Pfälzer Blut - Susanne Seider - E-Book

Pfälzer Blut E-Book

Susanne Seider

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

SCHWEIGE ODER BRENNE LICHTERLOH … Ein grausamer Mord schockiert das malerische Weindorf in der Südpfalz: Beim Mittsommerfeuer einer Glaubensgemeinschaft taucht unter der brennenden Strohpuppe die Leiche eines 16-jährigen Mädchens auf. Kommissarin Kira Lilienfeld, die eigentlich nach ihrer gescheiterten Ehe ein Sabbatjahr in der Gegend verbringen will, ist entschlossen, die Kripo Landau bei deren Ermittlungen zu unterstützen. Nach und nach gewinnt sie das Vertrauen der Mutter des Opfers, die mit ihren Anhängern ein Bio-Weingut betreibt. Obwohl nicht jedem aus dem Kripo-Team Kiras eigenwillige Ermittlungsmethoden gefallen, gelingt es ihr dennoch, den Dorfbewohnern bedeutende Geheimnisse zu entlocken. Aber alles hat seinen Preis. Immer tiefer gerät sie selbst in einen Höllenschlund aus Manipulation und Lügen, der sie verschlingen will. … ZU ASCHE SOLLST DU WERDEN!

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com und Adobe StockEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8436-8

Susanne SeiderPfälzer Blut

Für Olileaks, der mich so stolz macht. Und all die Südpfälzer, die mich als Fremde vorbehaltlos aufgenommen haben.

Kapitel 1 Juna

Die Dunkelheit hatte sich über den Wald gelegt und die königlichen Silhouetten der Tannen zeichneten sich vor dem Himmel ab. An der hohen Kastanie baumelte das Opferlamm, mit dem die Erwachsenen später das Fasten beenden würden. Juna hatte erst gestern das putzige Schaf mit den Knopfaugen geschlachtet, und aus Erfahrung wusste sie, dass es Tage dauerte, bis die Erinnerung daran so weit verblasst war, dass sie nicht mehr schmerzte. Wie abgrundtief sie es hasste, eine Frau zu sein. Weiblichkeit sei ein Privileg, sagten die Erwachsenen. Aber Juna war nicht wie die anderen Frauen. Zwar sehnte sie sich danach, Leben zu schenken, am liebsten drei oder vier Kindern. Doch sie wollte weder Leben nehmen noch darüber herrschen, auch wenn sie das niemals aussprechen würde.

Verstohlen sah sie sich um. Holzscheite türmten sich um den Pfeiler und der schwere Geruch von Harz vermischte sich mit dem Duft der frisch gemähten Wiesen, die den Wald umgaben. Die anderen starrten auf die Strohpuppe, die am Pfahl der Untugend hing, und sie sollte dasselbe tun, doch Arely war nicht aufgetaucht. Keiner schien sich darum zu kümmern, man war es gewohnt, dass Arely kam und ging, wie es ihr beliebte. Vielleicht waren die anderen sogar erleichtert, dass heute niemand die liebevolle Geborgenheit vergiften würde. Juna fröstelte. Ein Teil von ihr wünschte, ebenso froh über Arelys Abwesenheit zu sein. Doch die Wahrheit war, dass sie ihre Schwester liebte, und die Vorstellung, sie könnte für immer weg sein, zerriss ihr Herz. Vor allem, weil es Junas Schuld wäre.

„Es ist wundervoll, dass ihr hier seid“, tönte die Stimme ihrer Mutter melodisch und klar durch die Nacht. Juna richtete sich auf. Auch die anderen strafften den Rücken und sahen auf die Frau neben dem Pfahl. Ihr weißes Kleid und die blonden Haare leuchteten im milchigen Licht des Mondes, die aufrechte Haltung drückte Anmut aus.

„Ich meine es ernst. Mit euch dieses jährliche Fest zu feiern, bedeutet mir alles“, fuhr Ambrosia fort. „Das Fasten ist für uns jedes Mal ein Opfer, es kostet Kraft, Disziplin und Glauben. Ihr habt bewiesen, dass ihr genug von all dem besitzt.“ Sie ließ ihren Blick durch die Reihen schweifen und lächelte, als er kurz bei Juna hängen blieb. Junas Herz wurde warm.

„Manchmal kommt es uns vor, als sei alles umsonst. Als spiele es keine Rolle, ob wir uns für Freiheit entscheiden oder uns mit den Mängeln abfinden. Aber das ist eine Lüge.

Und so feiern wir heute gemeinsam die Sonnenwende, um unsere Herzen auf Freiheit und Wahrheit auszurichten.

Wir entscheiden uns für die Sehnsucht und legen die Resignation auf die Puppe der Untugend.

Wir entscheiden uns für Güte und Vergebung und legen jeden Groll ab.“ Sie sah ihren Mann an und lächelte.

„Wir entscheiden uns für Demut und entledigen uns von allem Stolz.

Wir vertrauen unser Leben der Ewigen Göttin an und lassen die Angst am Feuer brennen. Denn die Angst macht uns zu Sklaven, die Wahrheit aber macht uns frei.“ Ambrosia hob die Hände zum Himmel und legte den Kopf in den Nacken, die anderen taten es ihr gleich.

„Ewige Göttin, wir stellen uns deinem Urteil über unsere Herzen, prüfe und läutere uns, auf dass wir wachsen in deiner Freiheit und Wahrheit. Wir bekennen im Geiste unsere Sünden und bereuen jeden Augenblick, in dem wir uns für die Angst entschieden haben und dadurch hochmütig, habgierig oder zornig waren. Wir bedauern die Momente, in denen uns Neid, Völlerei oder Trägheit überwältigt haben und wir zu hilflos waren, um die geistliche Waffenrüstung der Wahrheit anzulegen.“

Die aufkommende Stille war da, um stumm alle Verfehlungen zu bekennen und in Gedanken auf die Strohpuppe zu übertragen. Doch Junas Geist fand keine Ruhe. Oh ja, sie hatte im vergangenen Jahr jede der sechs Todsünden verübt. Aber das war nicht das Problem, denn ihre Mutter sagte stets, dass niemand frei von Sünde sei. Es geht nicht darum, die Dinge gut zu machen, sondern besser als beim letzten Mal. Doch heute hatte Juna einen Fehler begangen, der abscheulicher war als alle Verfehlungen zuvor. Und sie hatte es in voller Absicht getan, aus tiefster Bosheit ihres Herzens. Wenn etwas brennen sollte, dann ihr ganzes Wesen. Sie blinzelte, das Gesicht wie die anderen in den Himmel gerichtet. Der sichelförmige Mond erschien seltsam bedrohlich. Ewige Göttin, schütze Arely und führe sie zu uns zurück. Zu weiterem Gebet war Juna nicht fähig.

„Amen“, beendete Ambrosia den Augenblick der Stille.

Junas Vater zündete eine Fackel an und reichte sie seiner Frau. Die beiden lächelten sich an und Junas Herz wurde schwer. Würde sie jemals einen Mann finden, der sie so sehr lieben würde, wie ihr Vater seine Frau liebte? Würde sie jemals so wundervoll sein wie ihre Mutter? Du bist wie sie, sagte man ihr immer wieder. Sie wusste, dass es eine Lüge war.

Ambrosia hielt die Fackel einen Moment lang in die Höhe und warf sie dann auf das geschichtete Holz. Es zischte und innerhalb einer Sekunde loderten die grellen Flammen nach oben. Juna starrte auf die Strohpuppe, die bereits von dem Feuer umschlossen war. Ein Schauer floss durch ihre Wirbelsäule und die Haare auf ihren Armen stellten sich auf.

Es ist wie immer, sagte sie sich selbst, doch das ungute Gefühl schwand nicht. Das Stroh loderte, alle Ungerechtigkeit mit ihm, nur Junas Seele löste sich nicht von Schmutz und Schuld.

Ein beißender Geruch drang in ihre Nase, der hier nichts zu suchen hatte. Unruhe trat auf, alle warfen sich bange Blicke zu, jemand legte schützend einen Arm um Juna. Der Gestank wurde nahezu giftig, und plötzlich verstand sie, was sie zuvor beunruhigt hatte. Die Puppe am Pfahl. Sie sollte schaukeln. Sie schaukelte immer, wenn das Feuer seinen Qualm nach oben stieß. Doch heute hing sie unheimlich reglos, so als wäre sie festgenagelt.

