Perry Rhodan Neo 41: Zu den Sternen - Marc A. Herren - E-Book + Hörbuch

Perry Rhodan Neo 41: Zu den Sternen E-Book und Hörbuch

Marc A. Herren

4,7

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Beschreibung

März 2037: Die Menschheit rüstet sich für den Vorstoß zu den Sternen. Aus diesem Grund haben Perry Rhodans Weggefährten das Gelände des ehemaligen russischen Weltraumbahnhofs Baikonur in der kasachischen Steppe zu neuem Leben erweckt. Dort befindet sich nun die terranische Raumakademie. Unter falschem Namen beginnt der junge Mutant Sid Gonzáles die harte Ausbildung zum Raumfahrer. Obwohl er mit viel Enthusiasmus startet, machen ihm allerdings bald sein hitziges Gemüt und aufmüpfige Kameraden zu schaffen. Auf einem anderen Schauplatz ist der Weg zu den Sternen bereits beschritten: Nach Terrania Orbital, dem am höchsten gelegenen Stadtteil der Erde, führt ein Weltraumfahrstuhl. Reginald Bull und seine Spezialisten erforschen fieberhaft das Rechengehirn der Station. Dabei entdecken sie eine verborgene Waffe, deren gewaltiges Potenzial die Erde bedroht ...

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Zeit:5 Std. 58 min

Sprecher:Hanno Dinger
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Band 41

Zu den Sternen

von Marc A. Herren

März 2037: Die Menschheit rüstet sich für den Vorstoß zu den Sternen. Aus diesem Grund haben Perry Rhodans Weggefährten das Gelände des ehemaligen russischen Weltraumbahnhofs Baikonur in der kasachischen Steppe zu neuem Leben erweckt. Dort befindet sich nun die terranische Raumakademie.

Unter falschem Namen beginnt der junge Mutant Sid Gonzáles die harte Ausbildung zum Raumfahrer. Obwohl er mit viel Enthusiasmus startet, machen ihm allerdings bald sein hitziges Gemüt und aufmüpfige Kameraden zu schaffen.

Prolog

Zwölf Minuten.

Mehr Zeit würden sie ihm nicht zugestehen, das wusste der Gefangene. Blieb er zu lange auf der Toilette, würden die beiden Aufseher misstrauisch werden, und sein Plan scheiterte, noch bevor Mark Vier unterwegs war.

Im Gegensatz zu seinem eigenen Abort im abgesperrten Labortrakt stand die Toilette im Vorraum nicht unter permanenter Videoüberwachung. Diesen Umstand musste er ausnutzen, solange sie nicht hinter seinen Trick mit dem verstopften Siphon gekommen waren.

Er griff in die Innentasche seiner Kombination und zog das grauschwarze Fellbündel hervor.

»Hallo, mein Freund«, flüsterte der Gefangene. »Bist du bereit für dein erstes Abenteuer?«

Die Ratte stellte sich auf ihre Hinterpfoten und blickte ihn aufmerksam aus ihren intelligenten schwarzen Knopfaugen an. Dann hob sie die Nase und witterte ausgiebig.

Der Gefangene lächelte. Mit Mark Vier hatte er sich wieder einmal selbst übertroffen. Äußerlich sah das Robopet noch genauso aus, wie er es über den Versandhandel geordert und die Aufseher es ihm abgesegnet hatten.

»Dann ist es nun an der Zeit, dass du etwas für mich tust«, sagte er leise. »Denk daran: Du bist ganz allein auf dich gestellt! Lass dich nicht erwischen, wenn du das Sicherheitsschloss analysierst!«

Mark Vier blinzelte zweimal. Er hatte ihn verstanden.

»Okay«, sagte der Gefangene. »Dann geht es jetzt los. Und wehe, du lässt dich unterwegs von einem Rattenmädchen bezirzen!«

Er beugte sich zu Mark Vier hinab und hauchte ihm einen Kuss zwischen die grauen Öhrchen. Dann hievte er ihn zum Gitter des Belüftungsschachts hoch. Sofort griff das Robopet mit allen vier Pfoten nach den Stäben und hielt sich daran fest.

»Worauf wartest du?«, flüsterte der Gefangene. »Ab durch die Mitte!«

Mark Vier schnüffelte an den dünnen Gitterstäben. Der Gefangene hielt die Luft an. Nun würde es sich zeigen, ob Mark Viers neue Programmierung ausreichte, um seine Aufgaben erfolgreich erledigen zu können.

Die Ratte biss in einen der Metallstäbe und drückte gleichzeitig mit den Vorderpfoten den nächsten Stab in die entgegengesetzte Richtung. Die Lücke zwischen den Stäben wurde breiter.

