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Peter Pan, die Geschichte vom Jungen, der nicht erwachsen werden wollte – ursprünglich für Erwachsene geschrieben – ist heute einer der großen Klassiker der Kinderbuchliteratur. Generationen von Lesern haben begeistert die Abenteuer des fliegenden Jungen verfolgt, der Wendy und ihre Brüder mit nach Nimmerland nimmt, wo sie gemeinsam gegen den bösen Kapitän Hook kämpfen.
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Seitenzahl: 228
Peter Pan, die Geschichte vom Jungen, der nicht erwachsen werden wollte – ursprünglich für Erwachsene geschrieben –, ist heute einer der großen Klassiker der Kinderbuchliteratur. Generationen von Lesern haben begeistert die Abenteuer des fliegenden Jungen verfolgt, der Wendy und ihre Brüder mit nach Nimmerland nimmt, wo sie gemeinsam gegen den bösen Kapitän Hook kämpfen.
1902 erschien Barries Roman The White Bird, dessen Figur Peter Pan gelangte zwei Jahre später mit der Uraufführung des Theaterstücks »Peter Pan oder der Junge, der nicht erwachsen werden wollte« zu Weltruhm. 1911 erschien Peter Pan als Kinderbuch. Die Geschichte wurde mehrfach verfilmt (u.a. von Walt Disney und von Steven Spielberg), »seither sind Peter und der Pirat, Wendy und die Elfen Teil einer globalisierten Kultur geworden« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. September 2008).
Sir James Matthew Barrie, 1860 in Kirriemuir/Schottland geboren, studierte an der University of Edinburgh, arbeitete als Journalist, schrieb Erzählungen und Theaterstücke. Ab 1928 war er Präsident der Society of Authors, bald darauf Rektor der University of Edinburgh. Barrie starb am 19. Juni 1937 in London.
James M. Barrie
PETER PAN
Vollständige Ausgabe
Aus dem Englischenvon Adelheid Dormagen
Insel Verlag
eBook Insel Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4383.
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2009
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
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Umschlagfoto: FinePic, München
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
eISBN 978-3-458-73997-5
www.insel-verlag.de
1. Kapitel · Hier kommt Peter ·
2. Kapitel · Der Schatten ·
3. Kapitel · Komm mit, komm mit! ·
4. Kapitel · Der Flug ·
5. Kapitel · Die Insel wird Wirklichkeit ·
6. Kapitel · Das kleine Haus ·
7. Kapitel · Die Erdhöhle ·
8. Kapitel · Die Lagune der Nixen ·
9. Kapitel · Der Nimmervogel ·
10. Kapitel · Das glückliche Zuhause ·
11. Kapitel · Wendys Geschichte ·
12. Kapitel · Die Kinder werden entführt ·
13. Kapitel · Glaubt ihr an Elfen? ·
14. Kapitel · Das Piratenschiff ·
15. Kapitel · ›Diesmal gilt es, Hook oder ich‹ ·
16. Kapitel · Die Heimkehr ·
17. Kapitel · Als Wendy erwachsen wurde ·
Alle Kinder, außer dem einen, werden erwachsen. Sie wissen schon früh, dass sie erwachsen werden, und Wendy erfuhr es auf folgende Weise: Eines Tages, sie war zwei Jahre alt, spielte sie im Garten, und sie pflückte eine Blume und lief damit zu ihrer Mutter. Vermutlich sah sie ganz bezaubernd aus, denn Mrs. Darling fasste sich ans Herz und rief aus: »Ach, warum kannst du nicht ewig so bleiben!« Das war’s schon, was zwischen ihnen zum Thema geäußert wurde, aber seither wusste Wendy, dass sie erwachsen werden musste. Jeder weiß das, nachdem er zwei Jahre alt ist. Zwei ist der Anfang vom Ende.
Sie wohnten im Haus Nr. 14, und bis Wendy kam, war ihre Mutter die Hauptperson. Sie war eine wunderschöne Dame mit einem schwärmerischen Geist und einem reizenden Spottmund. Ihr schwärmerischer Geist glich den Schächtelchen, die aus dem rätselhaften Orient stammen, eines im anderen drin, und wie viele man auch entdeckt, es gibt immer noch ein weiteres; und ihr reizender Spottmund barg einen Kuss, den Wendy nie kriegen konnte, dennoch, da war er, deutlich sichtbar im rechten Winkel.