Oder schwer.

Junas Magen rebellierte gegen den bestialischen Geruch, einige wichen zurück. Ihre Eltern tauschten einen angespannten Blick und starrten dann auf das Feuer, das im Stroh lichterloh brannte. Sie presste die Hand vor den Mund, um sich vor dem giftigen Rauch zu schützen.

Wenn sie später an diesen Moment zurückdachte, hatte sie keine Ahnung, wie lange sie dagestanden und in die Flammen gestarrt hatten. Waren es Sekunden? Eine Ewigkeit?

Eine Frau stieß plötzlich einen gellenden Schrei aus, und dann schrien alle. Oder hörte Juna nur ihr eigenes Schreien, als sie auf den Scheiterhaufen starrte, wo das Stroh langsam niederbrannte und die Quelle des Gestankes offenbarte? Sie wusste es nicht. Sie erkannte nur den Leichnam ihrer Schwester, der mit verkohlter Haut und Glut in den Haaren am Pfahl der Untugend hing.

Kapitel 2 Kira

Du bist eine Getriebene, hatte ihr Ehemann gesagt. Eine, die das Milieu des Todes braucht, um ihre eigenen Schatten zu verdrängen. Sechs Monate inmitten von Wald und Weinbergen werden dich in den Wahnsinn treiben.

Kira Lilienfeld zog die Beine zum Schneidersitz hoch und war entschlossen, ihm und sich selbst das Gegenteil zu beweisen. Sie sah hinauf zu den Sternen und genoss die aufkommende Kühle nach einem heißen Tag.

Wahrscheinlich hatte er das nur behauptet, weil er wütend war, dass sie nicht das Haus und seine schrecklichen Katzen hütete, während er mit der neuen Flamme am Great Barrier Reef tauchte. Natürlich übernehme ich die Nebenkosten, hatte er gesagt. Sicher hatte er mit seinem unfassbar großzügigen Angebot vor dem blonden Flittchen geprahlt. Und die hatte pikiert ihr winziges Näschen gerümpft über die giftige Ex, die lieber die Katzen dem Tierheim überließ, statt eine gute Verliererin zu sein.

Kira rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. Eher würde sie hier eingehen, als einen weiteren Tag in dem gemeinsamen Haus zu verbringen. Ihr Rücken versank in dem weichen Kissen und der Hängesessel schaukelte sanft. Das idyllische Anwesen sah genauso aus wie in der Anzeige. Haupthaus, Scheune und die Wohnung, die für die nächsten Monate ihr Heim sein würden, bildeten ein U, eine Backsteinmauer mit eingelassenem Tor schützte den Hof vor Blicken von der Straße. Die ausladende Kastanie in der Mitte des Hofes bot tagsüber Schatten, der efeuüberwucherte Brunnen und die Kübel mit duftenden Oleandersträuchern unterstrichen das mediterrane Ambiente. Sie griff nach dem Handy auf dem Abstelltisch und schaltete die Kamera ein. Ein neues Selfie für ihr Nachrichtenprofil würde jeden überzeugen, wie tiefenentspannt sie war. Sie neigte ihren Kopf und lächelte, während sie das Display mit ausgestreckter Hand auf sich richtete. Doch die Person, die ihr entgegenblickte, sah alles andere als entspannt aus. Straff zurückgebundenes, braunes Haar, Schatten unter den hellbraunen Augen, blasse Haut. Es gab Frauen, an denen Blässe elegant aussah. Sie selbst gehörte nicht dazu. Als sportlicher Typ brauchte es eine gesunde Gesichtsfarbe, um die persönliche Attraktivität zu entfalten.

Schritte knirschten auf dem Kies und sie ließ das Handy sinken. Die schmächtige, gebeugte Gestalt ihrer Vermieterin kam auf sie zu.

„Fraa Lilie’feld?“, fragte Frau Nagel in die Dunkelheit hinein.

„Ich bin hier.“

„Des isch ä scheenes Plätzel, gell?“

„Es ist traumhaft hier.“

„Do isch ä Viertele Graaburgunder. Sie hän doch Weißwei’ gern?“

„Wie bitte?“

„Ich habe ein Viertele Grauburgunder für Sie.“ Frau Nagel betonte jede Silbe und es war deutlich, wie anstrengend es für sie war, hochdeutsch zu sprechen. „Mögen Sie Weißwein?“

„Wahnsinnig gerne.“ Die Wahrheit war, dass es Tage gab, wo sie alles wahnsinnig gerne trank, das reinhaute. Heute war so ein Tag. So wie gestern und der Tag davor. Sie nahm das Glas.

„Kann ich Ihnen noch ebbes Gutes tun?“

„Ich bin wunschlos glücklich.“

Frau Nagel lächelte und neigte den Kopf, als würde sie auf etwas warten.

„Möchten Sie sich zu mir setzen?“

„I sollt net, aber I tu’s doch.“ Frau Nagel kicherte und setzte sich auf die Bank neben dem Hängesessel. „Verraten Sie mir, was eine schöne, junge Frau in die südliche Pfalz verschlägt?“

Kira grinste, obwohl ihr klar war, dass sie mit ihren 43 Jahren für ihre Vermieterin tatsächlich jung war. „Mein erwachsener Sohn studiert in Karlsruhe und ich lege ein Sabbatjahr ein. Wenn ich schon eine Pause von der Arbeit mache, dann in seiner Umgebung.“

Frau Nagel strahlte. „Der Sohnemann wird sicher froh sein, die Frau Mama in der Nähe zu haben.“

Sebastian, der Sohnemann, hatte gar nicht froh geklungen, als sie ihm vor einigen Tagen verkündet hatte, wo sie geruhte, ihre Auszeit zu verbringen, statt wie geplant den Pacific Trail in Kalifornien zu marschieren. Dies war nämlich der ursprüngliche Plan gewesen. Mit der gemeinsamen Wanderung wollten sie und ihr Noch-Ehemann ihre Ehe retten. Blöd nur, dass ihm kurz vor der Rettungsaktion die große Liebe in Gestalt einer vollbusigen Endzwanzigerin begegnet war.

Kira räusperte sich. „Mein Sohn studiert Informatik und hat viel zu tun.“

„Dann haben Sie ja jede Menge Ruhe für sich selbst. Jetzt trinke Se mol ebbes.“

„Wie bitte?“

„Ihr Viertele. Sie haben noch nicht getrunken.“

Kira nahm einen Schluck vom honigfarbenen Wein. Würzige Wärme erfüllte ihren Mundraum und floss die Kehle herunter wie Samt. „Der schmeckt fantastisch!“

„Das freut mich.“ Frau Nagel strahlte. „Der isch extra lieblich. Touristen aus dem Rheinland mögen keine trockenen Weine.“

Sie nahm einen weiteren Schluck. Neben diesem Grauburgunder schmeckten all die Weine, die sie jemals getrunken hatte, wie Brause gemischt mit billigem Wodka.

„Und Sie haben keinen Mann?“ Frau Nagel verschränkte die Hände auf dem Schoß.

„Wir leben getrennt.“

„Des isch aber schaad.“ Sie holte Luft. „Das ist schade. Aber vielleicht kommen Se wieder zusammen.“

„Vielleicht.“

„Hat er Sie verlassen?“

Kira umklammerte das Glas.

Frau Nagel schüttelte erbost den Kopf, als sei Kiras Schweigen Antwort genug. „Männer wissen ääfach net, was se wolle’. Mal wolle’ sie ä Mama, dann widder ä Luder.“ Sie schnaufte empört und Kira fragte sich, wie sie aus dieser Konversation fliehen konnte, ohne es sich gleich am ersten Tag mit ihrer Vermieterin zu verscherzen.

Schreie erklangen aus der Ferne.

Kira hob den Kopf. Nein, es war keine Einbildung. Jemand, oder besser eine Frau, schrie hysterisch und kam eindeutig näher. Sie stand auf und lauschte in die Dunkelheit.

