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Die zwölfjährigen Zwillinge Felix und Rike können es zunächst kaum glauben, als sie einem Wesen begegnen, das einem Fantasyroman entstiegen sein könnte: Phantanimal, ein uralter Formwandler, der am liebsten als Drache durch die Lande streift. Er berichtet, dass die Welt der Fabelwesen in Gefahr ist, seit der Unsichtbarkeitszauber immer durchlässiger wird, der sie vor den Blicken der Menschen schützt. Um den Zauber zu erneuern, muss ›Das Magische Buch der Zaubersprüche‹ gefunden werden. Die Geschwister erklären sich bereit zu helfen. Dabei müssen sie sich gegen den boshaften Fabelwolf Siegwulf wehren, der Phantanimal auf den Fersen ist, um ihm das Buch abzujagen. Er schreckt nicht einmal davor zurück, Rike zu entführen, damit er ein Druckmittel hat. Bald kreuzt die junge Hexe Nina den Weg der Freunde. Kann sie helfen, Rike zu retten und das Buch zu finden? Ein Fantasyroman für Kinder von 9 bis 99. Leserstimmen "Phantasievoll und überzeugend: Mitfiebern!" "Tolles Fantasy-Buch mit tiefem Sinn!" "Modernes Märchen mit dem besonderen Charme alter Fabeln und Legenden, der alles andere als staubig wirkt." "Alles stimmig: Die Charaktere, die Fantasyfiguren und die Handlung"
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
1 Träumerei und Wirklichkeit
2 Drache und Wolf
3 Das große Treffen
4 Ein leibhaftiger Drache
5 Der Wolf im Park
6 Was nun?
7 Bücher
8 Hexensachen
9 Sturzflug
10 Zum Blocksberg
11 Wer da?
12 Rettet Rike!
13 Zum Gipfelkreuz
14 Unerwartete Hilfe
15 Der Gefangene
16 Jagd nach dem Buch
17 Das wehrhafte Buch
18 Siegwulf
19 Ruhmlose Rückkehr
20 In der Klemme
21 Das Magische Buch der Zaubersprüche
Epilog
Danksagung
Leseprobe
Phantanimal und das Magische Buch der Zaubersprüche
Fantasyroman
von Angelika Lauriel
© 2021 Angelika Lauriel, WWW.ANGELIKALAURIEL.DE, Ludwigstraße 5, 66265 Heusweiler
Buchcoverdesign: Dorothea Stiller unter Verwendung von Grafiken von Pixabay und Depositphotos
Lektorat der Erstausgabe: Philipp Bobrowski Korrektorat: Stefanie Cernko Satz: Angelika Lauriel
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk darf – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung der Urheberin wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
ISBN des Taschenbuchs: 9783754303337
Taschenbuch dt.-engl. Version: 9783754301128
Über das Buch
Die zwölfjährigen Zwillinge Felix und Rike können es zunächst kaum glauben, als sie einem Wesen begegnen, das einem Fantasyroman entstiegen sein könnte: Phantanimal, ein uralter Formwandler, der am liebsten als Drache durch die Lande streift. Er berichtet, dass die Welt der Fabelwesen in Gefahr ist, seit der Unsichtbarkeitszauber immer durchlässiger wird, der sie vor den Blicken der Menschen schützt. Um den Zauber zu erneuern, muss ›Das Magische Buch der Zaubersprüche‹ gefunden werden. Die Geschwister erklären sich bereit zu helfen. Dabei müssen sie sich gegen den boshaften Fabelwolf Siegwulf wehren, der Phantanimal auf den Fersen ist, um ihm das Buch abzujagen. Er schreckt nicht einmal davor zurück, Rike zu entführen, damit er ein Druckmittel hat.
Bald kreuzt die junge Hexe Nina den Weg der Freunde. Kann sie helfen, Rike zu retten und das Buch zu finden?
Ein Fantasyroman für Kinder von 9 bis 99.
Deutsch-englische Ausgabe
Phantanimal gibt es auch als Taschenbuch und als Taschenbuchausgabe für Kinder, die Englisch lernen. Ihr könnt es online, aber auch bei eurer Lieblingsbuchhandlung vor Ort bestellen. Im Buch sind die meisten Dialoge (immer, wenn auch in echt Englisch gesprochen wird) in englischer Sprache, der Erzähltext aber ist auf Deutsch geschrieben. Die wichtigsten Wörter findet ihr im Anhang des Buchs in einem Vokabelteil.
Die ISBN lautet: 978-3754301128
Das Buch kostet 12€.
Die Autorin
Angelika Lauriel, geboren in Saarbrücken, hat Übersetzen und Dolmetschen studiert und schreibt Bücher, seit ihre drei Söhne aus den Windeln herausgewachsen sind. Seit 2010 sind von der Autorin bei mehreren Verlagen Kinderkrimis, Krimikomödien und zeitgenössische Romane für Jugendliche und Erwachsene erschienen.
Unter ihrem zweiten Pseudonym Laura Albers schreibt sie klassische Liebesromane mit deutschen und französischen Protagonisten. Nach mehreren Jahren der Lehrtätigkeit in Deutsch als Zweitsprache an weiterführenden Schulen übersetzt Lauriel nun regelmäßig Romane für Kinder und für Erwachsene und arbeitet als Lektorin/Korrektorin für verschiedene Verlage. Regelmäßig bereist sie auch Schulen, um ihre Bücher in Autorenlesungen vorzustellen. Sie lebt mit ihrer Familie im Saarland.
Felix saß am Tisch, die Wange in die linke Hand gestützt, und zeichnete gedankenverloren mit dem Bleistift auf seinem Block. Auf dem karierten Blatt entstand das Lebewesen, das er heute Nacht im Traum gesehen hatte: Eine lang gezogene Schnauze endete in einer breiten Augen- und Stirnpartie. Das Gesicht war beschuppt, wie der Rest des Körpers, der im Verhältnis zum Kopf fast zu massig wirkte. Der Eindruck verstärkte sich noch durch die Rückenzacken, die die gesamte Länge bis zur Schwanzspitze überzogen. Für die Beine und Klauen nahm Felix sich besonders viel Zeit. Sie mussten kräftig genug sein, um den Drachenkörper tragen zu können. Die Flügel lagen an den Seiten. Felix malte sogar die Matschflecken, die er im Traum deutlich darauf hatte erkennen können. Zu dumm, er erinnerte sich zwar exakt an diesen Drachen – was genau er von ihm geträumt hatte, fiel ihm jedoch nicht mehr ein.
»Ein Drache?« Die erboste Stimme von Frau Walser neben ihm riss Felix aus seiner Versunkenheit. Er sah hoch, direkt in das Gesicht der Englischlehrerin. Einige seiner Mitschüler lachten.
»Echt jetzt? Ein Drache?«, flüsterte jemand weiter vorn. Am Bein spürte er das Knie seiner Zwillingsschwester Friederike. Wahrscheinlich hatte sie versucht, ihn aus seinem Tagtraum zu reißen.
»Nun, Felix, wenn du deine Zeit unbedingt mit Fantasiewesen verbringen möchtest, anstatt die unregelmäßigen Verben zu üben, werde ich dir den Gefallen tun.«
»Ähm …« Das konnte nichts Gutes bedeuten.
Rike neben ihm seufzte.
»Du schreibst mir einen Aufsatz über das Ungeheuer von Loch Ness.«
»Was hat das denn mit …«
Rike stieß ihn in die Seite, er klappte den Mund zu und nickte ergeben.
»Und zwar bis morgen, wenn ich bitten darf.«
»Frau Walser, wir sind heute Nachmittag mit der Bio-AG im Zoo«, wandte Rike ein. »Das wird knapp.«
Die Lehrerin runzelte die Stirn, zögerte, dann nickte sie. »Nun gut. Bis übermorgen also, Felix. Mindestens drei Seiten. Du kannst dich nicht immer in deine Fantasiewelten flüchten. Wann begreifst du das endlich?«
Felix verdrehte die Augen. Seine Eltern hielten ihm ständig vor, er würde aus der Wirklichkeit fliehen. Nur, weil er in jeder freien Minute Bücher verschlang. Das war Quatsch. Sie sollten froh sein, dass er gern las. Gerade seine Mutter müsste ihn verstehen! Sie liebte ihren Job in der Bibliothek der Saar-Universität und schwärmte immer von dem Geruch der Bücher.
Den Rest der Stunde riss Felix sich zusammen. Einen weiteren Tadel wollte er sich heute nicht mehr einfangen. Dazu brauchte er gar nicht erst nach seiner Schwester zu sehen, die ihm mit ihren Blicken anscheinend tausend Dinge sagen wollte.
Felix mochte Rike wirklich. Immerhin hatten sie sich schon den Platz in Mamas Bauch geteilt. So was schweißt zusammen. Aber manchmal war sie schwer zu ertragen. Friederike war ein Musterkind. Sie lernte leicht und schnell, arbeitete gern im Unterricht mit und fand noch Zeit, sich in allen möglichen AGs zu engagieren. Egal, ob Schulzeitung, Sanitätsdienst oder Bio-AG. Zur Bio-AG hatte sie Felix mitgeschleppt. Da hatte sie leichtes Spiel gehabt, weil die Gruppe regelmäßig zum Neunkircher Zoo fuhr und dort bei allem half, was anfiel. Ställe ausmisten, Futter verteilen und solche Sachen. Felix liebte das.
»Den Aufsatz hast du dir selbst eingebrockt. Na ja, das Gute daran ist, dass du dabei was lernst.« Die Sätze sagte Rike, während sie zu Hause die Fahrräder in die Garage schoben. Felix sparte sich eine Antwort.
Mama war diese Woche über Mittag zu Hause und kochte für ihn und Rike. Sie hatte Nachmittagsdienst.
»Wie ist es in der Schule gelaufen?«, fragte sie, nachdem Felix und Rike den Tisch gedeckt hatten und sie die dampfende Auflaufform auf den Untersetzer gestellt hatte.