»Sehr gut, Mark Vier«, sagte der Gefangene erfreut. »Weiter so, bis du hindurchschlüpfen kannst!«

Fasziniert beobachtete er, wie das kleine Wesen die Stäbe immer weiter auseinanderdrückte. Die Gelenk- und Kraftverstärker, die er eingebaut hatte, funktionierten tadellos.

Das Bild erinnerte ihn an die uralten Zeichentrickfilme, in denen kleine Tiere plötzlich nicht nur wie Menschen agierten, sondern auch riesige Dinge bewegen konnten.

Als der Zwischenraum groß genug war, schlüpfte Mark Vier durch die Stäbe hindurch und war verschwunden.

Der Gefangene blickte auf seine Uhr. Weniger als zehn Minuten würden dem modifizierten Robopet bleiben, um den Lüftungsschacht zu verlassen, die Haupttür des Labortrakts zu untersuchen und danach zu ihm zurückzukehren.

Während der vergangenen sechs Wochen hatte er in jeder freien Minute an Mark Vier gearbeitet. Dabei hatte die permanente Überwachung seine Bastelarbeit nicht gerade erleichtert.

Es hatte ihn unglaublich viel Zeit gekostet, die für den Bau von Mark Vier benötigten Platinen, Chips und Schaltelemente unauffällig beiseitezuschaffen und Stück für Stück zusammenzufügen.

Währenddessen hatte er sich den Anschein gegeben, seine offizielle Forschungstätigkeit an den Biochips weiterzuführen.

Sein Blick sog sich an den Ziffern seiner Uhr fest. Es waren bereits fünf Minuten verstrichen. Er ärgerte sich, dass die Aufseher die Materialbestellung storniert hatten, in der die Bauteile für ein Minifunkgerät enthalten gewesen waren. Mit ihm hätte er mitverfolgen können, was Mark Viers Optiken gerade auffingen.

Nun musste er abwarten und hoffen, dass sein waghalsiger Plan aufging.

Als die siebte Minute vorbeiging, hörte der Gefangene schlurfende Schritte und ein Klopfen.

»Alles in Ordnung bei dir? Bist du eingeschlafen?«

Der Gefangene erkannte McLangleys Stimme. Der ältere und umgänglichere der beiden Aufseher.

»Selbstverständlich nicht«, gab der Gefangene zurück. »Es dauert halt seine Zeit. Wenn ihr die Gnade hättet, mir ein wenig hochwertigere Lebensmittel zur Verfügung zu stellen, dann würde auch meine Verdauung nicht immer wieder streiken.«

»Du bekommst das gleiche Essen wie wir«, antwortete McLangley. »Und nun beeil dich, gleich beginnt das Spiel. Ich will den Anpfiff nicht verpassen, nur weil du zu langsam ...«

»Es geht nicht schneller, wenn du mich drängst!«

Der Gefangene biss sich auf die Unterlippe. Er hatte den für McLangley und Edwardson geheiligten Mittwochabend vergessen, an dem sie die Spiele ihrer Fußballteams schauten.

»Vier Minuten noch«, bestimmte der Aufseher. »Dann gehst du wieder zurück in dein Labor und musst halt mit der verstopften Schüssel vorliebnehmen!«

»Okay, vier Minuten – aber nicht weniger!«

Vor der Tür stieß McLangley ein ergebenes Seufzen aus und schlurfte davon.

Der Gefangene wischte sich über die Stirn. Er konnte nur hoffen, dass die beiden Aufseher die Übertragung des Spiels bereits eingeschaltet hatten und sich in aller Ruhe die Mannschaftsaufstellungen zu Gemüte führten, bevor sie sich wieder um ihn kümmerten.

Ein leises Schaben ließ ihn nach oben blicken.

»Mark Vier!«, flüsterte er erleichtert. »Hat alles geklappt?«

Die Ratte blinzelte zweimal. Sie drängte sich zwischen den Stäben des Lüftungsgitters hindurch und sprang auf seine ausgestreckte Hand.

»Dann wollen wir mal sehen«, murmelte er.

Aus der Uhr zog er ein einzelnes Glasfaserkabel und steckte es in die Ohrbuchse von Mark Vier. Auf dem kleinen Display der Uhr erschien eine Dateiliste. Mit heftig pochendem Herzen suchte er die aktuellste Videodatei und startete sie.

Zuerst sah er nur sein eigenes Gesicht, dann die Gitterstäbe des Lüftungsschachts. Der Gefangene spulte vor, bis er den Gang erkannte, der aus dem Vorraum führte.

Der Gefangene kniff die Augen zusammen. Es war ungewohnt, die Welt aus dem Blickwinkel einer Ratte wahrzunehmen.