Hilfe! Tim, bist du da? Hilfe!

Panik lag in der hellen Stimme. Kira sprang auf und sprintete über den Kies zum Hoftor, spitze Steine bohrten sich in ihre nackten Fußsohlen. Draußen auf der Straße war niemand zu sehen, doch das Schreien kam vom Haus gegenüber.

Tim, bist du da? Tim, bitte, bitte, mach auf!

Kira rannte entlang des Holzzaunes zur Vorderseite des Fachwerkhauses mit den üppig bepflanzten Blumenkästen. Als sie um die Ecke bog, sah sie die Frau. Besser gesagt das Mädchen. Eine magere Gestalt in einem sackartigen, weißen Kleid und krausen, blonden Haaren, die ihr bis zur Hüfte reichten. Sie stand unter einem Fenster und rief verzweifelt nach Tim.

„Hey, wie kann ich dir helfen?“ Kira rannte zu ihr, geweitete Augen starrten ihr entgegen. „Alles okay, du bist hier sicher. Verfolgt dich jemand?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf und atmete hektisch.

„Wie heißt du?“

„Ich …“ Ihr Atem pfiff und die schmalen Schultern hoben und senkten sich hastig unter dem viel zu weiten Gewand.

„Langsam ausatmen“, sagte Kira. „So ist es prima. Und jetzt tief einatmen. Alles ist okay, du machst das gut.“

„Ich muss zu Tim.“

„Wer ist Tim?“

Das Mädchen starrte auf das Fenster im ersten Obergeschoss.

„Ist er dein Freund?“

Sie nickte hektisch.

„Ich glaube nicht, dass jemand da ist, im Haus ist alles dunkel.“

Hinter ihr hörte sie Schritte, und als sie sich umdrehte, eilte ihnen Frau Nagel entgegen.

„Was hosch’n, Juna?“

Das Mädchen schluchzte erneut und presste die Hände vor die Augen.

„Sie kennen sie?“, fragte Kira.

„Natürlich. Des isch d‘Juna.“

Kira ging in die Hocke und umfasste die Oberarme des verängstigten Mädchens. „Juna, ich bin hier, um dir zu helfen. Was ist geschehen?“

Sie hob den Kopf. Ihre Wangen glänzten nass, die schmalen Augen waren geschwollen. „Arely …“ Entsetzen spiegelte sich in ihrem Blick, als würde alleine die Erwähnung des Namens die Dämonen anstacheln.

„Was ist mit Arely?“

„Sie ist tot!“, schrie Juna. „Arely ist tot!“ Ihre Stimme hallte schrill von der Hauswand, sie ließ sich auf den Hosenboden sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.

„Wo ist Arely?“

„Sie hängt am Pfahl! Sie brennt!“

Verrückt. Dieses Mädchen in dem seltsamen Gewand musste verrückt sein. Sie suchte im Gesicht von Frau Nagel etwas, das dies bestätigte. Verständnis, Mitleid, irgendetwas. Doch der Mund der alten Frau war geöffnet, die kleinen Augen entsetzt aufgerissen. „Kennen Sie Arely?“

„Des isch d’Schweschter von der Juna.“

„Rufen Sie sofort die Polizei.“ Sie wandte sich zu Juna. „Wo genau ist Arely?“

Juna starrte auf den Boden.

„Ich weiß, wo das Feuer ist“, sagte Frau Nagel monoton.

„Dann sagen Sie das der Polizei.“

Die alte Dame wandte sich um und eilte mit winzigen Schritten zu ihrem Haus.

„Wo wohnst du?“, fragte Kira.

„Da oben.“ Sie sah hinüber zu dem Berg, der wie ein mächtiger Schatten unter dem Mond aufragte. Bei ihrer Ankunft hatte die Sonne auf die Weinreben gebrannt, die sich in endlosen Reihen bis zur Spitze zogen. Dort thronte ein herrschaftliches Anwesen, dessen weißer Turm Kira an ein Schloss erinnert hatte.

„Du lebst in dem Herrenhaus?“

Sie nickte.

„Wie alt bist du?“

„Siebzehn.“

„Und wie alt ist deine Schwester?“

„Sechzehn.“ Ihre graublauen Augen weiteten sich. „Arely, sie ist tot“, rief Juna schrill und die schmalen Schultern zogen sich krampfartig zusammen. Von hinten hörte sie trippelnde Schritte.

„Polizei isch uff’m Weg“, rief Frau Nagel aufgeregt.

„Wir sollten Juna irgendwohin bringen. Gibt es im Dorf einen Arzt?“

„Der wohnt hier.“ Die alte Dame zeigte auf das Haus, in dessen Einfahrt sie kauerten. „Tim isch de’ Sohn vom Doktor Hombach.“

„Wo finden wir diesen Mann?“ Kira erhob sich.

„Uffm Fescht?“

„Wie bitte?“

„Uffm Fescht. Driwwe’ in Eschbach isch ä Waifescht. Fascht alle sin do.“

„Ein Weinfest?“

„Ja.“

„Können Sie den Herrn Doktor anrufen? Er soll in meine Wohnung kommen und seinen Sohn gleich mitbringen.“

„Ich ruf ihn an.“ Frau Nagel trippelte wieder zurück.

„Gehst du mit mir?“, fragte Kira, reichte Juna die Hand und zog sie hoch. „Du bist in Sicherheit.“ Sie legte sanft einen Arm um Junas Schultern und ließ ihren Blick zum Hügel schweifen. Das Paradies hatte einen Riss bekommen und Kira für einen Moment aus der beklemmenden Ruhe befreit. Beinahe schämte sie sich für die Dankbarkeit, die sie darüber empfand.

Kapitel 3

Juna saß mit zusammengepressten Knien auf dem Sessel, die knochigen Finger lagen auf den Schenkeln und ihr Blick war starr auf den Boden gerichtet.

„Fraa Lilie’feld, sinse do?“

„Wir sind bei mir.“ Kira schlüpfte in ihre Turnschuhe und lief zu der offenen Tür. Im Hof standen Frau Nagel und zwei Männer mit rötlichen Haaren. Der eine hatte kaum die Volljährigkeit erreicht und war groß und schlaksig. Der Ältere schob ihn zur Haustür.

„Du bist sicher Tim“, sagte Kira.

„Ja. Was ist mit Juna?“ Der Junge war blass und seine Körperhaltung war schlaff, als habe er keine Knochen und könnte jeden Moment in sich zusammenfallen.

„Geh rein und sieh nach ihr.“

Er warf einen knappen Blick ins Innere, wich zurück und sah seinen Vater an. „Kannst du gehen?“

„Wir gehen zusammen rein.“ Der Ältere nickte Kira zu und schob seinen Sohn resolut in die Wohnstube. Er hatte schütteres, abstehendes Haar und ein rundes Gesicht; eine randlose Brille und die hohe Stirn gaben ihm etwas Intellektuelles. Kira blieb auf der Schwelle stehen und sah zu Juna, die ihren Kopf hob und Tim verzweifelt ansah. Der verschränkte die Arme und trat von einem Bein auf das andere, sein Vater kauerte sich vor das Mädchen.

„Hallo Juna, ich bin bei dir. Alles ist okay.“

Die Starre wich aus Junas Gesicht, sie ließ es zu, dass der Arzt ihren Puls fühlte und eingehend ihre Pupillen betrachtete.

„Kannst du mir sagen, was dich erschreckt hat?“

„Arely ist tot.“ Die Augen des Mädchens füllten sich wieder mit Tränen. „Wir haben die Puppe angezündet und plötzlich hing sie da unter dem Stroh.“

Der Doktor zuckte zusammen. „Was sagst du?“

„Ich habe es mir nicht eingebildet. Arely hängt am Pfahl und sie ist tot.“

Die Lippen des Mannes zitterten. Sein Adamsapfel wanderte spitz die Kehle herunter, als er mühsam schluckte. „Pass auf, du bleibst hier und ich werde nachsehen, okay?“

Juna sah ängstlich zu Tim, der die Hände in den Hosentaschen vergraben hatte.

