben gibt es eine Reihe von Interessenbünden und Gruppierungen wie die kosmischen Prospektoren, die Piraten Tipa Riordans oder die geheimnisvollen Wissenschaftler.

Terra, die Mutterwelt, hat keine Möglichkeit mehr, die gegenwärtig 5813 von Menschen besiedelten Sonnensysteme zu kontrollieren oder politisch zum Besten der galaktischen Menschheit zu lenken. Die Gefahr, dass sich die neuen Imperien eines Tages gegen die Stammwelt wenden würden, sah Perry Rhodan schon vor langer Zeit voraus und entwickelte mit seinen besten Spezialisten einen so genannten Fünfhundertjahresplan, um im Ernstfall unvorstellbares Blutvergießen in einem galaktischen Bruderkrieg zu verhindern.

Dieser Ernstfall kommt, als die drei großen Sternenreiche sich verbünden, um dem Solaren Imperium den Todesstoß zu versetzen. Perry Rhodan ordnet den »Fall Laurin« an, und das gesamte Solsystem wird um fünf Minuten in die Zukunft versetzt und damit unangreifbar. Es ist dennoch nicht isoliert, denn über die so genannte Temporalschleuse hält man mit Vertrauten überall in der Realzeit Verbindung. Anson Argyris, ein Vario-500-Roboter in der Maske des »Kaisers« des Freihandelsplaneten Olymp, präsentiert sich der Galaxis als legitimer Nachfolger Perry Rhodans und organisiert die geheime Versorgung des Solsystems mit Gütern aller Art.

Perry Rhodan nimmt also weiterhin rege, wenn auch unerkannt, am galaktischen Geschehen teil. Und dies ist auch nötig, denn die Bewohner der Milchstraße sehen sich mit zwei Gefahren konfrontiert, die fast zeitgleich auftauchten: die Energieblasen der aus einem Antimaterieuniversum stammenden Accalauries und der Terror des Supermutanten Ribald Corello, der ganze Planeten geistig versklavt.

Corello, so weiß man inzwischen, ist der Sohn des beim Amoklauf der Mutanten im Jahr 2909 umgekommenen Kitai Ishibashi und des Anti-Mädchens Gevoreny Tatstun. Er glaubt nicht an Rhodans Tod und verfolgt mit unstillbarem Hass sein Ziel, das Solsystem und Rhodan zu finden und zu vernichten.

1.

März 3432

Der Planet Obsunthys schimmerte auf dem Frontsektor der Panoramagalerie wie ein blauweiß leuchtender Edelstein. Derbolav de Grazia nickte seinem Vetter zu, der die ROSSA OBERA flog.

»Bei einer Distanz von hunderttausend Kilometern steuerst du das Schiff in einen Orbit. Ich werde unterdessen die Raumhafenkontrolle von Obsunthys City anrufen.« Juan Mellone-Grazia nickte. Sein feistes Gesicht glänzte vor Schweiß.

Auch Derbolav de Grazia schwitzte. Er murmelte eine Verwünschung und wischte sich die Feuchtigkeit von der Stirn.

Die verdammte Klimaanlage funktionierte wieder einmal nicht einwandfrei. Aber was war das schon. Die ROSSA OBERA war schließlich kein Luxusschiff. Da konnte schon mal etwas ausfallen.

Derbolav stapfte auf das Schott zu, das die Kommandozentrale mit der Funkkabine verband. Unwillkürlich zog er den Kopf ein, als er durch die Öffnung trat. Zu oft in seinem Leben hatte er sich schon den Schädel an zu niedrigen Türen angestoßen, so dass er bereits instinktiv reagierte. Mit 2,01 Meter Größe überragte er eben das Normalmaß.

»Soll ich die Kontrolle anrufen, Chef?«, fragte der Funker.

»Nein«, entgegnete Derbolav, »lass es mich lieber selbst tun. Seit seiner Blamage mit Olymp ist Imperator Dabrifa ziemlich gereizt, und etwas davon hat bestimmt auf seine Leute auf den anderen Planeten abgefärbt.«

Der Funker machte ihm wortlos Platz.

Derbolav de Grazia schaltete den Kanal ein, der auf Dabrifa-Welten von den Raumfahrtkontrollen verwendet wurde.

»Hier Prospektorenschiff ROSSA OBERA, Grazia-Sippe!«, sagte er mit seiner volltönenden Stimme. »Ich rufe Hafenkontrolle Obsunthys City. Bitte kommen!«

Ungeduldig runzelte er die Stirn, als sich die Bodenstation nicht gleich meldete. Er wechselte einen Blick mit dem Funker.

Da flammte der Schirm auf. Aber er zeigte nicht das Gesicht des Kontrollbeamten, sondern nur das Symbol von Obsunthys City. Das war ungewöhnlich und schien Derbolavs Bedenken zu bestätigen.

»Hier Kontrolle Raumhafen Obsunthys City«, meldete sich eine befehlsgewohnt klingende Stimme. »An ROSSA OBERA: Drehen Sie ab und verlassen Sie unverzüglich dieses System. Ende!«

Die Adern an Derbolavs Schläfen schwollen an. Dennoch klang die Stimme des Sippen-Patriarchen gelassen, als er erwiderte:

»Ich bin gekommen, um der Staatlichen Minengesellschaft Proben von Prälumonium zu übergeben und wegen der Überlassung einer fündigen Mine zu verhandeln. Mein Name ist Derbolav de Grazia. Erkundigen Sie sich bei Nebenstellendirektor Gladwich. Wir haben schon mehrmals Abschlüsse getätigt. Ende!«

Einige Sekunden lang herrschte Schweigen, dann ertönte die Stimme des unsichtbaren Gesprächspartners erneut. Sie klang bestimmt, aber etwas irritiert.

»Ich bestreite nicht, dass Sie mit den angegebenen Absichten kamen, Patriarch Grazia. Aber es liegt ein Imperatorbefehl vor, und dagegen kann auch Direktor Gladwich nichts machen. – Soeben sehe ich, dass Ihr Schiff den Anflugkurs beibehält. Ich warne Sie. Kehren Sie sofort um, oder ich lasse das Feuer auf Sie eröffnen!«

»Das ist doch ...!«, schimpfte de Grazia. »Sie behindern den freien interstellaren Handel, Mann!«

Er schwieg erbittert, als das Symbol der Hafenkontrolle erlosch. Alle möglichen Gedanken schossen ihm durch den Kopf, aber alle denkbaren Gründe erschienen ihm nicht stichhaltig.

Gewiss, die Spannungen zwischen den drei alliierten Imperien hatten in den letzten Wochen zugenommen. Gleichzeitig waren die Energieblasen der so genannten Accalauries immer öfter in der Galaxis aufgetaucht. Diese unbekannten Wesen aus einem vermuteten Antimaterie-Universum schienen etwas in der Galaxis zu suchen. Dabei kam es immer wieder zu Katastrophen, wenn ihre Raumschiffe landeten. Doch die verheerenden Explosionen waren offensichtlich Unglücksfälle und keine Aggressionsakte. Sie konnten nicht der Grund dafür sein, weshalb plötzlich kein friedliches Prospektorenschiff mehr auf Obsunthys landen durfte.

Derbolav de Grazia erhob sich und kehrte schweigend in die Kommandozentrale zurück.

Juan Mellone-Grazia wandte ihm den Kopf zu.

»Schlechte Laune, Chef? Was hat ...«

Er erbleichte, als das Licht einer mächtigen Explosion die Zentrale ausleuchtete. Vor der ROSSA OBERA stand ein blauweiß strahlender Glutball im Raum.

»Abdrehen!«, befahl Derbolav. »Das war eine Transformbombe und wahrscheinlich die letzte Warnung.«

Sein Vetter reagierte bereits. Die starken Antriebsmaschinen im achtzig Meter durchmessenden Kugelleib der ROSSA OBERA brüllten auf. Der verwehende Glutball der Explosion wanderte im Frontschirm nach Steuerbord. Die ROSSA OBERA verzögerte mit Maximalwerten und wich gleichzeitig nach Backbord aus.

Derbolav atmete auf, als keine weitere Explosion mehr erfolgte. Von Obsunthys hatte man offenbar das Manöver der ROSSA OBERA registriert und daraus geschlossen, dass der Patriarch der Grazia-Sippe die Warnung verstanden hatte.

»Was nun?«, fragte Juan nach einiger Zeit. »Von dem Prälumonium-Geschäft wollten wir die Generalüberholung des Schiffes finanzieren. Wir brauchen dringend das Geld, Chef.«

Derbolav de Grazia stand breitbeinig neben seinem Vetter, die muskulösen bloßen Arme über der Brust gekreuzt. Sein sommersprossiges Gesicht war gerötet, die Augen zusammengekniffen.

»Man behandelt uns Prospektoren wie Hunde, denen man einen Fußtritt geben darf, wenn sie stören«, grollte er. »Aber dieser Dabrifa wird noch die Quittung dafür bekommen. Schade, dass wir so dringend Geld brauchen, sonst würde ich nie mehr mit Dabrifa-Gesellschaften handeln.«

Er sah den Kosmonautiker an.

»Nimm Kurs auf den Planeten Labrone, Demicheit-System. Wir versuchen es dort.«

Ärgerlich ließ er sich in einen Sessel fallen.

Die Geschäfte waren in letzter Zeit schlecht gegangen. Wie alle Prospektoren, so lebte auch die Grazia-Sippe davon, dass sie Erzlagerstätten auf besitzerlosen Planeten fand, eine Ausbeute-Analyse erstellte und Proben mitnahm.

