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Im Juni 2036 erreicht der Astronaut Perry Rhodan den Mond und stößt dort auf ein havariertes Raumschiff der Arkoniden. Diese Begegnung verändert die Erde und die Menschheit: Die Erkenntnis, dass die Menschheit nur eine von unzähligen intelligenten Spezies ist, schafft ein neues Bewusstsein. Durch die Gründung der Terranischen Union werden die Nationen zusammengeführt, ferne Welten rücken in greifbare Nähe. Eine beispiellose Ära des Friedens und Wohlstands scheint bevorzustehen. Doch sie kommt zu einem jähen Ende, als das Große Imperium das irdische Sonnensystem überfällt. Die Erde wird zu einem Protektorat Arkons. Die Terranische Union beugt sich zum Schein den neuen Herrschern, während die globale Untergrundorganisation Free Earth den Kampf gegen die Besatzer aufnimmt. Eine Frage stellt sich jeder: Was sucht das mächtige Imperium auf der Erde, die für die Arkoniden eine Primitivwelt darstellt? Der Mutant Ras Tschubai stößt in den äußersten Regionen des Sonnensystems auf eine mögliche Antwort: Er findet sich in der Gewalt der Sternenkinder wieder ...
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Seitenzahl: 230
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Cover
Vorspann
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Impressum
Band 86
Sternenkinder
von Rüdiger Schäfer
Im Juni 2036 erreicht der Astronaut Perry Rhodan den Mond und stößt dort auf ein havariertes Raumschiff der Arkoniden. Diese Begegnung verändert die Erde und die Menschheit: Die Erkenntnis, dass die Menschheit nur eine von unzähligen intelligenten Spezies ist, schafft ein neues Bewusstsein.
Durch die Gründung der Terranischen Union werden die Nationen zusammengeführt, ferne Welten rücken in greifbare Nähe. Eine beispiellose Ära des Friedens und Wohlstands scheint bevorzustehen.
Doch sie kommt zu einem jähen Ende, als das Große Imperium das irdische Sonnensystem überfällt. Die Erde wird zu einem Protektorat Arkons. Die Terranische Union beugt sich zum Schein den neuen Herrschern, während die globale Untergrundorganisation Free Earth den Kampf gegen die Besatzer aufnimmt.
Eine Frage stellt sich jeder: Was sucht das mächtige Imperium auf der Erde, die für die Arkoniden eine Primitivwelt darstellt? Der Mutant Ras Tschubai stößt in den äußersten Regionen des Sonnensystems auf eine mögliche Antwort: Er findet sich in der Gewalt der Sternenkinder wieder ...
Als Ras Tschubai zu sich kam, glaubte er für einen Augenblick, er hätte sein Gehör verloren. Noch während er sich darüber klar zu werden versuchte, ob er das als Segen oder Fluch betrachten sollte, drang ein leises Piepsen an seine Ohren, das mit jeder Sekunde lauter wurde.
Widerstrebend schlug er die Augen auf. Kurz hatte er das Gefühl zu fallen; dann war der Moment vorbei. Um ihn herrschte dämmriges Zwielicht. Er war müde, doch als er die blinkende Markierung im Zentrum seiner Helmscheibe bemerkte, war er schlagartig hellwach.
Sauerstoffalarm!
Zwar war der Mutant weit davon entfernt, die arkonidische Schriftsprache perfekt zu beherrschen, doch in den letzten Monaten hatte er einiges aufgeschnappt. Die Zeichen, die er vor sich sah, informierten ihn darüber, dass die Atemluftvorräte seines Schutzanzugs so gut wie aufgebraucht waren.
Wie lange bin ich bewusstlos gewesen?, schoss es ihm durch den Kopf.
Prüfend bewegte er Arme und Beine. Er spürte keinen Widerstand, war nicht in der Lage, zu sagen, wo oben und wo unten war. Sein Kopf schmerzte; ansonsten schien er körperlich in Ordnung zu sein.
Spielten ihm seine Sinne einen Streich, oder wurde es tatsächlich heller? Aus dem Halbdunkel schälten sich nach und nach die Konturen einer Felswand. Schräg gegenüber sah er ein kreisförmiges, etwa eineinhalb Meter durchmessendes Lamellenschott. In unregelmäßigen Abständen machte Tschubai Nischen aus, in denen kleine Haufen kieselähnlicher Steine aufgeschichtet waren. Von ihnen ging ein sich langsam, aber stetig verstärkendes Leuchten aus.
Jählings kehrten seine Erinnerungen zurück.