»Alles prima.« Felix warf Rike einen bittenden Blick zu. Mama musste von dem aufgebrummten Aufsatz nichts erfahren.
»Felix, ich sehe es dir an der Nasenspitze an«, sagte seine Mutter jedoch. »Was ist passiert? Ein Test in Mathe?«
»Nein«, brummelte er, »eine Strafarbeit in Englisch.«
»Schon wieder?« Mama hatte jedem von dem Nudelauflauf auf den Teller gegeben und piekte zwei Tortellini auf die Gabel. »Was hast du dieses Mal angestellt?«
»Er hat geträumt und dabei gezeichnet«, sagte Rike, da Felix gerade auf einem Bissen herumkaute.
Mama seufzte. »Geträumt. Wo warst du denn in deinem Kopf?«
»Ist doch egal! Ich muss einen Aufsatz über das Ungeheuer von Loch Ness schreiben. Bis übermorgen.«
Mamas Augen leuchteten auf. Felix seufzte, Rike feixte. Manchmal war ihre Mutter ein richtiger Nerd! Schon legte sie mit ihrem liebsten Thema los. »Das ist toll! Ich suche dir in der Universitätsbibliothek Hintergrundliteratur heraus. Auf Deutsch und auf Englisch. Damit schreibst du einen Eins-a-Aufsatz!«
»Boah, hast du mal von Tante Google gehört? Die kann mir dabei genauso gut helfen.«
»Quellen aus dem Internet kannst du nicht vertrauen, das weißt du doch. Ich bringe dir heute Abend jedenfalls was mit.« Sie stand auf. »Und nun muss ich mich fertig machen. Räumt nachher den Tisch ab. Stellt den Rest für Papa in die Mikrowelle, damit er ihn sich warm machen kann, wenn er heimkommt.«
Für die Hausaufgaben war nicht viel Zeit, bevor Rike und Felix zur Bushaltestelle gingen, von der aus sie zum Zoo fahren konnten. Da die Fahrt fast eine Stunde dauerte, ging an den Zootagen der komplette Nachmittag drauf. Felix wurde der Falknerei zugewiesen und kam gerade noch rechtzeitig zur Nachmittagsvorführung. Er erhielt von Ben, dem Falkner, einen der schweren Lederhandschuhe, damit er ihm bei der Flugschau assistieren konnte. Die Eulen und der Bussard machten ihre Sache wie immer prima. Sie flogen nicht zu dicht über die Köpfe der Zuschauer hinweg, jagten bereitwillig das Federspiel und flogen zwischen Felix und Ben hin und her. Hinterher trugen beide je einen Vogel zurück, um ihn an seinem jeweiligen Platz festzubinden.
»Was meinst du?«, wandte Ben sich an ihn. »Sollen wir es mit Adam wagen?«
Adam war ein junger Weißkopfseeadler. Er wurde zwar seit einem halben Jahr trainiert, aber man wusste bei ihm nie genau, woran man war. Ben hatte ihn offenbar vorher bereits aus seiner Voliere geholt und auf seinen Ast davor gesetzt. Er war lose festgebunden, sodass er nicht wegfliegen konnte. Adam wirkte ruhig, er beobachtete Ben und Felix, als verstünde er genau, dass es um ihn ging.
»Also, ehrlich gesagt ist er mir unheimlich.« Felix zog die Schultern hoch. Adams stechender Blick wirkte manchmal auf ihn, als erkenne er genau seine Unsicherheit. »Wenn, dann musst du mit ihm arbeiten. Ich halte mich da lieber raus.«
»Okay. Weißt du, wenn wir es nie probieren, kann er nicht zeigen, was er drauf hat.« Mit diesen Worten löste Ben die Fessel vom Ast, setzte Adam auf den Handschuh und hielt die Fußbänder des Adlers mit drei Fingern fest.
Adam verhielt sich einen kurzen Moment lammfromm, doch sobald Ben die Fußfesseln etwas fester in seiner Hand hielt, begann er mit den Flügeln zu schlagen, als wolle er abheben. Wer konnte wissen, was an diesem Morgen geschehen war und den Vogel so aufgebracht hatte?
»Verflixt!« Ben streckte den Arm von sich und zog den Kopf ein, während Adam weiter mit den riesigen Schwingen schlug. Bens Arm ruckte auf und nieder.
Felix sah die Gefahr, in der Ben schwebte. Er könnte sich an den Krallen oder dem Schnabel verletzen, wenn Adam sich weiterhin so unberechenbar verhielt. Trotzdem durchlief Felix eine eigenartige Regung. Er hatte das unheimliche Gefühl, Adams Empfindungen erleben zu können. Er spürte Verlassenheit, Langeweile und Zorn. Einen unbändigen Zorn, der damit zusammenhing, dass Adam der Einzige seiner Art in der ganzen Region war. Selbst das Fliegen hatte ihm ein Mensch beigebracht, nicht seine Mutter. Natürlich konnte ein Vogel nicht denken, nicht wie ein Mensch jedenfalls. Aber das war es, was nach diesem kurzen, verwirrten Moment in Felix zurückblieb: Ein Gefühl der Einsamkeit und der Wunsch, zu fliehen und sich an den Menschen zu rächen, die ihm das angetan hatten. Seltsam! Trotzdem: Es passte zu dem, was Felix über die Herkunft des Adlers wusste. Der Zoo hatte von einem anderen Zoo ein Adlergelege aufgekauft und künstlich bebrütet. Nur ein einziger Jungvogel hatte überlebt. Er hatte sich von Anfang an als schwierig erwiesen. Er begriff zwar schnell, wie er jagen und die Beute gegen eine Belohnung abgeben sollte, aber immer wieder flog er einfach davon. Bisher war er wenigstens jedes Mal zurückgekehrt.
»Verflucht, jetzt gib Ruhe!« Ben kämpfte noch immer gegen den nervösen Vogel an. Der hörte nicht auf, mit den Flügeln zu schlagen. Felix beobachtete, wie Bens muskelbepackter Arm erlahmte.
»Ruhig, Adam, ruhig!«, unterstütze Felix Bens Versuche.
Unerwartet ließ Adam die Flügel sinken und starrte Felix geradewegs in die Augen, bis es ihm kalt den Rücken hinunterlief. In dieser Sekunde beschloss er, in Zukunft die Falknerei lieber zu meiden. Er hob beide Arme in einer beschwichtigenden Geste. »Bleib ganz ruhig, Großer! Es tut dir ja keiner was«, murmelte er.
Ben griff mit seiner freien Hand nach der Fußfessel, um sie tiefer zwischen die Finger zu ziehen. Diesen Moment erkannte und nutzte Adam. Er breitete die Schwingen aus und stieß sich ab. Eine Sekunde später war er in der Luft – zu hoch, um noch von irgendjemandem oder etwas aufgehalten zu werden. Er stieß einen gellenden Schrei aus. In Felix’ Ohren klang es wie Triumphgeheul. Dann flog Adam so dicht über die Köpfe der Zuschauer hinweg, dass diese sich ängstlich duckten, und zog weiter, pfeilschnell und anscheinend mit einem genauen Ziel vor Augen. Kurz darauf war er verschwunden.
»Ein Wolf! Mama, da oben über dem See fliegt ein Wolf!« Die Kinderstimme klang hell vor Aufregung.
Alarmiert duckte Phantanimal sich zwischen die Bäume. Er hielt den Atem an. Die Anwesenheit der Menschen hatte er gar nicht bemerkt. Wie leichtsinnig!
Was meinte das Kind? Phantanimal reckte seinen Drachenhals, um zu sehen, was dort oben am Himmel flog. Er verschluckte sich. Das war unglaublich: Siegwulf! Die silbern glänzenden Flügel ausgebreitet, segelte der Fabelwolf auf dem Wind und bewunderte sein Spiegelbild im See. Phantanimals Schuppen erzitterten bei dem Gedanken, dass diese Menschen den Fabelwolf sehen konnten! Spürte Siegwulf die Gefahr denn nicht? Wieso schützte er sich nicht mit dem Unsichtbarkeitszauber?
Phantanimal musste ihn warnen! Er musste da raus und etwas tun! Doch wie gelähmt blieb er sitzen. In seinem Kopf formten sich die Gedanken, dennoch konnte er seine Behäbigkeit nicht so schnell überwinden. Hilflos verfolgte er Siegwulfs Bewegungen mit den Blicken.
Der bemerkte nichts. Unbekümmert zog er mal höher, mal tiefer seine Runden und genoss den eigenen Anblick. Er war das eitelste Fabelwesen, das Phantanimal in seinem ganzen Leben kennengelernt hatte. Und das war ein langes Leben.
Eine nervöse Frauenstimme drang in sein Ohr. »Was erzählst du denn da für einen Unsinn? Ein Wolf fliegt nicht.«
»Der hier aber schon, dort oben.«
»Schatz, lass den Qua… Mein Gott, ein fliegender Wolf!«
Ihr Ton rutschte mit jedem Wort höher. »Unter die Bäume, Liebling!« Dann kreischte sie: »Tom, hol dein Gewehr, schnell!«
Phantanimal zuckte zusammen. Tom musste ihr Mann sein, der in der Nähe einen Picknickkorb in seinem Lieferwagen verstaute. Beim Klang ihrer Stimme wirbelte er herum. Mit zwei Schritten stand er neben seiner Frau und griff nach ihrem Oberarm. »Was ist los?«
Als hätte die Antwort des Mannes den Bann gebrochen, konnte Phantanimal sich endlich rühren. Vorsichtig schlich er näher heran und sah, wie sie nach oben deutete. Sie flüsterte: „Da … da oben ist … ein Wolf!« Die Knöchel der Hand, mit der sie die Schulter ihres Sohnes umklammerte, traten weiß hervor. Der Junge wirkte nach wie vor fasziniert von Siegwulf.