„Tim bleibt bei dir“, sagte der Arzt beruhigend, tät­schelte Junas Knie und stand auf. Er nickte seinem Sohn auffordernd zu, der zog die Hände aus den Taschen und schlenderte zu dem Mädchen.

„Lassen Sie uns kurz raus“, raunte der Arzt und schob sich an Kira vorbei in den Hof, sie folgte ihm zu der Kastanie. Im Fenster der Nagels wackelte die Gardine.

„Doktor Hombach.“ Sein Händedruck war fest, das Gesicht angespannt. „Juna steht unter Schock.“

„Glauben Sie ihr?“

Er kratzte sich am Kopf. „Ich denke nicht, dass sie Drogen genommen hat. Aber das klingt …“

„Verrückt?“

„Erschreckend. Ich sollte hochfahren und nachsehen.“

„Kennen Sie Junas Familie?“

Er stieß hart die Luft aus. „Flüchtig. Sie leben zurückgezogen.“ Er faltete die Hände vor dem Mund und pustete zwischen seine Handflächen, dann ließ er die Arme sinken. „Diese verfluchte Sekte. Es wundert mich nicht …“ Er presste die Lippen zusammen.

„Was wundert Sie nicht?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich fahre hoch. Könnten Sie bei Juna und Tim bleiben?“

Seine Worte hatten eine brennende Neugierde in Kira geweckt. „Es ist besser, wenn ich gehe“, sagte sie. „Polizei und Krankenwagen sind schon unterwegs.“

„Ich lasse Sie nicht alleine in die Nacht hinaus.“

„Ich bin Polizistin in einer Großstadt. Glauben Sie mir, ich kann mich verteidigen.“

Er fuhr sich durch das schüttere Haar und sah sie besorgt an. „Wenn es stimmt, was Juna sagt …“

„Juna braucht Sie hier mehr als mich. Und ich gehe davon aus, dass auch Tim froh ist, wenn Sie bleiben.“

„Vielleicht haben Sie recht.“ Er klang wenig überzeugt. „Kennen Sie den Weg?“

Innerlich jubilierte Kira. „Den Weinberg am Ende der Straße hinauf zum Herrenhaus?“

„Ja. Ist das Ihr E-Bike, das an dem Passat befestigt ist?“

Sie nickte.

„Dann nehmen Sie Ihr Rad, die Kurven hinauf sind eng und Sie müssten das Auto am Herrenhaus stehen lassen.“ Ausführlich erklärte er ihr den Weg bis zu einer Lichtung, die sich Hexentanzplatz nannte. „Und sagen Sie Ambrosia, dass ich Juna zu mir rüberhole. Das ist ihre Mutter.“

„Das werde ich.“ Kira warf einen Blick in das winzige Wohnzimmer. Junas Kopf lag auf Tims Schulter, das Beben ihres Rückens verriet, dass sie stumm weinte. „Bis später.“

„Frau Lilienfeld?“

„Ja?“

In den blassen Augen lag Sorge. „Passen Sie auf sich auf.“

Seine beinahe väterliche Fürsorge rührte Kira und sie lächelte. „Wird gemacht!“ Sie nickte Dr. Hombach zu, während sie den Hof durch das geöffnete Tor verließ. Es roch nach frisch gemähtem Gras. Umständlich schnallte sie ihr E-Bike von der Halterung an ihrem Auto und schwang sich in den Sattel. Die gepflasterte Straße zog steil an, sodass sie die Unterstützung benutzte. Als sie in den schmalen Weg bog, der zwischen den Reben hindurch auf den Hügel führte, wurde die Luft kühler, ein flüchtiger Geruch nach Rauch drang in ihre Nase. Trotz des Motors musste sie auf dem schlangenförmigen Pfad hart in die Pedale treten. Als sie das massive Gutshaus erreichte, stieg sie ab und verschnaufte. Links unter ihr lag Leinsweiler wie ein schmaler Gürtel zwischen endloser Schwärze. Hier würde sie die nächsten Monate zu Hause sein. Beleuchtete Fenster tauchten das von Weinbergen umgebene Dorf in goldenes Licht, der riesige Leinsweiler Hof wurde von unsichtbaren Scheinwerfern bestrahlt. Aus einer Infobroschüre wusste sie, dass das Hotel zur Nazi-Zeit als Zuchtstätte arischer Kinder gedient hatte. Rechts neben ihr thronte das massive Herrenhaus, dessen düstere Mauern das spärliche Mondlicht komplett verschluckten. Der weiße Turm, den sie aus der Ferne bewundert hatte, wirkte wie das Gefängnis einer verwunschenen Prinzessin. Sie stellte das Licht ihres Fahrrades an und fuhr weiter. Hinter dem Haus führten drei Trampelpfade in den Wald. Der Arzt hatte gesagt, dass sie den mittleren nehmen musste. Schon nach wenigen Metern stieg Kira wieder ab und schob, denn der steile Pfad war übersät von Wurzeln und Steinbrocken. Rund um den dünnen Lichtkegel der Fahrradlampe herrschte undurchdringliche Schwärze. Die Haare an ihren Armen stellten sich auf, der Geruch nach Rauch wurde eindringlicher, gleichzeitig lag etwas Scharfes, Giftiges in der Luft.

Verbranntes Fleisch?

Sie atmete tief ein und schob die Beklemmung zur Seite, immerhin war sie freiwillig hier. Wie groß war die Chance, dass ausgerechnet in der malerischen Südpfalz eine Leiche am Feuer hing und eine Zeugin Kira direkt vor die Füße stolperte? In Bielefeld war häuslicher Totschlag das Größte, das sie jemals bearbeitet hatte.

Der Fluch einer Mutter in Teilzeit.

Der Weg machte eine Kurve und von vorne hörte sie undeutliche Stimmen. Nach wenigen Metern wurde es heller und dann stand Kira vor einer Lichtung, die mit Steinformationen angefüllt war. Ein Polizeiwagen parkte mit leuchtenden Scheinwerfern neben einem hohen Baum, daneben ragte ein Pfahl, an dem eine schemenhafte Gestalt hing. Ihr Herz rutschte bei dem Anblick in den Magen. Sie blinzelte hektisch, doch das Licht des Autos blendete sie, und es war nicht auszumachen, ob es sich bei der Gestalt um einen Menschen handelte. Sie stellte ihr Rad ab, straffte die Schultern und lief um den Wagen herum.

„Moment! Sofort stehen bleiben!“

Von rechts kam ein uniformierter Beamter auf sie zu.

„Wer sind Sie?“, fragte er. Eine Frau, ebenfalls in Uniform, folgte ihm auf dem Fuße.

„Ich habe veranlasst, dass man Sie holt. Ist die Kripo schon hier?“

Der Polizist blieb vor ihr stehen. „Nein. Wer sind Sie?“

„Kira Lilienfeld von der Kripo Bielefeld.“

„Bielefeld? Dann sind Sie nicht zuständig.“

„Ich war zufällig in der Nähe.“

„Das hier ist ein Tatort und Sie müssen zurücktreten.“

„Es handelt sich tatsächlich um eine Leiche?“ Die Haare an ihren Armen stellten sich auf.

„Sieht so aus“, sagte die Beamtin. „Gehören Sie zu dieser Gruppe?“

„Ich bin privat in Leinsweiler. Die Schwester des Opfers lief schreiend auf mich zu, deshalb bin ich gekommen.“

Die Beamten warfen sich einen kurzen Blick zu. „Die Kollegen aus Landau und Ludwigshafen sollten bald hier sein. Halten Sie so lange Abstand von der Leiche und setzen Sie sich zu den anderen. Man wird später mit Ihnen sprechen.“ Sie zeigte auf einen hohen Felsen, um den herum Menschen saßen. Sie alle trugen weiße Kleidung und starrten zu ihr herüber.

Sie nickte den Beamten zu und ging mit weichen Knien in Richtung der Gruppe. Kaum trat sie aus dem blendenden Strahl der Scheinwerfer, erkannte sie den Pfahl deutlicher. Er war ungefähr vier Meter hoch, in der Mitte davon hing ein Mensch.

Arely, sechzehn Jahre alt.