Mark Vier folgte dem Gang, bis er die Haupttür erreichte. Dann sah er sich aufmerksam um und kletterte an einer Leitung hoch, bis er am Kodeschloss der Tür angelangt war.

Der Gefangene gönnte sich ein zufriedenes Lächeln. Wie er es erwartet hatte, benötigte dieses Schloss nur die richtige Verbindung von Funkimpuls und Zahlenkombination. Hätte sie mit einem biologischen Erkennungsmerkmal – Iris oder Fingerabdruck – gearbeitet, wäre es für ihn schwieriger geworden.

Aber so ... Er kannte solche Schlösser, seit er gerade einmal neun Jahre alt gewesen war.

Das wird ein Spaziergang werden, dachte er.

Der Gefangene verstaute Mark Vier in seiner Kombination, erhob sich, klopfte dann laut gegen die Tür. »Hallo!«, rief er. »Ich bin fertig!«

Eine halbe Minute dauerte es, bis er die schlurfenden Schritte hörte.

»Na endlich«, hörte er das dumpfe Murmeln von McLangley.

Der Gefangene wartete, bis der Aufseher die Tür aufgeschlossen hatte und auf die Klinke drückte. Dann riss er die Tür mit aller Kraft nach innen.

McLangley flog mit maßlos überraschtem Gesicht auf ihn zu. Blitzschnell ergriff ihn der Gefangene an der Schulter und drückte ihn hinunter. Der Aufseher plumpste leise keuchend zwischen Schüssel und Wand.

Der Gefangene griff nach McLangleys Transponder und riss ihn ruckartig vom Gürtel.

»Was soll das?«, rief der Aufseher überrascht. »Hör auf mit dem ...«

Der Gefangene richtete sich auf, drückte McLangleys Beine in die Kabine und schloss die Tür.

»Mac?«, hörte er Edwardsons Stimme, während im Hintergrund irgendeine Fußballhymne von Tausenden Kehlen gegrölt wurde. »Ist was los?«

Jetzt kam es auf jede Sekunde an. Der Gefangene spurtete den Gang hinunter, folgte dem Weg, den Mark Vier für ihn erkundet hatte.

Hinter sich hörte er erneut den zweiten Aufseher.

Er erreichte die Tür und presste den Transponder gegen den Sensor des Sicherheitsschlosses. Dann holte er Mark Vier heraus und setzte ihn auf das Kästchen.

»Abrakadabra«, murmelte er, während sich das Robopet über die Sensoren an den Vorderpfoten mit dem Schloss verband.

»Mac?«, erklang Edwardsons gedämpfte Stimme. »Verdammt, was ist geschehen?«

Der Gefangene hielt die Luft an. Hatte er sich verschätzt? Waren die Sicherheitsvorkehrungen des äußeren Trakts doch aufwendiger, als er angenommen hatte?

Dann leuchtete die grüne Diode auf, und die Tür öffnete sich mit einem leisen Knacken.

»Freiheit, wir kommen!«, murmelte der Gefangene.

Er drückte die Tür auf, fand eine Treppe vor sich und rannte hinauf. Sie endete vor einer weiteren Tür mit Sicherheitsschloss. Auch dieses knackte er nach wenigen Sekunden.

Die Tür schwang auf ... und der Gefangene schloss geblendet die Augen. Halb blind trat er hinaus in das Sonnenlicht. Die Luft war trocken und warm, geradezu heiß. Der Gefangene stöhnte. Er beschattete die Augen und drehte sich langsam im Kreis.

Wohin er auch blickte – er sah nur Sand, Geröll und das Flimmern von heißer Luft. Abgesehen von der äußerlich windschiefen Hütte, die den Eingang des unterirdischen Labors tarnte, sah er nicht einmal entfernteste Anzeichen von Zivilisation ... Nicht einmal einen Baum, hinter dem er sich hätte verstecken können.

Mark Vier kletterte aus der Kombi und setzte sich auf seine Schulter, schnüffelte an seinem Ohr, als würde er ihm sagen, dass er ebenso überrascht wie er wäre.

»Schöne Scheiße«, murmelte der Gefangene.

»Ts, ts, ts«, machte es hinter ihm. »Wollten wir eben mal ein Sonnenbad nehmen gehen?«

»Mir war es langweilig da unten.« Er drehte sich um.

Edwardson stand mit verschränkten Armen in der Tür. McLangley folgte ihm schnaufend.

1.

16. März 2037

Hatte er sich getäuscht? Ein Gespenst gesehen?

Rodrigo de Vivar rieb mit dem Ärmel seines Pullovers über die angelaufene Scheibe. Durch das Guckloch versuchte er, im Schneetreiben den Schemen wiederzufinden. Vergebens.