Phantanimal stöhnte bei den Regungen, die sich auf dem Gesicht des Mannes abzeichneten: Seine Augen weiteten sich, er riss den Mund auf wie zu einem Schrei. Dann fasste er sich jedoch, stieß einen Fluch aus, hastete zum Auto und zog ein Gewehr von der Ladefläche.
»Schande!«, fluchte Phantanimal.
Er rannte los, durch den Zauber vor den Blicken der Menschen geschützt. Schon brach er am Ufer des Sees zwischen den Bäumen hervor. Er war dem Mann bereits ganz nahe, der mit dem angelegten Gewehr auf Siegwulf zielte. Da spürte Phantanimal unerwartet ein Kitzeln, das seinen gesamten Körper erfasste. Ausgerechnet jetzt? Der Tarnzauber verlor seine Kraft! Ungeschützt walzte Phantanimal auf die Menschen zu. Sie starrten nach oben zu Siegwulf, deshalb bemerkten sie ihn noch nicht. Doch gleich darauf fuchtelte der Junge mit den Armen, um auf ihn zu zeigen, seine Mutter riss die Augen auf, und bei dem gurgelnden Geräusch, das aus ihrer Kehle drang, schwang der Vater mitsamt dem Gewehr zu Phantanimal herum. Unter seinen Klauen stob Erde auf, als Phantanimal stehen blieb. »Verberge mich im Licht – ein Mensch sieht mich nicht.« Wie eine Beschwörungsformel murmelte er den Zauberspruch mehrmals hintereinander und versuchte verzweifelt, sich kleiner zu machen. Der Zauber funktionierte nicht!
»Das ist … das ist ein Drache«, stotterte der Junge, der als Einziger nicht die Sprache verloren zu haben schien. Seine Eltern standen unbeweglich wie Statuen. Die Mutter umklammerte die Schultern ihres Sohnes, der Mann hielt das Gewehr im Anschlag, schien aber zu keiner Regung fähig zu sein.
Wie konnte ich so dumm sein, mich ihnen als Drache zu zeigen?
Immer wieder murmelte Phantanimal die Formel. Langsam, vorsichtig setzte er einen Fuß zurück, dann den nächsten, und bewegte sich in Richtung der Bäume, behielt den Gewehrlauf im Blick. Wie ein schwarzes Auge verfolgte die Mündung Phantanimals Bewegungen. Es konnte nur noch einen Augenblick dauern, bis der Mann sich besann und das tat, was Menschen tun, wenn sie sich in Gefahr fühlen und wenn sie ihre Kinder beschützen wollen: angreifen.
Unerwartet hörte Phantanimal ein Knurren von dort, wo der Mann stand. Dessen Schulter ruckte nach vorn, ein Knall, das schwarze Auge leuchtete auf und erlosch. Ein scharfer Schmerz bohrte sich durch Phantanimals höchste Rückenzacke, er sackte vor Schreck zusammen. In dieser Sekunde überlief das ersehnte Kribbeln seinen Körper. Endlich war er den Blicken der Menschen entzogen. Er erkannte in der Nähe des Menschenmannes Siegwulf, der seinerseits endlich den Unsichtbarkeitszauber aktiviert hatte, wie die Glitzerwolke anzeigte, die ihn umgab. Phantanimal begriff, dass er sich außer Reichweite bringen musste. Selbst wenn die Menschen ihn nicht mehr sehen konnten, bestand die Gefahr, dass der Mann nochmals feuerte. Phantanimal ignorierte den stechenden Schmerz in seiner Zacke, drehte sich um und verschwand so leise, wie er es vermochte, zwischen den Bäumen. Dann lief er los, um sich in Sicherheit zu bringen. Wie er aus dem Augenwinkel sah, hatte Siegwulf ebenfalls abgedreht. Um die Menschen kümmerte er sich nicht mehr.
Was hätte er auch tun können? Sicher würden die drei allen von ihrer Begegnung erzählen. Schande! Englands Fabelwesen konnten ein weiteres Schauermärchen, das unter den Menschen die Runde machte, wirklich nicht gebrauchen.
Als er weit genug vom See weg war, blieb Phantanimal stehen. Das war knapp gewesen! In den letzten Monaten hatte er einige Geschichten gehört von Fabelwesen, deren Unsichtbarkeitszauber in der Nähe von Menschen nachgelassen hatte. Aber ihm würde das doch nicht passieren … Er hatte die Geschichten für Übertreibungen gehalten. Natürlich war es fatal, wenn der Zauber, der sie seit undenkbaren Zeiten vor den Blicken der Menschen schützte, seine Wirkung verlor. Phantanimal ließ sich auf den Waldboden sinken. Seine Rückenzacke schmerzte.
»Tut sicher weh, was?«, erklang eine schnarrende Stimme vor ihm. »Hat ein richtiges kleines Loch reingerissen.« Siegwulf trat auf Phantanimal zu und deutete mit der Schnauze auf dessen Rücken. Seine Stimme klang weder verständnisvoll noch mitleidig. Der junge Fabelwolf war für seine Kaltschnäuzigkeit bekannt. Tatsächlich gehörte er der neuen Generation der Fabelwesen an, die sich kaum noch um die alten Traditionen scherten. Bei seinem Flug über den See hatte er den Tarnzauber offenbar freiwillig abgelegt und damit das Risiko auf sich genommen, gesehen zu werden. Wie leichtsinnig! Vermutlich hatte er nicht einmal die Gefahr mitbekommen, in der er geschwebt hatte.
»In der Tat, es schmerzt. Danke, dass du zur Stelle warst. Wer weiß, wo der Mann mich sonst getroffen hätte.«
»Zwischen den Augen vermutlich. Der Kerl ist ein guter Jäger. Ich habe ihn oft beobachtet.«
»Du bist also öfter hier?«
Siegwulf hob und senkte mehrmals den Kopf. »Komme manchmal hier durch.«
Phantanimal wollte es jetzt genau wissen. Hatte Siegwulf seine Tarnung bewusst fallenlassen oder war es ungewollt passiert, wie bei ihm? »Ist dein Tarnzauber intakt?«
»Natürlich.« Siegwulf fuhr sich mit den Krallen durch seine zur Seite gelegten Stirnhaare. Er wich Phantanimals Blick aus. Vielleicht begriff er langsam, dass der ihn bei seinem ungeschützten Flug über dem See gesehen hatte.
»Willst du damit sagen, dein Unsichtbarkeitszauber funktioniert fehlerlos?«
»Ja.«
»Warst du etwa mit voller Absicht enttarnt – dort hinten über dem See?«, fragte Phantanimal.
Der Wolfsähnliche verschluckte sich und hustete heiser. »Och, das meinst du …« Anscheinend fiel ihm nichts weiter ein.
»Ja. Das meine ich. Du hast deine Tarnung fallen lassen und damit riskiert, dass Menschen dich sehen können.«
»Kein Problem. Ich hatte alles unter Kontrolle. Im Gegensatz zu dir, nicht wahr?« Er sah noch einmal nach Phantanimals Zacke. »Immerhin scheint die Wunde nicht weiter schlimm zu sein. Also alles nochmal gutgegangen. Zum Glück war ich in der Nähe!«
Sollte Phantanimal dem jungen Fabelwolf erklären, dass sein Tarnzauber genau in dem Moment nachgelassen hatte – und zwar ungewollt -, als er dabei gewesen war, Siegwulf vor der Waffe des Mannes zu schützen?
»Bist du auf dem Weg nach Chester, zum großen Treffen?«, unterbrach der Wolfsähnliche seine Gedanken. »Da geht es wohl um den Unsichtbarkeitszauber.«
»Ganz recht. Sollen wir gemeinsam gehen?« Der junge Fabelwolf hatte Phantanimal vermutlich das Leben gerettet. Welchen Sinn hätte es, ihn wegen seines Leichtsinns zu maßregeln?
»Ähm, ja, warum nicht?« Begeistert klang Siegwulf nicht gerade. Vermutlich zog er es vor, einsam seiner Wege zu ziehen.
Wie die meisten von uns. Die Zeiten der Gemeinsamkeit sind vorbei. Wehmut befiel Phantanimal bei diesem Gedanken. Gerade so wie bei den Menschen, hatten sich auch bei den Fabelwesen die Sitten und Gebräuche gewandelt. Sie hatten sich auseinandergelebt. Treffen wie das, das Maximus heute einberufen hatte, fanden nur noch sehr selten statt. Tatsächlich war Siegwulf wohl zu jung, um überhaupt eines miterlebt zu haben.
»Dann wollen wir mal.« Phantanimal setzte sich in Bewegung. Der Wolfsähnliche tänzelte so dicht neben und vor ihm her, dass Phantanimal immer wieder den Schritt verhalten musste, wenn er nicht mit ihm zusammenstoßen wollte. Er seufzte. Vielleicht war das der Grund, weshalb er selbst ebenfalls die Einsamkeit vorzog. Sich auf die Gewohnheiten der anderen einstellen zu müssen, war ihm in den letzten beiden Jahrhunderten lästig geworden.
»Stopp!«, fauchte er, als Siegwulf abermals vor ihn lief. Mit dem Fauchen stiegen zwei Rauchsäulen aus seinen Nüstern empor. Der Fabelwolf duckte sich und stemmte die Vorderläufe in den Boden.
»Was soll das?«, grummelte er.
»Hör bitte auf, mir ständig vor die Füße zu laufen.«
»Ha! Mir geht das zu langsam. Kannst du dich nicht ein bisschen schneller bewegen?« Siegwulf tänzelte herum, als könne er keine Sekunde stillhalten. Er war wirklich noch sehr jung.