Free Earth. Die Flucht nach Mumbai. Die Gefangennahme durch Chetzkel, den arkonidischen Geschwaderkommandanten und militärischen Oberbefehlshaber der Invasionsflotte im Sonnensystem. Der Flug mit den Arkoniden in den Kuipergürtel und die Expedition in die Tiefen des Mondes Dysnomia ...
Die Bilder kamen jetzt in immer schnellerer Folge. Sie waren auf geheimnisvolle Fremde gestoßen, die auf den ersten Blick an verkohlte Mumien erinnerten. Allerdings hatten sich diese als überaus lebendig erwiesen und sie kurze Zeit später angegriffen. Es war zu einem Feuergefecht gekommen, in dessen Verlauf Tschubai und sein Begleiter Frederik Andersson von Chetzkel und den anderen Arkoniden getrennt worden waren. Und dann ...
Die Kopfschmerzen wurden schlimmer. Zudem hatte er durch seine Bewegungen begonnen, sich langsam in der Luft zu drehen. Der Mutant versuchte, Kontakt mit der Positronik seines Uscots aufzunehmen, doch offenbar verfügte die klobige Schutzmontur nur noch über einige wenige Grundfunktionen. Immerhin stellte Tschubai über die Analyseeinheit mit nicht geringer Erleichterung fest, dass die seltsame Höhle, in der er aufgewacht war, zwar keine Schwerkraft, dafür aber eine atembare Atmosphäre aufwies. Er öffnete den Helm, und der Alarm verstummte. Die Luft schmeckte frisch und rein; allerdings war es unangenehm kalt.
Erst jetzt fand er Zeit, sich genauer umzusehen, was angesichts der Schwerelosigkeit nicht ganz einfach war. In seinem Rücken schwebten zwei weitere Gestalten. Eine davon – durch das Helmvisier erkannte er den flachsblonden Haarschopf von Frederik Andersson – begann sich soeben zu bewegen. Aus den Akustikfeldern der Funkanlange drang verhaltenes Stöhnen.
Tschubai überprüfte die Systeme des Uscots. Die Lebenserhaltung arbeitete bis auf die Sauerstoffversorgung einwandfrei. Offenbar hatte der Vorratstank während der Auseinandersetzung mit den Orristan etwas abbekommen. Erwartungsgemäß reagierten auch die Kontrollen für den Schutzschirm nicht. Waffen hatte er als Gefangener Chetzkels ohnehin keine mit sich geführt.
Es sieht ganz so aus, als ob wir vom Regen in die Traufe geraten seien, dachte Tschubai.
Hielten sie sich noch immer auf Dysnomia auf? Den Höhlenwänden fehlten die typischen Einsprengsel des rötlichen Metalls, aus dem auch die Arkoniden nicht schlau geworden waren. Es hatte sich wie ein Netz aus Blutgefäßen durch die gesamte Station gezogen, doch das musste nicht heißen, dass es keine Räume ohne dieses Material gab. In der Kürze der Zeit hatten sie lediglich einen winzigen Abschnitt der Anlage erkundet.
»Frederik!«, rief Tschubai und zuckte beim Klang seiner eigenen Stimme zusammen. Sie war viel zu laut und erzeugte ein geisterhaftes Echo. Für einen Moment befürchtete er, dass ihm ein neuer Anfall bevorstand, doch als er zaghaft in die Ferne lauschte, war da nur beruhigende Stille, und er entspannte sich wieder.
»Frederik! Sind Sie wach?«
»Wenn Sie es so nennen wollen. Wo, zum Teufel, sind wir?«
»Keine Ahnung. Wer ist das da hinter Ihnen?«
Andersson ruderte unbeholfen mit Armen und Beinen, was angesichts der fehlenden Gravitation wenig Wirkung zeigte. Schließlich verrenkte er sich den Hals, um über die eigene Schulter blicken zu können.
»Das ... das sieht aus wie Lorir«, stieß er keuchend hervor. »Und der Bursche scheint ziemlich was abgekriegt zu haben.«
Tschubai fluchte innerlich. Der Arkonide war einer von Chetzkels Soldaten und in ihrer Nähe gewesen, als sie von der Hauptgruppe getrennt worden waren. Er hatte zu den wenigen gehört, die ihn und die anderen Menschen an Bord der AGEDEN nicht wie Dreck behandelt hatten.
Der Mutant musterte die verschieden langen Schlaufen, die überall in die Felswände eingelassen waren. Während ihres Aufenthalts in der Station von Dysnomia hatte er sie nicht gesehen; ein weiterer Hinweis darauf, dass die Mumienwesen sie an einen anderen Ort gebracht hatten. Vermutlich war die Schwerelosigkeit hier der Normalzustand, und man bewegte sich mithilfe der Wandschlaufen.