Der Schädel sah aus wie ein ovaler Klumpen aus Kohle, schwarze Fetzen aus verbrannter Haut oder Kleidung klebten am Oberkörper, die dünnen Arme waren mit einem Seil an Brust und Bauch gebunden. Plötzliche Taubheit erfasste Kiras Beine und sie blieb stehen. Ihr Atem ging hastig.

„Sie sollen zu den anderen“, blaffte es hinter ihr.

Sie hob beschwichtigend die Hand und lief zu den Menschen beim Felsen, die ihr mit einer Mischung aus Angst und Ablehnung entgegensahen. Eine Frau erhob sich und stellte sich ihr entgegen. Die blonden Haare fielen ihr in sanften Wellen über die Schultern und umrahmten das fein geschnittene Gesicht mit den mandelförmigen Augen und hohen Wangenknochen.

„Sind Sie von der Polizei?“

Kira zögerte. „Ja.“

„Dann machen Sie endlich Ihre Arbeit, damit wir gehen können.“ Der scharfe Tonfall passte nicht zu dem engelsgleichen Aussehen.

„Leider bin ich hier nicht zuständig, aber ich habe mich um Juna gekümmert.“

Die harte Miene wurde weich. „Wo ist meine Tochter?“

Das war also Ambrosia. „Doktor Hombach kümmert sich um sie.“

Zwei Männer erhoben sich. Der eine war schmächtig, hatte sanfte Augen und trug einen akkurat gestutzten Vollbart, der andere war das genaue Gegenteil. Mit immenser Körpergröße, den breiten Schultern und dem finsteren Blick wirkte er bedrohlich.

„Einer von uns muss nach Juna sehen“, sagte der Hüne.

„Sind Sie Junas Vater?“, erkundigte sich Kira.

„Nein, das bin ich.“ Der Schmächtige legte einen Arm um die blonde Frau. „Aber Ulik hat recht. Juna ist schreiend weggerannt, als …“ Er presste die Lippen aufeinander und sah in den Himmel.

„Setz dich wieder hin“, befahl die Frau dem Hünen, der sich augenblicklich niederließ. Sie wandte sich zu Kira. „Wie geht es meiner Tochter?“

„Sie hat sich beruhigt. Tim und Doktor Hombach haben sich ihrer angenommen. Juna glaubt, dort am Feuer hänge ihre Schwester Arely.“

„Wir sollten bei Juna sein.“ Ambrosia sah sie eindringlich an. „Juna ist jung, sie hat noch nicht gelernt, mit dem Tod umzugehen. Können Sie nicht etwas tun?“

„Die Person am Feuer ist also nicht Junas Schwester?“, hakte Kira nach.

„Doch, es ist Arely“, zischte Ambrosia. „Können wir zu Juna?“

Kira blinzelte verwirrt. „Bevor die Kripo nicht da ist, darf niemand gehen.“

„Seit einer Stunde sitzen wir hier. Sie halten uns fest wie eine Horde Vieh.“ Ambrosias Tonfall war dominant. Und wenn Kira wollte, dass die Frau mit ihr sprach, musste sie ihr zeigen, dass sie ihr in nichts nachstand.

Sie sah zu den Polizisten, die unschlüssig neben dem Wagen standen und eine Zigarette rauchten. „Hey“, brüllte sie den Beamten zu. Die beiden drehten die Köpfe zu ihr herum. „Sie sollten schleunigst aufhören, im Wald zu rauchen. Und warum lassen Sie diese Menschen hier sitzen?“

Die Polizisten sahen sich an, drückten die Zigaretten umständlich am Boden aus und schlenderten widerwillig herüber.

Die herrische Masche zieht. Merken.

„Wir warten auf die Kripo“, erklärte der Beamte.

„Sie müssen die Daten aller Anwesenden aufschreiben. Sollten Sie das nicht wissen?“

Wieder tauschten die beiden einen Blick.

„Und warum führen Sie keine erste Befragung durch?“

„Können wir auch tun“, lenkte der Polizist ein und zuckte mit den Schultern.

„Kümmern Sie sich um Namen und Anschriften, ich erledige den Rest.“ Sie wandte sich Ambrosia zu. „Wenn mir einer von Ihnen ein paar Fragen beantwortet, kann diese Person vielleicht gehen, sobald die Kripo da ist.“

Die Beamten liefen an den Rand des Felsens und zückten ihre Tablets.

„Danke, Frau …“

„Lilienfeld. Nennen Sie mich Kira.“ Sie reichte ihr die Hand.

„Ambrosia Alves. Das ist mein Mann Leander.“

„Wer von Ihnen möchte zu Juna?“

„Das bin ich“, entschied Ambrosia.

„Dann folgen Sie mir.“ Kira lief auf die andere Seite der Lichtung, blieb unter einer Eiche stehen und musterte die Frau besorgt. Ihre Haltung strahlte Härte und Wut aus, doch Kira ahnte, dass sich darunter lodernder Schmerz verbarg. „Es tut mir schrecklich leid. Was mit Ihrer Tochter geschehen ist, ist …“

Ambrosia winkte ab. „Schon gut.“

Schon gut?

Kira räusperte sich. „Können Sie mir sagen, was heute Abend geschehen ist?“

„Wir haben Mittsommer gefeiert. Es ist Tradition, eine Strohpuppe zu verbrennen. Wir sind um das Feuer herumgestanden und haben die Puppe angesehen. Plötzlich war da dieser scheußliche Gestank. Das Stroh hat gebrannt und dann haben wir Arely gesehen. Wir haben das Feuer sofort gelöscht, dachten zuerst, sie lebt noch, aber ihr Körper war schon verkohlt.“ Ambrosias Stimme war klar und in Anbetracht der Situation gespenstisch gelassen. „Mein Mann Leander ist zum Haus gelaufen und hat die Polizei gerufen.“ Sie stieß die Luft aus. „Das war ein Fehler.“

„Es war das einzig Richtige. Wer hat die Strohpuppe aufgehängt?“

„Die Männer. Aber das war vorgestern, und gestern haben wir Arely noch gesehen. Jemand muss die Puppe abgehängt und Arelys Leiche in Stroh gewickelt haben.“

„Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?“

„Nein. Und es spielt auch keine Rolle.“

Kira sog scharf die Luft ein. „Ich kann nur ahnen, wie es Ihnen geht, aber ich muss diese Fragen stellen, um die Antworten an die Kripo weiterzugeben.“

„Sie haben absolut keine Ahnung, wie es mir geht, daher sage ich es Ihnen. Meine Tochter sitzt im Dorf bei Fremden, die Bilder ihrer toten Schwester quälen ihre Seele. Haben Sie Kinder?“

„Einen Sohn.“

„Würden Sie ihn im Stich lassen, wenn er Angst hat?“

„Ambrosia, Ihre Tochter Arely wurde offensichtlich ermordet, und diese Tatsache muss Priorität haben.“

„Meiner Tochter Arely geht es gut. Ich kümmere mich lieber um die Lebenden.“

Einen Moment lang überlegte Kira, ob die Frau wahnsinnig war. Scheinbar hatte die ihr entsetztes Gesicht gesehen, denn sie hob beschwichtigend die Hände.

„Das mag seltsam für Sie klingen, aber wir sehen uns als Kinder der Ewigkeit. Wir fürchten nicht den Tod, weil er nicht existiert.“

Sie steht unter Schock.

In dem Moment hörte man näher kommende Motoren. Vermutlich ein Krankenwagen, Kriminalbeamte, jemand von der Gerichtsmedizin.

„Kann ich zu Juna?“, fragte Ambrosia.

„Ich rede mit den zuständigen Beamten.“ Kira hoffte, dass die Kollegen mit ihr kooperieren würden.

Kapitel 4

Innerhalb weniger Minuten hatte sich die Wiese in einen Rummelplatz verwandelt. Krankentransporter und ein zweiter Streifenwagen waren zuerst gekommen, danach hatten sich drei weitere Zivilfahrzeuge eingefunden. Die Beamten hatten sofort die Aufnahme der Daten unterbrochen und sich zu den Männern gesellt, die aus den Fahrzeugen stiegen. Und die Menschen in den weißen Gewändern saßen noch immer wie zusammengetriebene Schafe auf trockenem Laub und Erde. Zwei Frauen hatten die Köpfe gesenkt und weinten.