Phantanimal beschloss, sich nicht provozieren zu lassen. »Wenn du es vorziehst, können wir getrennte Wege gehen. Wir sehen uns an der Kathedrale in Chester.«
»Ach nee … Wie wäre es stattdessen mit einem Wettrennen?«
»Einem was?«
»Wettrennen. Komm, alter Drache, gib dir einen Ruck und mach mal was ganz Verrücktes. Wann hast du das zum letzten Mal gemacht, hm? Wir rennen bis zum Treffpunkt. Wer zuerst da ist, hat gewonnen.« Die Pfoten des Wolfsähnlichen tippelten auf dem Waldboden, als freue er sich auf das Kräftemessen mit dem altehrwürdigen Drachen. »Aber mit den Läufen, nicht mit den Flügeln. Komm schon. Ich sag dir, danach fühlst du dich wie neugeboren.« Siegwulf betrachtete ihn mit gesenktem Kopf. »Oder stimmt die Geschichte gar nicht, dass du Hundegestalt annehmen kannst?«
Ein Wettrennen zwischen dem uralten Formwandler und dem noch sehr jungen Fabelwolf? Phantanimal wollte bereits ablehnen, doch unter Siegwulfs lauerndem Blick überlegte er es sich anders. »In meiner Hundegestalt meinst du?«
»Ja! Los, du bist mir was schuldig. Außerdem hab ich dich noch nie anders gesehen als so, wie du jetzt da stehst. Ein alter, zäher Drache.«
Hörte Phantanimal ein unterdrücktes Glucksen in Siegwulfs Stimme? Zögernd nickte er. »Nun gut, rennen wir bis nach Chester.«
»Gut. Nach Chester.« Siegwulfs Augen leuchteten. Er schüttelte seine Flügel. Alle Federn lagen in Reih und Glied.
Phantanimal unterdrückte den Impuls, seine Flügel aufzustellen. Er presste sie an den Körper, sodass Siegwulf die Matschflecken darauf nicht sah. Sie waren ihm peinlich.
»In der Nähe der Kathedrale von Chester gibt es einen kleinen Platz mit mehreren Bäumen. Dort warte ich auf dich.« Siegwulf brach in Lachen aus. Es klingelte schmerzhaft in Phantanimals Ohren. Schon sprintete der Fabelwolf davon. Offenbar war er nicht allzu erpicht darauf, Phantanimal in seiner anderen Gestalt zu sehen. Wichtiger war ihm wohl, vor ihm da zu sein. Das Geräusch seiner Pfoten verklang rasch.
Phantanimal wusste nicht recht, wie ihm geschehen war. Hatte er sich gerade auf ein Wettrennen mit Siegwulf eingelassen? Dann war es wohl höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen und den Vorsprung aufzuholen.
Er rannte los. Seine massige Gestalt brach durch die Bäume hindurch, ohne Schaden anzurichten. Trotzdem kam er nicht schnell voran. Wieso liebe ich diese Drachengestalt so sehr?
Vor seinem inneren Auge beschwor er das Bild eines jagenden Hundes herauf – hochbeinig, mit grauem Fell und zottligem Kopf. Ja, das war die richtige Gestalt. »Lauf auf dem Grund – als großer Hund.« Gedanklich zog er das Bild über wie ein Gewand, und sogleich schrumpften seine Gliedmaßen, die Zacken zogen sich in die Haut zurück, während die Schuppen sich verdünnten und unter den sprießenden Haaren verschwanden. Seine Flügel änderten Form, Größe und Dicke.
Diese Flügel sind unsichtbar. Er erschauerte unter seinem struppigen Fell, und jähe Freude kitzelte ihn in der Kehle.
»Die Luft ist rein – ich kann sichtbar sein.« Phantanimals Pfoten flogen über den Waldboden. Der Hundekörper schnürte ihn ein wie ein zu kleines Korsett, doch er ignorierte die Enge und füllte seine Lungen japsend mit Luft. Sein Herz pumpte das Blut in einem wahnwitzigen Takt durch die Adern. Die Beinmuskeln spannten und entspannten sich und katapultierten ihn nach vorn. Lebendig fühlte er sich. Jung. Tatsächlich, im Lauf der letzten Jahrhunderte hatte er die Behäbigkeit des Drachen ganz in sein Wesen übernommen. Wann war er zum letzten Mal als Hund durch die Wälder gelaufen? Dieses Gefühl, wie die Schnauzhaare im Gegenwind erzitterten, wie er jeden einzelnen Muskel in seinen Läufen spürte und wie seine Instinkte ihn untrüglich durch den dichten Wald leiteten – er hatte es beinahe vergessen. Nur deshalb hatte er vorhin im Moment der Gefahr nicht einmal daran gedacht, seine Gestalt zu wandeln. Phantanimal schüttelte die Gedanken ab und genoss es, über das Laub zu jagen.
Wo ist er? Ich müsste ihn jeden Moment wittern. Siegwulf konnte gewiss nicht sprinten wie er selbst. Er spürte, wie mit seinen geschmeidigen Bewegungen und den Hundeinstinkten seine Jugend zurückkehrte. Die Flügel hielt er eng an den Körper gepresst. Das hier fühlte sich ähnlich berauschend an wie ein nächtlicher Flug ohne Tarnung über den Lochs in Schottland.
Noch immer keine Spur von Siegwulf. Die ersten Dächer der malerischen Stadt Chester kamen in Sicht. Die Sonne tauchte gerade hinter dem Horizont unter. Über der Stadt lag das künstliche Licht der Menschen. Anscheinend hatte Siegwulf einen anderen Weg genommen. Bevor Phantanimal zwischen die Behausungen lief, errichtete er seinen Unsichtbarkeitszauber. Erfahrungsgemäß mochten die Menschen keine großen, herrenlosen Hunde. Er hielt zielstrebig auf die bewachsene Stelle neben dem Vorplatz der Kathedrale zu. Während er zwischen die ersten Bäume trat, zog er sich seine Drachenhaut über. Die meisten Fabelwesen kannten ihn nur in dieser Gestalt. Er wollte nicht für Verwirrung sorgen.
Er hörte Stimmen. Den näselnden Tonfall des Fabelwolfs – also war er doch schneller gewesen, als Phantanimal es für möglich gehalten hatte – und die kehlige Stimme eines weiteren Fabeltiers. Phantanimal grinste, als er den deutschen, eckigen Akzent von Goldzahn, dem Keiler erkannte. Dessen Gefährtin Gwyllis ließ ein perlendes Lachen erklingen. Kurz darauf sah er das Grüppchen. Alle drei hielten sich mit dem Zauber geschützt.
»Da isser ja! Hallo, Phantanimal, alter Kumpel.« Der Keiler flatterte mit den Flügeln, wodurch die Borsten darauf leise sirrten. Seine goldfarbenen Hauer blitzten, als er breit lächelte. Phantanimal näherte sich ihm und stupste ihn mit seiner größten Stirnzacke an, wobei er einen kurzen Stich in der verletzten Rückenzacke spürte. Dann verneigte er sich vor der Wildsau Gwyllis, deren Gesichtsborsten sonnengelb aufleuchteten. Ihr Haarschopf, der in weichen Wellen zwischen Ohren und Flügeln herunterhing, berührte beinahe den Boden. Es war nicht zu übersehen, dass sie in Kürze werfen würde.
»Gwyllis, Goldzahn! Ich bin sehr erfreut, euch beide zu …«
»Wer hat gewonnen, wer? Ich oder ich?« Siegwulf scharrte ungeduldig mit den Pfoten.
»Nun, in der Tat, du warst vor mir hier. Das gebe ich zu.«
»Habt ihr einen Wettflug gemacht? Interessant!« Goldzahn ließ seine Flügel zittern.
Phantanimal musterte den Fabelwolf. Der runzelte die Stirn. Sein sonst so selbstverliebter Blick verriet Unsicherheit. Er hat geschummelt! Vor Empörung entwichen Phantanimal zwei Rauchstöße aus den Nüstern.
Siegwulf sprang zurück. »Hey, spinnst du? Was zur Hölle machst du da?« Er wischte hektisch mit der Pfote über seine Schnauze und nieste kräftig.
Goldzahn und Gwyllis beobachteten die beiden mit erstaunten Mienen. »Nanu, alter Freund, so hitzig heute?«
Phantanimal wollte sich entschuldigen, als Siegwulf die Pfoten in die Erde stemmte und ihn anknurrte. »Ich wusste es! Du erträgst es nicht, zu verlieren. Wahrscheinlich stinkt es dir sogar, dass ich dich vor den Menschen gerettet habe.«
»Vor den Menschen gerettet?« Goldzahn ließ den Blick zwischen ihnen hin und her wandern. »Was ist passiert?«
»Phantanimal hat seinen Schutzzauber verloren und stand plötzlich als Drache vor einer Familie. Der Mann richtete gerade ein Gewehr auf ihn, als ich vorbeikam. Ich habe dem Typ einen Schubs gegeben, sodass der Schuss abgelenkt wurde.«
»Nein!«, stieß Gwyllis entsetzt aus.
»Doch, genau so war es. Die Kugel hat die Rückenzacke getroffen. Glatter Durchschuss. Sieht interessant aus, wenn man es genau nimmt.« Siegwulf kämmte sich durch die Stirnhaare und reckte die Brust vor.
Sollte Phantanimal vor den Wildschweinen aufklären, wie die Geschichte gelaufen war? Ach, wozu? Er gönnte es dem Jungwolf, sich in seiner Rolle als junger Held zu sonnen, zumal sich Phantanimal am See selbst nicht sehr klug verhalten hatte. Er drehte sich zum Vorplatz der Kathedrale und sagte betont ruhig: »Ich denke, wir sollten hineingehen. Ich mag dieses alte Gemäuer.«
Goldzahn nickte. »Schauen wir mal, wer schon da ist.«
Phantanimal trat auf den Vorplatz. Die Menschen hatten die Straßen längst verlassen, saßen in ihren Häusern vor den Fernsehgeräten oder lagen in ihren Betten. Den Wolfsähnlichen und die beiden Wildschweine im Schlepptau, überquerte Phantanimal den Platz und öffnete das Kirchenportal. Drinnen hielt er die Tür auf und ließ die anderen eintreten.