Mr. Darling eroberte sie auf folgende Weise: Viele Gentlemen, die Knirpse waren, als sie ein kleines Mädchen war, entdeckten gleichzeitig ihre Liebe für sie, und alle rannten zu ihrem Haus, um ihr einen Heiratsantrag zu machen, außer Mr. Darling, der eine Droschke nahm und als Erster hineinflitzte, und so bekam er sie. Er bekam alles von ihr, nur nicht das Schächtelchen im tiefsten Innern und den Kuss. Er erfuhr nie etwas von diesem Schächtelchen, und mit der Zeit bemühte er sich nicht mehr um den Kuss. Wendy meinte, dass Napoleon ihn hätte kriegen können, aber ich kann mir vorstellen, wie er es versucht und dann wutentbrannt davonstürmt und die Tür zuknallt.
Mr. Darling prahlte Wendy gegenüber, dass ihre Mutter ihn nicht nur liebe, sondern auch respektiere. Er gehörte zu jenen Scharfsinnigen, die Bescheid wissen über Aktien und Effekten. Natürlich weiß niemand wirklich Bescheid, aber er schien ausreichend Bescheid zu wissen, und die Art und Weise, wie er oftmals konstatierte, dass die Aktien steigen und die Effekten sinken, hätte jeder Frau Respekt eingeflößt.
Mrs. Darling heiratete in Weiß, und zuerst führte sie die Haushaltsbücher tadellos, fast fröhlich, als wäre es ein Spiel, und nicht ein Rosenköhlchen blieb unvermerkt; doch mit der Zeit fielen ganze Blumenkohlköpfe unter den Tisch, und statt deren tauchten Bilder von gesichtslosen Babys auf. Mrs. Darling zeichnete sie, wenn sie eigentlich hätte zusammenzählen sollen. Es waren ihre Schätzungen.
Wendy kam zuerst auf die Welt, dann John, dann Michael.
Ein oder zwei Wochen nach Wendys Ankunft war es fraglich, ob es für alle reichen würde, denn sie war ein weiteres hungriges Mäulchen. Mr. Darling war mächtig stolz auf sie, aber in seiner Rechtschaffenheit saß er auf Mrs. Darlings Bettkante, hielt ihre Hand, und berechnete die Ausgaben, während sie ihn flehentlich anblickte. Sie wollte es riskieren, komme was wolle, aber das war nicht seine Art; seine Art waren ein Blatt Papier und ein Bleistift, und wenn sie ihn mit Vorschlägen durcheinanderbrachte, musste er wieder von vorn beginnen.
»Unterbrich mich nicht«, bat er sie dann.
»Ich habe ein Pfund, siebzehn Schilling hier und zwei Pfund, sechs im Büro; ich könnte meinen Kaffee im Büro streichen, sagen wir zehn Schilling, das macht zwei Pfund, neun und sechs Pennies, mit deinen achtzehn Schilling und drei ergibt das drei, neun, sieben; mit den fünf, null, null in meinem Scheckbuch macht das acht Pfund, neun, sieben – wer ist so rührend? – acht, neun, sieben Punkt und sieben im Kopf – still, mein Schatz! – und das Pfund, das du dem Mann geliehen hast, der an der Tür stand – ruhig, Kind – Punkt, und das Kind im Kopf – da, du hast es geschafft! – hab ich gesagt neun Pfund, neun, sieben? Ja, ich habe neun, neun, sieben gesagt; die Frage ist, können wir es ein Jahr mit neun, neun, sieben wagen?«
»Natürlich können wir das, George«, versicherte sie. Aber sie war für Wendy eingenommen, und er war nun mal der Maßgebende von ihnen beiden.
»Denk an Mumps«, mahnte er sie fast drohend, um gleich wieder loszulegen: »Für Mumps habe ich ein Pfund veranschlagt, glaube allerdings, es werden eher dreißig Schilling sein – sag nichts – Masern ein Pfund, fünf; Röteln elf Schilling, macht zwei, fünfzehn, sechs – wedele nicht mit dem Finger – Keuchhusten, sagen wir fünfzehn Schilling« – und so weiter, und jedes Mal ergab sich eine andere Summe; schließlich schaffte Wendy es gerade eben, weil Mumps auf zwölf Schilling, sechs reduziert und die zwei Arten von Masern als ein und dieselbe abgerechnet wurden.