Das durchdringende Summen des Ortungsalarms riss den Patriarchen aus seinen Grübeleien. Er stülpte seinen Funkhelm über und fragte:

»An Ortung! Was gibt es?«

»Treibendes Kugelraumschiff geortet!« Die Daten folgten. »Durchmesser achtzig Meter, keine Energie-Emissionen. Wahrscheinlich ein Wrack, Chef.«

Derbolav spürte, wie jeder Muskel seines Körpers sich anspannte.

»Danke! Weitere Daten ermitteln. – Juan, du wirst das Schiff vorsichtig in die Nähe des Wracks manövrieren. Am besten so, dass das Wrack genau zwischen der ROSSA OBERA und Obsunthys steht. Ich möchte wissen, was das zu bedeuten hat.«

Er klappte das Innenfach seiner Rückenlehne auf und zog die schwarze Raumkombination hervor. Während er sie anzog, beorderte er drei seiner Leute in den Schleusenhangar der kleinen Pinasse.

»Willst du rüber, Chef?«, fragte Juan.

Derbolav grinste.

»Die hervorstechendste Charaktereigenschaft eines Prospektors ist seine Neugier, Vetter. Ohne diese Eigenschaft kann er seinen Beruf gar nicht ausüben.«

»Hier Ortung!«, tönte es aus den Lautsprechern des Funkraums. »Das andere Schiff wurde durch Transformbeschuss zerstört. Es dürfte nur noch ein ausgeglühtes Wrack sein. Ein Wunder, dass seine Deuteriumvorräte nicht explodierten.«

»Wahrscheinlich änderte es unmittelbar vor dem Beschuss den Kurs und wurde nicht direkt getroffen«, meinte Derbolav de Grazia nachdenklich. »Möglich, dass es ebenfalls auf Obsunthys landen wollte.«

Er nahm den Funkhelm ab, klappte den Druckhelm des Raumanzugs nach vorn und aktivierte den Helmtelekom. Anschließend überprüfte er den Schirmprojektor. Das Gerät konnte ein HÜ-Feld um seinen Träger erzeugen und war in der fünfundzwanzig Zentimeter durchmessenden Gürtelschnalle installiert. Es handelte sich bei dem Projektor um eine sehr leistungsfähige siganesische Konstruktion.

Derbolav gab seinem Vetter Juan einige Anweisungen, dann begab er sich in den kleinen Schleusenhangar, wo die angeforderten drei Männer ihn bereits vor der Pinasse erwarteten. Sie waren wie ihr Patriarch mit Kombistrahlern bewaffnet. Vielleicht war es eine Art abergläubische Furcht vor dem Unbekannten, die sie auf Antigravaggregate verzichten ließ, die geortet werden konnten.

Einer meldete die Pinasse startklar. Derbolav wies ihnen ihre Aufgaben zu, dann stiegen die vier Männer in das kleine Verbindungsboot. Sekunden später wurde es vom Feldkatapult in den Raum geschleudert.

Der Patriarch steuerte die Pinasse selbst. Aus zusammengekniffenen Augen starrte er hinüber zu dem schwarzen Fleck, der den größten Teil des Lichts von Obsunthys verdeckte. Die blaue Sonne des Systems stand schräg über dem Wrack. Gleißende Lichtreflexe zuckten auf, wenn das Wrack taumelte und gezackte Metallteile der Sonne zuwandte.

Derbolav schluckte.

In einer Entfernung von fünfhundert Metern schaltete er die starken Bugscheinwerfer ein. Die runden Lichtflecken tasteten sich gespenstisch über erstarrte Metallschmelze, geborstene Hangartore und die Fäden kondensierten Metalldampfes an der Polkuppel.

»Da lebt niemand mehr«, sagte einer seiner Begleiter mit tonloser Stimme.

»Wir nehmen trotzdem den Medokasten mit«, bestimmte der Patriarch.

Er visierte drei Stellen rings um die aufgewölbten Ränder einer Schleuse an und verankerte die Pinasse mit drei Magnetfeldern an dem Wrack. Danach schloss er das Helmvisier. Seine Begleiter taten es ihm nach.

»Nehmt euch vor scharfen Kanten in acht!«, meinte Derbolav. »Mir nach! Wir versuchen, in die Zentrale zu gelangen.«

Sie zwängten sich in die Schleusenkammer. Als das Außenschott lautlos auffuhr, warf Derbolav de Grazia sich hinaus. Seine Hände zeigten auf die zerstörte Schleuse des Kugelschiffes. Sekunden später landete er mit den Füßen am Rand. Es machte ihm nichts aus, dass Millimeter hinter seinen Absätzen der unendliche Abgrund des Weltraums begann. Wer im Raum geboren worden war – wie die meisten Prospektoren –, wer vertrauter mit dem All war als mit jedem beliebigen Planeten, der fürchtete sich nicht davor.

Er schaltete den Scheinwerfer auf dem Brustteil seiner Raumkombination an und musterte das ebenfalls aufgeplatzte Innenschott der Schleusenkammer. Neben ihm landeten unterdessen seine Begleiter.

»Die Schiffszelle muss so schnell und so stark erhitzt worden sein, dass die Bordatmosphäre sich explosionsartig ausdehnte.«

Derbolav sah sich nach dem Mann um, der das gesagt hatte.

»Sieht so aus«, meinte er kurz angebunden. Er korrigierte dabei seinen Stand, der durch die Kopfbewegung gefährdet worden war. In dem Wrack herrschte keine messbare Schwerkraft mehr.

Der Patriarch leuchtete in den Gang hinter dem Innenschott. Dann wechselte er seinen Scheinwerfer in die Helmhalterung. Mit beiden Füßen stieß er sich leicht ab, gleichzeitig warf er die Arme nach hinten, so dass sie sich beinahe über den Schulterblättern berührten. Die Summe der Bewegungsimpulse ließ ihn waagrecht, mit dem Kopf voran, in das Wrack schweben.

Langsam und scheinbar mühelos schwebte er durch den Gang. Der Lichtfleck des Helmscheinwerfers geisterte über geborstene Wände und die kümmerlichen Überreste eines Transportbandes. Derbolav »schwamm« in den Achsliftschacht und bremste, indem er mit den Händen und Füßen zugleich die gegenüberliegende Wandung leicht berührte. Erneut stieß er sich mit den Füßen ab und schwebte nunmehr nach »oben«. Der Liftschacht endete genau in der Zentrale. Derbolav schlug einen Salto im Zeitlupentempo und schwebte danach in etwa zwei Metern Höhe.

Nacheinander erschienen seine Begleiter, vollführten die gleiche Bewegung und hingen dann neben ihrem Patriarchen.

Niemand sagte ein Wort.

Das, was von der Zentralebesatzung übriggeblieben war, verriet nur zu gut, welchen Tod die Männer gestorben waren. Wenigstens musste es ein rascher gewesen sein.

Hier war nichts mehr zu tun.

Derbolav de Grazia glaubte nicht daran, dass in irgendeinem anderen Teil des Wracks noch jemand lebte. Dennoch befahl er die Durchsuchung. Wenigstens sollte sich feststellen lassen, wie der Name des Schiffes lautete.

Die vier Männer schwebten nach vier verschiedenen Richtungen davon. Derbolav merkte bereits im ersten Raum, dass er sich vermutlich im Wrack eines Prospektorenschiffs aufhielt. Der Raum war ein Laboratorium gewesen, und in der Schmelzlache des Plastiktisches schimmerten mehrere Lachen weißlichen Metalls: Erzproben, die von einem Planeten stammten, dessen Position nun sicher unbekannt bleiben dürfte.

Plötzlich stutzte Derbolav. An der linken Wand musste ein Regal aus wenig widerstandsfähigem Material gestanden haben. Jedenfalls war nur grauer Staub davon übriggeblieben.

Aber in dem Staub lagen drei rechteckige Metallplatten, die in keiner Weise verformt waren. Ja, die Hitze hatte sie nicht einmal verfärbt!

Der Patriarch überschlug im Kopf die Temperaturen, die hier während der Katastrophe geherrscht haben mussten. Er kam auf einen Wert zwischen acht- und zehntausend Grad Celsius. Selbst Terkonit hätte sich dabei verformt.

Derbolav schwebte hinüber und nahm die oberste Platte in die Hände. Sie maß ungefähr zwanzig mal dreißig Zentimeter und hatte eine irisierende Färbung.

Derbolav strich mit der behandschuhten Rechten über die Platte. Er war nicht nur Kosmonaut – das waren alle Prospektoren –, sondern hatte auf den besten Universitäten im Solaren Imperium auch Geologie, Mineralogie und Metallurgie studiert. Anschließend hatte er fast zwei Jahrzehnte lang praktische Erfahrungen auf diesen Gebieten gesammelt. Deshalb ahnte er nicht nur, er wusste, dass dieses Metall bisher noch nirgends verwendet worden war.

Wer die Lagerstätten des betreffenden Erzes kannte, würde die interstellare Industrie in der Hand haben.

Derbolav lachte lautlos.

Aber nicht, wenn man nur ein Prospektor war, führte er seinen Gedankengang weiter. Dann hätte man ein Heer von Spitzeln und Mördern auf dem Hals.

»Chef ...!«

»Ja?«, fragte Derbolav mit rauer Stimme.

»Ich habe einen gefunden, einen Lebenden. Im Tresor.«

»Ich komme sofort!«, rief Derbolav zurück.

Mit Tresor war die Panzerkammer gemeint, in der alle Erz- und Mineralienproben lagerten, die die Sippe jemals eingebracht hatte. Dieser Raum war gut dazu geeignet, einen Menschen zu schützen.

In wenigen Minuten stand Derbolav de Grazia in der Schleusenkammer des Tresors. (Hier mussten, einem ungeschriebenen Gesetz zufolge, alle Proben zuerst einer Vakuum-Gasbehandlung unterzogen werden, bevor sie eingelagert wurden.)