Das Geräusch schlagender Flügel näherte sich. Phantanimal hob den Kopf. Ein Adler glitt aus dem Abendhimmel herab und landete vor dem Eingang. Sowie seine Krallen den Boden berührten, verwandelte er sich in die Gestalt eines Zauberers. Maximus, der menschenähnliche Oberste der englischen Fabelwesen.
»Guten Abend, Phantanimal. Seid ihr die Ersten?« Maximus fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare. Dabei drehte er lauernd den Kopf, als stecke er noch in der Gestalt eines Adlers. Mit dem Obersten verband Phantanimal eine lange Freundschaft. Sie beide waren wohl die ältesten der Fabelwesen auf den britischen Inseln.
»Ich glaube, ja. Siegwulf, Gwyllis, Goldzahn und ich. Warte, da kommt gerade jemand.« Er starrte zwischen die Bäume.
»Wer lärmt denn da so?« Der Oberste drehte sich bei dem Hufgeklapper um. Da scherte sich jemand nicht darum, ob er Menschen aufschrecken könnte.
Unica preschte zwischen den Stämmen hervor, und Phantanimal verstand ihren Leichtsinn: Das Einhorn hatte sein Fohlen dabei. Menschen nahmen die beiden ohnehin nur als normale Pferde wahr. Die glitzernden Hörner auf ihren Stirnen konnten höchstens Kinder sehen, und denen schenkten Erwachsene keinen Glauben.
»Maximus, Phanta. Wie schön, euch wiederzusehen. Unsere letzte Versammlung muss sehr weit zurückliegen … Darf ich euch meinen Sohn vorstellen? Das ist Hagur.«
Unicas Fohlen starrte Phantanimal mit großen blauen Augen an. Phantanimal senkte grüßend den Kopf. Da erscholl ein markerschütternder Schrei am Himmel. Mit einem Satz sprang Hagur durch das Portal in die Kirche und lugte neben Phantanimal hinaus. Seine Flanken bebten, als er den Neuankömmling landen sah. Kein Wunder: Die Harpyie flößte vielen Wesen Angst ein. Der silbrige Unsichtbarkeitszauber erhöhte die Wirkung ihrer grausigen Erscheinung noch. Als sie ihn fallen ließ, wirkten die Züge ihres menschlichen Kopfs weicher, ihre Augen verloren den eiskalten Ausdruck. Sie begrüßte Maximus und die beiden Einhörner. Das Fohlen trat zögernd zu seiner Mutter und verlor seine Scheu, als diese die Harpyie freundlich begrüßte.
Die Neuankömmlinge folgten Maximus in das Innere der Kathedrale, und in den nächsten Minuten trafen die anderen Fabeltiere ein – geflügelte zumeist, aber auch solche, die wie Unica ohne Flügel auf den Lüften ritten.
Nachdem alle das Innere des Gotteshauses betreten hatten, schlurfte Phantanimal durch die leeren Bankreihen nach vorn zum Altarraum, wo die bunt gemischte Gruppe sich in einem ungleichmäßigen Kreis versammelte. Die Anwesenden wirkten unsicher, nur wenige sprachen miteinander.
Was für ein trauriger Haufen wir geworden sind! Wann hatten sie angefangen, sich auseinanderzuleben und das Interesse für das Wohlergehen der anderen Fabelwesen zu verlieren? Lediglich die beiden Wildschweine unterhielten sich mit Siegwulf. Phantanimal trat zu ihnen.
Maximus klatschte in die Hände. »Ruhe bitte! Bitte seid ruhig.«
Gespannte Stille legte sich über das Kirchenschiff.
»Willkommen. Ich bin glücklich, dass ihr meiner Einladung gefolgt seid. Wie ihr alle wisst, ist die letzte Versammlung der Fabelwesen sehr lange her.« Er ließ den Blick über die Gruppe streifen. »Viele von euch sehen sich heute zum ersten Mal, wenn ich mich nicht täusche.« Er seufzte. »Zu den Treffen vor fünfzig und vor hundert Jahren haben sich nur wenige von uns zusammengefunden. Sehr wenige, was äußerst bedauerlich ist.«
Phantanimal erinnerte sich. Bei beiden Gelegenheiten waren sie lediglich zu viert gewesen. Entscheidungen, die alle betrafen, ließen sich damit schwer fällen.
Die anwesenden Fabelwesen raunten zustimmend. Gemurmel erhob sich. Offenbar hatten viele der Anwesenden schlechte Erfahrungen mit dem Schutzzauber gemacht, wie Phantanimal heraushörte. Die drohende Gefahr der Enttarnung hatte sie also hergelockt. Maximus klatschte abermals in die Hände.
»Ich habe dieses Treffen einberufen, weil wir vor einem massiven Problem stehen. Ihr wisst sicherlich, worum es geht. Unseren Unsichtbarkeitszauber.«
Die Anwesenden begannen erneut zu murmeln, doch Maximus sprach unbeirrt weiter. »Der Zauber versagt von Zeit zu Zeit. Ich brauche nicht hervorzuheben, wie gefährlich das für uns alle ist.« Er machte eine Kunstpause und musterte Phantanimal, dann Siegwulf. Wusste er bereits, was geschehen war? »Wenn die Menschen uns sehen, jagen sie uns.« Sein Blick bohrte sich in Siegwulfs Augen. Dieser winselte leise. Geradeso, als unterrichte Maximus den jungen Fabelwolf, hob er die Stimme und dozierte: »Bis heute wissen sie nicht, dass in diesem Land, das sie als das ihre bezeichnen, Wesen wie wir leben. Sie haben uns den Namen Fabelwesen gegeben, weil sie ihren eigenen Augen nicht vertrauen.« Er erlöste Siegwulf und wandte sich den übrigen zu. »Wir haben daraus gelernt. Ihr alle wisst, was vor vielen Jahren in Schottland geschah.«
Goldzahn lachte laut. »Das Ungeheuer von Loch Ness! Ja, davon haben wir sogar in Deutschland gehört. Die Geschichte wird immer wieder aufgewärmt.«
Ein spielendes schottisches Kind hatte ein Fabelwesen gesehen und davon erzählt. Sogleich waren die üblichen Gerüchte aufgebrandet, und selbst ernannte Monsterjäger hatten sich auf den Weg gemacht. Die Fabelwesen mieden Schottland für lange Zeit, um nicht in die Fänge der blutgierigen Menschen zu geraten.
»Wir müssen unseren Tarnzauber erneuern«, erklärte der Oberste.
Die Anwesenden gaben gestenreich ihre Zustimmung.
»Der Zauber ist vor sehr langer Zeit errichtet worden. Ich selbst weiß davon nur aus den Überlieferungen unserer Vorfahren. Zeit meines Lebens …«, er warf zuerst Phantanimal, dann der Harpyie einen Blick zu, da sie beide als die Einzigen nur wenig jünger waren als der Oberste, »… hat der Zauber zuverlässig gehalten. Erst in den letzten paar Jahren sind mir erste Berichte über Zwischenfälle zu Ohren gekommen.« Er verschränkte die Hände vor dem Bauch und ließ die Schultern sinken. »Ich hätte früher etwas unternehmen müssen, hielt das Problem allerdings lange Zeit nicht für derart dringlich, wie es sich jetzt darstellt.«
»Worauf will er hinaus?« Siegwulf tänzelte ungeduldig hin und her. »Weiß er etwa nicht, was wir machen müssen?«
»Scht«, zischte Gwyllis.
»Darüber hinaus sollte die Lösung einfach sein. So dachte ich. Nun, ich habe nachgesonnen, wie wir den Zauber erneuern können, aber ich weiß es nicht. Damit kommen wir zum Ziel dieses Treffens.«
»Er weiß es nicht!«, murmelten einige.
Phantanimal hatte das Gefühl, Maximus’ Ansehen sinke schlagartig. Das war fatal. Wir müssen nicht nur den Tarnzauber stärken, sondern auch etwas für unseren Zusammenhalt tun.
»Aber ich weiß, wie wir es herausfinden. Die Zeit drängt. Der Zauber ist im Magischen Buch der Zaubersprüche verzeichnet. Manch einer von euch wird davon gehört haben.«
Phantanimal räusperte sich, und mit einem Blick auf Maximus, der ihm zunickte, erklärte er: »Es handelt sich um eines der ältesten, wenn nicht gar das älteste Zauberbuch der Welt, von Hexen bei Mondschein auf Pergament geschrieben und gebunden.«
»Es ändert seine Sprache je nach dem Land, in dem es sich befindet«, fuhr Maximus fort, »und enthält die grundlegenden Zaubersprüche der fantastischen Welt der Fabelwesen.«
»Und wo ist dieses sagenhafte Buch? Nichts leichter, als in einem Buch nachzuschlagen.« Siegwulf warf sich in die Brust. Phantanimal musste sich eingestehen, dass der junge Wolfsähnliche durchaus beeindruckend wirkte.
»Ja«, sagte Phantanimal bedächtig, »wo mag es aufbewahrt werden?«
»Schlechterdings ist mir das nicht bekannt.« Maximus breitete in einer ratlosen Geste die Arme aus. »Ich kenne das Magische Buch selbst nur durch die Überlieferung und habe es niemals zu Gesicht bekommen. Weiß jemand unter euch etwas über den Verbleib des Buchs?«
Goldzahn meldete sich zu Wort. »Hm, ich denke schon. Zum ersten Mal davon gehört habe ich als Frischling. Die deutschen Fabelwesen benutzten es für einen Zauber, ich weiß nicht genau, welchen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es in Deutschland geblieben ist. Meine Eltern haben mir früher oft davon erzählt. Und danach wüsste ich nicht, dass es wieder gebraucht worden wäre. Jemand von euch?«
Deutschland, dachte Phantanimal versonnen. Das Land meiner Träume. Er war seit Hunderten von Jahren nicht mehr dort gewesen. Als Jungtier hatte er es besucht, gemeinsam mit seiner Mutter. Die Flüsse mit den Burgen und die hügeligen Landschaften, aber auch die Alpen faszinierten ihn. Seither hatte sich zu seinem Bedauern nicht mehr die Gelegenheit ergeben, das Land zu bereisen. Irgendwann in den letzten Jahrzehnten hatte er aufgehört, davon zu träumen. Warum eigentlich?