Wenn man sie denn erreichen kann ..., zuckte es durch Tschubais schmerzenden Schädel.
Die nächste Wand war mindestens fünf Meter entfernt, und die Pulsatortriebwerke des Uscots ließen sich ebenso wenig aktivieren wie die meisten anderen Systeme der Montur.
Methodisch durchsuchte er sämtliche Taschen und Behältnisse, die der Schutzanzug besaß. Sie waren ausnahmslos leer.
»Was machen Sie da?«, wollte Andersson wissen.
»Ich suche nach einem Seil oder zumindest etwas Ähnlichem. Wir müssen die Wand erreichen und uns um Lorir kümmern.«
»Mir ist schlecht. Außerdem ist mir schwindlig, und ich habe kalte Füße.«
Tschubai musterte seinen Begleiter, der inzwischen ebenfalls den Helm geöffnet hatte. Sein Gesicht war aufgedunsen, die Färbung der Haut war ein kräftiges Rosa.
»Das ist völlig normal«, sagte der Mutant. »Sie sind nicht an die fehlende Schwerkraft gewöhnt. Die Übelkeit kommt durch die Störung des Gleichgewichtssinns. Fixieren Sie mit den Augen einen Punkt an der Wand und behalten Sie ihn fest im Blick. Geben Sie Ihrem Körper Zeit, sich anzupassen.«
»Das ist mir schon klar«, maulte Andersson. »Hatte ich nicht erwähnt, dass ich mal Astronaut werden wollte? In der Theorie bin ich also ziemlich gut. Es hapert lediglich bei der Praxis. Ich hoffe nur, dass sich mein Magen mit dem Anpassen beeilt. Sonst kann ich für nichts garantieren.«
»Tun Sie mir einen großen Gefallen, und behalten Sie Ihr Mittagessen bei sich.«
»Ich werde mein Bestes geben.«
»Was Ihre übrigen Symptome angeht: In der Schwerelosigkeit wandern das Blut und vor allem das Wasser im Gewebe in die obere Körperhälfte, weil es keine Gravitation mehr gibt, die sie nach unten zieht. Vermutlich sehe ich im Moment ebenso aufgebläht aus wie Sie ...«
Der Norweger grinste müde. »Ich wollte nichts sagen, um Ihre Gefühle nicht zu verletzen.«
»Ich bin gerührt. Der Anpassungsprozess kann leider ein paar Tage dauern, aber Sie werden sich nach und nach besser fühlen. Trinken Sie häufig und in kleinen Schlucken. Das erhöht das Blutvolumen. Und bleiben Sie vor allem ruhig. Sie haben nichts zu befürchten.«
»Sie kennen sich bemerkenswert gut aus, Ekene.«
»Ras.«
»Wie bitte?«
»Mein Name ist nicht Ekene Munashe, sondern Ras Tschubai. Und ich finde, wir sollten die förmliche Anrede endlich vergessen.«
»Ras ... Ras Tschubai«, wiederholte Andersson konsterniert. »Sie ... du meinst ... ich verstehe nicht ...«
»Ich werde dir alles erklären. Aber nicht jetzt. Jetzt müssen wir Lorir helfen.«
Der Mutant öffnete die Verschlüsse, die seinen Helm mit dem Halsstück des Uscots verbanden. Mit einem kaum hörbaren Geräusch lösten sich die magnetischen Dichtungen. Tschubai schätzte, dass das unförmige Ding unter normalen Umständen etwa vier bis fünf Kilo wog. Er hoffte, dass der Impuls ausreichte.
»Ich werfe dir meinen Helm zu«, informierte er Andersson. »Wenn mich mein physikalisches Grundwissen nicht im Stich lässt, sollte ich dadurch einen Bewegungsimpuls entgegen der Wurfrichtung erhalten und auf die Wand zutreiben. Falls er nicht ausreicht, musst du den Helm zu mir zurückwerfen. Alles klar?«
»Ich denke schon.«
Ras Tschubai nickte, visierte sein Gegenüber an – und warf. Der Helm sauste mit beachtlichem Tempo davon. Frederik Anderson streckte die Arme aus, bekam ihn zu fassen und zog ihn zu sich heran. Sofort kippte er wie in Zeitlupe nach hinten und begann sich zu drehen.
Ob ich einen Gegenstand wegschleudere, oder von ihm getroffen werde, ist egal, dachte der Mutant. In beiden Fällen wirkt eine äußere Kraft auf meinen Körper und beeinflusst ihn entsprechend.
Auch Tschubai hatte sich in Bewegung gesetzt; allerdings war die Geschwindigkeit nur gering. »Kriegst du es hin, mir das Teil wieder zuzuwerfen?«
»Ballspiele sind nicht so ganz mein Ding«, gab Andersson zurück. »Und diese Dreherei hilft auch nicht unbedingt. Ich ...« Er brach ab und würgte mehrere Male.