Die gleiche Aufregung bei John; und Michael kam noch knapper davon; doch für beide reichte es, und bald hätte man sehen können, wie die drei in Begleitung ihres Kindermädchens hintereinander zu Miss Fulsoms Kindergarten gingen.
Mrs. Darling hatte gern alles ordentlich, und Mr. Darlings größter Wunsch war es, sich in nichts von den Nachbarn zu unterscheiden; deshalb hatten sie natürlich ein Kindermädchen. Da die Darlings infolge der Menge Milch, die ihre Kinder tranken, arm waren, war dieses Kindermädchen eine akkurate Neufundländerin namens Nana, die herrenlos war, bis die Darlings sie einstellten. Sie hatte jedoch immer die Meinung gehabt, Kinder seien wichtig, und die Darlings hatten sie im Kensington Park kennengelernt, wo sie meist ihre Freizeit damit verbrachte, in Kinderwagen zu gucken, und bei nachlässigen Kindermädchen reichlich verhasst war, denen sie nach Hause folgte, um sich bei ihrer Herrschaft zu beklagen. Als Kindermädchen war sie eine wahre Perle. Wie gründlich sie beim Waschen war und nachts sofort auf den Beinen, wenn einer ihrer Schutzbefohlenen nur den leisesten Schrei ausstieß. Ihre Hundehütte stand selbstverständlich im Kinderzimmer. Sie wusste instinktiv, wann ein Husten etwas ist, mit dem sich nicht spaßen lässt, und wann nur ein Strumpf um den Hals gehört. Sie glaubte bis an ihr Lebensende an altbewährte Heilmittel wie Rhabarberblätter und machte verächtliche Laute zu all dem neumodischen Gerede von Bazillen und dergleichen. Es war eine Lektion in Schicklichkeit, zu sehen, wie sie die Kinder zur Schule begleitete, gelassen an ihrer Seite trottete, wenn sie sich gut benahmen, und sie zurechtwies, wenn sie aus der Reihe tanzten. An Johns Fußballtagen vergaß sie nicht ein einziges Mal seinen Pullover, und gewöhnlich trug sie, falls es regnen sollte, einen Schirm in der Schnauze. Im Souterrain von Miss Fulsoms Kindergarten gibt es ein Wartezimmer für Kindermädchen. Sie saßen auf Bänken, während Nana auf dem Boden lag, das war aber der einzige Unterschied. Sie täuschten vor, Nana wegen ihres niederen gesellschaftlichen Standes zu ignorieren, und sie verachtete ihr Geplapper. Besuche von Mrs. Darlings Freundinnen im Kinderzimmer nahm sie übel, doch wenn die Damen mal auftauchten, riss sie Michaels Kittelschürze herunter und steckte ihn in die mit blauer Borte, strich Wendys Kleidchen glatt und fuhr hastig durch Johns Haar.
Kein Kinderzimmer könnte besser in Schuss gehalten werden, und Mr. Darling wusste das, dennoch fragte er sich manchmal ängstlich, ob die Nachbarn redeten.
Er musste Rücksicht auf seine Stellung nehmen.
Nana beunruhigte ihn noch auf andere Weise. Er hatte gelegentlich das Gefühl, dass sie ihn nicht bewunderte. »Ich weiß, dass sie dich unendlich bewundert, George«, versicherte Mrs. Darling ihm dann und gab den Kindern ein Zeichen, besonders lieb zu Papa zu sein. Danach wurde munter getanzt, wobei Lisa, das einzige andere Dienstmädchen, manchmal mitmachen durfte. Winzig sah sie aus in ihrem langen Rock und dem Häubchen, obwohl sie bei der Einstellung geschworen hatte, über zehn zu sein. Was für ein ausgelassenes Herumtollen! Und am ausgelassensten von allen war Mrs. Darling, die so wilde Pirouetten ausführte, dass alles, was man von ihr sehen konnte, der Kuss war, und hätte man sich da auf sie gestürzt, könnte man ihn gekriegt haben. Es hat nie eine einfachere, glücklichere Familie gegeben, bis Peter Pan auf der Bildfläche erschien.
