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Warum versteht kein Mensch Bedienungsanleitungen? Was macht es zu einer solchen Qual, Fahrkartenautomaten der Deutschen Bahn ein Ticket zu entlocken? Wieso kann man viel mehr ausprobieren als wissen? Warum muss man bei Simulationen auf der Hut sein? Vereinfachen, aber wie?
Das sind nur einige der Fragen, die der Technikphilosoph Klaus Kornwachs in seinem Buch beantwortet. Er kennt die Welt der ca. 700.000 Ingenieure in Deutschland wie seine Westentasche und weiß um die alltäglichen Probleme hinter den technologischen Innovationen, die unser Land auf Wachstumskurs halten. In "Philosophie für Ingenieure" schreibt Kornwachs über Erfindungen, technische Prozesse und Konstruktionsfehler - und darüber, welche Philosophie sich hinter der Technik verbirgt und wie aristotelische Logik bei der Konstruktion von Turbinen behilflich ist.
Von Platon bis Richard Sennett - Kornwachs hat geistesgeschichtliche Lösungsstrategien für handfeste praktische Probleme parat. Unterhaltsame Pflichtlektüre für jeden Ingenieur.
In der dritten Auflage hat der Autor viele philosophische Betrachtungen zu aktuellen Themen ergänzt, z.B. über autonome Technik, Industrie 4.0 und die Rolle der Arbeit sowie über Big Data und den Dieselskandal. Außerdem laden viele neue kleine Übungen zum Nachdenken und Verweilen ein.
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Seitenzahl: 427
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Klaus Kornwachs
PHILOSOPHIE FÜR INGENIEURE
3., überarbeitete Auflage
Der Autor
Klaus Kornwachs
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© 2018 Carl Hanser Verlag Münchenwww.hanser-fachbuch.de
Lektorat: Dipl.-Ing. Volker Herzberg Herstellung: Isabell Eschenberg Umschlaggestaltung: Stephan Rönigk
ISBN 978-3-446-45471-2 E-Book ISBN 978-3-446-45504-7E-Pub ISBN 978-3-446-45787-4
Verwendete Schriften: SourceSansPro und SourceCodePro (Lizenz) CSS-Version: 1.0
Titelei
Impressum
Inhalt
Vorwort zur Dritten Auflage
Einleitung
1 Wozu eigentlich Philosophie?
2 Es funktioniert doch ...
3 Wissen und Erkennen vor Ort
4 Erfinden und Entdecken
5 Wirklich etwas Neues
6 Probieren und Testen
7 Stimmt's oder funktioniert's?
8 Simulation und virtual reality
9 Zufall und Komplexität
10 Nicht im Sinne des Erfinders
11 Wenn die Mittel den Zweck bestimmen
12 Die Technik würde schon funktionieren, aber die Organisation
13 Wer ist für was verantwortlich?
14 Wieviel Autonomie soll es denn sein?
15 Dienstleister oder Mitgestalter?
Anhang
Seit »Philosophie für Ingenieure« Anfang 2015 erschienen ist, hat sich technologisch, politisch aber auch in der Philosophie einiges getan. Die schon fast sprichwörtliche Schnelllebigkeit unserer Zeit zeigt sich eben nicht nur im Sturzbach immer neuer Nachrichten, sondern auch im raschen Themenwechsel der Diskussionen über Ethik und Philosophie , und in Gesprächen darüber, wie unsere zukünftige Gesellschaft und das Leben darin gestalten werden soll. Dies sind Themen, die eigentlich von ihrer Natur her etwas ruhiger und weniger hektisch besprochen werden sollten.
Die erste und zweite, korrigierte und ergänzte Auflage haben viel Zuspruch und konstruktive Kritik erfahren. Diese Hinweise, aber auch die veränderten Themen der Diskussion ließen eine dritte erweiterte Auflage geraten erscheinen.
So haben sich die Fragen nach den Anwendungsmöglichkeiten von Big Data, den dahinter liegenden Interessen und Geschäftsmodellen und deren mögliche Folgen in den letzten Jahren in den Vordergrund geschoben. Dahinter steht auch die Frage, inwiefern Big Data zum Ersatz für wissenschaftliches Vorgehen taugt (Kap. 8), wie es von manchen Protagonisten durchaus in provozierender Absicht verkündet wurde.