Tschubais Befürchtung, dass er sich übergab, bewahrheitete sich jedoch glücklicherweise nicht. »Konzentrier dich, Frederik! Warte, bis du mich im Blickfeld hast!«
»Okay, okay – und nenn mich um Himmels willen nicht Frederik. Das tut nur meine Mutter. Sag Rick zu mir.«
»Achtung, Rick! Gleich ist es so weit. Wirf erst, wenn du sicher bist ...«
Die Gesichtsfarbe des Norwegers spielte inzwischen ins Grünliche, doch er hielt sich tapfer. Der Helm verließ seine Hände und trudelte in Tschubais Richtung, dem es problemlos gelang, ihn einzufangen.
»Großartig!«, lobte er Andersson, der sich nun deutlich schneller drehte. »Versuchen wir das Ganze gleich noch einmal.«
»Nur zu ... ich habe ... gerade nichts Besseres vor ...«
Auch die nächsten zwei Würfe waren erfolgreich. Beim vierten Versuch schleuderte der rotierende Andersson den Helm plötzlich unkontrolliert in den Raum hinein. Offenbar hatte er völlig die Orientierung verloren.
Tschubai sprach seinem Begleiter gut zu, während er langsam, aber unaufhaltsam der Wand entgegenschwebte. Einige Minuten später hatte er sie erreicht und packte eine der Schlaufen. Erleichtert hielt er einen Moment inne. Die Abwesenheit von Oben und Unten machte ihm zu schaffen. Zwar erlebte er die Schwerelosigkeit nicht zum ersten Mal, aber auch er brauchte Zeit, um sich daran zu gewöhnen.
Er zog sich an der Wand entlang in Richtung des zweiten Körpers. Lorir hatte sich in der vergangenen halben Stunde weder bewegt noch auf Tschubais Ansprache reagiert. Beim Näherkommen bemerkte der Mutant, dass die linke Seite seines Schutzanzugs aufgerissen war. Die Kombination, die der Arkonide daruntertrug, zeigte einen hässlichen braunen Fleck, der langsam größer wurde. Über der Wunde war eine feine Wolke aus perfekt kugelförmigen, dunkelroten Tropfen zu erkennen, die wie ein Miniatur-Sternenhaufen um sich selbst rotierte und sich langsam von dem Arkoniden entfernte.
Er blutet, zuckte es durch Tschubais Gedanken. Und die verdammte Medopositronik funktioniert nicht.
»Rick!«, rief er. »Ich werde als Ersten Lorir holen. Hältst du noch ein paar Minuten durch?«
»Habe ich ... eine Wahl?«
»Ich fürchte nicht.«
»Dann hör auf zu schwafeln und beeil dich gefälligst! Ich kriege hier 'nen Drehwurm ...«
Tschubai erlaubte sich ein kurzes Grinsen, wurde jedoch schnell wieder ernst. Was er vorhatte, war nicht ohne Risiko, aber eine andere Möglichkeit sah er derzeit nicht.
Er packte zwei der Schlaufen mit beiden Händen und setzte die Stiefel gegen die Wand. Auf Dysnomia hatten ihm die Bleiplatten in den Sohlen gute Dienste geleistet; allerdings hatte der Mond eine – wenn auch geringe – Schwerkraft besessen.
Tschubai versuchte, den benötigten Impuls so gut wie möglich zu schätzen – und stieß sich ab. Mit beängstigender Geschwindigkeit glitt er durch den Raum, prallte gegen Lorir und klammerte sich an ihm fest. Der Arkonide stieß einen undefinierbaren Laut aus, wachte jedoch nicht auf. Sofort drehte sich der Mutant zur Seite und streckte die Beine aus.
Fast hätte er vor Freude einen Schrei ausgestoßen. Die kinetische Restenergie seines Fluges reichte aus, um ihn und Lorir hinlänglich zu beschleunigen und in Richtung der gegenüberliegenden Wand zu tragen. Dort sicherte er den Arkoniden an einer der Schlaufen und wandte sich seinem zweiten Begleiter zu.
»Bravo«, sagte Andersson. »Die Unterkunft ist zwar beschissen, aber das Unterhaltungsprogramm kann sich sehen lassen.«
»Mach dich bereit!« Tschubai ignorierte den Sarkasmus seines Gegenübers. »Bei dir nehme ich mehr Schwung. Du bist nicht verletzt, und an ein paar blauen Flecken wirst du nicht sterben. Ach ja: Wag es nicht, auf meinen Schutzanzug zu kotzen.«
»Dein Mitgefühl rührt mich zu Tränen.«
Tschubai nahm erneut Maß. Diesmal stieß er sich mit aller Kraft ab, die er aufzubringen imstande war. Der Aufprall trieb ihm einen Großteil der Luft aus den Lungen. Er spürte, wie sich Andersson an ihn krallte. Gemeinsam taumelten sie weiter, erreichten die Wand und fanden jeder eine Schlaufe.