Das Außenschott schloss sogar noch. Doch dauerte es noch sechs Minuten, bevor auch das Innenschott sich öffnete.

»Ich musste die Atmosphäre per Hand abpumpen, Chef«, entschuldigte sich der Mann, der Derbolav entgegensah.

»Schon gut«, meinte der Patriarch. Er schwebte an ihm vorbei auf das Bündel zu, das vom Kombigürtel an einer Regalverankerung gehalten wurde. Ein verbranntes Gesicht stach gegen die mit der Körperhaut verschmolzene Kombination ab. Die Augen darin waren vor Schmerz getrübt. Dennoch erkannten sie de Grazia.

»Derbolav ...!«, hauchte der Sterbende kaum vernehmbar.

Derbolav de Grazia runzelte die Stirn und lauschte dem Klang der Stimme nach.

»Ich ... bin's«, flüsterte der Sterbende. »Pray But...« Die Stimme erlosch. Der Sterbende hatte das Bewusstsein verloren.

Derbolav öffnete die Hände und krampfte sie wieder zusammen.

»Pray Butseh«, murmelte er betroffen.

Pray Butseh, der gute »Opa Pray«, lag vor ihm. Und er würde sich niemals mehr aus eigener Kraft erheben können. Derbolav schloss die Augen. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem seine Eltern beim Kampf gegen unorganisierte Piraten umgekommen waren. In ihrem zerschossenen Schiff waren sie vor Derbolavs Augen niedergemacht worden. Die Banditen hätten auch Derbolav de Grazia getötet, wenn Pray Butseh mit seiner Sippe nicht aufgetaucht wäre. Ein Jahr lang blieb Derbolav bei Butseh, bis die Überlebenden seiner Sippe den Kauf eines neuen Schiffes finanzieren konnten. Anschließend wurde Derbolav der Obhut seines Großvaters übergeben, doch der Kontakt zu Pray Butseh war erhalten geblieben, und im Scherz nannte der heutige Patriarch seinen Lebensretter von damals oft »Opa Pray«.

»Du hast mich damals gerettet«, flüsterte er, »und ich komme heute zu spät.«

Er zuckte zusammen, als Butseh sich bewegte. Der alte Patriarch der Butseh-Sippe stöhnte, dann öffnete er die Augen und sah Derbolav an.

»Einmal ist jeder dran, mein Sohn«, sagte er mit völliger Klarheit.

Er winkte ab, als Derbolavs Begleiter nach dem Medokasten griff.

»Keine Betäubungsmittel! Lasst mich wenigstens bei vollem Bewusstsein hinübergehen. – Komm näher zu mir, Derbolav!«

Derbolav de Grazia beugte sich über den Alten. Die Tränen rannen ihm über die Wangen; er machte sich nichts daraus.

Pray lächelte plötzlich und scheinbar unmotiviert.

»Ich freue mich, dass du es bist, der mich in meiner letzten Stunde besucht, mein Sohn.« Seine Lippen verzerrten sich unter einem Schmerzanfall. Aber er kämpfte den Schmerz nieder. »Ich habe nicht mehr viel Zeit. Deshalb werde ich mich kurz fassen. Hinter mir, in einer Kapsel aus Atronital-Compositum, findest du positronische Aufzeichnungen über einen Planeten namens Maverick und ein Mineral namens Ynkelonium-Erz, das sich als Veredlungskomponente zur Legierung mit Terkonitstahl eignet.«

Pray Butseh schloss die Augen. Seine Kiefer mahlten knirschend aufeinander. Er litt unsagbare Schmerzen, aber er kämpfte sich noch einmal zur Oberfläche des Bewusstseins empor.

»In der Zentrale liegen Proben einer Ynkelonium-Terkonit-Legierung, Derbolav. Diese Legierung besitzt die dreißigfache Festigkeit reinen Terkonitstahls; ihr Schmelzpunkt liegt bei etwa hunderttausend Grad Celsius.«

Der Blick des Sterbenden trübte sich.

»Ich schenke es dir, Derbolav. Mach's gut, mein Junge!«

Die Gesichtszüge verzogen sich zu einem Lächeln, dann fiel der Kopf ruckartig zur Seite.

Pray Butseh war tot.

Derbolav de Grazia glaubte noch nichts von dem, was der alte Prospektor ihm berichtet hatte. Aber er hatte die Stahlplatten gesehen. Falls sich herausstellte, dass sie nicht aus dem seltenen Atronital-Compositum bestanden, dann ...

2.

Mai 3432

Derbolav de Grazia wachte mit einem Schrei auf.

Sofort stellte der Schlaftank seine Bemühungen ein, die eingegebenen Befehle auszuführen.

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Sir?«, fragte der Servocomputer höflich.

Der Patriarch starrte in die beruhigend wirkenden Lichtmuster der Tankwände. Er erinnerte sich, dass er dem Computer vor dem Einschlafen befohlen hatte, ihn pünktlich um neun Uhr mit einer Eisluftdusche und anschließendem Infrarotlichtbad zu wecken.

Deshalb also war der Traum anders verlaufen als die Wirklichkeit, dachte er. Denn es war Wirklichkeit, dass er vor etwa acht Wochen von der Raumhafenkontrolle des Dabrifa-Planeten Obsunthys abgewiesen worden war, dass man die ROSSA OBERA beschossen hatte und dass er später das Wrack eines Prospektorenschiffes und darin seinen väterlichen Freund Pray Butseh sterbend vorgefunden hatte.

Dennoch blieb in Derbolavs verwirrtem Geist eine Spur von Zweifel. Deshalb bat er den Servocomputer um eine Datumsdurchsage.

»Nach Standardzeitrechnung haben wir heute den ersten Mai des Jahres dreitausendvierhundertzweiunddreißig«, schnarrte die Computerstimme diensteifrig.

Nun erst atmete Derbolav endgültig auf.

»Danke!«, entfuhr es ihm. »Programm normal zu Ende führen!«

Er seufzte wohlig, als der Massageroboter ihn mit Zitrusöl besprühte und anschließend mit seinen Druck- und Zugfedern den ganzen Körper systematisch durchknetete. Ein anderes Roboterelement wusch ihm die Haare, massierte den Haarboden mit Warmluftfeldern und flocht anschließend den handlangen Zopf im Nacken des Prospektors neu.

Als der Schlaftank ihn freigab, reckte sich Derbolav de Grazia. Wohlgefällig betrachtete er dabei das Spiel seiner Muskeln im Feldspiegel.

Ärgerlich verzog er das Gesicht, als der Interkommelder summte.

»Bitte!«, rief er laut.

Der Interkom nahm es als Befehl zur Aktivierung.

Auf dem 3-D-Bildschirm entstand das Abbild von Juans Gesicht. Es verzog sich zu einem flüchtigen Grinsen, als Juan seinen Vetter und Patriarchen nackt sah. Dann sagte er:

»In zehn Minuten verlassen wir den Linearraum. Wir befinden uns dann vierzehn Lichtstunden von der Sonne Syl Pato entfernt. Ich dachte mir, dass du das Kommando dann selbst übernehmen solltest.« Er verzog das Gesicht, als hätte er in einen sauren Apfel gebissen. »Meine Meinung kennst du ja.«

Der Patriarch nickte.

Was den Planeten Angerook anging, waren er und sein Vetter Juan gegenteiliger Meinung. Juan hielt das Risiko für zu groß.

»Ich bin in zehn Minuten oben«, sagte er. Mit »oben« meinte er die Kommandozentrale der ROSSA OBERA, obwohl sie auf dem gleichen Deck wie die Kabine des Patriarchen lag. Aber die Raumfahrt als Nachfolgerin der Seefahrt hatte zahlreiche der alten Begriffe übernommen und pflegte sie.

Eilig kleidete Derbolav de Grazia sich an. Er begnügte sich, wie meist, mit einem enganliegenden Unterdress und einer schwarzen Raumkombination darüber. Auf den Schultern befand sich das Wappen der Grazia-Sippe, die 3-D-Darstellung einer blau leuchtenden Phantasieblume in einem schwarzen Kraterloch. Die runde, fünfundzwanzig Zentimeter durchmessende Gürtelschnalle enthielt einen HÜ-Schirmprojektor siganesischer Konstruktion; im zur Montur gehörenden Halfter lag ein moderner Strahler. Der zusammengefaltete Helm verbarg sich unter dem steifen Zierkragen der Kombination.

Eine halbe Minute vor dem Linearraumaustritt nahm Derbolav seinen Platz in der Zentrale ein. Er bemerkte zwar die gespannte Atmosphäre an Bord, kümmerte sich jedoch nicht darum.

Als das Dröhnen des Linearkonverters verstummte und die Sterne des Normalraums sichtbar wurden, schaltete Derbolav das Elektronenteleskop ein. Das stark vergrößerte Abbild des Planeten Angerook wurde auf eine Schirmwand projiziert.

»Sieht unbewohnt aus«, bemerkte Juan Mellone-Grazia.

»Man merkt, dass du jahrelang nicht bei der Sippe gewesen bist«, erwiderte Derbolav ironisch. »Angerook, der zweite Planet des Syl-Pato-Systems, ist tatsächlich unbewohnt. Es handelt sich um eine erdgroße heiße Wüstenwelt mit mittleren Temperaturen von 48 Grad Celsius am Äquator. Wasser gibt es nur in einem relativ kleinen Ozean und in zwei subplanetarischen Kavernen, die allerdings einige Billionen Hektoliter fassen. Die Gebirge bestehen größtenteils aus aktiven Vulkanen. Vegetation ...« Derbolav zuckte die Schultern. »... Vegetation in unserem Sinne gibt es nur in unmittelbarer Wassernähe. Sonst in Form von hartem Pseudoginster, der seine Nährstoffe aus der Luft bezieht und mit Hilfe der Sonnenenergie umwandelt. Niemand würde in den nächsten hunderttausend Jahren auf die Idee kommen, Angerook zu besiedeln.«

Er lachte.