Ein weiteres Thema, das die Ethik auf den Plan aufgerufen hat, sind Roboter bis hin zu den sogenannten Autonomen Systemen (Kap. 14). Zunehmend ist damit auch die Anwendung von Künstlicher Intelligenz verknüpft. Hier wird man nicht nur fragen müssen, was möglich ist und was nicht, sondern wie weit man gehen darf und ob es eine Grenzen des Machens vor der Grenze der Machbarkeit geben muss.
In Verlängerung dieser Probleme stoßen wir auf die fast schon quasireligiös anmutende Verkündigung der Singularität – d.h., dass sich die technischen Systeme schon heute lernend verbessern und sich daher eines Tages selbst reproduzieren könnten. Sie würden dann, so die Hoffnung einerseits und die Befürchtung andererseits, die Fähigkeiten des Menschen übersteigen, sie könnten ein Bewusstsein entwickeln und durch ihre Fähigkeiten die Spezies Mensch weit hinter sich lassen. Es ist die Rede vom Übergang des Zeitalters der Menschheit, vom Anthropozän, zum Zeitalter der Roboter, dem Robozän oder Technozän. Diese Diskussion versteht sich nicht als utopisch, denn diese Singularität soll nach Aussagen ihrer Vertreter noch zu Lebzeiten der meisten Leser dieses Buches stattfinden. Es wird allerdings Zeit, solche von Wunschdenken etwas getrübte Voraussagen als das zu kennzeichnen, was sie sind – Erlösungsphantasien, mit andern Worten: schlechte Theologie.
Die Frage nach der Verantwortung der Technikgestalter und des Technologiemanagements hat sich in den letzten Jahren noch dringender gestellt. Deshalb war die Kritik an der Wahl des Pinto-Falles, der in Kap. 13 beschrieben wird, naheliegend. Das damalige Ford-Management hatte die potentiellen Regressforderungen von Versicherungen für Unfallopfer gegen die erforderlichen technischen Änderungskosten zur Verhütung von Unfällen verrechnet. Es ist richtig – dies ist ein alter, aber sehr häufig diskutierter Fall, weil er beispielhaft zeigt, wie «gerechnet» wurde und heute noch wird. Genau diese Weise begegnet uns auch wieder im sogenannten «Diesel-Skandal». Zur moralischen Empörung über die Verschleierungsversuche der Firmen gesellt sich auch die Ablehnung solcher zynischer Kostenvergleiche. Deshalb wird dieser Skandal Ausgangspunkt für Fragen nach dem Verhältnis von Verantwortung und Interessen sein.
Auch die Diskussion um Industrie 4.0 und deren Folgen an den Arbeitsmärkten erweist sich ebenso interessegleitet. Man kann solche Systeme sehr wohl auch in Hinsicht auf Arbeitsplätze und Tätigkeiten optimieren, so dass sie die trotz hoher Flexibilitäts- und Qualifikationsanforderungen menschenfreundlich sind. Die Frage, ist ob die Ingenieure, Techniker, Informatiker und Ökonomen Gestalter dieser Systeme sein wollen oder Erfüllungsgehilfen von Interessen sind, die sich gerne als alternativlose Sachzwänge tarnen (Kap. 15).
Redaktioneller Hinweis
Im Sinne einer besseren Lesbarkeit der Texte wird in diesem Band verallgemeinernd das generische Maskulinum verwendet. Die Angaben beziehen sich daher auf Angehörige beider Geschlechter. So haben es schon die Römer praktiziert.1
Danksagung
Der Autor dankt ganz herzlich Volker Herzberg vom Hanser-Verlag für die Betreuung und Ermunterung zu dieser dritten Auflage. Mein Dank gilt auch den zahlreichen konstruktiven Kritiken und Hinweisen, stellvertretend seien Volker Friedrich, Helmut Kayss, Jürgen Schlabbach und Anton Kempter genannt.
An dieser Stelle möchte ich auch dankbar meines Kollegen Günther Ropohl gedenken, dessen stetige Diskussionsbereitschaft und erfrischende Argumentationsweise mit immer wieder neue Anregungen gegeben hat. Günter Ropohl ist zu Beginn des Jahres 2017 verstorben.
Nicht zuletzt möchte ich mich bei meiner Frau Irma herzlich bedanken, die mit viel Geduld als Gesprächspartnerin auch diesen Band konstruktiv kritisch begleitet hat.