»Danke.« Der stämmige Norweger atmete schwer. »Und was machen wir jetzt?«
Sie hatten den Arkoniden von der Panzerung des Uscots befreit und ihm auch das Oberteil der Kombination ausgezogen. Der Schnitt, der von Lorirs Hüfte bis hinauf zur Armbeuge reichte, blutete noch immer. Allerdings hatte sich an den Wundrändern bereits ein dicker Schorf gebildet, der die Verletzung teilweise verschloss. Vermutlich hatte sich während des Kampfs mit den Orristan irgendein Metallteil oder ein spitzes Felsstück in Lorirs Seite gebohrt.
»Das deutet auf eine zelluläre Entzündung hin«, sagte Frederik Andersson leise. »Siehst du hier die blassgelben Stellen? Das ist getrocknetes Exsudat.«
»Du meinst Eiter«, gab Tschubai zurück.
»Meinetwegen auch das. Bei derart großen Wunden lässt sich das Eindringen von Bakterien nicht verhindern. Da das Immunsystem ohnehin geschwächt ist, kann der Körper nicht adäquat reagieren. Lorir braucht dringend Antibiotika – und wir müssen die Wunde verschließen. Er hat Glück, dass es hier so kalt ist. Das hat die Ausbreitung der Erreger fraglos verlangsamt.«
»Dieser elende Chetzkel hat uns sämtliche Notrationen und Vorräte abgenommen. Kommen wir irgendwie an die Arzneimittel in den Anzügen ran?«
»Ohne Positronik? Eher nicht. Vielleicht, wenn ich das passende Werkzeug hätte ... und Schwerkraft ... und ein paar Stunden Zeit ...«
»Hör auf! Ich habe es kapiert. Falls ich eine gute Fee treffe, werde ich ihr deine Wünsche ausrichten.« Für einige Sekunden herrschte betretenes Schweigen.
»Tut mir leid, Ras, aber was soll ich dir sagen ...«, setzte Andersson an.
»Nein«, unterbrach Tschubai. »Mir tut es leid. Ich hatte kein Recht, dich so anzufahren. Es ist nur ...«
»Ich weiß. Es ist frustrierend. Warum kümmert man sich nicht um uns? Diese ...«
»... Orristan«, half Tschubai aus.
»Genau. Diese Orristan müssen doch mitkriegen, dass Lorir Hilfe braucht. Wollen die uns hier drin einfach verrecken lassen?«
»Der einzige Ausgang scheint das Schott dort zu sein«, sagte Tschubai. »Wenn das hier eine Zelle ist, frage ich mich, wie wir hergekommen sind. Woran erinnerst du dich, Rick?«
»An hässliche Mumien, die aussahen, als hätten sie ein paar Tage zu lang in der Sonne gelegen.«
»Genau. Und sie haben sich in der geringen Schwerkraft Dysnomias mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit bewegt. Wir befinden uns hier wahrscheinlich in ihrem natürlichen Lebensraum.«
»Was uns aber im Moment nicht weiterhilft. Los, fass mal mit an! Ich muss zumindest versuchen, Lorir einen Notverband anzulegen. Wenn er noch mehr Blut verliert, ist er in ein paar Stunden tot.«
Andersson zog das Oberteil der eigenen Kombination aus und versuchte, es mithilfe seiner Zähne in Streifen zu reißen, was jedoch nicht funktionierte. Schließlich wickelte er das Kleidungsstück kurzerhand zusammen und benutzte die Ärmel, um es zu fixieren. Tschubai unterstützte ihn dabei nach Kräften, doch der Norweger stellte sich so geschickt an, dass er eigentlich keine Hilfe benötigte. Stattdessen inspizierte Tschubai den Uscot Lorirs. Er fand ein paar Konzentratriegel, eine Art Taschenmesser, eine Rolle Vitamintabletten und eine gefaltete Folie mit dem Bild einer Arkonidin darauf, die zwei Kinder im Arm hielt.