»Deshalb werden die Terraner ihn auch als Flottenmagazin ausgebaut haben.«

»Ich glaube noch immer nicht, dass wir einfach in ein terranisches Flottenmagazin eindringen und uns selbst ›bedienen‹ können«, murmelte Juan skeptisch.

Der Patriarch grinste breit. Die übrigen Prospektoren in der Zentrale grinsten mit, denn sie kannten das Geheimnis von Angerook, im Unterschied zu Juan Mellone-Grazia, der sich damals gerade zu einer Spezialausbildung an der Universität von Terrania befunden hatte.

Damals ...

Derbolav de Grazia blickte lächelnd auf den Projektschirm, ohne das Bild darauf bewusst wahrzunehmen. Er merkte auch nicht, dass er erzählte, während die Bilder der Erinnerung entstiegen und sich vor deinem geistigen Auge formten.

»Wir hatten drei Wochen zuvor eine der subplanetarischen Kavernen angebohrt. Dabei waren wir auf Lagerstätten seltener Migmatite gestoßen, also auf Mischgesteine, die durch Ultrametamorphose entstehen. Nachdem ich die ersten Analysen durchgeführt hatte, beschloss ich, einen Transportschacht zur Ozeankaverne anzulegen und einige Sammelroboter einzusetzen, um ausreichend Proben zu erhalten.

Wir flogen mit der ROSSA OBERA zum Mars und erwarben das benötigte Material und die Sammelroboter zu einem günstigen Preis. Wieder auf Angerook gelandet, vergrößerten und verkleideten wir den Schacht und tarnten ihn gegen Ortung aus dem Raum. Anschließend richteten wir in einer Nebenkaverne des Ozeans eine labormäßige Trennungsanlage ein.

Eines Tages arbeitete ich mit Porka und Loody im Labor, da hörten wir plötzlich Bohrgeräusche. Es waren die charakteristischen Geräusche von Desintegrationswirbelfeldern und den dazugehörigen Absaugfeldern.

Selbstverständlich gingen wir der Sache nach. Zwar war Angerook als Planet des Solaren Imperiums im Galaktischen Register eingetragen, aber noch niemals hatten wir Anzeichen dafür entdeckt, dass die Terraner sich auf Angerook niederlassen wollten. Es konnte also möglich sein, dass die Bohrgeräusche von anderen Prospektoren stammten. In dem Fall hätten wir selbstverständlich unsere älteren Rechte geltend gemacht.

Wir brachten überall an den Felswänden Schallsonden an und werteten ihre Messungen aus. Wer beschreibt unsere Verblüffung, als wir feststellten, dass jemand dabei war, in nächster Nähe der Kaverne einen riesigen Hohlraum anzulegen und von dort aus drei Tunnel in die Kaverne selbst vorzutreiben.

Es konnte sich also kaum um Prospektoren handeln.

Wir verhielten uns still und legten uns auf die Lauer. Nach wenigen Stunden brachen drei Spezialfahrzeuge durch die Felswand, ganz in der Nähe des Meeres. Sie zogen sich wieder zurück und hinterließen Tunnel von kreisförmigem Querschnitt und etwa zweieinhalb Meter Durchmesser. Kurze Zeit später krochen die Schlepperköpfe von drei Versorgungsschläuchen aus den Tunnelmündungen. Sie zogen die mächtigen Schläuche hinter sich her und schleppten sie ins Meer, wo sie in sechshundert Metern Tiefe verankert wurden.

Porka, der früher beim Raumpionierkommando der Solaren Flotte gedient hatte, schloss aus diesen Tatsachen darauf, dass jemand ein großes subplanetares Magazin anlegte; die Versorgungsschläuche dienten teilweise der Gewinnung von Feuchtigkeit für die Klimaanlage, hauptsächlich aber der Förderung von Wasser zur Erzeugung hochkatalysierten Deuteriums, das für die Kraftwerke der Kältestationen, Luftumwälzungsanlagen und Überwachungscomputer benötigt wurde.«

Derbolav erwachte aus seinem tranceähnlichen Zustand und lächelte verlegen.

»Habe ich fantasiert?«

»Keineswegs, Chef«, antwortete der Astrogator. »Was du erzählt hast, stimmt aufs Haar.«

Juan Mellone-Grazia schüttelte grinsend den Kopf.

»Du bist wirklich ein genialer Gauner, Chef! Wie ich dich kenne, habt ihr damals eine Verbindung zu dem geheimen Flottenmagazin hergestellt, bevor die Überwachungscomputer aktiviert waren.«

Derbolav de Grazia hob vielsagend die Hände und ließ sie auf die Seitenlehnen seines Kontursessels fallen.

»Bei allen Berggeistern, Juan, was hätte ich anders tun sollen! Die terranischen Baukommandos haben mich faktisch dazu gezwungen, mich mit ihrer Anlage zu befassen. Ich wäre ein schlechter Patriarch, wenn ich nicht dafür gesorgt hätte, dass wir bei Bedarf jederzeit auf die Vorräte des Flottenmagazins zurückgreifen können.«

Er zuckte die Schultern.

»Nun ist es soweit. Wir haben weder die Ausrüstung, um den Planeten Maverick zu erkunden, noch die Mittel, uns diese Ausrüstung zu kaufen. Unter der Oberfläche von Angerook aber liegt das Zeug ungenutzt herum.«

Derbolav winkte geringschätzig ab.

»Wem gehört es denn? Das Solare Imperium besteht nicht mehr.« Seine Miene verdüsterte sich. »Die Sonne Sol, die Erde, die irdische Menschheit, alles ist ausgelöscht. Verdammt! Wer, wenn nicht wir, hat ein Anrecht darauf, vom Erbe unserer reichen Verwandten zu profitieren.«

Juan seufzte.

»Ich weiß, dass ich dich nicht umstimmen kann. Aber ich halte es einfach für meine Pflicht und Schuldigkeit, meine Bedenken zu äußern. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Perry Rhodan sein Erbe und das Erbe der Menschheit diesem Kaiser Anson Argyris auf Olymp übertragen hat. Und meiner Meinung nach liegt es bei Argyris in guten Händen. Unterschätzt ihn nicht. Kaiser Argyris verfügt über einige zehntausend Kampfschiffe der ehemaligen Imperiumsflotte. Also wird er auch die Koordinaten aller Magazinplaneten kennen. Meinst du, er ließe diese gigantischen Schatzkammern unbewacht, Chef?«

Derbolav wiegte mit dem Kopf.

»Gewiss, Vetter Juan, dieser Kaiser Argyris hat bewiesen, dass er genau weiß, was er will – und dass er das auch durchzusetzen versteht. Aber im Augenblick dürfte er andere Sorgen haben als irgendwelche Flottenmagazine zu bewachen. Vergiss bitte nicht, die Überwachungscomputer lassen keinen Unbefugten in die Magazine. Sie würden sofort Alarm geben und die Kampfroboter in Marsch setzen. Nur in unserem Falle nicht. Sei unbesorgt.«

Er warf noch einen Blick auf die inzwischen größer gewordene Sichel des Planeten Angerook, dann gähnte er.

»Sagt bitte dem Schiffsjungen Bescheid, er soll mir eine Kanne Kaffee aufbrühen und zusammen mit dem üblichen Frühstück servieren. Ich habe einen Mordshunger.«

Zwei Tage später hatten sie ihre Ausrüstung beisammen. Von Angerook holten sie sich drei der neuen, so genannten HUS-Gleiter, Hochdruck-Ultraschwerkraft-Gleiter für den Einsatz auf Planeten mit Über-Jupiter-Schwerkraft und Hochdruckatmosphären. Die elliptisch geformten Rümpfe, einundzwanzig Meter lang und zehn Meter breit, wurden jeweils von vier Landestützen getragen.

3.

Die Projektion erlosch nach kurzem, heftigem Aufflackern. Das ohrenbetäubende Donnern verebbte.

Derbolav de Grazia nahm die Hand von der Bild-Ton-Schaltung und wandte sich zu seinen Leuten um. Alle Besatzungsmitglieder der ROSSA OBERA waren in der großen Messe versammelt, um letzte Informationen über den geplanten Einsatz zu bekommen.

Der Patriarch verschränkte die Arme und gab sich unbeeindruckt.

»Ihr habt die Positronikaufzeichnung von Maverick gesehen, Männer der Grazia-Sippe«, rief er herausfordernd. »Wie gefällt euch diese Welt, he?«

»Ich finde«, rief ein breitschultriger, kahlköpfiger Prospektor zurück, »wir sollten endlich mal wieder zu unseren Frauen fliegen. Seit drei Monaten waren wir nicht mehr auf Carona. Unsere Kinder werden ebenfalls Sehnsucht nach uns haben. Nun, wie denkst du darüber, Chef?«

»Ich denke«, antwortete Derbolav gedehnt, »dass du ein schwerhöriger Narr bist, Eluzar. Ich habe nicht gefragt, wer zum Basisplaneten möchte, sondern was ihr von Maverick haltet. Also ...!«

»Die Aufzeichnung wirkte nicht gerade aufmunternd«, sagte Juan Mellone-Grazia, um den Anstoß zur Diskussion zu geben. »Dieser Planet Maverick scheint eine wahre Hochdruckhölle zu sein. Wie hoch, Chef, sind dort die Durchschnittstemperaturen?«

»Die mittlere Temperatur am Grund des Luft- bzw. Gasozeans beträgt hundertachtundzwanzig Grad Celsius.«

»Also ganz schön warm«, warf Tormello, der Schiffskoch ein. »Und das bei einer Wasserstoff-Ammoniak-Atmosphäre unter einem ... äh ... welchem Druck?«

Derbolav de Grazia blickte unmutig auf seine Notizen.