»Kannst du ein wenig langsamer fahren?«, rief er dem Fahrer zu, der den alten Ssangyong-Geländewagen wie ein Verrückter über die holprige Straße jagte.

Er musste seine Bitte zweimal wiederholen, bis Alexej ihm den Kopf zuwandte. »Noch eine halbe Stunde!«, gab der Kasache durch das Dröhnen zurück.

Rodrigo deutete mit dem rechten Daumen nach draußen. »Ich habe etwas gesehen!«

»Was?«

Rodrigo stöhnte genervt. Aus irgendeinem Grund schien der Translator sein Russisch nicht richtig zu formulieren. Oder der Fahrer machte sich einen Spaß daraus, ihn auflaufen zu lassen. Jedenfalls hatte sich seit seiner Ankunft auf dem Flughafen Karatomyr mit dem grimmig dreinblickenden Kasachen kein richtiges Gespräch ergeben.

»Bitte halt an!«, sagte Rodrigo. »Ich bin sicher, dass ich jemanden da draußen gesehen habe.«

Alexej presste die Lippen aufeinander. Dann trat er so unvermittelt auf die Bremse, dass der Geländewagen auf der schneebedeckten Straße ins Schlingern geriet. Mit quietschenden Bremsbelägen kam der Ssangyong zum Stehen.

»Was hast du gesehen, Söhnchen?«

Rodrigo atmete ruhig ein. Nur nicht provozieren lassen. »Fahr zurück, dann zeige ich es dir!«

»Ich soll dich nach Baikonur bringen«, sagte Alexej mit steinerner Miene. »Ich werde nicht für Umwege bezahlt!«

Rodrigo blickte seinen Fahrer drei Sekunden lang unbeeindruckt an, dann griff er in den kleinen Rucksack, der auf seinen Knien ruhte, und zog einen Geldschein heraus. »Hier!«, sagte er rau. »Dann bezahle ich für die zweihundert Meter Umweg!«

»Was ist das?«

»Zehn Solar. Das sollte mehr als reichen!«

Alexej nahm den Schein, betrachtete abschätzig die Vorder- und Rückseite und warf ihn Rodrigo in den Schoß. »Dein Mickymaus-Geld kannst du behalten. In Kasachstan haben wir Tenge als Währung.«

Einen Moment lang überlegte Rodrigo, ob er einfach die Tür öffnen und zu Fuß zurückgehen sollte. Aber die Gefahr war zu groß, dass Alexej die Gelegenheit ergreifen und mitsamt seiner Reisetasche, die im Kofferraum lag, auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde.

Also seufzte er ergeben, langte tiefer in den Rucksack und förderte einen 10-Dollar-Schein zutage. »Und sag jetzt nicht, dass du keine Dollar akzeptierst.«

Wortlos klaubte ihm Alexej den Schein aus der Hand, vollführte ein ruppiges Wendemanöver und bretterte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

»Langsamer!«, schrie Rodrigo. »Da vorne irgendwo ist es!«

Alexej steuerte den Wagen von der Fahrbahn, und Rodrigo musste sich mit aller Kraft festhalten, um nicht durchgeschüttelt zu werden.

»Da ist es!«, rief er. »Gleich da vorne!«

Ein seltsamer, dunkler Umriss zeichnete sich durch die wehenden Schneeflocken ab. Zu groß für einen Menschen, aber definitiv kein Strauch oder Felsbrocken, wie sie in der halb zugeschneiten kasachischen Steppe häufig vorkamen.

Alexej trat auf die Bremse. Der Wagen schlitterte ein paar Meter weiter und blieb dann stehen. »Dafür haben wir angehalten? Wegen eines Kamels?«

»Ein Kamel in Kasachstan?«

»Gibt viele hier«, brummte Alexej. »Kasachstan besteht zum größten Teil aus Wüste. Und Kamele sind Wüstentiere.«

Rodrigo kniff die Augen zusammen. Irgendetwas an dem liegenden Tier störte ihn. Aber das immer stärker werdende Schneetreiben verhinderte einen ungehinderten Blick.

Er löste die Sicherheitsgurte und schwang sich aus dem Wagen. Beißend kalter Wind schlug ihm ins Gesicht.

»Was soll das?«, ereiferte sich Alexej.

»Du wartest hier!«, befahl Rodrigo und warf die Tür zu, bevor der Kasache weiter protestieren konnte.

Er schloss den Reißverschluss seiner Jacke, zog sich die Kapuze über und hängte den Rucksack über die Schulter. Dann stapfte er auf das unförmige Etwas zu.