»Eigentlich müsste ich die Wunde auswaschen«, sagte Andersson, »aber das ist ohne Schwerkraft nicht möglich. Mit ein paar feuchten Tüchern könnte ich sie wenigstens notdürftig säubern, auch wenn ich bezweifle, dass das viel helfen würde.«
Tschubai sagte nichts. Er wusste, dass Andersson früher in der medizinischen Forschung der irdischen Weltraumbehörde gearbeitet hatte, und ließ ihn gewähren. Zwar gab es zwischen Arkoniden und Menschen einige bedeutsame anatomische Unterschiede, doch der Norweger war im Moment die einzige Chance, die Lorir besaß.
Nachdenklich schaute der Mutant einigen Blutstropfen nach, die trotz fehlender Gravitation nach oben stiegen. Wahrscheinlich gab es an diversen Stellen ihrer Zelle Öffnungen, die die Luft ansaugten. So etwas war auch in den irdischen Orbitalstationen Standard, um Kleinteile aus der Atmosphäre zu entfernen, die sich bei Schwerelosigkeit nahezu zwangsläufig ansammelten und die Umgebung verunreinigten.
»Verdammt!«, fluchte Andersson. »Ich habe keine Ahnung, wie tief der Schnitt geht. Wenn die inneren Organe verletzt sind, kann ihn nur eine Operation retten. Ich bin nicht einmal ein Arzt. Außerdem habe ich nicht die geringste Ahnung von arkonidischer Anatomie. Ich bin ... ich habe ...«
Tschubai fasste ihn am Arm. »Tu, was du kannst, Rick!«, sagte er leise. »Mehr wird niemand von dir verlangen, okay?«
Andersson nickte heftig. »Okay.«
Während sich der Norweger weiter um Lorir kümmerte, untersuchte Tschubai ihr seltsames Gefängnis, das im Prinzip nichts weiter war als eine annähernd kugelförmige Höhle. Das Schott war selbstverständlich verschlossen; ein Öffnungsmechanismus war nirgendwo zu entdecken. Er schob die rechte Hand in eine der Wandschlaufen und konzentrierte sich auf das, was er akustisch wahrnahm.
Du darfst keine Angst vor deiner Paragabe haben, ermahnte er sich selbst. Die Anfälle sind furchtbar, aber du wirst sie eines Tages in den Griff bekommen.
Für einen Atemzug dachte er an Drommetan, das arkonidische Sedativ, das ihm so viel Erleichterung verschafft hatte. Das Verlangen nach dem Medikament war nach wie vor stark, aber er hatte das Gefühl, es kontrollieren zu können.
Letzteres lag natürlich auch daran, dass um ihn herum eine fast andächtige Stille herrschte. Erst vorsichtig, dann immer offensiver, lauschte er auf Stimmen, Geräusche, Anzeichen dafür, dass sie nicht allein waren, dass man sie nicht auf irgendeinem einsamen Steinbrocken mitten im Kuipergürtel lebendig eingemauert hatte.
War das womöglich die Lösung? Hatten die undurchschaubaren Orristan sie gefangen genommen, um sie auf diese grausame Weise für das Eindringen in die Station auf Dysnomia zu bestrafen? Was wussten sie schon von diesen seltsamen Lebewesen?
Das dumpfe Brummen war urplötzlich da. Es kam aus einer bestimmten Richtung, wurde lauter, als er sich darauf konzentrierte. Das mussten Maschinen sein. Wahrscheinlich Energieerzeuger.
Er spürte, wie ihn das Lauschen auslaugte, wie die Anstrengung seine ohnehin spärlichen Kräfte zusätzlich erschöpfte und ihm trotz der frostigen Temperaturen den Schweiß auf die Stirn trieb. Nach einigen weiteren Minuten gab er auf. Da war nichts. Sie waren tatsächlich allein, und so wohltuend und erholsam er das Schweigen bislang auch empfunden hatte, so sehr versetzte es ihn inzwischen in Angst.
»Er wacht auf!«, riss ihn die Stimme von Frederik Andersson aus den trübsinnigen Grübeleien. Tschubai schwebte zu den beiden Männern hinüber. Lorir hatte die Augen geöffnet. Sie leuchteten in intensivem Rot. Die Lippen des Arkoniden bewegten sich, doch er brachte kein Wort heraus.
Andersson zog den schmalen Trinkhalm aus dem Halswulst des Schutzanzugs des Arkoniden und steckte ihn dem Verletzten in den Mund. Sofort begann Lorir daran zu saugen, nur um Sekunden später das Gesicht zu verziehen und mit den Zähnen zu knirschen.
»Er hat Schmerzen«, sagte der Norweger. Er legte Lorir eine Hand auf die Stirn. »Und Fieber. Wenn wir wenigstens ein paar lausige Aspirin hätten ...«
»Wo ... wo sind ... wir?« Die Worte des Arkoniden waren kaum zu verstehen.