Mrs. Darling hörte zuerst von Peter, als sie in den Köpfen ihrer Kinder aufräumte. Jede gute Mutter hat abends die Gewohnheit, nachdem die Kinder eingeschlafen sind, in ihren Köpfen zu stöbern und Dinge für den nächsten Tag in Ordnung zu bringen, wobei all die Sachen, die im Laufe des Tages umhergestreift sind, wieder an ihren rechtmäßigen Platz gerückt werden. Wenn man wach bleiben könnte (aber das klappt natürlich nicht), würdet ihr eure eigene Mutter dabei erwischen und es höchst interessant finden, ihr zuzuschauen. Fast so, als räumte sie Schubladen auf. Ihr würdet sie auf den Knien sehen, und vermutlich hielte sie bei einigen eurer Sachen stillvergnügt inne und fragte sich, woher um Himmels willen die stammen, und würde Entdeckungen machen, angenehme und nicht so angenehme, wobei sie das eine an ihre Wange drückte, als wäre es ein reizendes Kätzchen, und anderes hastig wegpackte, außer Sichtweite. Wenn ihr morgens aufwacht, sind Ungezogenheit, Wut und Ärger, mit denen ihr schlafen gegangen seid, handlich zusammengefaltet und ganz unten in eurem Geist verstaut; und obendrauf ruhen, herrlich gelüftet, eure hübscheren Gedanken, bereit, von euch getragen zu werden.
Ich weiß nicht, ob ihr schon jemals eine Karte vom menschlichen Geist gesehen habt. Ärzte zeichnen manchmal Skizzen von anderen Körperteilen, und das kann ausgesprochen interessant werden; aber ertappe die Doktoren mal beim Versuch, die Karte vom Geist eines Kindes zu zeichnen, der nicht nur verworren ist, sondern auch ständig in Bewegung. Es gibt Zickzacklinien darauf, genau wie eure Fieberkurven, und das sind wahrscheinlich die Straßen auf der Insel; denn Nimmerland bleibt mehr oder weniger eine Insel mit wunderbaren Farbklecksen hier und da, Korallenriffen und verwegen aussehenden Schiffen auf offener See und Wilden und einsamen Verstecken und Gnomen, die meist Schneider sind, und Höhlen, durch die ein Fluss läuft, und Prinzen mit sechs älteren Brüdern und einer verfallenden Hütte und einer sehr kleinen alten Dame mit krummer Nase. Eine leicht zu zeichnende Karte, wenn das alles wäre; aber es gibt auch den ersten Schultag, Religion, Väter, den runden Teich, Nadelarbeit, Morde, Hinrichtungen, Verben mit Dativ, den Tag des Schokoladenpuddings, Hosenträger anziehen, sagen wir neunundneunzig Schilling, drei Pennies, wenn du dir selbst den Zahn herausziehst, und so weiter; und entweder sind diese Teil der Insel, oder sie sind eine andere Karte, die durchscheint, und alles ist ziemlich verwirrend, besonders da nichts stillsteht.
Natürlich unterscheidet sich ein Nimmerland gewaltig von einem anderen. Johns zum Beispiel hatte eine Lagune mit darüberfliegenden Flamingos, auf die John schoss, Michael hingegen, der noch sehr klein war, hatte einen Flamingo und Lagunen, die darüber hinwegflogen. John lebte in einem Boot, das umgestülpt auf dem Sand lag, Michael in einem Wigwam, Wendy in einem Haus aus Blättern, die geschickt zusammengenäht waren. John hatte keine Freunde, Michael hatte nachts Freunde, Wendy hatte einen zahmen Wolf, der von seinen Eltern verlassen war. Aber insgesamt haben Nimmerländer eine gewisse Familienähnlichkeit, und wenn sie reglos in einer Reihe stünden, ließe sich von ihnen sagen, sie haben dieselbe Nase oder sonst was. An diesen Zauberküsten ziehen spielende Kinder unaufhörlich ihre Einmannboote ans Ufer. Auch wir sind dort gewesen; wir können noch immer die tosende Brandung hören, auch wenn wir nicht mehr an Land gehen.
Von allen attraktiven Inseln ist Nimmerland die behaglichste und kompakteste; nicht groß und ausgedehnt, mit ermüdenden Entfernungen zwischen einem Abenteuer und dem nächsten, sondern richtig vollgepackt. Wenn ihr tagsüber mit Stühlen und Tischtuch spielt, ist die Insel überhaupt nicht beängstigend, aber in den zwei Minuten vorm Einschlafen wird sie fast real. Darum gibt es Nachtlichter.