Nicht alle aus der Gruppe betrachten den Tod als Illusion.

Ambrosias Blick brannte auf Kiras Wange und Kira war klar, dass die Frau es eilig hatte, doch sie musste warten, bis sie einen der Beamten alleine sprechen konnte. Die Minuten zogen sich ewig, bis ein Mann auf sie zukam. Das langärmelige Hemd mit dem gestärkten Kragen und der exakte Haarschnitt hätten Souveränität vermitteln können, wären da nicht der steife Rücken und die dichten, zuckenden Augenbrauen gewesen.

„Ich bin Hauptkommissar Steinbach von der Kriminalpolizei Landau“, stellte er sich vor. Er musterte die Menschen abschätzig und verengte die Augen, als er Ambrosia ansah. Schnell wandte er sich an Kira. „Gehören Sie zu der Gruppe?“

„Ich bin Kommissarin Kira Lilienfeld, eine Kollegin aus Bielefeld.“

„Waren Sie dabei, als es passiert ist?“

„Nein, war ich nicht.“

„Dann hinterlassen Sie bei meinen Kollegen Ihre Kontaktdaten. Jemand wird sich morgen bei Ihnen melden.“

„Ich habe mit der Mutter des Opfers bereits gesprochen, damit sie zu ihrer zweiten Tochter gehen kann. Sie wird dort von einem Arzt betreut.“

„Wer sind die Eltern des Opfers?“

„Ich bin ihre Mutter.“ Ambrosias Augen waren kalt.

„Wer ist der Vater?“

Leander trat nach vorne. „Das bin ich.“

„Folgen Sie mir zum Wagen.“ Steinbach nickte Leander knapp zu. „Alleine.“

„Kann ich zu meiner Tochter gehen?“ Ambrosias Stimme klang brüchig.

„Niemand geht hier weg, bis wir nicht alle Anwesenden vernommen haben.“

„Ihre Kollegin hat bereits …“

„Das ist keine Kollegin, sondern eine Passantin.“ Ein drohendes Funkeln lag in seinen Augen. „Und Sie warten hier.“

„Hören Sie, Hauptkommissar Steinbach“, fuhr Kira dazwischen. „Diese Menschen haben ein Kind verloren und ihre zweite Tochter sitzt verängstigt im Dorf. Ich schlage vor, dass Sie die Mutter entweder gehen lassen oder mindestens zuerst vernehmen.“

Er kam auf sie zu. „Sie wollen mir Anweisungen geben? Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie sich an meine Kollegen wenden sollen.“

Etwas in ihr wollte nachgeben, doch sie entscheid sich dagegen. „Ich werde keinen Schritt von hier tun, solange Sie Ihre unmenschliche Art nicht den Umständen anpassen.“

Einen Moment fixierten sich die beiden wie Stiere kurz vor einem Kampf.

„Folgen Sie mir“, fauchte er schließlich und entfernte sich einige Schritte. Kira lief ihm hinterher und blieb stehen, als er sich zu ihr umwandte.

„Was soll der Auftritt?“, fauchte er.

„Es tut mir leid, dass ich Sie korrigieren musste, aber die Schwester des Opfers steht unter Schock und ist im Dorf, sie braucht dringend ihre Familie. Wie gesagt bin ich eine Kollegin und kann helfen.“

Er ignorierte ihre ausgestreckte Hand. „Ich benötige keine Hilfe.“

„Aber diese Menschen brauchen welche. Ist ein Psychologe vor Ort?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

Er lehnte sich in einer drohenden Bewegung zu ihr vor. „Hören Sie, Frau Lilienfeld, mag sein, dass Sie in Bielefeld das Sagen haben. Hier habe ich es. Sie hinterlassen augenblicklich Ihre Daten und verschwinden vom Tatort, sonst beschwere ich mich bei Ihrer Dienststelle.“

Eins zu null für ihn.

Sie zweifelte weder an der Tatsache, dass er seinen Worten Folge leisten würde, noch daran, welche Konsequenzen das für sie haben könnte. Ihr Plan, sich nach sechs Monaten Zwangspause der Karriere zu widmen und endlich aufzusteigen, was das Einzige, was sie über die aktuelle Situation hinwegtröstete. Bittere Galle stieg ihre Kehle hoch und sie ballte die Hände zu Fäusten.

„Ich gehe“, sagte sie. „Aber ich bleibe mit diesen Menschen in Kontakt. Behandeln Sie sie anständig, sonst werde ich mich über Sie beschweren.“

In dem Moment kam ein stattlicher Kerl mit monströsem Schnurrbart auf sie zu und strahlte sie an. „Erster Kriminalhauptkommissar Schilling von der Kripo Ludwigshafen.“ Er reichte ihr die Hand und schüttelte sie. „Und Sie sind?“

„Kira Lilienfeld. Kommissarin. Bielefeld.“

„Eine Kollegin! Was führt Sie zu uns in die lauschige Südpfalz?“ Begeistert musterte er sie von oben bis unten.

„Ein halbes Sabbatjahr.“

Er tätschelte mit seiner freien Hand ihren Unterarm. „Welch wunderbarer Zufall. Waren Sie dabei, als es passiert ist?“ Er klang, als würde er von einem aufgeschürften Knie sprechen.

„Nein, aber die Schwester des Opfers ist weinend durch den Ort gerannt. Ich habe sie zum Arzt gebracht und wollte nachsehen, ob ich hier oben helfen kann.“

„Ach, Sie kennen doch diese leidigen Vorschriften, auch wenn ich Sie gerne im Boot hätte. Aber wir können uns die Tage austauschen.“ Er zwinkerte und ließ sie los, um in seiner Hosentasche nach einer Visitenkarte zu kramen. „Rufen Sie mich an, falls Sie einen Fremdenführer brauchen.“

Kira steckte die Karte ein. „Welche Inspektion ist hier zuständig?“

„Das sind wir aus Ludwigshafen.“ Schilling warf Steinbach einen gönnerhaften Blick zu. „Aber die Kollegen aus Landau unterstützen uns nach besten Kräften, oder?“

Steinbachs Augen versprühten Gift, was Kira veranlasste, ihr entzückendstes Lächeln aufzusetzen. „Hauptkommissar Schilling, darf ich Sie bitten, zuerst die Mutter des Opfers zu vernehmen und sie zügig zu ihrer Tochter gehen zu lassen?“

Er sah sie verwirrt an.

„Ich meine die lebende Tochter.“

„Oh, ja, natürlich. Das arme Mädchen. Muss ein grausamer Anblick gewesen sein. Ich werde mich persönlich darum kümmern, dass die Mutter hier rasch fertig ist.“

„Danke schön. Ich weiß diese Menschen bei Ihnen in besten Händen.“

„Und zögern Sie nicht, mich anzurufen.“ Er zwinkerte wieder.

Sie ließ ihn stehen und ging zurück zu der Gruppe. „Ambrosia, man wird Sie bald weglassen. Ich gehe jetzt und sehe nach Juna.“

„Danke“, sagte Ambrosia.

„Wir sind Ihnen wirklich dankbar“, fügte ihr Mann hinzu.

„Was habe ich gesagt?“, dröhnte es hinter ihr.

„Seien Sie nicht so mürrisch, Kollege Steinbach, ich kümmere mich darum“, sagte Schilling.

Kira warf einen letzten Blick auf die Menschen in den weißen Gewändern, die bewundernd zu ihr sahen. Sie hinterließ ihre Kontaktdaten, nahm ihr Rad und schob es den Pfad hinunter, bis das Herrenhaus vor ihr auftauchte und der Weg breiter wurde. Das goldene Licht des Dorfes schien wie eine trügerische Fata Morgana. Ihre Brust war eng. Was wäre, wenn ihr Kind verbrannt an dem Pfahl hängen würde? Ein kalter Schauer floss durch ihre Wirbelsäule, die Kehle zog sich schmerzhaft zusammen und augenblicklich traten Tränen in ihre Augen. Sie konnte nur hoffen, dass Schilling sanfter mit diesen Menschen umgehen würde als Steinbach. Schnell blinzelte sie die Tränen weg, denn zu viel Mitgefühl führte in ihrem Job schnell zu einem Tunnelblick.