Argenbühl-Eglofs im Allgäu im Januar 2017
Klaus Kornwachs
1 »Pueri appellatione etiam puella significatur«: Mit dem Begriff »Jungen« werden auch Mädchen bezeichnet. Vgl. Corpus Iuris Civilis, Digestae, Buch 50, Titel 16, lex 163, §1. Zit. nach http://www.thelatinlibrary.com/justinian/digest50.shtml.
1 Vgl. Tom Morris, frei zit. nach: Rutenberg (2000).
2 Zur Kritik daran vgl. Braisch (2016).
Man spottet gerne über das, was man nicht kennt
A: »Haben Sie heute schon philosophiert?«
B: »Unsinn, ich habe zu tun, nicht zu grübeln.«
A: »Wissen Sie denn, was Sie gerade tun?«
B: »Schon, das ist mein Beruf – als Experte weiß man, was man zu tun hat.«
A: »Warum fragen Sie dann alle halbe Stunde Frau S., ob Sie den Prototypen freigeben sollen oder nicht?«
B: »Ganz einfach, weil das eine schwerwiegende, kostenintensive Entscheidung ist und schwerwiegende Entscheidungen soll man gut vorbereiten.« A: »Aber man braucht doch nicht lange, um eine Entscheidung vorzubereiten und zu fällen, wenn man eindeutig weiß, was die beste Alternative ist.«
B: »Wenn man das wüsste – da geht es ganz einfach darum, ob wir uns in der Firma so viel Umweltschutz für unser Image leisten sollen oder ob wir wegen der angespannten Konjunktur doch wirtschaftlich lieber auf Nummer sicher gehen sollen. Der Prototyp, um den es geht, ist voll recycelbar, aber teuer, und das schlägt sich auf den Absatz nieder.«
A: «Wieso kann man den Leuten nicht beibringen, dass ein umweltfreundliches Produkt eben etwas teurer ist – dafür müssen sie nachher nicht mehr für die Entsorgung bezahlen, die Ihre Firma ja doch nicht übernimmt«.
B: »Schon – Aber das sind Sachen, die mich eigentlich nichts angehen. Ich habe für ein ordentliches Produkt zu sorgen, eines, das das Pflichtenheft erfüllt, und ich bin für die Entwicklung und Vorbereitung der Herstellung verantwortlich. Das muss funktionieren. Woher soll ich wissen, was die Leute wollen?«
A: »Was wollen Sie denn?«
B: »Das hat mich bis jetzt noch keiner gefragt. Natürlich will ich auch ein umweltfreundliches Produkt, das mir bei der Entsorgung nachher nicht auf der Tasche oder womöglich auf dem Gewissen liegt. Aber mehr bezahlen will ich eben auch nicht.«
A: »Ist das nicht ein Widerspruch?«
B: »Das wird mir jetzt zu philosophisch – das führt doch zu nix ... « Greift zum Telefonhörer, um Frau S. anzurufen.
Entscheidungen sind so eine Sache: Man sollte wissen, wofür und wogegen man sich entscheiden kann, also die Optionen kennen, dann sollte man Kriterien haben, nach denen man die Optionen bewerten kann, und wenn es klar ist, welche Option die Beste ist, entscheidet man. Alles klar? Nein.
Meistens besteht Handlungsbedarf: Es soll möglichst schnell auf ein Produkt der Konkurrenz reagiert werden. Eigentlich müsste man erst die Optionen alle zusammenstellen, damit man weiß, was die Möglichkeiten sind, die man hat. So hat man das mal gelernt: Unvollständige Information ist Gift für gute Entscheidungen, auch wenn man manchmal das Gefühl hat, dass spontane und unausgegorene Entscheidungen vielleicht besser wären. Eigentlich müsste man jetzt auch Kriterien haben, wonach man beurteilt und da gibt es – da fangen schon die Diskussionen an – offensichtlich unterschiedliche Auffassungen. Obwohl die Beschreibung des Produkts vorliegt (mit Pflichtenheft und Leistungsumfang etc.), kommen Bedenken: Der eine denkt in wirtschaftlichen Kategorien – die Sache muss sich rechnen und niemand hat Geld zu verschenken. Der andere ist ökologisch gesinnt – Geld hin, Geld her, wenn wir der Umwelt schaden, sägen wir den Ast ab, auf dem alle sitzen. Der Dritte denkt an das Image der Firma – wie, wenn wegen eines schlechten Ansehens der Absatz zusammenbricht und Arbeitsplätze verloren gehen? Wiedereinem Anderen geht Sicherheit über alles – was nützt ein Produkt, das die Gesundheit der Kunden gefährdet? Dem Nächsten gefällt das Aussehen des Produkts nicht – das bringt doch keiner auf den Markt. Und noch einer – noch lange nicht der Letzte – meint, dass das Ganze so, wie gedacht, technisch nicht befriedigend funktioniert oder auch für etwas ganz anderes benützt werden könnte, als für was es vorgesehen war. Was also wäre wichtiger?