Bei ihren Reisen durch den Geist ihrer Kinder stieß Mrs. Darling gelegentlich auf Dinge, die ihr unverständlich blieben, und das bei weitem Verwirrendste davon war das Wort Peter. Sie kannte keinen Peter, und dennoch tauchte er hier und da in Johns und Michaels Kopf auf, wohingegen Wendys Geist fast schon vollgekritzelt mit ihm war. Der Name war fetter gedruckt als all die anderen Wörter, und während Mrs. Darling darauf starrte, hatte sie das Gefühl, er wirke irgendwie dreist.
»Ja, er ist ziemlich dreist«, räumte Wendy mit Bedauern ein. Ihre Mutter hatte sie befragt.
»Aber wer ist er, mein Mäuschen?«
»Es ist Peter Pan, ja doch, Mami.«
Zuerst hatte Mrs. Darling keine Ahnung, aber nachdem sie sich zurück in ihre Kindheit versetzt hatte, erinnerte sie sich an einen Peter Pan, der angeblich bei den Elfen lebte. Es kursierten sonderbare Geschichten über ihn; zum Beispiel dass er, wenn Kinder starben, sie einen Teil des Weges begleitete, damit sie keine Angst hatten. Damals hatte sie an ihn geglaubt, jetzt aber, wo sie verheiratet und vernünftig war, zweifelte sie sehr, ob es überhaupt so eine Person gab.
»Zudem müsste er mittlerweile erwachsen sein«, sagte sie zu Wendy.
»O nein, er ist nicht erwachsen«, versicherte ihr Wendy, »nicht erwachsener als ich.« Womit sie Körper und Geist meinte; sie wusste nicht, woher sie es wusste, sie wusste es einfach.
Mrs. Darling suchte Rat bei Mr. Darling, aber der tat die Angelegenheit mit einem Lächeln ab. »Merk dir das«, sagte er, »diesen Unsinn hat Nana ihnen in den Kopf gesetzt; genau die Hirngespinste, die so ein Hund eben hat. Kümmere dich nicht darum, und das Ganze geht vorbei.«
Aber es ging nicht vorbei, und bald versetzte der Störenfried Mrs. Darling ganz schön in Schrecken.
Kinder erleben die seltsamsten Abenteuer, ohne davon beunruhigt zu sein. Zum Beispiel könnten sie eine Woche nach dem Geschehen beiläufig erwähnen, dass sie im Wald ihren toten Vater getroffen und mit ihm gespielt hatten. Und in dieser beiläufigen Art machte Wendy eines Morgens eine Besorgnis erregende Bemerkung. Einige Blätter eines Baums lagen auf dem Boden des Kinderzimmers, die sicherlich nicht dort waren, als die Kinder schlafen gingen, und Mrs. Darling grübelte noch darüber, als Wendy mit einem nachsichtigen Lächeln sagte:
»Das ist bestimmt wieder dieser Peter!«
»Was in aller Welt meinst du damit, Wendy?«
»Wie ungezogen von ihm, sich nicht die Schuhe abzustreifen«, sagte Wendy seufzend. Sie war ein ordentliches Kind.
Dann erklärte sie in sachlichem Ton, dass sie glaube, Peter komme manchmal nachts ins Kinderzimmer und setze sich an ihr Bettende und spiele ihr etwas auf der Flöte vor. Leider wache sie nie auf, so dass sie nicht wisse, woher sie das wisse, sie wisse es einfach.
»Was für ein Unsinn, mein Goldkind! Niemand kann ins Haus, ohne zu läuten.«
»Ich glaube, er kommt durchs Fenster rein«, sagte Wendy. »Mein Liebes, das Haus ist drei Stockwerke hoch.«
»Waren die Blätter nicht am Fuß des Fensters, Mama?«
Das stimmte schon; die Blätter hatten direkt unterm Fenster gelegen.
Mrs. Darling wusste nicht, was sie denken sollte, denn alles erschien Wendy so natürlich, dass man es nicht damit abtun konnte, sie habe nur geträumt.
»Kindchen«, rief die Mutter aus, »warum hast du mir das nicht alles früher erzählt?«
»Ich hab’s vergessen«, sagte Wendy leichthin. Sie wollte schnellstens frühstücken.
O ja, bestimmt hatte sie geträumt.