Ich bin aber nicht im Dienst, erinnerte sie sich.

Vielleicht lag in diesen sechs Monaten Pause die Chance, die Probleme einmal auf ihre Weise zu lösen, ohne die kritischen Blicke von Kerlen wie Steinbach, die jede Gefühlsregung als Schwäche deuteten. Wie abschätzig er Ambrosia behandelt hatte. Aus purer Bosheit hatte er sich geweigert, sie zuerst zu vernehmen. Hart biss sie auf ihre Unterlippe, schwang sich in den Sattel und rollte den Weg ins Dorf hinunter, dessen Straßen von Laternen beleuchtet waren, die beinahe blendeten nach der Dunkelheit der Weinberge. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte, dass es gleich ein Uhr nachts war. Das Tor zum Hof war offen, ein Zettel von Frau Nagel hing an ihrer Haustür, auf dem stand, dass die Dame schliefe und Juna bei Doktor Hombach sei. Ohne die Wohnstube zu betreten, machte Kira kehrt und lief zurück zum Haus des Arztes. Im Erdgeschoss brannte Licht. Sie klopfte und sofort öffnete eine zierliche Frau mit spitzer Nase die Tür.

„Sind Sie Frau Hombach?“, fragte Kira.

Sie nickte und bedeutete ihr, einzutreten. „Nehmen Sie Juna mit zu sich?“

„Ambrosia müsste bald kommen, um sie zu holen.“

Die Frau schnaubte und sah nach oben. „Alexander“, zischte sie, doch niemand war zu sehen.

„Wie geht es Juna?“

„Sie schläft endlich.“ Frau Hombach warf ihr einen scharfen Blick zu. „Hören Sie, es wäre mir lieber, wenn Sie das Mädchen zu sich holen.“

„Ich dachte, sie schläft.“

„Sie ist kein Kleinkind. Man kann sie wecken.“

Kira musterte die zarte Frau mit dem Pferdeschwanz und den hellblauen Augen. „Wenn es sein muss, nehme ich Juna mit zu mir. Aber wie gesagt, ihre Mutter sollte bald …“

„Ich will weder Juna noch Ambrosia in meinem Haus haben.“

Oben auf der Treppe erschien Doktor Hombach. Leise kam er die Stufen herab, sein Haar war zerzaust, unter den Armen hatten sich Schweißflecken gebildet.

„Sie ist ruhig“, flüsterte er.

„Die Dame nimmt Juna mit“, sagte seine Frau.

„Nein“, gab Doktor Hombach entschieden zurück. „Es hat ewig gedauert, bis sie eingeschlafen ist. Juna bleibt hier, bis ihre Eltern sie abholen.“

„Dann ist das jetzt dein Problem“, fauchte seine Frau. „Ich gehe schlafen.“ Sie stapfte die Treppe hinauf, der Arzt zuckte mit den Schultern.

„Kommen Sie“, flüsterte er und lief voraus in eine behagliche Wohnküche aus Fichtenholz. Auf dem Tisch standen eine Flasche Wein und ein halb volles Glas. „Stimmt es, was Juna erzählt hat?“ Er blieb in der Mitte des Raumes stehen.

„Ja, es ist wahr.“

Er riss die Augen auf, als sei er überzeugt gewesen, dass alles ein Irrtum war. „Haben Sie Arely gesehen?“

„Ja. Und ich habe mit Ambrosia und Leander gesprochen.“

Er senkte schwer den Kopf und starrte auf die breiten Holzfliesen unter seinen Füßen. Schließlich hob er den Blick. „Bitte setzen Sie sich.“ Er zeigte auf die Eckbank. „Darf ich Ihnen ein Viertele Dornfelder anbieten?“

„Gerne.“ Sie brauchte dringend etwas zur Beruhigung.

Sie nahm Platz, er holte ein Glas aus dem Schrank und schenkte Rotwein ein. Seine Hände zitterten und es war ein Wunder, dass nichts überschwappte.

„Meine Frau ist sonst nicht so kaltherzig.“ Er ließ sich fallen, trank das Glas auf dem Tisch in einem Zug leer und schenkte sich wieder voll. Kira nahm ebenfalls einen großen Schluck, die dunkelrot schimmernde Flüssigkeit beruhigte ihre brennende Kehle.

„Sie scheint Juna nicht zu mögen.“

„Das Mädchen kann nichts dafür. Es ist diese Sekte, in der sie lebt. Was ist dort oben los?“ Seine Stimme klang dünn, als sei er nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte.

Knapp erzählte sie die wenigen Details, die sie erfahren hatte.

„Wie eine Hexenverbrennung“, murmelte er.

„Was ist so schlimm an den Menschen dort oben?“

Er fuhr sich durchs Haar. „Sie haben Ambrosia kennengelernt. Wie war Ihr Eindruck?“

„Erstaunlich gefasst in Anbetracht der Umstände.“

„Das habe ich vermutet. Ambrosia ist eiskalt, Gefühle sind ihr fremd. Sie lässt sich wie eine Göttin anbeten, die Gruppe ist ihr hörig.“

„Woher wissen Sie das?“

„Diese Sekte zieht immer wieder Spinner an und die sind ziemlich gesprächig. Sie pilgern nach Leinsweiler, weil es hier in der Gegend angebliche Kraftorte gibt. Klettern auf Felsen und verletzen sich dabei, oder sie tanzen die halbe Nacht in der Kälte und holen sich eine saftige Erkältung. Dann landen sie bei mir in der Praxis und schwärmen von Ambrosia.“

„Und sie lässt sich als Göttin anbeten?“

„Ambrosia bezeichnet sich als Prophetin.“ Er betonte das Wort, als sei es etwas Schmutziges. „Ihr Name bedeutet Ewigkeit. Die Sekte nennt sich Kinder der Ewigen. Und sie beten eine Ewige Göttin an.“

Kira dachte an die Frau, die behauptet hatte, keine Furcht vor dem Tod zu haben, nicht einmal vor dem ihrer eigenen Tochter. „Wie gehen die Menschen aus dem Dorf mit der Sekte um?“

„Die Touristen, die Ambrosia besuchen, sorgen für Spott. Man redet viel, Sie wissen ja, wie das ist, doch die Gruppe selbst hält sich von Leinsweiler fern und stört daher niemanden.“

„Ihre Frau schien aber aufgebracht.“

Er nickte entschuldigend. „Das ist wegen Tim. Seit er sich mit Juna trifft, machen wir uns Sorgen. Tim soll bodenständig aufwachsen, wir bringen ihm bei, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Niemand ist schlechter oder besser als der andere. Während der Kult um Ambrosia …“ Er nahm sein Glas und trank hastig.

„Wo ist Tim überhaupt?“

„Wieder auf dem Weinfest. Wir wollten, dass er geht.“

„Obwohl in der Nähe etwas Schreckliches passiert ist?“

Er schwenkte das Glas in seiner Hand. „Wissen Sie, Frau Lilienfeld, ich habe nur dann Angst um meinen Sohn, wenn er Zeit mit Juna verbringt.“ Ein vielsagender Blick.

„Sie halten Juna für gefährlich?“

„Nein. Aber diese Gruppe da oben ist es.“ Er stellte das Glas ab und fuhr mit den Fingern über den Rand. „Ambrosia erwartet blinden Gehorsam. Ihre Weinberge liegen nicht weit von meinem Haus, ich sehe, wie alle parieren, sobald sie auftaucht. Noch vor einem Jahr durften die Jugendlichen nicht alleine ins Dorf, mittlerweile haben sie die Erlaubnis. Aber ich glaube nicht, dass Ambrosia einverstanden ist, dass sich ihre Töchter mit jemandem näher anfreunden. Und ich will nicht, dass Tim zum Ziel ihres Zorns wird.“ Er senkte den Blick.