»Leider liegen darüber keine einheitlichen Werte vor. Der Luftdruck auf Maverick wird einmal mit achthundert, dann mit vierzehnhundert und schließlich mit zweieinhalbtausend Atmosphären angegeben. Offenbar gibt es dort Konvektionsströme wie an der Sonnenoberfläche, und der Druck ändert sich laufend.«

»Wie verlässlich sind die Daten überhaupt, Onkel Derbolav?«, rief ein junger Neffe des Patriarchen.

Die Prospektoren lachten. Aber der Patriarch runzelte drohend die Stirn.

»Entschuldige die Anrede, Boss«, rief der junge Mann. »Aber zur Sache: Leider bin ich nicht offiziell informiert worden. Ich kenne also nur das, was sich die Informierten erzählen. Demnach soll es auf Maverick Bergwerke geben, in denen einmal Blues gearbeitet haben.«

»Das ist nicht ganz richtig«, widersprach Derbolav. »Die Bergwerke sollen zwar den Blues gehört haben, selber darin gearbeitet haben sie nicht. Dafür setzten sie Kriegsgefangene ein. Sowohl Blues als auch Gefangene sollen jedoch umgekommen sein.«

»Woran sind sie gestorben?«, fragte ein anderer Prospektor.

Der Patriarch zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung. Die Aufzeichnungen sind unvollständig. Bedenkt, dass Pray Butseh sie in einem fast völlig zerstörten und ausgebrannten Raumschiff der Blues fand, das steuerlos im All trieb. Alles ist etwas geheimnisvoll.«

Er lächelte.

»Aber wozu sind Geheimnisse da?«

»Um entschlüsselt zu werden!«, rief Juan Mellone-Grazia.

Die meisten Prospektoren spendeten Beifall. Es gab jedoch auch warnende Stimmen und solche, die das Unternehmen für Zeitvergeudung hielten.

»Schön, Chef«, sagte ein älterer Mann ruhig, »wir haben die Ynkelonium-Legierung geprüft. Sie besitzt tatsächlich die angegebenen Eigenschaften. Als Hochdruckchemiker weiß ich ebenfalls, dass dieses rätselhafte Ynkelonium zu den Elementen der Hochdruckreihe gehört, die nur auf heißen Welten mit reaktionsfreudiger Atmosphäre, hohen Druckverhältnissen und guter atmosphärischer Durchmischung entstehen. Es lohnt sich also auf jeden Fall, eine solche Welt zu untersuchen. Aber woher wollen wir wissen, dass das Ynkelonium tatsächlich auf Maverick vorkommt? Pray Butseh war nicht selbst dort.«

Derbolav de Grazia nickte.

»Das alles ist richtig. Aber ich bin entschlossen, dem Geheimnis des Ynkeloniums auf den Grund zu gehen. – Niemand muss mich begleiten. Wer es wünscht, den setzen wir vorher auf einer bewohnten Welt ab. Ich würde es niemandem übelnehmen; die Gefahren sind tatsächlich groß.«

Die Prospektoren protestierten lautstark. Derbolav musste sich ausdrücklich dafür entschuldigen, dass er derart beleidigende Gedanken überhaupt geäußert hatte. Er tat es gern, brauchte er doch bei der Expedition nach Maverick jeden einzelnen Mann.

»Jeder begibt sich wieder an seinen Platz«, sagte der Patriarch abschließend. »Ich werde jetzt den Autopiloten mit den Koordinaten von Maverick füttern. In ungefähr einer halben Stunde gehen wir in den Linearflug.«

Derbolav de Grazia blickte auf, als der Autopilot mit gelben Lichtern und intervallartigem Summen Signal gab.

Auf der schrägen Pultplatte, unter der die Einheit installiert war, befand sich unter Panzerglas eine Projektionsfläche, auf die der Autopilot sich schriftlich mitteilen konnte. Derbolav sah, wie die roten Buchstaben sich aneinander reihten.

»Bedenken gegen eingegebene Kursdaten«, las er ab. »Vorschlage Konferenz mit Hauptcomputer.«

»Was will er?«, fragte Juan Mellone-Grazia vom Pilotensitz herüber.

Derbolav zuckte die Schultern.

»Er hat Bedenken gegen die Kursdaten geäußert. Ich werde wohl oder übel den Hauptcomputer zuschalten müssen.«

Er drückte die betreffende Schaltplatte.

Sofort meldete sich eine gutmodulierte Stimme aus der Lautsprecheranlage des Autopilotpults.

»Verbundschaltung hergestellt, Autopilot kreiste folgende Bedenken ein: a) Das Sonnensystem Pash mit dem Planeten Maverick befindet sich im respektierten Hoheitsgebiet der Blues; b) Auf Maverick wurde von den Blues ein Bergwerk betrieben; c) Der Kurs der ROSSA OBERA ist mit drei Orientierungsmanövern geplant, davon zwei innerhalb des Blues-Gebietes; Logikberechnung: Die Orientierungsmanöver innerhalb des Blues-Gebietes vergrößern die Gefahr, dass der Einflug der ROSSA OBERA entdeckt wird, und geben eventuellen Patrouillenschiffen der Bluesvölker Hinweise auf das Ziel. Schluss: Hauptpositronik schlägt vor, die gesamte Strecke mit einem Linearmanöver zurückzulegen und als Wiedereintrittskoordinaten einen Punkt innerhalb des Pash-Systems zu bestimmen.«

»Hier spricht der Patriarch«, antwortete Derbolav. »Habe verstanden. Deine Argumente sind stichhaltig – bis auf eine Ausnahme. Warum sollen wir nicht nur die beiden Orientierungsmanöver im Blues-Gebiet fallenlassen, sondern auch das außerhalb dem Blues-Gebietes?«

»Auf Grund der täglichen Informationen steht fest, dass im neutralisierten Gebiet zwischen menschlicher Einflusssphäre und des Blues-Gebietes starke Raumstreitkräfte patrouillieren. Ich beziehe mich vor allem auf Meldung vom 29. April 3432, ausgestrahlt vom Hypervideo Jaroslawl, dem geheimen Warnfunk der Nomaden, in der berichtet wurde, das Nomadenschiff ATTILA sei bei einem Vorstoß ins Interessengebiet der Blues sowohl von Raumschiffen der Zentralgalaktischen Union als auch von den Terranerschiffen des Freihändlerkaisers Argyris verfolgt worden. Die ATTILA entkam ihren Verfolgern nur, weil ein Flottenverband der Blues sich auf die Verfolger stürzte und sie lange genug aufhielt. – Es ist also damit zu rechnen, dass auch die ROSSA OBERA von Patrouillenschiffen geortet und verfolgt wird. Zumindest würde uns das zwingen, den Einflug ins Pash-System auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.«

Derbolav de Grazia überlegte.

»Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir mit einem einzigen Linearmanöver unentdeckt das Pash-System erreichen können?«

Wiederum kam die Antwort sofort. Für menschliche Sinne war die winzige Zeitspanne, in der der große Schiffscomputer die Wahrscheinlichkeitsberechnung aufgestellt hatte, zu kurz, um bemerkt zu werden.

»Die Wahrscheinlichkeit beträgt neunundneunzig Komma neunneunsieben Prozent.«

Juan de Mellone-Grazia lachte über die pedantische Genauigkeit des Computers, aber der Patriarch winkte ärgerlich ab. Er wusste zwar, dass ein Computer von sich aus keinen Fehler machte, aber nicht immer besaß ein Positronengehirn alle Fakten, um den menschlichen Gesprächspartner auf dessen eigene Fehler aufmerksam machen zu können.

»Wir könnten also unentdeckt ins Pash-System einfliegen, wenn wir auf Orientierungsaustritte verzichten«, memorierte er. »Aber wie ist es mit den Gefahren, die uns von der Raumstruktur aus drohen?«

»Das kommt auf den Einflugwinkel an«, antwortete der Computer. »Achtung! Ich werfe eine Ultradiagrammkarte aus, auf der jene Punkte verzeichnet sind, von denen aus zu bestimmten Zeiten ein risikofreier Nonstoppflug ins Pash-System möglich ist.«

Das Ausgabegerät summte, dann fiel die drahtlos übermittelte Ultradiagrammkarte heraus.

Der Patriarch nahm sie auf und vertiefte sich in die Daten. Dann nickte er.

»Wir nehmen ZR-Eintauchpunkt drei, Chamal-Sektor, achtzehnter Mai, vier Uhr dreizehn-vierzig Standardzeit. Danke, Ende.«

Er hob die Konferenzschaltung auf.

18. Mai 3432 Standardzeit ...

Derbolav de Grazia warf einen Blick auf die Leuchttafeln des Bordchronographen und sah, wie die Zeitanzeige auf 4.10.00 glitt.

Die ROSSA OBERA fiel antriebslos auf einen unsichtbaren Koordinatenpunkt zu, den sie um genau 4.13.40 Uhr erreichen sollte. Zur Linken ballte sich in den Schirmen der Panoramagalerie ein selbstleuchtender Gasnebel. Die bizarren vielfarbigen Strukturen schienen erstarrt zu sein. In Wirklichkeit, wusste Derbolav, jagten sie mit größerer Geschwindigkeit als die ROSSA OBERA durchs All. Nur die große Entfernung täuschte das begrenzte Wahrnehmungsvermögen des Menschen.