Andererseits waren da die Blätter. Mrs. Darling betrachtete sie gründlich; es waren Blattgerippe, aber sie war sich sicher, dass sie nicht von einem Baum in England stammten. Sie kroch auf dem Boden herum, prüfte ihn im Kerzenlicht auf fremde Fußspuren hin. Sie stocherte mit dem Schürhaken im Kamin hoch und klopfte gegen die Wände. Sie ließ ein Messband vom Fenster zum Bürgersteig hinunter, und es waren steile zehn Meter Tiefe, und nicht mal ein Abflussrohr gab’s zum Hochklettern.
Sicher hatte Wendy geträumt.
Aber Wendy hatte nicht geträumt, wie die darauf folgende Nacht zeigte, die Nacht, in der die ungewöhnlichen Abenteuer dieser Kinder sozusagen ihren Anfang nahmen.
In besagter Nacht waren die Kinder noch einmal in ihren Betten. Es war zufällig Nanas freier Abend, und Mrs. Darling hatte sie gebadet und ihnen vorgesungen, bis eins nach dem anderen ihre Hand losgelassen hatte und ins Land des Schlafes glitt.
Alle sahen so friedlich und wohlig aus, dass sie über ihre Ängste lächelte und sich beruhigt am Kamin mit ihrem Nähzeug niederließ.
Es war etwas für Michael, der an seinem Geburtstag sein erstes Hemd bekommen sollte. Das Feuer war mollig warm, und das Kinderzimmer nur schwach von drei Nachtlichtern erhellt, und bald schon ruhte das Nähzeug auf Mrs. Darlings Schoß. Dann neigte sich ihr Kopf, oh, so anmutig. Sie war eingenickt. Schaut euch diese vier an, Wendy und Michael da drüben, John hier und Mrs. Darling am Feuer. Es hätte ein viertes Nachtlicht brennen sollen.
Während sie schlief, hatte sie einen Traum. Ihr träumte, Nimmerland sei ganz nahe gerückt und ein fremder Junge ihm entsprungen. Er beunruhigte sie nicht, denn sie meinte, ihn früher schon in den Gesichtern vieler Frauen gesehen zu haben, die kinderlos sind. Vielleicht ließe er sich auch in den Gesichtern von manchen Müttern finden. Aber in ihrem Traum hatte er den Schleier zerrissen, der Nimmerland verbirgt, und sie sah, wie Wendy, John und Michael durch den Riss schauten.
Der Traum selbst wäre unbedeutend gewesen, aber während sie schlummerte, wurde das Fenster des Kinderzimmers aufgeweht, und ein Junge ließ sich auf den Boden gleiten. Er war von einem sonderbaren Licht begleitet, nicht größer als eine Faust, und es sauste im Zimmer herum wie ein Lebewesen; und vermutlich hat dieses Licht Mrs. Darling geweckt.
Sie fuhr mit einem Schrei hoch und sah den Jungen, und irgendwie wusste sie sofort, dass es Peter Pan war. Wären du oder ich oder Wendy dort gewesen, hätten wir bemerkt, dass er große Ähnlichkeit mit Mrs. Darlings Kuss hatte. Es war ein niedlicher Junge in einem Gewand aus Blattgerippe, mit Harz verklebt; das Reizendste an ihm war aber, dass er noch alle seine Milchzähne hatte. Als er erkannte, dass sie eine Erwachsene war, knirschte er mit den perlweißen Zähnchen.
Mrs. Darling schrie also, und wie als Antwort auf ein Läuten öffnete sich die Tür, und Nana kam herein, zurück von ihrem freien Abend. Sie knurrte und machte einen Satz auf den Jungen, der leichtfüßig aus dem Fenster sprang. Und wieder schrie Mrs. Darling auf, diesmal aus Schmerz über ihn, denn sie glaubte, er wäre tot, und sie rannte hinunter auf die Straße, um nach seinem kleinen Körper Ausschau zu halten, doch vergebens; und sie blickte hoch, und in der dunklen Nacht konnte sie nur das sehen, was sie für eine Sternschnuppe hielt.
Sie kehrte ins Kinderzimmer zurück, wo sie Nana, wie sich herausstellte, mit dem Schatten des Jungen in der Schnauze vorfand. Als der zu seinem Sprung ansetzte, hatte Nana das Fenster zugeschlagen, allerdings zu spät, um den Eindringling zu fangen, aber sein Schatten hatte nicht die Zeit gehabt, zu entwischen; ›peng‹, machte das Fenster und riss den Schatten ab.