Viele Leute, viele Meinungen – wenn der Verantwortliche sie zulässt. Eine Diskussion, wie sie jeder kennt, und die sich stundenlang hinziehen kann. Denn solche Sitzungen zeichnen sich dadurch aus, so Karl Kraus, dass schon alles gesagt wurde, es aber noch nicht alle gesagt haben.
Man kann solche Sitzungen abkürzen, indem man die einzelnen Vertreter fragt, warum sie ihre Position vertreten und warum sie meinen, dass das, was sie für am wichtigsten halten, denn so wichtig sei. Gleich wird es ungemütlich, denn so genau habe man sich das ja noch nicht überlegt, und überhaupt, warum solle man seine Meinung überhaupt begründen, es reiche doch schließlich, dass man sie habe – jeder dürfe ja seine eigene Meinung haben. Aber vielleicht müsse man doch noch einmal nachschauen, sicher gäbe es gute Gründe ...
Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie
Der Psychologe Kurt Lewin benutzte gerne den Satz: »Es gibt nichts praktischeres als eine gute Theorie«.1
Das war nicht nur so daher gesagt, denn eine gute Theorie erlaubt in der Wissenschaft zusammen mit der Kenntnis von Anfangs- und Randbedingungen Voraussagen, und aufgrund von zuverlässigen Voraussagen kann man entsprechend handeln. Wenn also eine Entscheidung ansteht, in privaten wie in geschäftlichen, in technischen wie in ökonomischen Bereichen, selbst in der viel gescholtenen Politik, ist ein strukturiertes Hintergrundwissen immer von Vorteil. Ein solches strukturiertes Hintergrundwissen nennen wir eine Theorie, wenn dieses Wissen als richtig und begründbar erscheint – und wir bedienen uns dessen tagtäglich, aus unserem Schul-, Berufs- und Ausbildungswissen. Was aber, wenn wir kein Hintergrundwissen dafür haben, ob jetzt der wirtschaftliche, der umweltfreundliche, der öffentliche Aspekt, der Sicherheitsaspekt, der ästhetische oder funktionale Aspekt (um beim Beispiel oben zu bleiben) zu bevorzugen ist? Dann bräuchten wir eine Theorie, die wir aber noch nicht haben oder kennen. Also müssten wir nachlesen oder nachfragen oder notfalls selber nachdenken – denn spätestens die kontroverse Diskussion zwingt dazu.
Genau das ist die Anstrengung, vor der wir uns vor der Diskussion gedrückt haben. Zur Begründung unserer Ansichten sind wir gezwungen, das, was wir wissen, in einem Gesamtzusammenhang zu sehen, den die anderen auch so sehen können. So entsteht eine gemeinsame Sache, aufgrund derer wir beginnen, Argumente zu akzeptieren. Genau das ist die Idee von einer Theorie: Durch ein Wissen, das von allen Beteiligten akzeptiert wird, wird die eigene Ansicht begründet und damit kann sie von den anderen verstanden und bejaht werden. Das heißt aber noch lange nicht, dass, wenn alle einverstanden sind, die Theorie deshalb schon »richtig« oder gar »wahr« wäre.
Der griechische Philosoph und Schüler des Sokrates, Platon (428 – 347 v. Chr.) verstand unter dem Wissen die wahre, gerechtfertigte Meinung. Lassen wir die Frage, was denn das Wahre an einer Meinung sei, einmal weg, weil das jetzt zu weit führt – schließlich müssen wir uns ja nach der Diskussion entscheiden – so liegt der Knackpunkt bei dem Ausdruck »gerechtfertigt«. Gemeint ist hier nicht die religiöse Bedeutung des Wortes »Rechtfertigung«,2sondern einfach der Umstand, dass man für seine Meinung gute Gründe ins Feld führen kann, also solche, die andere ebenfalls aufgrund ihres Wissens und ihrer Erfahrung akzeptieren können. Das hört sich noch etwas schwach an, aber wenn man bedenkt, dass eine Meinung bei Platon schon so etwas wie eine »Lehre« ist, also ein Gebäude von zusammenhängenden, sich nicht widersprechenden Sätzen, die man für wahr hält, die man begründen und vor allem auch verständlich mitteilen kann, dann kommt man dem heutigen Begriff der Theorie schon recht nahe.