Schweigen stülpte sich wie eine Glocke über den Altarraum.
Maximus erhob seine Stimme. »Dann hört meinen Vorschlag: Wir werden einen Helden auserwählen, um ihn auf die Suche zu entsenden.« Der Oberste ließ seinen Blick über die Reihen der Fabelwesen gleiten.
»Hier – ich – ich.« Ein junger geflügelter Bär mit schwarz-weiß gestreiftem Fell stellte sich auf die Hinterbeine und brüllte. Ein Flugsaurier flatterte mit den Flügeln, um auf sich aufmerksam zu machen. Siegwulf fuhr mit den Krallen durch seine Stirnhaare und trat erhobenen Hauptes einen Schritt in den Kreis hinein.
»Ich kenne das Buch. Ich werde es finden«, hörte Phantanimal sich selbst sagen. Vor Begeisterung zuckte sein Schwanz hin und her. Jedes Mal, wenn er gegen die vorderste Kirchenbank stieß, splitterte ein wenig Holz ab.
Maximus hob überrascht die Brauen. Siegwulf hatte sich bei Phantanimals ersten Worten umgedreht und knurrte ihn leise an. Phantanimals Gesichtsschuppen juckten, als eine heiße Welle ihn überlief. »Ruhe bewahren«, sagte er sich und bezwang den inneren Drang, mit dem Schwanz durch die Luft zu peitschen. Alt und groß und schwerfällig – er wusste, wie seine Mitlebewesen über ihn dachten.
»Ich reise nach Deutschland und finde das Buch«, erklärte Siegwulf.
»Nein, warte mal. Warum du? Ich kann gehen.« Der gestreifte Bär ließ sich auf die Vorderpranken fallen und trat mit wiegendem Schritt vor den Wolfsähnlichen. Auch der Flugsaurier ging in die Mitte des Kreises. Als Phantanimal die drei ungleichen Bewerber betrachtete, erkannte er das Augenfällige: Der Fabelwolf brachte die besten Voraussetzungen mit. Selbst wenn seine Tarnung versagte, fiel er in der Menschenwelt nicht sofort auf, schon allein wegen seiner geringeren Körpergröße. Legte er die Flügel eng an und hielt sich im Schatten von Häusern oder Bäumen auf, konnten die Menschen ihn auf den ersten Blick für einen Hund halten.
Er muss bloß auf der Erde bleiben, nicht fliegen. Es versetzte Phantanimal einen Stich, dass ihn selbst niemand in Betracht zog. Sollte er noch einmal versuchen, sich für die Aufgabe ins Gespräch zu bringen? Er räusperte sich.
»Phanta? Wolltest du noch etwas sagen?« Maximus’ Blick wirkte nicht gerade ermutigend.
»Ich würde mich gern dieser Aufgabe stellen und das Buch finden«, murmelte Phantanimal. »Ich kann in meiner Hundegestalt reisen. Damit bin ich perfekt getarnt. Sogar, wenn mein Schutzzauber nachlässt.«
»Du hast gerade erst Bockmist gebaut.« Mit spotttriefender Stimme drehte sich Siegwulf zur Gruppe der Anwesenden um. »Er ist auf Menschen zu gerannt und hat seinen Tarnzauber verloren. In dieser Gestalt! Zum Glück war ich in der Nähe und habe ihn vor dem Gewehr des Mannes gerettet.« Er wandte sich wieder Phantanimal zu. »Offenbar bist du an die Hundegestalt überhaupt nicht mehr gewöhnt. Und was passiert, wenn die Menschen einen Drachen sehen, haben wir heute ja erlebt. Mehr sag ich dazu nicht.«
Verlegen senkte Phantanimal den massigen Schädel. Schande, dass ihm dieses unglaubliche Missgeschick passiert war!
»Lasst uns abstimmen«, sagte Maximus.
Und so geschah es. Siegwulf gewann mit klarer Mehrheit. Er würde die Heldenreise antreten. Alle klatschten Beifall. Nur Goldzahn schenkte Phantanimal ein verständnisvolles Lächeln. Er weiß als Einziger, wie ernst es mir war.
Alles Weitere war schnell geklärt. Siegwulf verbat sich jegliche Begleitung. Goldzahn beschrieb ihm, wie er nach Deutschland käme. Phantanimal hörte nur mit halbem Ohr hin. Zu sehr kaute er an seiner Enttäuschung.
Schließlich hob Maximus die Versammlung auf. Siegwulf sollte versuchen, das Buch möglichst schnell an sich zu bringen.
Phantanimal schlurfte hängenden Kopfes nach draußen, noch ehe sich alle Fabelwesen verabschiedet hatten. Er ging ein Stück, um vom Platz zu verschwinden und sich zwischen den Bäumen zu verbergen. Die Kathedrale leerte sich rasch, und die Teilnehmer der Versammlung zerstreuten sich in alle Winde.
Besser, ich gehe auch. Phantanimal wollte auf der anderen Seite aus dem Schutz der Bäume treten, da hörte er dicht hinter sich jemanden hecheln.
Siegwulf. »Hi, Phanta«, warf er lässig hin, seine Stimme süß wie Honig. »Was bin ich froh, dass ich ein Held bin! Ich bin ganz scharf drauf, nach Deutschland zu ziehen. Warst du mal dort?« Er grinste voller Häme.
»Das ist lange her.« Phantanimals Herz schlug schneller. »Hör mal, Siegwulf, ich begleite dich. Ich spreche sogar ein bisschen Deutsch. Ich könnte dir von Nutzen sein …«
Schallend lachte der Wolfsähnliche ihn aus. »Nö, danke, wirklich. Du bist mir einen Ticken zu … alt. Da wäre ich ja schön blöd, mir einen wie dich aufzuladen. Nichts für ungut.«
Zu alt. Phantanimal schnaubte. Gelblich-weiße Rauchwölkchen stiegen hoch, verteilten sich in der kühlen Morgenluft und lösten sich auf. Schwefelgeruch breitete sich aus.
Siegwulf musste niesen. »Oh, meine Nase. Ich bin empfindlich.« Er nieste wieder und wischte sich mit der Pranke über die Schnauze. »Nun, ich gehe nach Hause und richte mich für die große Reise.« Mit einem wölfischen Grinsen nickte er Phantanimal zu. »Wenn ich zurück bin, werde ich dir berichten, wie es in Goldzahns Heimat war.« Damit erhob er sich in die Lüfte und flog davon.
»Dieser Siegwulf kann eine wahre Zecke sein, tsts.«
Verdutzt sah Phantanimal zu Goldzahn. Der schüttelte grinsend den Kopf. »Du möchtest selbst nach dem Buch suchen, gell? Warum bist du noch hier? Wer sollte dich hindern, nach Deutschland zu fliegen?«
Phantanimal stutzte. Eine Welle kindlichen Überschwangs stieg in seinem Körper hoch. »Oh, ja! Du hast ganz recht.«
»Kumpel, ein Tipp noch: Halt die Augen offen. Siegwulf wird sehr bald aufbrechen. Und ich glaube, er liebt dich nicht gerade.«
Phantanimal hatte Goldzahns Lachen noch eine Weile im Ohr, als er von Chester aus in Richtung Südosten flog.
Phantanimal zog Kreise über dicht besiedeltem Gebiet. Von oben glichen sich die Regionen viel mehr als gedacht … Ist das Deutschland? Vorhin hatte er sich bereits einmal verirrt und war in Frankreich gelandet. Er suchte nach einem eindeutigen Hinweis.
Woran erkenne ich Deutschland? Es muss hier irgendwo sein. Hätte er bloß besser auf die Ausführungen von Goldzahn gehört! Er landete in einem Park inmitten eines Städtchens und unterdrückte ein Gähnen.
Kurz darauf wanderte er abseits der Wege unter den Buchen und Birken herum und hielt Ausschau nach der winzigen Lichtung zwischen dichten Hecken, die er aus der Luft entdeckt hatte. Er hörte den Menschen zu, die durch den Park eilten. Obwohl sie einen eigentümlichen Dialekt sprachen, erkannte er die Muttersprache seines Freundes Goldzahn darin. Erleichtert atmete er auf. Wird schon gut gehen – das hatte er sich auf seinem Irrweg oft vorgesagt und recht behalten, denn zu guter Letzt er war in Deutschland angekommen.
Wie lange wünschte er sich schon, dieses Land wiederzusehen? Und wie sehr hatte er auf die Suche nach dem Magischen Buch gehen wollen? Jetzt stand er hier! Phantanimal wartete auf das Hochgefühl, mit dem er in der Nacht aus Chester aufgebrochen war. Es blieb aus. Stattdessen fühlte er sich unendlich müde. Mit schweren Beinen stapfte er weiter und ließ den Kopf so tief hängen, dass kleine Kieselsteine, die bei seinen Schritten aufsprangen, gegen seinen Kiefer prallten. Doch den Kopf höher zu tragen, kostete einfach zu viel Anstrengung.
Endlich gelangte er an die gesuchten Sträucher und schob sich durch eine schmale Öffnung in das Innere. Der Unsichtbarkeitszauber funktionierte derzeit zwar, aber wer konnte wissen, wie lange? Es beruhigte Phantanimal, sich zwischen den blickdichten Hecken zu verbergen.
Warum bin ich dermaßen betrübt? Lag es daran, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wie er das Buch finden sollte?
Er musste nachdenken. Ja, nachdenken … Er gähnte und legte den Kopf auf die Vorderklauen.