Rodrigo war sich sicher, dass er zuvor eine Bewegung gesehen hatte. Ein Winken?

Als er sah, was er vor sich hatte, begann sein Herz schneller zu schlagen. Mit weit ausholenden Schritten legte er die letzten Meter zurück.

Tatsächlich lag ein Kamel ausgestreckt am Boden. Auf den glasigen Augen landeten Schneeflocken. Die Zunge ragte schlaff zwischen den braunen Zähnen hervor.

Und zwischen den Vorderläufen, eingewickelt in einer dünnen Decke und dem zotteligen Haar des toten Tieres, saß ein Junge.

»Dios!«, fluchte Rodrigo, während er sich hinkniete.

Er hatte immer noch Mühe, das Alter von Asiaten einigermaßen zuverlässig einzuschätzen. Der Junge mochte ein, zwei Jahre jünger sein als er. Sechzehn, vielleicht auch erst vierzehn. Die fiebrig blickenden Augen lagen tief in ihren Höhlen. Die Wangen wirkten eingefallen. Zeichen der Entbehrung.

»Wie heißt du?«, fragte Rodrigo. Der Translator formulierte die Worte automatisch auf Russisch.

Die Lippen des Jungen zitterten. »Juri«, brachte er schließlich hervor.

»Ich bin Rodrigo«, sagte er, während er aus der Winterjacke schlüpfte. Sofort drang die Kälte schmerzhaft durch seinen Pullover. Er erinnerte sich an die Temperaturanzeige von Alexejs Geländewagen. Minus zwanzig Grad Celsius hatte sie angezeigt. »Aber du kannst mich auch Ruy nennen, wie dies meine Freunde tun.«

»Du bist zurückgekommen«, stammelte Juri. »Ich habe die Lichter deines Wagens gesehen, aber ich kann meine Beine nicht mehr spüren. Ich konnte nur einen Arm heben.«

»Wie lange bist du schon hier draußen?«, fragte Rodrigo.

Er zog Juris Körper an sich, legte ihm die Jacke um und zog ihm die Kapuze über den Kopf.

»Zwei Tage. Ich wollte im nächsten Dorf Lebensmittel holen, als Amir zusammengebrochen ist.«

»Amir ist dein Kamel?«

»Amir ist tot«, sagte Juri tonlos. »Er war alles, was mir geblieben ist nach der Katastrophe. Nun bin ich ganz allein.«

Rodrigo rieb über Juris Oberarme und Ohren, um ihn zu wärmen. »Ich werde dich mit nach Baikonur nehmen, Juri.«

Etwas regte sich in Juris Gesicht, was zuvor nicht da gewesen war. Argwohn? Zorn? »Du bist ein Raumfahrer?«

»Ich will einer werden«, antwortete Rodrigo. »Es war schon immer mein Traum, nun will ich ihn verwirklichen.«

Juris Gesicht verdüsterte sich. »Ich wollte auch immer zu den Sternen«, sagte er mit zitternden Lippen. »Wie Juri Gagarin. Aber dann kam die Katastrophe und ...« Juri presste die Lippen aufeinander und schwieg.

»Was für eine Katastrophe?«, fragte Rodrigo.

In Juris Gesicht arbeitete es. Aber er schien sich davor zu fürchten, das auszusprechen, was ihm auf der Zunge lag.

Rodrigo konzentrierte sich auf Juris Beine und rubbelte so intensiv an ihnen, dass Juri einen kurzen, schmerzerfüllten Schrei ausstieß.

»Ich muss deinen Kreislauf in Bewegung bringen«, sagte Rodrigo. »Dann gehen wir zusammen zum Wagen. Okay?«

»Okay.«

Rodrigo schrak zusammen, als plötzlich ein lautes Hupen erklang.

Er drehte sich um und schrie: »Ich komme gleich!«

»Du bist nicht allein?«, fragte Juri sogleich.

»Ich wurde abgeholt. Aber der Fahrer ist nicht der freundlichste Mensch, dem ich begegnet bin. Kannst du aufstehen?«

»Ich ... ich versuch's.«

Rodrigo de Vivar ergriff den Jungen unter den Schultern und half ihm, sich aufzurichten. Aber die Beine vermochten das Gewicht nicht zu tragen. Juri knickte ein, und Rodrigo musste seine gesamte Kraft aufwenden, um ihn nicht zu Boden fallen zu lassen.

Alexej drückte erneut auf die Hupe. Einmal, zweimal. Dann ließ er sie nicht mehr los.

»Hör auf und fahr den Wagen hierher!«, schrie Rodrigo.

Der nervtötende Laut brach ab.

»Komm endlich!«, erklang die ungeduldige Stimme des Kasachen.