Ingenieure und gerade Naturwissenschaftler neigen oft dazu, ihre Erkenntnisse für objektiv, also eben nicht bloß für eine Meinung, zu halten – und zwar deshalb, weil sie eine sehr gute Begründung dafür haben: Es sind die experimentelle Erfahrung und die logische, innere Konsistenz ihrer Theorien, die die Naturwissenschaften so erfolgreich gemacht haben. Schließlich sind die Ergebnisse der Technik zu nennen – praktischer Erfolg gibt oftmals theoretisch recht – allerdings nicht immer.
Heute wissen wir, nicht nur durch die Analysen der Wissenschaftstheorie, dass der Versuch, alles in naturwissenschaftlichen Kategorien zu denken, scheitern muss: Naturwissenschaft kann keine Fragen danach beantworten, was wir tun sollen, sie kann keine Sinnfragen und auch keine Warum-Fragen beantworten. Dafür ist sie nicht geeignet, hier ist ihre Grenze, und das gilt auch für das technische Wissen.
Nachdenken hat noch nie geschadet
Als der Tausendfüßler über seine Beine und deren Bewegungskoordination tief nachdachte, geriet er ins Stolpern – die Theorie als Feind der Praxis? Das sah auch Hermann Weyl, der große Physiker und Mathematiker, so:
»Die philosophische Klärung bleibt eine große Aufgabe von völlig anderer Art, als sie den Einzelwissenschaften zufällt. Da sehe nun der Philosoph zu. Mit den Kettengewichten der in jener Aufgabe liegenden Schwierigkeiten behänge und behindere man aber nicht das Vorwärtsschreiten der konkreten Gegenstandsgebieten zugewandten Einzelwissenschaften.« ?3
Also sollten sich die Philosophen aus dem Alltagsgeschäft besser heraushalten und keine unerbetenen Ratschläge geben? Ja und Nein – wie sehen denn solche Rechtfertigungen in Diskussionen wie oben aus? Woher weiß ich denn, wer die besseren Argumente hat oder was die besseren Argumente sind? Sichert dies die Wissenschaftlichkeit durch ihre Methodik alleine schon ab? Es könnte ja sein, dass in unserem Meeting lauter Leute sitzen, die sich einig sind, dass Wirtschaftlichkeit eines Produkts (also die Gewinnerwartung) wichtiger ist als Sicherheit, egal, mit welcher Theorie sie abgeschätzt worden ist.
Wenn sich die Kollegen schnell einig geworden sind, werden sie denjenigen, der dann noch Fragen stellt, als Störenfried ansehen. Könnte es nicht sein, dass dann, obwohl die Abstimmung 5:1 für den wirtschaftlicheren Vorschlag lautet, die Minderheitenmeinung, die auf mehr Sicherheit pocht, doch etwas »mehr« im Recht ist als die Mehrheit? Ist die Mehrheit ein Kriterium für die Richtigkeit einer Entscheidung? Das ist eine philosophische, keine technische, ökonomische oder organisatorische Frage.
Bild 1.1Ist die Wahrheit eine Frage der Mehrheit?
Meine Ingenieurskollegen sagen gerne, dass man nicht gegen die Physik und die Naturgesetze abstimmen kann, und wenn genügend kompetente Fachleute beisammen säßen, man auch keine quasi-demokratische Abstimmung bräuchte, weil sich eine beste Lösung schon aus dem versammelten Sachverstand und den Naturgesetzen ergäbe. Richtig – und nichts gegen den versammelten Sachverstand. Aber auch da verlaufen die Diskussionen nach meiner Erfahrung genauso wie im richtigen Leben. Man kann sich über die Interpretation von Daten streiten, um die geeigneten Hypothesen, um Konstruktionsdetails, um Kosten ... Seufzend kommt man zur Einsicht, dass es »die Wahrheit« in Reinform sowieso nicht gäbe und dass man sich eben einigen müsse. Da capo ...