Ein Schläfchen, nur ein kleines. Dann denke ich nach.
Felix
Felix bog in den Kiesweg des Dorfparks ein und radelte durch die Allee zu seinem Geheimversteck. Er genoss den Fahrtwind im verschwitzten Gesicht. Das Brennen in seiner Magengegend hörte auf, und die Freiheit ließ sein Herz hüpfen. Er hatte es wieder geschafft, auszubüxen. Blöde Hausaufgaben!
Den Englischaufsatz konnte er später noch machen. Der Nachmittag dauerte nicht ewig. Sollte er etwa den Rest des Tages in der Bude hocken? Auf keinen Fall!
Als er die dichten Hecken erreichte, stieg er ab. Er warf einen Blick über die Schulter, ob ihn jemand beobachtete, und schob behutsam sein Fahrrad durch die schmale Lücke, bevor er sich selbst hindurchzwängte. Die Sträucher verbargen in ihrem Innern einen freien Platz, fast eine Lichtung - seinen Schlupfwinkel. Er lehnte das Fahrrad gegen das Gestrüpp, setzte sich und wischte ein paar Steinchen zur Seite. Zufrieden legte er sich flach auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Die Erde wärmte ihn durch sein T-Shirt. Die Blätter der Hecken und der Baumkronen standen hellgrün vor dem Sommerhimmel. Es schien ihm fast, als kitzle ihn das Muster, das die Sonne durch das Blätterdach auf seinen Körper malte.
Jetzt war er wirklich angekommen. Hier nervte keine Mama, die extra von der Arbeit anrief, um zu fragen, ob er alles für die Schule vorbereitet hatte. Und hier zickte keine Rike rum, die ihre Aufgaben natürlich schnell und gründlich erledigte. Falls Rike ihn suchte, würde sie zwar bald auf den Gedanken kommen, wo er sich versteckte, aber dann würde sie auch wissen, dass er eine Auszeit brauchte. Und die ließ sie ihm meistens.
Er riss einen Grashalm aus und schob ihn sich zwischen die Lippen. Einfach hier liegen, die Sommerluft spüren und den Insekten lauschen. Ein Buch hatte er in der versteckten Plastiktasche natürlich auch immer parat, aber im Moment genoss er einfach die Ruhe. Das Geräusch des Straßenverkehrs verklang zu einem leisen Brummen im Hintergrund.
Langsam fielen seine Lider zu. Die Vögel verscheuchten mit ihrem Zwitschern endgültig seine Gedanken an den unfertigen Englischaufsatz, und er döste ein.
Eine Berührung riss Felix aus dem leichten Schlaf. Etwas war gegen sein ausgestrecktes Bein gestoßen. Außerdem schien es ihm, als bewegten sich die Hecken, obwohl sich kein Lufthauch regte. Plötzlich spürte er seinen Puls bis in die Ohren klopfen, und er setzte sich auf. Da stimmte etwas nicht. Er entdeckte nichts Ungewöhnliches. Trotzdem lief es ihm eiskalt den Nacken hinunter. So, wie wenn man genau weiß, dass einen jemand anstarrt.
Dann meinte er, seine Augen spielten ihm einen Streich, denn die Hecke auf der rechten Seite sah anders aus als sonst. Als seien die Zweige verdorrt, und irgendwie … durchscheinend. Er streckte die Hand danach aus. Seine zittrigen Finger stießen auf einen Widerstand. Etwas Unsichtbares.
Die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf. Er ertastete etwas Warmes. Etwas Trockenes. Und Schuppiges.
Felix zwang sich, ruhig zu atmen. Die Sonne schien, er saß in seinem Geheimversteck, alles war gut. Oder?
Langsam rappelte er sich auf und tastete nach dem Widerstand, den er gespürt hatte. Die unsichtbare Oberfläche vor ihm schien riesengroß zu sein. Das ergab keinen Sinn. Hier fehlte der Platz für etwas Riesengroßes. Noch während er mit den Händen über das warme Etwas rieb, lief ein Schauder unter seinen Fingerspitzen entlang. Dann zuckte eine Stelle weg. Schließlich erbebte das ganze Etwas. Geräusche drangen an Felix’ Ohr, die ihn an rollende Kieselsteine erinnerten.
Seine Kopfhaut juckte. Flieh!, war sein erster Gedanke. Bereit, sofort zu flüchten, streckte er noch einmal die Finger aus und tastete nach der Oberfläche. Sie bewegte sich hin und her! Erschrocken sprang er zurück. Das Nichts schnaubte leise.
Er wirbelte herum und machte einen Satz zwischen die Hecken. Dabei sprang ein Kieselstein auf und prallte gegen das unsichtbare Ding. Wo ist der verdammte Durchschlupf? Kopflos drängte Felix sich tiefer in das wuchernde Gestrüpp. Er riss sich die Haut an Armen und Beinen auf, als er nach dem Ausgang suchte, und spürte es doch kaum. Hier kam er nicht weiter. Zitternd drehte er sich wieder um und griff nach den Zweigen in seinem Rücken, als könnten sie ihm Halt geben.
Er blinzelte. Dort, wo der Stein aufgetroffen war, schwebte eine handgroße, ungleichmäßige Fläche in der Luft. Sie erinnerte Felix an eine Wand aus der Geisterbahn – geschuppte Oberfläche aus grün-gräulichem Plastik. Gleich darauf löste sich die Stelle in Luft auf, als wäre sie nie dagewesen. Die dünn und durchscheinend wirkende Hecke bewegte sich plötzlich. Zweige knarrten und ächzten, und einen Moment lang schüttelten sie sich wie in einer Windbö. Dann herrschte Ruhe.
Wie in Zeitlupe ging Felix in die Hocke und tastete nach einem Ästchen neben sich auf dem Boden. Er bekam es zu fassen und schleuderte es, so fest er konnte, in Richtung der Hecke. Es prallte zurück. Plötzlich hörte er ein Fauchen. Heißer Qualm fuhr über ihn hinweg. Er riss die Arme über den Kopf. Eine Gänsehaut jagte ihm die Waden hinauf bis hoch zu den Schultern. Er drückte sich rückwärts in die Hecken. Sich umzudrehen und dem Ding den Rücken zuzukehren, wagte er nicht. Doch er konnte den Durchschlupf nicht finden! Kalter Schweiß brach ihm aus.
Plötzlich erklang ein Stöhnen – eine dunkle Stimme, die aus einer anderen Welt zu stammen schien. Sie sprach Englisch und knarrte wie ein uralter Baum im Wind. »Schande! Ich werde sichtbar.«
Felix verstand jedes Wort und hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern. Ihm stockte der Atem: Aus dem Nichts schälte sich eine grün-graue, weit vorgewölbte Schnauze mit aprikosengroßen Nüstern heraus. Von der glatten Nase aus legten sich rasend schnell Schuppen übereinander, zwei Augen starrten aus dem Gesicht hervor. Sie leuchteten bernsteinfarben; die Pupillen durchschnitten sie senkrecht und ließen Felix an ein Krokodil denken. Dunkelgrüne Wimpern wie drahtige Spinnenbeine umkränzten sie. Darüber wölbte sich eine flache Stirn, aus dem Schädel wuchsen grüne Zacken, und in Windeseile wurde der restliche massige, beschuppte Körper sichtbar. Ein Bild wie aus einem seiner Träume.
Ein leibhaftiger Drache!
»Aaaah!«, gellte Felix. Sein Körper schien gelähmt.
»Aaaah!«, gellte der Drache. Zwei Stichflammen stoben aus seinen Nüstern und setzten einige Zweige in Brand.
»Aaaah! Kein Feuer!« Felix fuchtelte mit den Händen. Noch immer ließ die Hecke in seinem Rücken ihn nicht frei. Sollte er hier bei lebendigem Leib verbrennen?
Der Drache legte den Kopf schief und schlug mit einer einzigen Bewegung seines Schwanzes die brennenden Zweige von der Hecke ab. Er stellte seinen Fuß darauf, sodass nur noch ein dünner Rauchfaden zwischen seinen gewaltigen Krallen aufstieg.
Felix konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er starrte unablässig den Drachen an.
»Was hast du gesagt?«, erscholl die tiefe Stimme aus dem Leib des Ungetüms. »What did you say?«
Felix’ Körper bebte wie in einem Schüttelfrost. »W-was?«, flüsterte er mit klappernden Zähnen.
»Verstehst du überhaupt meine Sprache?« Der Drache schob den Schädel dicht vor ihn, ein zarter Rauchgeruch stieg ihm in die Nase.
»Wer … bist … du?«, fragte Felix auf Englisch. »Who … are … you?« Hoffentlich bemerkte das Ungeheuer nicht, wie er langsam zur Seite rückte. Nie waren ihm die Hecken um sein Geheimversteck derartig undurchdringlich vorgekommen.
»Gott sei’s gedankt, du sprichst Englisch.«
»Wer bist du?«, wiederholte Felix mit zitternder Stimme.
»Well«, brummte der Drache, »es ist wohl der rechte Augenblick, mich vorzustellen. Fürchte dich nicht. Ich werde dir nichts tun.«
Nichts tun! Außer ein bisschen rösten. Felix unterdrückte ein albernes Kichern. Nervös hob er eine Hand zum Mund und kaute auf dem Nagel des Zeigefingers.
Der Drache stieß zwei Wölkchen aus. Sie stiegen zwischen den Zweigen der Hecken auf.
Wieder wedelte Felix mit den Armen, seine Stimme klang hell. »Kein Feuer!«
Sein Gegenüber erzitterte, schüttelte sich und stieß dabei seltsam scheppernde und grollende Laute aus. Dieses Geräusch hatte Felix vorhin schon einmal gehört … Es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass das Ungetüm vor ihm kicherte. Irgendwie wirkte es dadurch weniger bedrohlich.