Der Patriarch blickte zu den Steuerbordschirmen.

Die karmesinrote Sonne war nur vier Millionen Kilometer entfernt. Deutlich waren auf der Oberfläche Gasausbrüche und Wirbelströme zu sehen. Über diesem Bildschirmsektor sah Derbolav eine weiße Sternenkugel, deren Licht in den Augen schmerzte; es war der kleinere Begleiter der karmesinroten Sonne. Für jeden Beobachter sah es so aus, als kreiste der weiße Zwergstern um den roten Riesen. Das war allerdings eine optische Täuschung; infolge seiner ungeheuren Dichte besaß der Zwergstern eine bedeutend größere Masse als der rote Riese. Beide Sterne kreisten um einen gemeinsamen Schwerpunkt, aber dieser Schwerpunkt befand sich im Innern des Zwergsterns. Die Auswertung der Massetaster war eindeutig.

»Achtung!«, erscholl die Stimme des Computers. »Linearraumeintritt in sechzig Sekunden!«

Der Patriarch schreckte aus seinem Brüten auf. Innerhalb weniger Sekunden warf er die philosophischen Überlegungen ab wie eine schmutzige Hülle. Auf ihn und seine Männer warteten Taten, und Taten waren besser als Grübeleien.

»Es geht los!«, rief er über Interkom. »Drückt den Daumen, dass wir nicht in der Sonne Pash landen!«

»Du hast vielleicht Humor, Chef«, sagte Juan Mellone-Grazia sarkastisch. »Glaubst du etwa, deine Worte würden eine beruhigende Wirkung ausüben?«

»Beruhigende ... was?« Derbolav schüttelte den Kopf, während er sich anschnallte. »Warum sollte ich meine Männer beruhigen? Prospektoren lieben die Gefahr.«

Die Computerstimme war im ganzen Schiff zu hören und zählte mit monotoner Exaktheit die Sekunden ab. Aus dem Schiffsinnern drang bereits das dumpfe Tosen der Linearkonverterkraftwerke.

Bei »null« schwoll das Tosen zu einem infernalischen Heulen an. Die selbstleuchtende Gaswolke, die Doppelsonne und alle Sterne des Normalraums verschwanden schlagartig, als die ROSSA OBERA vom vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum in die Zwischenzone »unterhalb« des fünfdimensionalen Hyperraums überwechselte. Danach sank das grauenhafte Heulen zu einem satten gleichmäßigen Summen herab, das gleich wieder vom Raunen des Linearantriebskonverters überlagert wurde.

Derbolav de Grazia schnallte sich los. Er ging hinüber zum Getränkeautomaten und füllte sich einen Becher mit heißem starkem Kaffee. Er trank ihn aus. Dann legte er sich auf den Kontursessel, klappte ihn zurück und drückte den Aktivierungsknopf der Schlafmaschine.

Die silbrig schimmernde Haube senkte sich von der Decke herab, legte sich um Derbolavs Schädel und vibrierte dabei schwach. Derbolav warf noch einen Blick auf die Anzeigen des Autopiloten. Alles war in bester Ordnung. Er fühlte, wie etwas prickelnd durch seine Kopfhaut drang, die Schädeldecke zu leichter Schwingung anregte und danach plötzlich in seinem Bewusstsein war. Im nächsten Moment war er eingeschlafen.

Er erwachte, als die Haube der Schlafmaschine sich zurückzog und das Schrillen des Autopiloten ihn aus dem Schlaf riss.

Derbolav fühlte sich herrlich ausgeruht und frisch.

»Achtung!«, wiederholte der Autopilot. »Wiedereintritt in den Normalraum erfolgt in zehn Minuten.«

Derbolav reckte sich.

»Dann haben wir noch Zeit zu einem kleinen Imbiss.«

Neben ihm kam Juan Mellone-Grazia wieder zu sich. Auch er hatte sich in einen Schlaf versetzen lassen, dessen Tiefe für den menschlichen Organismus am günstigsten war.

»Habe ich einen Traum gehabt!«, sagte Juan gähnend und reckte sich. »Toll, sage ich dir, Chef! Ich habe eine Fundstätte reinen Howalgoniums entdeckt.«

Derbolav de Grazia zuckte die Achseln, ging zum Thermoschrank und drückte die Wähltaste. Ein Spalt öffnete sich, und ein flaches Tablett schob sich heraus. Der Patriarch kehrte zu seinem Platz zurück und widmete sich für kurze Zeit ganz dem Essen: Schnitzel, grüne Bohnen, Kartoffelbrei und als Nachtisch Quarkspeise mit einer roten Vitaminsoße. Alles sah recht natürlich aus, obwohl es ausnahmslos aus tiefgefrorenen und pulverisierten Nahrungsmitteln in der Automatenküche zubereitet worden war. Auch im Geschmack unterschied es sich kaum von frisch Zubereitetem, obwohl alle Raumfahrer es sich seit Jahrhunderten angewöhnt hatten, über ihre »aufbereiteten Konzentrate« zu schimpfen und die frischen planetarischen Speisen in den Himmel zu heben.

Derbolav dachte augenblicklich nicht an solche Nebensächlichkeiten. Er aß schnell und ohne auf den Geschmack zu achten. Die anderen Prospektoren folgten seinem Beispiel, sofern sie nicht bereits gegessen hatten.

Kaum hatte der Patriarch sein leeres Tablett in die dafür vorgesehene Öffnung im Sockel des Thermoschrankes geschoben, da ertönte das nächste Warnsignal des Autopiloten.

Sechzig Sekunden bis zum Wiedereintritt in den Normalraum!

Als die Stimme die letzten zehn Sekunden herunterzählte, saßen alle Prospektoren wieder angeschnallt auf ihren Plätzen und beobachteten die Anzeigen von Ortung, Maschinenkontrolle und Außenbeobachtung.

Der Übergang hatte viel Ähnlichkeit mit dem Flackern einer antiquierten Neonröhre: Auf den Panoramaschirmen blendete das Bild des Linearraums ab – und praktisch im gleichen Augenblick erschien die Wiedergabe des Normalraums.

Derbolav de Grazia sog hörbar die Luft ein.

Am oberen Rand des Frontschirmes stand die münzengroße Scheibe einer orangefarbenen Sonne. Darunter aber breitete sich die schwach gekrümmte Horizontlinie eines sehr nahen Planeten aus, über dessen Oberfläche geisterhafte Lichterscheinungen und farbig angestrahlte Wolken jagten.

Juan Mellone-Grazia beugte sich vor und griff nach dem Fahrthebel. Derbolavs Handbewegung hielt ihn davon ab, in einer Panikreaktion von dem Planeten zu fliehen.

»Wir haben Zeit«, sagte der Patriarch beruhigend. »Maverick kann uns aus dieser Entfernung nichts anhaben.«

Juan blickte auf die Distanzanzeige.

»Fünfhundertachtzigtausend Kilometer ...?«, fragte er ungläubig. »Und ich fürchtete, wir stürzten bereits in die Atmosphäre.«

Derbolav de Grazia schüttelte lächelnd den Kopf.

»Bring uns bitte bis auf hundertfünfzigtausend Kilometer heran und steuere die ROSSA OBERA in einen Orbit, Juan.«

Er schaltete den Interkom ein.

»Ich rufe die Fernmessabteilung. Beginnt sofort mit der Untersuchung des Planeten. Verlasst euch nicht auf die Angaben in den alten Unterlagen. Mich interessiert vor allem die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre, die darin ablaufenden Reaktionen und die Folgeerscheinungen der Konvektionsströme. Glaubt ihr, dass ihr einige Sonden hinunterbringen könnt?«

Das Gesicht eines Mannes in Derbolavs Alter erschien auf dem Interkomschirm.

»Hier spricht Cerf Sidor, Chef. Keine unserer Sonden käme bis zur festen Kruste des Planeten. Der Luftdruck würde sie in schätzungsweise zwanzig Kilometer Höhe zerquetschen, wenn sie nicht schon vorher infolge zu großen Reibungswiderstandes verglühen. Dennoch empfehle ich den Abschuss vom mindestens zwölf Sonden. Vielleicht bringt er uns wenigstens einige optische Eindrücke der festen Kruste. Vom Raum aus können wir nämlich weder mit Infrarot noch mit den Tastern durchdringen.«

»Nicht einmal eine Elektronen-Reliefkarte könnt ihr bekommen, Cerf?«

»Das wird schwierig sein, Chef. Da unten toben Asche- und Sandstürme. Riesige Wolken glühenden Gases und sogar dünnflüssigen Magmas treiben hoch in der Atmosphäre.« Auf seinem schmalen Gesicht erschien ein wissendes Lächeln. »Wie ich dich kenne, wird dich das nicht abhalten, dort hinunter zu gehen, Chef, was?«

Derbolav grinste.

»Auf keinen Fall. Also gut, schickt zwölf Sonden hinunter. Legt die Bildübertragung in die Zentrale!«

Er schaltete den Interkom aus.

Als er sich wieder dem Frontschirm zuwandte, suchte er instinktiv Halt an den Seitenlehnen seines Kontursessels. Juan Mellone-Grazia hatte die ROSSA OBERA inzwischen bis auf zweihunderttausend Kilometer an den Riesenplaneten herangebracht und steuerte sie vorsichtig in den 150.000-Kilometer-Orbit. Maverick füllte jetzt nicht nur den Frontschirm aus, sondern auch einen Teil der Top- und Subschirme. Gleich einer unheimlichen Mauer ragte er vor dem kleinen Schiff auf.