»Das wüssten wir selbst gern«, antwortete Tschubai. »Bist du in der Lage, etwas zu essen?« Er entfernte die Verpackung von einem der Konzentratriegel und hielt Lorir das braungraue Stück hin.
»Aber nicht, dass du uns Menschen später anklagst, dich gefoltert zu haben«, sagte Andersson und deutete auf den Riegel. »Ich weiß, wie das Zeug schmeckt.«
Tschubai warf einen kurzen Blick auf den Knopf im Ohr des Norwegers. Der mobile Translator des Uscots funktionierte offenbar einwandfrei. Er selbst musste sich diesbezüglich keine Sorgen machen, da er eines der winzigen Übersetzungsgeräte als Implantat trug.
Der Arkonide brachte tatsächlich so etwas wie ein Lächeln zustande. In der nächsten halben Stunde gelang es ihm mit Tschubais Hilfe, die Hälfte der weichen Konzentratmasse herunterzuwürgen. Danach schien er sich tatsächlich ein wenig besser zu fühlen. Fahrig tastete er die Gürteltaschen seines Schutzanzugs ab.
»Suchst du das hier?«, fragte Tschubai und hielt ihm das Bild der Arkonidin mit den beiden Kindern hin. Lorir schnaufte und starrte auf die Aufnahme. Seine Augenwinkel wurden feucht.
»Akhoria«, flüsterte er. »Das sind ... Akhoria, meine Frau ... Dira, meine Tochter ... und Maron, mein Sohn ...« Er strich mit zwei Fingern zärtlich über das Bild.
»Die du schon sehr bald wiedersehen wirst«, sagte Tschubai fest.
Diesmal war Lorirs Lächeln breiter. »Schon gut. Du ... du musst mich ... nicht anlügen. Und du ...« Er griff nach Anderssons Arm und drehte den Kopf. »Du hast mich ... verbunden. Warum? Wir Arkoniden ... haben euch alles andere als ... anständig behandelt. Du hättest mich einfach ... sterben lassen können.«
»Du hast uns anständig behandelt«, antwortete der Norweger. »Und außerdem schließe ich nicht von einigen wenigen auf eine ganze Kultur. Ihr mögt uns Menschen für dumm und primitiv halten, aber das sind wir nicht – und eines Tages werden das vielleicht sogar Arkoniden wie Chetzkel begreifen.«
Lorir nickte nachdenklich. »Ja, womöglich ... hast du recht. Ich ...«
Das Lamellenschott fuhr ohne jede Vorwarnung auseinander. Die einzelnen, wie sichelförmige Blätter geformten Elemente schoben sich lautlos ineinander, und vier Orristan schwebten in die Höhle hinein. Einer blieb unmittelbar vor dem Ausgang zurück, die anderen drei schwärmten mit bemerkenswerter Geschicklichkeit aus und näherten sich von verschiedenen Seiten.
»Was wollt ihr von uns?«, rief Ras Tschubai. »Lasst uns doch erst einmal miteinander reden. Wenn wir euch verärgert haben, tut es uns leid. Das alles ist wahrscheinlich nur ein großes Missverständnis, das wir schnell aus der Welt schaffen können.«
Keiner der vier mumienähnlichen Fremden war größer als eineinhalb Meter. Die hageren, an Skelette erinnernden Körper steckten in eng anliegenden Hosenanzügen. An den Füßen trugen die Orristan eine Art von Sandalen, und die an verbogene Eisenstangen erinnernden Stäbe, die sie in den Händen hielten und auf die Gefangenen richteten, kannte Tschubai bereits von Dysnomia. Die Mumie am Eingang war zudem mit zwei schweren Strahlwaffen ausgerüstet, die links und rechts an ihrem Gürtel hingen.
Ohne dass der Mutant oder Frederik Andersson es verhindern konnten, packte einer der Orristan den stöhnenden Lorir und zerrte ihn Richtung Ausgang. Ein anderer nahm ihnen mit schnellen Bewegungen die Helme ihrer Schutzanzüge ab. Das Schott schloss sich, und sie waren nur noch zu zweit.
Isskava schwebte mit jener stummen Ehrfurcht in den Donkrrat, die sie bereits bei ihrem ersten Mal empfunden hatte und die in all den Jahren nicht schwächer geworden war. Hinter ihr schloss sich das Lamellenschott; vor ihr registrierten die in die Wände eingelassenen Glimmsteine ihre Bewegung und leuchteten ein wenig heller.
Die Leakkum stieß sich sanft ab und glitt tiefer in den kugelförmigen Raum hinein. Die Arme und Beine spreizte sie dabei leicht zur Seite, eine Haltung, die sie intuitiv einnahm, wenn sie in der Ruhekammer weilte. Damit verhinderte sie, dass sich ihre Glieder an der Sternenhaut ihres Oberkörpers rieben und das dabei entstehende charakteristische Knistern den Frieden des Schläfers störte.