Endlich ertastete Felix mit der Hand die Lücke im Gebüsch. Eine falsche Bewegung, und ich verschwinde. Aber eigentlich … Eigentlich wollte er gar nicht weg von diesem riesigen, beunruhigenden, wundervollen Drachen. Hatte er nicht immer davon geträumt, einmal im Leben einem zu begegnen?
»In Ordnung. Kein Feuer. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Phantanimal. Ich bin das, was ihr Menschen als Fabeltier bezeichnet.« Er senkte das Haupt in einer Verbeugung. Sein Kopf berührte beinahe Felix’ Füße.
Felix’ Angst war wie weggewischt. Die Geste machte ihn verlegen, er verbeugte sich ebenfalls. »Ähm, sehr erfreut. Ich bin Felix Müller. Und ich bin ein Menschenjunge.«
Phantanimals Maul verzog sich zu einem Drachengrinsen.
Im ersten Moment erschrak Felix, als er die riesigen Fangzähne dicht vor sich sah, dann lächelte er seinerseits und schlenkerte mit den Armen. Sein ganzer Körper stand noch wie unter Strom, aber langsam fiel die Anspannung von ihm ab. Er runzelte die Stirn. »Du bist wirklich ein Fabeltier?«
»Yes, exakt. Das ist der Name, den die Menschen uns gegeben haben.« Er zwinkerte und fügte hinzu: »Sie sind sich nicht ganz sicher, ob sie an unsere Existenz glauben, richtig?«
»Felix!« Von Weitem erklang Rikes Stimme. »Felix, wo bist du?«
Phantanimal zuckte zusammen, seine Augen nahmen einen gehetzten Ausdruck an.
Felix hob beide Hände, um ihn zu beruhigen. »Das ist meine Zwillingsschwester. Bestimmt soll sie mich zum Abendessen holen. Die ist okay, keine Angst.«
Noch bevor Felix seine Schwester darauf vorbereiten konnte, was sie hier erwartete, hörte er, wie sie sich durch die Hecken kämpfte. »Felix, bist du hier? Mama fragt, ob …« Sie brach mitten im Satz ab. Da stand sie, ihre langen, braunen Haare vom Wind und von den Hecken zerzaust, die Augen so weit aufgerissen, dass sie strahlten wie die hellgrünen Birkenblätter im Sonnenlicht.
»W-was …?« Sie starrte Phantanimal an. Sie schrie nicht. Wieso schrie sie nicht? Wieso hat sie keine Angst?
Wie selbstverständlich trat sie auf den Drachen zu und kraulte ihn zwischen den Stirnzacken. Dieser zwinkerte zufrieden.
»Hey, du Schönheit«, sprach sie auf den Drachen ein, »wo kommst du her? Ich hätte nie gedacht, wirklich mal eines wie dich zu sehen! Felix, das ist ja fantastisch!« Sie drehte sich zu ihm um, ihre Wangen glühten vor Begeisterung.
Hä? Was ging hier ab? Wie konnte Rike so gelassen bleiben, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben einem leibhaftigen Drachen gegenüberstand? Es versetzte Felix einen Stich, wie cool seine Schwester blieb.
»Rike …«, er räusperte sich, »das ist Phantanimal.« Er zeigte auf sie und erklärte auf Englisch: »Das ist meine Schwester Friederike. Sie ist zwölf, wie ich.«
»Warum sprichst du denn Englisch mit ihm?«
»Ich bin sehr erfreut, dich kennenzulernen, young Lady«, mischte Phantanimal sich ein. »Dein Bruder spricht Englisch mit mir, weil ich aus England komme, aus Wales, genauer gesagt. Mein walisischer Name ist Drychiolaeth Anifail.« Der Drache hob eine Kralle. »Ich erwarte nicht von euch, dass ihr das aussprechen könnt. Selbst die Engländer haben damit Schwierigkeiten. Nennt mich einfach Phantanimal. Oder Phanta, wenn ihr mögt.«
»Phanta! Hey, das klingt prima. Wieso bist du denn in Deutschland?« Rike, die mindestens so gut Englisch sprach wie Felix, kam gleich auf den Punkt, zielstrebig wie immer. Wenn Phantas Anwesenheit sie überraschte oder gar überwältigte, wie Felix selbst, zeigte sie es jedenfalls nicht.
»Ich bin auf einer Queste, könnte man sagen. Ich suche nach etwas.«
Queste … Das Wort kannte Felix aus einem PC-Spiel. Stolz erinnerte er sich, was es bedeutete. Es stand für eine Heldenreise, in der man schwierige Aufgaben lösen und allerlei Hindernisse überwinden muss. »Wonach suchst du?«, fragte er aufgeregt.
»Nach einem Buch.«
Einem Buch? Ein Drache auf der Suche nach einem Buch?
»Was für ein Buch ist das?«, fragte Rike.
»Ein ganz besonderes, sein Titel lautet Magic Book of Spells.«
»Magisches Buch der Zaubersprüche«, murmelte Felix. »Und wieso glaubst du, es hier in Deutschland zu finden?«
»Nach allem, was wir wissen, wird es hier aufbewahrt. Die deutschen Fabelwesen haben es als Letzte benutzt.«
»Die haben ein Buch benutzt, das auf Englisch geschrieben ist?« Friederike zog fragend die Brauen hoch. Dass Phanta von »deutschen Fabelwesen« sprach, schien sie nicht weiter zu verwundern. Woher nahm sie bloß diese Abgebrühtheit, von der Felix sich sehnsüchtig auch ein bisschen wünschte? Er für seinen Teil spürte seinen Herzschlag in beiden Schläfen klopfen. Wenigstens genoss er die Anspannung wie bei einem spannenden Thriller.
»Nein, nein, es ist ja ein ganz besonderes Buch. Wenn man es in Deutschland liest, ist es auf Deutsch verfasst. Aber in England oder einem anderen englischsprachigen Land ist es auf Englisch.«
»Wow!« Felix kratzte sich am Kopf. »Und wozu suchst du danach? Wofür brauchst du es?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
Felix sah fragend zu seiner Schwester. In ihrem Gesicht spiegelte sich das gleiche zufriedene Grinsen, das er auf seinen eigenen Wangen spürte. Das Abendessen musste warten.
»Erzähl sie uns. Wir lieben lange Geschichten, weißt du?«
Rike nickte zu Felix’ Worten und ließ sich im Schneidersitz dicht neben Phantas Kopf nieder. Sie schien keine Bedenken wegen der Reißzähne zu haben. Oder sah sie sie gar nicht?
»Okay, dann wollen wir mal. Wo fange ich an?« Der Blick des Drachen schweifte in die Ferne, als müsse er die Antwort dort irgendwo finden. »Also, was Fabeltiere sind, wisst ihr, richtig?«
Sie nickten zögernd.
»Ihr müsst wissen, überall auf der Welt existieren Fabelwesen.« Phanta lächelte. »Vor langer Zeit lebten wir friedlich mit den Menschen zusammen. Wir gingen freundschaftlich miteinander um. Und dennoch – irgendwann begannen sie, sich vor uns zu fürchten. Bis heute weiß keiner genau, warum eigentlich …«
Phanta erzählte davon, wie die Menschen angefangen hatten, die Fabeltiere zu jagen. Diese ersannen schließlich eine List, um sich zu verbergen. Die größten Hexen und Magier entwickelten einen Unsichtbarkeitszauber und sprachen ihn über alle Fabelwesen, sodass sie ungestört und unerkannt in der Welt der Menschen leben konnten. Eine Hexe trug den Zauber ins Magische Buch der Zaubersprüche ein. Doch seit einiger Zeit ließ die Kraft des Zaubers nach. Immer häufiger verloren die Tiere für kurze Zeit ihre Tarnung. Für die Fabelwesen bedeutete das Lebensgefahr, weil Menschen für gewöhnlich alles, was sie nicht kennen, jagen und vernichten. All das erklärte Phantanimal, und Felix nickte ernsthaft zu seinen Worten.
Phanta erzählte weiter, dass die Fabelwesen von ganz England sich in einer Art Konferenz versammelt und beratschlagt hatten, was zu tun sei. Sie beschlossen, einen Helden auszusenden, um das Magische Buch der Zaubersprüche zu finden. Er beendete seine Ausführungen mit den Worten: »Das ist also meine Queste. Ich muss dieses Buch nach Hause bringen.« Er zögerte. »Jetzt weiß ich dummerweise nicht, wo ich danach suchen soll. Ohne das Buch kann ich auf keinen Fall zurückkehren …« Sein Gesicht bekam etwas Schuldbewusstes, das Felix übertrieben fand. Phanta musste sich doch nicht schuldig fühlen, weil er keine Idee hatte, wo dieses Magische Buch lag.
Ehe Felix es sich versah, rutschte ihm der Satz heraus: »Wir helfen dir!« Er bekam aus dem Augenwinkel mit, dass Friederike ihn anstarrte. Hatte er gerade einem Drachen ihre Hilfe angeboten? In einer Mischung aus Aufregung und Angst vor der eigenen Courage biss er sich auf die Lippe.
Seine Schwester klappte den Mund zu. Dann nickte sie. »Genau, wir helfen dir. Ganz klar. Wir finden heraus, wo dieses Buch stecken könnte.« Sie legte Felix die Hand auf den Arm. »Mama und Paps warten auf uns. Ich glaube, Ärger können wir jetzt nicht brauchen.«
Verflixt, ja. Ihre Eltern würden sie ausfragen, wo sie so lange blieben. Ein Verhör von Paps war jetzt echt das Letzte, dem Felix sich stellen wollte. Er stand auf und griff nach seinem Rad. »Phanta, wir müssen nach Hause. Morgen kommen wir zurück.«
Der Drache schob sein Haupt dicht vor die Geschwister, bis sie die feinen, dunklen Linien erkennen konnten, die den Bernsteinton seiner Augen wie Strahlen von der Pupille bis zum dunklen Rand der Iris durchzogen. »Großartig, dass ihr mir helfen wollt!«