Heißer Zorn stieg in Rodrigo auf. »Komm du hierher!«

Er versuchte, zusammen mit dem Jungen einen Schritt zu gehen, aber dessen Beine gaben sofort wieder nach. Rodrigo hatte das Gefühl, eine Puppe in den Armen zu halten.

Endlich heulte der Motor des Ssangyong auf, und der Wagen holperte auf sie zu.

»Jetzt wird alles gut, Juri«, sagte Rodrigo. »Gleich wird dir wieder warm sein.«

Fünf Meter vor ihnen hielt Alexej an und ließ die Scheibe einen Spalt weit hinunterfahren.

»Keine Passagiere!«, rief er. »Das bringt nur Ärger!«

»Das ist Juri!«, gab Rodrigo wütend zurück. »Er ist total durchgefroren. Und wenn du nicht sofort Ärger willst, dann hilfst du besser, ihn auf die Rückbank zu legen!«

»Der da heißt nicht Juri, ich kenne ihn!«, blaffte Alexej zurück. »Erst letzte Woche versuchte er, wertvolles Material aus unserem Lager zu stehlen!«

»Juri ist mein Spitzname«, sagte der Junge in Rodrigos Armen aus. »Und es war kein Lager – es war eure Abfallgrube!«

»Einerlei! Ich nehme ihn nicht mit. Er soll zurück in sein Dorf gehen!«

Rodrigo trat einen Schritt auf den Wagen zu.

Alexej ließ die Scheibe hochfahren und fuhr zwei Meter rückwärts.

»Halt sofort an!«, schrie Rodrigo. Der Zorn und der eiskalte Wind trieben ihm Tränen in die Augen.

»Ich habe kein Dorf mehr«, schluchzte Juri. »Sie mussten es aufgeben, weil ...«

Rodrigo presste die Lippen aufeinander. Alexej rollte im Schritttempo rückwärts, wollte ihn dazu bewegen, Juri loszulassen.

Rodrigo legte einen Arm um den Jungen und stapfte verbissen auf den Wagen zu. »Ich werde ihn mitnehmen!«, schrie er gegen den Wind und das Knurren des Motors. Er spürte, wie der Zorn sich heiß in ihm ausbreitete, die beißende Kälte vergessen machte.

Alexej drückte erneut auf die Hupe. Als dies nichts nutzte, ließ er den Motor aufheulen, warf den Wagen herum und fuhr davon. Die Rücklichter leuchteten rot auf und entfernten sich schnell von ihnen.

Rodrigo schrie aus Wut und Enttäuschung.

All die Vorbereitungen für sein großes Abenteuer in Baikonur – und noch bevor er dort war, schien ihm alles zwischen den Fingern zu zerrinnen. Der falsche Namen, der neue Reisepass, die Operationen, mit denen sein Gesicht leicht verändert worden war. Und nun scheiterte alles an einem verstockten Menschen.

»Lass mich!«, stieß Juri aus. »Auf dich wartet der Weltraum. Ich habe sowieso nichts mehr. Ich kann genauso gut ...«

»Nein!«, fuhr ihn Rodrigo an. »Ich werde dich nicht zurücklassen! Schließ die Augen! Wir werden ihn gleich wieder eingeholt haben!«

»Wie?«, hauchte Juri.

Rodrigo hatte sich entschieden. Es gab nur diesen einen Weg. »Schließ die Augen!«, befahl er erneut.

Als er sah, wie Juri die Augen zusammenpresste, sprang er.

Er materialisierte in einem Funkenregen, keine fünfzig Meter vor dem heranbrausenden Ssangyong.

Die Fernlichter flammten auf, dann geriet der Geländewagen ins Schleudern. Rodrigo presste den Körper des Jungen fest an sich. Falls Alexej nicht anhielt, würde er erneut teleportieren müssen.

Schlingernd und mit quietschenden Bremsen kamen die Scheinwerfer auf ihn zugerast. In seinen Armen spürte er, wie Juri zusammenzuckte und dann laut aufschrie.

Der Ssangyong begann sich auf der schneebedeckten Straße zu drehen. Haarscharf an den beiden vorbei. Für eine Zehntelsekunde sah Rodrigo Alexejs weit aufgerissene Augen. Dann kam der Wagen am Straßenrand zum Stehen.

»Warte hier!«, befahl er flüsternd und ließ Juri sanft zu Boden gleiten.

Dann rannte Rodrigo auf den Wagen zu, riss die Fahrertür auf, griff an dem perplexen Alexej vorbei, öffnete dessen Sicherheitsgurt und nahm seine Hand.

»Nun werde ich dir mal zeigen, was ich kann!«, zischte er.