Probieren und Studieren
Schließlich kommt der Vorschlag, die ganze Sache anhand eines Testlaufs auszuprobieren – z.B. an einem Prototyp oder bei einer Vorversion auf dem Markt oder wie auch immer. Da man ohnehin nicht weiter weiß und alle Arbeitskreise schon gebildet sind, erhofft man sich eine Entlastungsfunktion von der »Realität«. Die Wirklichkeit wird uns schon zeigen, was die beste Lösung ist. Aber wie macht das die Wirklichkeit? Liefert sie uns das Wissen und die Argumente, die uns noch gefehlt haben? Liefert sie wirklich die Begründungen, die wir brauchen?
Probieren geht über Studieren – eine nicht ganz abwegige Volksweisheit. Aber warum ist das so? Mit Studieren ist in diesem Zusammenhang das Erstellen oder Erarbeiten einer Theorie gemeint, also eines Erklärungszusammenhangs, der unsere Argumente für das eine oder andere Kriterium bei unseren Entscheidungen rechtfertigen soll. Auch wenn wir die Theorie nicht haben und durch Test oder Experiment eine Antwort suchen, haben wir doch eine Vorstellung von dem, was beim Test oder Experiment herauskommen könnte – zwar noch nicht genau, aber die Möglichkeiten selbst, d. h., die Palette möglicher Antworten steht dann schon fest. Dies nennen wir Hypothese oder Vortheorie.4 Und diese Vortheorie verlangt auch nach einer Begründung, denn der andere soll ja zustimmen, dass der Test durchgeführt werden soll. Denn Tests können ja auch recht kostenaufwendig werden. Das bedeutet: Probieren geht eben doch nicht ganz ohne Studieren.
Die verflixten Warum-Fragen
Studieren kann man nur richtig, wenn man Fragen stellt. Wir wollen wissen, warum etwas funktioniert, wie es funktioniert und womit es funktioniert. Wir wollen wissen, was es kostet, wer beteilig ist, wo das Ganze stattfinden soll – all die Fragen, die man manchmal stellen muss, und die man zuweilen auch stellen kann, wenn man etwas hinauszögern oder verhindern will. Abgesehen von der letzten, böswilligen Variante sind jedoch die Warum-Fragen die verflixten Fragen – vor allem, weil man jede Antwort mit einer weiteren Warum-Frage kontern kann. Man kann das als Spiel ansehen – so wie es Kinder machen, wenn sie nicht ins Bett wollen und den Papa, der doch alles weiß, zu Verzweiflung treiben – man kann es aber auch ernst nehmen und damit die Grenzen seines Wissens oder seiner eigenen Theorie testen. Man braucht gar nicht viele Warum-Fragen – und in der Technik landet man ziemlich schnell bei den Naturwissenschaften, und weiter bei – ja eben – philosophischen Fragen:
»Papa, warum macht ein Flugzeug so viel Lärm?«
»Weil es, neben dem Krach der Motoren, die Luft, durch die es fliegt, verdrängt.« (Papa gibt noch eine Erklärung mit dem Lineal, das er hörbar durch die Luft sausen lässt.)
»Papa, warum verdrängt der Flieger Luft?«
»Weil da, wo der Flieger ist, keine Luft sein kann und umgekehrt. Wo Du bist, kann ich nicht sitzen, und wo ich bin, kannst Du nicht sein.«
»Papa, warum können wir nicht am gleichen Platz sein?«
»Weil die Moleküle, aus denen wir bestehen, sich abstoßen.«
»Warum tun die das?«
»Weil es Kräfte zwischen den Molekülen (und Atomen) gibt, die das verhindern.«
»Warum gibt es Kräfte?« (Papa holt Luft)
»Damit die Welt nicht in sich zusammenfällt.«
»Wäre das schlimm?«
»Ja, dann gäbe es Dich und mich nicht mehr.«
»Warum gibt es uns – und überhaupt etwas?«
»Jetzt ist gut – jetzt geht's ins Bett.«
Das ist genau der Dreh, um den es geht. Philosophie stellt Fragen, weil sie die Grenzen der Erkenntnis herausfinden möchte, und damit herausfinden möchte, wie Erkenntnis entsteht und ob und wie man sich dieser Erkenntnis gewiss sein kann. Das Dumme ist, dass gerade die Warum-Fragen uns ziemlich schnell an den Rand unseres Wissens bringen – das geht auch bei Fachleuten ganz leicht – und der Dialog dann irgendwann einmal abgebrochen wird – scheinbar ohne Ergebnis. Schließlich hat man ja noch zu arbeiten, Zeit ist Geld, und überhaupt ...