„Sie haben Angst vor Ambrosia?“

„Auf jeden Fall bin ich froh, dass wir eine Polizistin in der Nachbarschaft haben.“

Kiras Herz pochte, als sie an Ambrosia und die Menschen dort oben dachte. Sie hatten seltsam gewirkt, aber nicht bösartig. Doch was bedeutete schon ein flüchtiger Eindruck in einer Ausnahmesituation? „Trauen Sie ihr einen Mord zu?“

Er umfasste das Weinglas mit beiden Händen. „Ich kenne niemanden, dem ich einen Mord zutraue. Aber jemand hat es getan. Und Arely war die Einzige dieser Sekte, die sich Ambrosia nicht unterworfen hat.“

„Wie meinen Sie das? Hat sie rebelliert?“

„Davon gehe ich aus. Manchmal, wenn ich oben im Wald spazieren war, habe ich gehört, wie Ambrosia sie angebrüllt hat, doch das hat Arely wenig gestört.“

„Haben Sie ein Bild von ihr?“, fragte Kira.

„Nein, warum?“

„Ich habe das Bedürfnis, ein Foto von ihr zu sehen, bevor sie sich in meinem Kopf als gesichtslose Leiche festsetzt.“

„Das kann ich verstehen.“ Seine Miene erhellte sich. „Warten Sie, wir haben ein Bild.“ Er sprang auf, lief in einen angrenzenden Raum und kam kurz darauf mit einer Fotografie zurück, die er Kira reichte. Ein winziges Loch am oberen Rand zeugte davon, dass das Foto mit einem Reißnagel aufgehängt worden war. Tim war in der Mitte. Lachend hatte er je einen Arm um ein Mädchen gelegt. Das eine war Juna, das andere musste Arely sein. Schwarz schimmernde Haare umrahmten das ebenmäßige, blasse Gesicht mit den hellgrünen Augen. Obwohl sie lächelte, hatte sie nichts Liebreizendes, vielmehr strahlte sie siegesgewisse Kompromisslosigkeit aus.

„Tolles Mädchen“, stieß Kira hervor und fröstelte, als ihr klar wurde, dass sie diesen Körper kurz vorher gesehen hatte. Hängend am Feuerpfahl.

„Tim hatte das Bild in seinem Zimmer aufgehängt, meine Frau hat es entfernt. Er hat sie regelrecht angefleht, das Foto nicht wegzuwerfen, also liegt es in einer Schublade.“

„Tim war mit Juna und Arely befreundet?“

„Nicht wirklich. Die Aufnahme ist im Frühjahr auf einem Fest entstanden. Viel Kontakt besteht aber nicht.“

„Warum hat Tim dann ein Bild mit den beiden aufgehängt?“

„Sie wissen doch, wie junge Männer sind. Liegen den Mädchen zu Füßen.“

„Tim stand auf Arely?“

„Viele Jungs taten das.“ Er wurde ernst. „Und das hat uns Sorgen bereitet. Arely war wie Ambrosia. Ich habe sie nicht oft gesehen, aber man merkte sofort, dass sie sich gerne anhimmeln ließ.“ Er starrte vor sich auf den Tisch. „Als Vater gibt man sein Bestes. Aber irgendwann gehen die Kinder ihren eigenen Weg und man fragt sich, ob man mehr hätte tun können. Öfter Zeit mit ihnen verbringen, entschiedener die richtigen Werte vermitteln, ihnen deutlicher zeigen, wie sehr man sie liebt.“

„Sie machen sich Vorwürfe?“

Er sah zu ihr hoch und lächelte schwach. „Nur Sorgen. Mir war nicht klar, wie innig Juna an Tim hängt, aber die Tatsache, dass sie sofort zu ihm gerannt ist, zeigt das deutlich. Ich fühle mich schlecht, weil ich meinen Sohn überredet habe, zurück auf das Fest zu gehen. Doch die Vorstellung, dass er sich noch tiefer in diese Sekte begibt …“

Kira lächelte. „In dem Alter tun sie, was sie wollen.“

Er lächelte ebenfalls und trank den letzten Schluck aus seinem Glas. „Sie haben recht.“

„Danke für Ihre Zeit.“ Sie stand auf. „Es sollte bald jemand kommen, um Juna zu holen.“

Er erhob sich ebenfalls. „Frau Lilienfeld?“

„Ja?“

„Eines noch. Dieses Fest zur Sonnenwende – ich weiß nicht, ob es eine keltische oder germanische Tradition ist –, aber ursprünglich wurden keine Strohpuppen verbrannt, sondern echte Menschen. Wer immer Arely dort aufgehängt hat, kannte den Brauch.“

Ein Schauer rann über ihren Rücken. „Die Polizei wird das prüfen. Gute Nacht, Herr Doktor Hombach.“

Sie verließ das Haus, wechselte die Straßenseite und blieb einen Moment stehen, um tief Luft zu holen. Die Ruhe war gespenstisch; trotz der Nähe des Hügels, wo sich Polizisten, Zeugen und weitere Personen tummelten, drang kein Laut hinunter.

War die Sekte wirklich gefährlich?

So sehr, dass sie eines ihrer Kinder wie eine Hexe verbrennen würden?

Sie dachte an Hauptkommissar Steinbach. Ihm gegenüber besaß sie einen entscheidenden Vorteil, denn Ambrosia schien Kira zu akzeptieren. Diesen Vorteil konnte sie nutzen.

Kapitel 5

Kira lächelte ihr Spiegelbild an. Im Gegensatz zu anderen Frauen mochte sie die dünnen Lachfalten, die sich im Laufe der Jahre an ihren Augenwinkeln gebildet hatten. Ein Hauch von goldenem Lidschatten, der ihre hellbraunen Augen betonte, dazu einen Hauch Wimperntusche: Das war genug an Make-up. Mit einer Bürste fuhr sie sich durch die braune, wuschelige Mähne. Heute würde sie sie offen tragen.

Du siehst unaufgeräumt aus, hatte ihre Mutter immer gesagt und erwartet, dass Kira ihre Haare entweder in Form föhnte oder hochsteckte.

Unaufgeräumt war genau richtig für eine Frau ohne Pflichten.

Draußen empfing sie der Duft von Oleanderblüten. Die Vögel sangen fröhlich, aus der Entfernung hörte man den Motor eines Traktors.

„Guten Morgen, Fraa Lilie’feld.“ Frau Nagel eilte aus ihrem Haus und Kira fragte sich, ob sie am Fenster gesessen und auf sie gewartet hatte. „Wie war die erste Nacht?“

„Ich habe geschlafen wie ein Baby. Nach allem, was gestern geschehen ist, kommt das einem Wunder gleich.“

Frau Nagel kicherte. „Des isch die gute Luft. Ich sag’s ihnen, Fraa Lilie’feld, Sie werde hier ein neuer Mensch.“

„Haben Sie etwas von Juna gehört?“

„Der Herr Doktor isch früh in die Praxis, bestimmt isch Juna schon bei ihren Eltern. Darf ich Ihnen einen Kaffee bringen?“

„Nein, danke. Was ist das eigentlich für ein Hofgut, in dem Juna lebt?“

Frau Nagel setzte sich auf die Bank, deutete auf den Hängesessel; und nachdem Kira Platz genommen hatte, verschränkte sie die Hände im Schoß. „Des isch wirklich ä ganz spannendi G’schicht’, Fraa Lilie’feld.“ Und dann berichtete sie von dem stolzen Anwesen, das vor über 1000 Jahren als Meierhof der nahen Reichsburg Neukastel erbaut wurde. 1914 ersteigerte der Maler Max Slevogt den Hof und baute mehrere Trakte an. Da er einige der Räume mit Gemälden verziert hatte, war das Herrenhaus bis vor zwanzig Jahren der Öffentlichkeit als Museum zugänglich, das von Slevogts Urenkel geführt wurde. Der hatte es schließlich an Ambrosia und Leander verkauft, die dort seither mit ihren Anhängern lebten. Zusätzlich zu den unzähligen Hektar Weinbergen, die zum Hof gehörten, hatten sie weitere Reben gepachtet. „Ma kann saache, was ma will, aber schaffe dun se da owwe!“ Und dann erzählte sie von Gerüchten über freie Liebe, die um die Sekte kursierten, und kicherte beschämt.