Rodrigo de Vivar konzentrierte sich und teleportierte.

Dreihundert Meter vom Wagen entfernt materialisierten sie. Alexej, immer noch in der sitzenden Haltung, die er im Wagen gehabt hatte, fiel wie ein Sack Mehl in den Schnee. Rodrigo bückte sich und ergriff seinen Kragen.

»Wenn du nicht sofort spurst, werde ich dich allein hier zurücklassen, wie du Juri und mich dem Schicksal überlassen wolltest«, sagte er mit gefährlich leiser Stimme.

Alexej stierte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.

»Wenn du mir versprichst, dass du ab jetzt alles machst, was ich dir sage, sind wir wieder Freunde, Alexej!«, fuhr Rodrigo fort. »Ich werde deine kleine Aktion vergessen, und du fährst Juri und mich nach Baikonur. Dort werde ich dir ein paar Dollar geben, um deine zusätzlichen Mühen zu vergelten, und du wirst vergessen, was du eben erlebt hast. Ist das klar?«

Sekundenlang blickte der Kasache ihn entgeistert an. Dann nickte er eifrig. »Ich verspreche es, Gospodin!«

»Schwör es!«

»Ich schwöre es!«

Rodrigo ließ den Kragen des Mannes los. »Wenn du versuchst, dich zu rächen, oder wenn du auch nur einem Menschen ein Sterbenswörtchen verrätst, werde ich nachts zu dir kommen und mit dir zum Aralsee springen und dich darin verschwinden lassen. Hast du mich verstanden?«

»Jedes Wort, Gospodin.«

»Nenn mich nicht ›Herr‹, nenn mich Rodrigo!«

»Ich verstehe, Rodrigo!«

Er nickte und half Alexej auf die Beine zu kommen. Dann ergriff er seinen Oberarm und teleportierte mit ihm zum Wagen zurück. Widerspruchslos half der Kasache, den verunsicherten Juri in den Wagen zu legen.

2.

20. März 2037

»Sid González ist in Baikonur!«, sagte er zu sich selbst und lauschte dem Klang des Satzes.

War es nicht wunderbar?

Okay, dachte er. Offiziell ist nicht Sid González hier, sondern Rodrigo de Vivar – aber das ändert auch nichts an der Tatsache, dass gerade ein riesiger Traum von mir in Erfüllung geht!

Baikonur!

Sid hatte viele Aufnahmen vom Weltraumzentrum gesehen. Die uralten, noch schwarz-weißen Bilder von Juri Gagarins erstem Flug in den Weltraum und die jüngeren, dreidimensionalen Filme mit den Kosmonauten und internationalen Raumfahrern, die zur ISS und später zur Mondbasis gestartet waren.

Sie hatten ihm nur einen leichten Vorgeschmack darauf gegeben, was Baikonur ausmachte. Das Gelände war in allen Dimensionen gigantisch. Sid fühlte sich inmitten der Monumente der archaischen Raumfahrt und der modernen Schiffe wie in einem eigens für ihn gestalteten Wunderland.

Baikonur nahm eine Fläche von weit über 8000 Quadratkilometern ein, mit einer Ausdehnung von 95 Kilometern von West nach Ost und 90 Kilometern von Süd nach Nord.

Schon vor dem im letzten Sommer schlagartig eingeläuteten neuen Zeitalter war Baikonur das größte Kosmodrom der Welt gewesen. Größer als Kourou, das durch die ESA betrieben worden war, und die zur privaten Virgin Galactic gehörenden Spaceports in Kiruna und New Mexico. Und – was die Russen immer noch ärgerte – 70 Prozent größer als das wegen Grenzstreitigkeiten mit China nie komplett ausgebaute Kosmodrom Wostotschny, das die russische Abhängigkeit von Kasachstan hätte verringern sollen.

»De Vivar! Träumst du schon wieder?«, fragte eine belustigt klingende Stimme in Sids Rücken.

Er wandte sich lächelnd um. »Ist es nicht phantastisch hier?«

Maurice S. Hollander zuckte mit den Schultern. »Es ist groß«, meinte er leichthin. »Aber den ganzen Schrott, der herumsteht, hätte man längst zu Alteisen machen können.«

Sid runzelte die Stirn. »Hast du eine Ahnung, wie geschichtsträchtig der Ort ist? Es wäre Frevel, die alten Sojus-Raketen und ihre Abschussrampen zu verschrotten. Nur weil wir bald mit modernen Raumschiffen durch das All fliegen werden, heißt es nicht, dass man die Errungenschaften der Menschen einfach vergessen sollte. Die vielen Menschen, die an den Raumfahrtprogrammen gearbeitet haben, die Astronauten und Kosmonauten, die Geschichte geschrieben haben, die ihr Leben gegeben haben, um zu den Sternen zu reisen ...«