Natürlich gibt es in der Philosophiegeschichte dafür ein Vorbild.
Es ist Sokrates (469-399 v. Chr.). Er treibt sich auf dem Markt herum und fragt Leute danach aus, was sie zu wissen vorgeben. Denn das Orakel von Delphi hatte ihn als den weisesten Mann Griechenlands genannt, was er in seiner Bescheidenheit nicht auf sich sitzen lassen wollte. Also ging er hin, jemand Weiseren zu suchen, indem er Fachleute ansprach: Den General fragt er nach Tapferkeit, den Priester nach Frömmigkeit, den Lehrer nach Lehrbarkeit der Tugend, den Mathematiker nach Erkenntnis. Und siehe da – hartnäckiges Fragen bringt die »Fachleute« dazu, zuzugeben, dass sie auch nicht so recht wissen, was Tapferkeit, Frömmigkeit, Lehrbarkeit eigentlich ist; sie alle verheddern sich in Widersprüche. Sokrates ist derjenige, der durch hartnäckiges Fragen diese Widersprüche an den Tag bringt. Dann wollen die Gesprächspartner den Spieß herumdrehen und sie fordern von Sokrates die endgültige Antwort. Der aber meint verschmitzt, er habe ja nie behauptet, dass er Fachmann sei – also könne man von ihm auch keine Antwort erwarten. Düpiert muss der Gesprächspartner zur Kenntnis nehmen, dass Sokrates schon vorher wusste, dass er nichts weiß, aber ihm, dem Fachmann, vor seinem Dialog mit Sokrates nicht klar war, dass er nichts wusste von dem, was er eigentlich zu wissen glaubte. Und so haben die meisten Dialoge mit Sokrates ein offenes Ende. Damit macht man sich keine Freunde – und Sokrates wurde als angeblicher Verderber der Jugend und Leugner der Götter in Athen 399 v. Chr. hingerichtet, indem man ihn zwang, den Giftbecher zu trinken.
Das ist ja die Kritik der Ingenieure und Naturwissenschaftler an der Philosophie – dass sie zu nichts führe, kein Ergebnis habe, nur herum diskutiere – man müsse doch schließlich in einer absehbaren Zeit zu einer Entscheidung kommen. Aber ist die Diskussion um eine Entscheidung, wie sie oben im Text skizziert worden ist, nicht auch der Versuch, auszuloten, was man weiß, und was man nicht weiß, um die Optionen besser erkennen und bewerten zu können, um die eigenen Argumente begründen zu können?
Ja und Nein – denn wenn man sich die Naturwissenschaften genauer anschaut – und das haben die Wissenschaftstheoretiker (eine Untergruppe von Philosophen) getan – dann stellt man fest, dass z.B. die Physik keine Warum-Fragen beantwortet. Sie liefert Erklärungen über das Wie, aber warum es die Welt gibt, das überlässt sie den Philosophen. Auch in der Technik beantwortet niemand gerne Warum-Fragen, weil es keine Antworten darauf gibt, die technisch gesehen problemlösend wären.
»Warum«-Fragen und Fragen wie: »Was ist eigentlich ... « sind jedoch recht hartnäckig – wie die kleinen Kinder, die sie stellen. Lassen wir uns auf sie ein, zeigen sie uns unsere Grenzen, wehren wir sie ab, kommen sie durch die Hintertür, am Strand, beim Einschlafen, beim Lesen, in einer Sitzung oder in einer Konflikt- und Krisensituation garantiert wieder auf uns zu. Sie gehören zum Menschen – und zum Nachdenken.
Ach ja – wir sollten doch eine Entscheidung fällen. Das haben wir.
Wir haben uns auf den Test verlassen. Der zeigte uns, dass sich Sicherheit sehr wohl ganz gut verkauft und das gab den Ausschlag. Wenn Theorie und Erfahrung zusammenprallen, muss die Theorie nachgeben. Soweit so gut. Aber es gibt keine Erfahrung ohne Vortheorie. Deshalb mussten wir auch so viel nachdenken, bis uns die Idee zum Test kam.
Nachdenken – die Zweite
Bei der Szene über das Nachdenken müssen wir noch etwas nachdrehen. Hermann Weyl sprach weiter oben von Kettengewichten, mit denen die Philosophen die Wissenschaftler behängen. Nachdenken ist mühselig. Und es hängt in eigentümlicher Weise von der Sprache ab. Auch Mathematik ist so etwas wie eine Sprache, in der man rasch und präzise ausdrücken kann, was sich mathematisieren lässt.