Wie immer verweilten ihre Blicke mehrere Minuten lang auf den knochigen Gesichtszügen des Asskor Tavirr, der so verletzlich und unscheinbar wirkte. Die winzigen, tief in den Höhlen liegenden Augen waren geschlossen, und obwohl die schwarze Haut seit Langem ihren einstigen Glanz verloren und einen milchigen Schimmer angenommen hatte, strahlte der Schläfer auf seine ganz eigene Weise wie die hellste Sonne im schrankenlosen Kosmos.
Isskava hatte schon unzählige Stunden an diesem Ort verbracht. Manchmal schloss sie alle Poren und Membranen, als wäre sie draußen in der unendlichen Weite. Dann lauschte sie nur mit ihren inneren Sinnen, spürte den Gravitationslinien nach, die wie hauchdünne Fäden durch die Luft tanzten und von der kaum merklichen Eigenschwerkraft Gesverrs zeugten. Sie streckte ihre geistigen Fühler so weit sie nur konnte ins Innere des vor ihr ruhenden Körpers. Und wenn sie Glück hatte, wenn sie sehr viel Glück hatte, hörte sie das leise Lied des Schläfers.
Meistens war da jedoch nichts. Nur die Stille, das schweigsame Verstreichen der Zeit, der lautlose Herzschlag des Universums. Aber hin und wieder vernahm sie Worte wie aus weiter Ferne. Sie drangen nicht an ihre Ohren, sondern entstanden direkt in ihrem Kopf. Sie wusste nicht, was sie bedeuteten, doch das Echo in ihrem Verstand machte sie glücklich wie sonst nichts anderes im Leben. Dann war sie davon überzeugt, die Richtige zu sein, denn die Legende besagte, dass nur eine echte Leakkum das Lied des Schläfers hören konnte.
Sie hatte gelernt, mit der Ungewissheit zu leben. Nicht aus Eitelkeit und schon gar nicht aus Ignoranz, sondern weil sie wusste, dass die Sternenkinder sie brauchten. Sie erfüllte eine wichtige Aufgabe und sorgte für den Zusammenhalt ihrer kleinen Gemeinschaft. Sie gab den Orristan Kraft, wenn sie sie am dringendsten brauchten. Dagegen nahmen sich ihre eigenen Bedürfnisse und die quälenden Selbstzweifel lächerlich aus.
Als sie die schmale Kontaktplatte an der Wand drückte, hatte sie keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Vermutlich zehn Minuten. Womöglich auch zwanzig. Keinesfalls mehr als eine halbe Stunde, denn dann hätte Ttiam längst nach ihr gesehen.
Ihre Höchste Dienerin, die sich soeben durch das Lamellenschott in den Donkrrat schwang, trug wie üblich das Kelliom, das Salbgewand, das für die anstehende Zeremonie vorgeschrieben war. Isskava dagegen war nackt. Der Körper des Schläfers durfte nur von reiner Sternenhaut berührt werden.
Sind Sie bereit, Isskava Dara?, fragte Ttiam. Ihre Finger bewegten sich schnell, doch die einzelnen Gesten waren klar zu erkennen. Dass die junge Frau sie noch immer mit ihrem Ehrentitel ansprach, registrierte die Leakkum nur nebenbei. Sie hatte ihre Dienerin gebeten, auf die rituellen Förmlichkeiten zu verzichten, wenn sie unter sich waren, doch Ttiam hatte das abgelehnt. Ihr Respekt vor dem Amt der Erweckerin und den Überlieferungen der Ersten sei zu groß, so hatte sie erklärt, und auch wenn sie das Angebot Isskavas mit Freude und Dankbarkeit erfülle, wolle sie es doch lieber ausschlagen.
Die Leakkum hatte das akzeptiert. Ttiam war schon immer der eher verschlossene, in sich gekehrte Typ gewesen. Sie beschäftigte sich häufig mit den Inhalten der alten Archive, die jedem Sternenkind zur freien Verfügung standen. Manchmal verbrachte sie ihre gesamte Ruhezeit in den aufgelassenen Kavernen Gesverrs, obwohl sie die dortigen Datenspeicher auch in ihrer privaten Kammer hätte auslesen können.
Ich bin bereit, signalisierte Isskava, indem sie die Handgelenke über Kreuz aufeinanderlegte.
Ttiam schwebte heran, vollführte kurz vor Erreichen des Kokons eine geschickte Drehung und kam zum Stillstand, ohne das Material der Konstruktion berühren zu müssen.