Derbolav de Grazia lächelte über sein Erschrecken. Er aktivierte eine Sektorvergrößerung und brachte einen rotgelben Fleck in der Planetenatmosphäre optisch auf eine Distanz von hundert Kilometern.

Unwillkürlich hielt er den Atem an, als er erkannte, woraus der Fleck bestand. Es handelte sich um eine Wolke aus staubförmiger glühender Materie, die mit einer Geschwindigkeit von mehreren hundert Stundenkilometern durch die Atmosphäre jagte. Minuten später geriet die Wolke in einen abwärts gerichteten Konvektionsstrom, formte sich zu einem trichterförmigen Gebilde und sank kreiselnd auf die Oberfläche zurück.

Der Patriarch schaltete die Vergrößerung aus. Nachdenklich starrte er vor sich hin. Ihm war bereits klar, dass er mit der überholungsbedürftigen ROSSA OBERA niemals auf Maverick landen konnte. Das Schiff durfte sich nicht einmal in die oberen Schichten der Atmosphäre wagen. Also blieben nur die HUS-Gleiter.

Offenbar hatte Juan die gleichen Gedanken gehabt wie Derbolav, denn er sagte unvermittelt:

»Hinunter kommen wir mit den HUS-Gleitern. Aber wieder herauf ...?«

»Wenn wir heil unten ankommen, werden wir uns auch wieder von Maverick lösen können«, erwiderte Derbolav de Grazia. »Notfalls müssen wir in den dünneren Luftschichten mit den Panzerrüstungen aussteigen und uns von einem Traktorstrahl in die ROSSA OBERA holen lassen.«

Er stand auf.

»Aber darüber brauchen wir uns jetzt noch nicht die Köpfe zu zerbrechen. Das können wir tun, wenn wir unten sind und unsere Mission beendet ist.«

Der Interkommelder summte, und Derbolav schaltete das Gerät ein.

»Sonden sind unterwegs, Chef«, meldete Cerf Sidor. »In wenigen Minuten erfolgt die Übertragung – wenn überhaupt.« Er lächelte flüchtig. »Die ersten Messergebnisse liegen vor. Ich verlese: Äquatordurchmesser: 198.327 Kilometer, Durchmesser von Pol zu Pol beträgt 184.256 Kilometer, siderische Rotation 20.10 Stunden, Dichte 3,64, Masse 1891,35, Schwerkraft durchschnittlich 5,03 Gravos. Die Atmosphäre ist eine typische Hochdruck-Gas-Atmosphäre; sie setzt sich vornehmlich aus Wasserstoff, Ammoniak und Methan zusammen. Die Temperaturen über dem Boden ließen sich leider nicht ermitteln, Chef. Ich ...«

Derbolav unterbrach ihn mit einem entschuldigenden Lächeln.

»Wäre es möglich, dass der in den Unterlagen angegebene Wert von plus hundertachtundzwanzig Grad Celsius für Bodennähe gilt?«

Cerf zuckte nur die Schultern.

»Wohl nur für wenige Gebiete des Planeten, Chef. Die Atmosphäre ist ein brodelnder Hexenkessel. Wir haben teilweise dreihundertvierzig, in größeren Höhen dann wieder minus neunzig Grad Celsius. Dort kommt es zur Bildung von Ammoniakwolken, allerdings in etwas ungewöhnlicher Form. Diese ›Wolken‹ sind in Wirklichkeit Ammoniakseen, die in der Atmosphäre schwimmen, langsam absinken und dabei verdampfen.«

Cerf blickte zur Seite. Sein Gesicht leuchtete auf. Als er sich wieder dem Interkom zuwandte, lachte er lautlos.

»Chef, soeben haben wir Satans Nose angemessen! Genau auf der Äquatorlinie, wie Butsehs Unterlagen besagen.«

Derbolav de Grazia sprang unwillkürlich auf. Er hatte nicht damit gerechnet, den nadelförmigen Gipfel der Teufelsberge fast auf Anhieb zu finden. Nach den Unterlagen, die Pray Butseh ihm vor seinem Tode geschenkt hatte, verlief der Nullmeridian des Planeten Maverick genau über dem 5021 Meter hohen Gipfel des Satans Nose. Nun war es nicht mehr schwer, das Ynkelonium-Bergwerk zu finden, denn seine Lage war mit elf Grad südlicher Breite und vierundsechzig Grad westlicher Länge angegeben.

»Fein«, erwiderte er. »Versuche auch noch, den Magmasee anzumessen. Er müsste als 1800 Kilometer durchmessender Infrarotfleck doch zu erkennen sein.«

»Wir sind dabei, Chef«, sagte Cerf Sidor. »Aber stell dir das nicht so einfach vor. Die Teufelsberge bestehen aus eine Gruppe von neunundzwanzig aktiven Vulkanen. Auf den Infrarotortungsschirmen haben wir ein richtiges Feuerwerk an Wärmestrahlung. – Moment, jetzt müssten die ersten Sonden in die Atmosphäre Mavericks eintauchen.«

Derbolav lehnte sich zurück, um die zwölf Monitore über seinem Kontrollpult sehen zu können. Bisher zeigten sie alle nichts als ein verwaschenes flimmerndes Grau.

Plötzlich aber bildeten sich auf einem der Bildschirme die Umrisse einer Wolke ab. Das Gebilde war von schwefelgelber Farbe und besaß eine Spiralstruktur, die es der eigenen Milchstraße, von »oben« besehen, ähnlich machte. Nur rotierte diese Spirale bedeutend schneller. Von den Spiralarmen zuckten in kurzen Intervallen Blitze in die Atmosphäre, wühlten die Gasmassen auf. Dann riss die Spiralwolke auseinander. Eine kilometerbreite Fontäne roter Glut schoss empor, wurde größer und größer. Über den Monitor zuckte ein greller Blitz, die Bildscheibe wurde dunkel.

Nacheinander brachten die übrigen Sonden ähnliche Bilder herein. Doch keine erreichte die Oberfläche. Alle gaben bereits in großer Höhe den Geist auf. Die Sonde, die am längsten arbeitete, zeigte einmal für Sekunden so etwas wie eine graue Ebene mit unregelmäßigen schwarzen Flecken und kupferfarbenen Adern darin. Dann fiel auch sie aus.

»Wir haben eine Infrarotortung vorgenommen«, meldete sich Sidor nach einer Weile wieder. »In der Nähe der Teufelsberge gibt es nur einen großen Magmasee; er durchmisst jedoch nicht achtzehnhundert, sondern zweitausenddreihundert Kilometer.«

»Das muss der Höllensee sein!«, rief der Patriarch. »Wahrscheinlich ist er gewachsen. Positionsdaten festhalten. Bei der nächsten Umkreisung gehen wir hinunter.«

»Ich komme mir vor wie ein Eichhörnchen, das in zehntausend Metern Höhe aus einem Überschalljet springen soll«, schimpfte Cerf Sidor, während er den HUS-Gleiter musterte.

Derbolav verzog das Gesicht zu einem freundlichen Grinsen.

»Du bist der Wahrheit näher als du ahnst, Cerf. Die HUS-Gleiter sind ausgesprochene Bodenfahrzeuge. Der Abstieg zur Oberfläche Mavericks wird kein Vergnügen sein. Praktisch riskieren wir einen gebremsten Absturz, indem wir die Antigravprojektoren hochschalten. Wie sich die Fahrzeuge dann in der dichten Atmosphäre manövrieren lassen werden, ist mir vorerst noch ein Rätsel.«

Er seufzte.

Zwei der auf Angerook »organisierten« HUS-Gleiter wollte er ausschleusen und der Hochdruckatmosphäre anvertrauen. Der dritte Gleiter sollte startbereit auf der ROSSA OBERA warten, um notfalls eine Rettungsaktion zu unternehmen.

Insgesamt nahmen zwanzig Mann an dem Unternehmen teil; die übrigen zweiundvierzig blieben im Schiff zurück.

Derbolav schaltete seinen Armbandtelekom ein.

»Patriarch ruft Juan Mellone-Grazia. Wie lange noch?« Sein Vetter Juan als Pilot und Erster Offizier der ROSSA OBERA würde ihn vertreten, während er die Expedition führte.

»Eine halbe Stunde, Chef. Kommt ihr zurecht?«

»Keine Sorge, Juan.«

Der Patriarch unterbrach sich, als er sah, dass sein Raumpanzer mit einem Magnetkran gebracht wurde.

»Ich melde mich nachher wieder. Ende.«

Er hob die Hand, und der Magnetkran verhielt vor ihm. Die HU-Panzerrüstung hatte wenig Ähnlichkeit mit einem Raumanzug. Sie glich eher einem ungefügen Arbeitsroboter – und dieser Vergleich kam der Wahrheit ziemlich nahe. Hochdruck-Ultraschwerkraft-Panzerrüstungen waren mobile Arbeitseinheiten, die zur Ausführung von Bewegungsabläufen lediglich der Impulsgebung durch den darin steckenden Menschen bedurften. Die Muskelspannung von Armen und Beinen aktivierte elektronische Verstärker und Impulsleiter, die eine komplizierte Servoautomatik steuerten.

Zwei stämmige Prospektoren halfen ihrem Patriarchen in das Gefängnis. Derbolav schwitzte, als er in seinem Gehäuse hockte.

»Und dieses Folterwerkzeug kostet eine Million Solar!«, schimpfte er, ohne zu bedenken, dass er die Million schließlich nicht aufgebracht hatte.

Er wandte den Kopf und prüfte die Bild- und Tonübertragung von der Außenwelt. Sie war einwandfrei. Aber würde sie das unter einem Druck von hunderten oder tausenden Atmosphären noch sein?