Ihr könnt euch darauf verlassen, dass Mrs. Darling den Schatten sorgfältig untersuchte, doch es war ein ganz gewöhnlicher Schatten.
Für Nana gab es keinen Zweifel, was man am besten mit diesem Schatten anfangen sollte. Sie hängte ihn draußen am Fensterrahmen auf und meinte: »Der Junge wird sich den Schatten bestimmt holen; tun wir ihn dahin, wo er ihn leicht kriegen kann, ohne die Kinder zu stören.«
Aber leider konnte Mrs. Darling den Schatten nicht so aus dem Fenster hängen lassen, es sah wie Wäsche aus und schadete dem Ansehen des Hauses. Sie dachte daran, den Schatten Mr. Darling zu zeigen, aber der rechnete gerade die Kosten für Johns und Michaels Wintermäntel zusammen und hatte ein feuchtes Handtuch um den Kopf, damit er klar denken konnte, und es wäre schändlich gewesen, ihn zu belästigen; außerdem wusste sie genau, was er sagen würde: ›Das kommt davon, wenn man einen Hund als Kindermädchen hat.‹
Sie beschloss, den Schatten zusammenzurollen und ihn behutsam in eine Schublade zu legen, bis sich eine passende Gelegenheit bot, ihrem Mann davon zu erzählen. O je!
Die Gelegenheit bot sich eine Woche später an jenem unvergesslichen Freitag. Natürlich ein Freitag.
»Ich hätte an einem Freitag besonders vorsichtig sein sollen«, sagte sie später immer wieder zu ihrem Mann, während Nana vielleicht an der anderen Seite ihre Hand hielt. »Nein, nein«, widersprach Mr. Darling ihr dann, »ich bin für alles verantwortlich. Ich, George Darling, habe es verbrochen. Mea culpa, mea culpa.« Er hatte eine humanistische Bildung.
Und so saßen sie Abend für Abend da und riefen sich jenen unheilvollen Freitag ins Gedächtnis zurück, bis jede Einzelheit in ihr Hirn eingeprägt war und auf der Rückseite durchkam wie der Avers einer schlechten Münze.
»Wenn ich doch nur diese Einladung zum Abendessen in Nr. 27 nicht angenommen hätte«, sagte Mrs. Darling.
»Wenn ich doch nur nicht meine Medizin in Nanas Futternapf geleert hätte«, sagte Mr. Darling.
›Wenn ich doch nur so getan hätte, als schmeckte mir die Medizin‹, sagten Nanas feuchte Augen.
»Meine Lust auf Partys, George.«
»Mein fataler Sinn für Humor, Liebste.«
›Meine Empfindlichkeit wegen Kleinigkeiten, liebes Herrchen und liebes Frauchen.‹
Immer wieder brach der eine oder der andere zusammen; zum Beispiel Nana bei dem Gedanken: ›Es stimmt, es stimmt ja, sie hätten nicht einen Hund als Kindermädchen nehmen sollen.‹ Manches Mal betupfte Mr. Darling Nanas Augen mit dem Taschentuch.
»Dieser Teufel!«, schrie Mr. Darling, und Nanas Bellen klang wie ein Echo, doch Mrs. Darling machte Peter nie Vorwürfe; etwas in ihrem rechten Mundwinkel hinderte sie daran, Peter zu beschimpfen.
Sie saßen oft im leeren Kinderzimmer und erinnerten sich zärtlich an die kleinste Einzelheit jenes Schreckensabends. Es hatte so ereignislos begonnen, genau wie hundert andere Abende, als Nana das Badewasser für Michael einließ und ihn auf dem Rücken dorthin trug.
»Ich geh nicht ins Bett«, hatte er geschrien, wie einer, der noch glaubte, das letzte Wort in dieser Sache zu haben. »Ich will nicht, ich will nicht. Nana, es ist noch keine sechs. Du Böse! Böse! Ich werde dich nicht mehr liebhaben, Nana. Ich sag’s dir, ich will nicht baden, nein, nein!«
Dann war Mrs. Darling in ihrem weißen Abendkleid hereingekommen. Sie hatte sich früh in Schale geworfen, weil Wendy sie so schrecklich gern im Abendkleid bewundern wollte, mit der Halskette, die George ihr geschenkt hatte. Sie trug Wendys Armband; sie hatte es sich ausgeliehen. Wendy lieh ihrer Mutter schrecklich gern ihr Armband.