»Jetzt mach mal einen Punkt!«, sagte Hollander schroff. »Vieles davon geschah während des Kalten Krieges, als die Russen uns am liebsten vom Angesicht der Erde getilgt hätten.«

Sid seufzte. Er mochte seinen Bettnachbarn, seit sich dieser bei ihm vorgestellt hatte. Maurice S. Hollander war groß, athletisch, blauäugig, die dunkelblonden Haare millimeterkurz gestutzt – der typische All American Boy, wie man ihn aus Filmen und Podserien kannte. Und er hatte ein Charisma, das einen sofort für ihn vereinnahmte.

Sid hatte schnell gemerkt, dass der Amerikaner einen anderen Blick auf die Weltgeschichte hatte als er. Solange sie nicht über Politik sprachen, hatten sie die Möglichkeit, Freunde zu werden.

Vier Tage waren sie bereits in Baikonur. Bisher hatten sie einzig ein paar Fitness-Checks über sich ergehen lassen müssen und waren mit ihrer persönlichen Ausrüstung – Kleider, Lernpods und eine Übungswaffe – ausgerüstet worden. Daneben hatten sie die Gelegenheit gehabt, mit den Kadetten der Februar-Ausbildungseinheit das Gelände zu erkunden.

Hollander schlug ihm jovial auf die Schulter. »Wir wollen uns nicht streiten, de Vivar. Komm, wir bringen den Übungsparcours nochmals hinter uns, bevor wir zur großen Begrüßungsansprache von Oberst Kowaltschuk gehen!«

Sid lächelte. »Das ist ein guter Vorschlag, Hollander. Aber ich will noch kurz nach Juri sehen. Bei ihm entscheidet sich heute, ob er in die Akademie aufgenommen wird.«

Hollander zuckte die Achseln. »Ich bewundere dich ja dafür, dass du dich so für den Jungen einsetzt. Aber ich frage mich, ob das nicht hinausgeschmissenes Geld ist.«

»Die paar Solar für die Einschreibegebühr und das Depot für die Ausrüstung. Wenn ich ihm dafür einen lang gehegten Traum ermöglichen kann, ist das doch ein Klacks.«

»Aber ist er denn überhaupt dafür bereit? Vor vier Tagen wäre er fast erfroren, und nun soll er mit uns mithalten? Ich habe immerhin drei Monate lang für die Überlebensübung trainiert.«

»Wir werden sehen«, sagte Sid. »Juri wird bei der Überlebensübung sicher nicht schlechter abschneiden als wir. Sein gesamtes bisheriges Leben in der Steppe war eine Überlebensübung.«

Hollander grinste breit. »Ich werde ihn weit hinter mir lassen. Wollen wir wetten?«

Sid lächelte zurück und deutete auf die beeindruckende Brustmuskulatur, die sich unter Hollanders Trainingsshirt abzeichnete. »Besser nicht. Gegen dich wird er es tatsächlich schwer haben.«

»Und gegen dich weniger, Compadre. Du solltest wirklich den Übungsparcours nochmals bestreiten. Das würde dir guttun.«

»Ich weiß. Aber Juri benötigt meine Unterstützung. Da werde ich ihn nicht hängen lassen.«

»Wie du meinst.« Hollander ließ den Kopf kreisen. Irgendetwas in seinem Nacken knackte. »Dann sehen wir uns bei der Ansprache. Viel Spaß mit deinem Schützling!«

Er trabte zur Tür, blieb aber nochmals stehen und drehte sich zu Sid um. »Ich habe übrigens eine kurze Suchabfrage zu deinem Namen gemacht.«

Sid schluckte. »Und?«

»Mir kam der Name Rodrigo de Vivar irgendwie bekannt vor. Und siehe da, das war der Name dieses Ritters, der von Charlton Heston in einem Film verewigt wurde.«

Sid lächelte scheu. »Das stimmt.«

»De Vivars Spitzname war ›El Cid‹. Willst du, dass ich dich so nenne?«

Sid schüttelte leicht den Kopf. »Ich kenne die Legende von El Cid. Aber er war Spanier, und wir Lateinamerikaner haben nicht nur gute Erfahrungen mit den Spaniern gemacht. Die Namensgleichheit ist purer Zufall. Am meisten verbindet mich mit ihm die Inschrift auf seinem Grabstein: ›A todos alcanza la honra del que en buena hora nació‹.«

»Alle erreicht die Ehre dessen, der zur rechten Stunde geboren ward«, übersetzte Hollander nach kurzem Zögern.