»Besatzungen beider HUS-Gleiter in den Rüstungen, Chef«, meldete Sidor über Hyperkom. Eine Telekomanlage wäre auf Hochdruckplaneten nutzlos gewesen.

»Einsteigen und an die Plätze!«, befahl Derbolav.

Er marschierte seinerseits auf die Einstiegsluke des HUS-Gleiters zu. Die Fortbewegung strengte ihn nicht mehr und nicht weniger an als das Laufen in einer einfachen Bordkombination bei einem Gravo Schwerkraft; die Konstrukteure der HU-Panzerrüstungen hatten dafür gesorgt, dass jeder menschliche Benutzer sich sofort zurechtfand und sich nicht erst umstellen musste.

Nacheinander nahmen die Prospektoren in ihren unförmigen Rüstungen in den beiden HUS-Gleitern Platz. Derbolav de Grazia setzte sich in den Pilotensessel, der Messtechniker Sidor übernahm das Ortungspult.

Die schweren Katalysefusionsmeiler arbeiteten bereits seit einer Stunde, wenn auch nur mit minimaler Leistung. Nun schaltete Derbolav sie behutsam höher. Die Antigravprojektoren machten das Fahrzeug gewichtslos, obwohl seine Masse natürlich erhalten blieb. Konvektionsfeldkissen hoben den Gleiter einen Meter vom Boden ab. Die Pulsationstriebwerke und Impulsaggregate schwiegen vorläufig noch.

Derbolav de Grazia atmete auf, als er die Klarmeldung des zweiten Gleiterpiloten erhielt. In etwa drei Minuten kam der Zeitpunkt des Ausschleusens.

Da meldete sich auch schon Juan Mellone-Grazia über Hyperkom.

»Chef, noch drei Minuten! Die ROSSA OBERA nähert sich den oberen Schichten der Atmosphäre. Am besten bremst ihr sofort mit maximalen Werten ab, damit ihr vom Schiff wegkommt. Ich werde stark beschleunigen müssen, um nicht in die Atmosphäre zu stürzen.«

»Einverstanden, Juan. – Erlenmar, hast du alles mitbekommen?«

»Alles klar, Chef«, antwortete der Pilot des zweiten Gleiters.

»Schön! Also mit voller Kraft verzögern, dann Fall mit Triebwerken abbremsen und Antigravaggregate auf fünf Gravos hochschalten. Ständiger Erfahrungsaustausch. Juan ...!«

»Ja, Chef!«

»Mach's gut, alte Eule! Und drück uns die Daumen. Wenn alles klappt, sind wir bald die reichsten Prospektoren der Galaxis. Wenn nicht, führe unsere Sippe gut!«

»Kommt gar nicht in Frage, Chef!«, protestierte Juan Mellone-Grazia. »Du kommst gefälligst lebend zurück. Deine Frau verprügelt mich, wenn ich sagen muss, ich hätte dich hier zurückgelassen.«

Derbolav lachte schallend. Die anderen Prospektoren fielen ein, soweit sie das Gespräch mitverfolgt hatten. Schlagartig stieg das Stimmungsbarometer.

Die heitere Gelöstheit wich jedoch sofort wieder konzentrierter Aufmerksamkeit, als das Signal zum Ausschleusen ertönte. Vor dem Gleiter öffnete sich das äußere Hangarschott und gab den Blick auf ein Chaos frei.

Derbolav de Grazia aktivierte das Hecktriebwerk. Zuerst langsam, dann immer schneller, schoss der Gleiter über den Hangarboden in den Raum hinaus und vor dem Schiff her.

»Ausgezeichnet!«, erscholl Juans Stimme. »Und jetzt verzögern!«

Derbolav stellte das Hecktriebwerk ab und schaltete das Bugtriebwerk hoch. Die HHe-Meiler im Innern des Gleiters gaben ein rasch anschwellendes Tosen von sich. Das Bugtriebwerk arbeitete mit voller Kapazität; es hatte schließlich nicht nur die Beschleunigungswerte des Hecktriebwerks zu neutralisieren, sondern auch die Beschleunigung, die das Fahrzeug vom Schiff mitbekommen hatte.

Der Patriarch beobachtete unablässig die Bildschirme der Außenbordbeobachtung und die Kontrollen. Soeben glitt die Kugelzelle der ROSSA OBERA schemenhaft und nur noch handflächengroß über den Gleiter hinweg und verschwand.

Plötzlich war ein schwaches Winseln in der Kabine zu hören: Die Außenmikrophone übertrugen die Geräusche, die durch die Reibung der oberen Luftschichten entstanden. Das Geräusch war nicht gleichmäßig, sondern schwoll einmal an und sank dann wieder fast auf die Schwelle des Unhörbaren zurück, ein Zeichen dafür, dass die Turbulenz der tieferen Schichten sich auch auf die Grenze zum freien Raum auswirkte.

Eine halbe Ewigkeit schien zu verstreichen, bis die Geschwindigkeit nur noch einen halben Kilometer pro Sekunde betrug, die vom Schiffscomputer ausgerechnete Geschwindigkeit mit dem momentan geringsten Sicherheitsrisiko.

Derbolav schaltete die Antigravaggregate hoch. Der elektronische Anzeigebalken kroch langsam auf die Fünfermarke zu; als er sie erreichte, fixierte der Patriarch die Einstellung.

Der HUS-Gleiter reagierte nicht sehr erfreulich auf die hohe Schwerkraftkompensation. Er schaukelte und drehte sich, so dass die Gyrotrone und Korrekturdüsen fast unablässig arbeiteten. Unwillkürlich dachte de Grazia an seine letzte Mahlzeit.

»Hallo, Erlenmar!«, rief er, um sich abzulenken. »Was macht dein Schaukelpferd?«

Der Pilot des zweiten Gleiters murmelte etwas Unverständliches und schaltete seine Bilderfassung ein, so dass Derbolav ihn auf seinem Hyperkomschirm sehen konnte.

»Entschuldigung, Chef«, meinte Erlenmar. »Ich führte gerade Selbstgespräche mit meinem Mittagessen. Schaukelt dein Kahn auch so fürchterlich?«

Derbolav verzog das Gesicht.

»Nein, überhaupt nicht. Reden wir nicht mehr davon. Stärker beschleunigen dürfen wir jedenfalls nicht, sonst verpassen wir das vorgesehene Landegebiet. Sobald wir tiefer sinken, wird es hoffentlich ruhiger werden.«

Er hatte es kaum ausgesprochen, als der Gleiter von einem unsichtbaren Heißluftgeiser getroffen wurde und zu kreiseln begann. Als das Fahrzeug sich halbwegs beruhigte, stürzte es mit dem »Rücken« zuerst in die Atmosphäre Mavericks. Derbolav geriet ins Schwitzen, während er den Gleiter um seine Längsachse drehte und gleichzeitig versuchte, die Richtungsabweichung zu korrigieren. Der Sturz wurde stark verlangsamt.

Unterdessen übertrugen die Außenmikrophone kein an- und abschwellendes Winseln mehr, sondern ein ständig lauter werdendes Jaulen, Pfeifen und Heulen. Sidor dämpfte die Lautstärke der Übertragung.

»Sechzig Kilometer Höhe«, murmelte der Patriarch zurück. »Hoffentlich stimmen die Berechnungen des Computers. Wenn wir das Ziel um einige tausend Kilometer verfehlen, können wir uns totsuchen.«

»Sollten wir nicht die Schutzschirme aktivieren, Chef?«, fragte Cerf Sidor.

»Wozu?«, fragte der Patriarch zurück. »Wenn die HUS-Gleiter nicht ohne Energieschirme halten, hätten wir das Unternehmen gar nicht erst zu beginnen brauchen.«

»Hier Juan an Bord der ROSSA OBERA«, meldete sich Derbolavs Stellvertreter. »Wir haben euch aus der Ortung verloren. Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Alles in bester Ordnung«, antwortete de Grazia. »Abstieg verläuft planmäßig und ohne nennenswerte Ereignisse. Geschwindigkeit weiterhin abnehmend. Mit zeitweiligem Ausfall der Ortung ist zu rechnen. Wie geht es euch?«

»Gut, Chef. Ich bringe die ROSSA OBERA befehlsgemäß in einen stationären Orbit über der Satansnase.« Juan räusperte sich. »Nach dieser Aktion sollten wir unbedingt unsere Schwerkraftneutralisatoren überholen lassen. Ihre Leistung fiel vorhin ohne Ankündigung um fünfzig Prozent ab, so dass ich sofort mit der Beschleunigung heruntergehen musste. Die Selbstreparaturanlage funktioniert ohnehin nicht mehr.«

Derbolav de Grazia unterdrückte eine Verwünschung.

»Nach dieser Aktion werden wir Geld haben, und dann wird die ROSSA OBERA generalüberholt«, versprach er. »Wenn wir damals nicht von diesem Dabrifa-Planeten verjagt worden wären, hätten wir die ROSSA OBERA überholen lassen. Aber so ...!«

Er schloss für einen Moment die Augen, als der Gleiter durch eine Glutwolke hindurchstieß. Aber es ging alles gut.

»Bis später, Juan!«, rief er. »Wir kommen jetzt in etwas dickere Suppe hinein. Ende.«

Er presste die Lippen zusammen, als die Terkonithülle des HUS-Gleiters in den Verbänden knisterte und knackte. Die Giftatmosphäre draußen hatte die Farbe oxydierten Bleis angenommen. Zwei Erschütterungen gingen durch den Gleiter. Derbolav drosselte die Leistung des Pulsationstriebwerks.

»Hallo, Erlenmar!«, rief er in die Aufnahmewand des Hyperkoms. »Sei vorsichtig mit dem Pulsator. Wir hatten eben zwei Verpuffungen innerhalb der Felddüsen.«