Sie hatte ihre beiden älteren Kinder dabei überrascht, wie sie Mutter und Vater Darling bei Wendys Geburt spielten, und John sagte gerade:
»Ich freue mich, dir mitteilen zu können, Mrs. Darling, dass du jetzt Mutter bist«, in genau dem Ton, den Mr. Darling bei dem realen Anlass verwendet haben mochte. Wendy hatte vor Freude getanzt, so wie es die reale Mrs. Darling wohl getan hatte.
Hierauf wurde John geboren mit dem Extratrara, den er als geboten für die Geburt eines Stammhalters erachtete, und nachdem Michael sein Bad hinter sich hatte, wollte auch er geboren werden, aber John sagte brutal, dass sie keine weiteren Kinder wollten.
Michael war den Tränen nahe. »Niemand will mich«, sagte er, und natürlich konnte die Dame im Abendkleid das nicht hinnehmen.
»Ich schon«, sagte sie. »Ich wünsche mir so sehr ein drittes Kind.«
»Junge oder Mädchen?«, fragte Michael ohne große Hoffnung.
»Junge.«
Darauf war er in ihre Arme gesprungen. Eine kleine Szene nur, an die sich Mr. und Mrs. Darling und Nana jetzt erinnern, aber doch nicht so klein, sollte es wirklich Michaels letzter Abend im Kinderzimmer gewesen sein.
Sie kramen weiter in ihren Erinnerungen.
»Und dann bin ich wie ein Tornado herangefegt, nicht wahr?«, kommt es höhnisch von Mr. Darling; und tatsächlich war er wie ein Tornado gewesen.
Vielleicht gab es eine Entschuldigung für ihn. Auch er hatte sich für die Party feingemacht, und alles lief glatt, bis er zu seiner Krawatte kam. Hier muss etwas Verblüffendes angemerkt werden, denn obschon sich dieser Mann in Aktien und Effekten auskannte, tat er sich beim Binden seiner Krawatte schwer. Manchmal klappte es reibungslos, doch gab es Situationen, wo es für die Hausbewohner besser gewesen wäre, er hätte seinen Stolz hinuntergeschluckt und eine fertig gebundene Krawatte genommen!
Dies hier war so eine Situation. Er kam mit der zerknitterten biestigen Krawatte in der Hand ins Kinderzimmer gestürmt.
»Huch, was ist los, mein Gebieter?«
»Was los ist!«, brüllte er; er brüllte wirklich. »Diese Krawatte will sich nicht binden lassen.« Er wurde sogar sarkastisch. »Nicht um meinen Hals! Um den Bettpfosten! Jawohl, zwanzig Mal habe ich sie um den Bettpfosten gebunden, aber um meinen Hals, nein! Keinesfalls, nein! Lässt sich entschuldigen!«
Er glaubte, Mrs. Darling sei nicht genügend beeindruckt, und fügte finster hinzu: »Ich warne dich, Frau, bevor diese Krawatte nicht an meinem Hals sitzt, gehen wir heute Abend nicht zum Essen, und wenn ich heute Abend nicht zum Essen gehe, werde ich nie wieder ins Büro gehen, und wenn ich nicht wieder ins Büro gehe, werden du und ich Hunger leiden und unsere Kinder werden auf der Straße landen.«
Selbst da blieb Mrs. Darling gelassen. »Lass mich mal dran, Lieber«, sagte sie, und genau deshalb war er zu ihr gekommen; und mit ihren angenehm kühlen Händen band sie ihm die Krawatte, während die Kinder herumstanden, um zu sehen, wie sich ihr Schicksal entschied. Manch ein Mann hätte ihr übelgenommen, mit welcher Leichtigkeit sie das hinkriegte, aber Mr. Darling war von Natur aus viel zu fein; er dankte ihr unbekümmert und vergaß auf der Stelle seinen Zorn, und im nächsten Augenblick tanzte er mit Michael auf dem Rücken im Zimmer umher.
»Was haben wir wild herumgetollt!«, sagt Mrs. Darling und schwelgt in der Erinnerung.
»Unser letztes Herumtollen!«, stöhnt Mr. Darling.