Das gilt ganz besonders für die Technik- und Naturwissenschaften, aber immer mehr auch für andere Wissenschaften, die sich der Mathematik bedienen. Diese Sprache muss man – zuweilen etwas mühselig – erlernen. Beim Nachdenken in der Philosophie hat sich, wie bei anderen Disziplinen auch, im Laufe der zweieinhalbtausend Jahre, seit es die Philosophie gibt, eine Fachsprache entwickelt, die man ebenfalls erlernen kann. Dafür müsste man sich ein wenig mit der philosophischen Tradition auseinandersetzen. 5 Da aber Philosophie als hartnäckiges Fragen alle angeht, kann sie sich nicht einfach auf ihren Fachjargon zurückziehen. Dies tut sie im akademischen Bereich aber sehr oft. Und dann gilt sie – mit Recht – als abgehoben.
Ganz schlimm war dies im 19. Jahrhundert, indem es literarisch und auch sonst als besonders chic galt, möglichst komplizierte Sätze zu formen, für die heutige Deutschlehrer wohl keine »Baugenehmigung« mehr erteilen würden. Eine Kostprobe? Gerne ... So grenzte z.B. Friedrich Schelling (1775-1854) die spekulative Physik von der empirischen Physik mit folgendem Satz ab:
» ... welcher Unterschied sich hauptsächlich darauf reduciert,
dass jene [gemeint ist die spekulative Physik]
einzig und allein mit den ursprünglichen Bewegungsursachen in der Natur, also allein mit den dynamischen Erscheinungen
diese dagegen [gemeint ist die empirische Physik]
nur mit dem sekundären Bewegungen und selbst mit den ursprünglich nur als mechanisch (also auch der mathematischen konstructionfähigen)
sich beschäftigt,
da jene
überhaupt auf das innere Triebwerk und das, was die Natur nicht-objectiv ist,
diese hingegen
nur auf die Oberfläche der Natur und das, was an ihr objectiv und gleichsam Außenseite ist,
sich richtet. «6
Zur Verdeutlichung kann man die Unterschiede, die Schelling in diesem Satz anspricht, auch in einer Tabelle anordnen:
Tabelle 1.1 Unterscheidung spekulativer und empirischer Physik nach F. W. J. Schelling
Spekulative Physik
Empirische Physik
ursprüngliche Bewegungsursachen
sekundäre Bewegungen
dynamische Erscheinungen
mechanische Bewegungen, soweit mathematisierbar
inneres Triebwerk, was an der Natur nicht objektiv ist
Oberfläche der Natur, was an ihr objektiv ist
Innenseite
Außenseite
Daraus folgt, dass man komplizierte Sätze meist durch kommentierte Tabellen ersetzen kann, wenn man ihre Struktur erfasst hat. Der Verlust an Sprache steht auf einem anderen Blatt.
Kommen wir kurz zum Inhalt des Satzes. Hinter diesem grammatikalischen Ungetüm steckt die naturphilosophische These, wonach man die Naturgesetze zwar nicht direkt beobachten könne, sie aber die treibende und prinzipielle Kraft im Naturgeschehen seien. Denn man könne sie nur über Spekulation (also Nachdenken, was bei Schelling auch die mathematische Durchdringung mit einschließt) erschließen, während die reine Beobachtung nur das oberflächliche Verhalten zu erkennen erlaube. Bei aller Kritik an der Art und Weise seiner Formulierung sagt Schelling jedoch etwas Richtiges: Die Theorie bestimmt, was beobachtbar ist. Mit diesem Satz hat Albert Einstein schon Werner Heisenberg, den Mitschöpfer der Quantentheorie verblüfft.7Naturgesetze und ihre mathematische Struktur werden in den Naturwissenschaften immer noch als das Fundamentalere angesehen als die bloße Beobachtung, die ohne Theorie »blind« wäre. Dies ist auch im Wesentlichen der Ansatz der – nicht nur theoretischen – Physik heute.
Die Kostprobe soll zeigen: Man kann solche Texte durchaus »übersetzen«. Und manchmal steckt eine auch heute noch wichtige Erkenntnis dahinter. Allein der Satzbau ist also noch kein Grund für Unverständlichkeit, es geht auch nicht um das vielleicht fremd anmutende Vokabular. Denn es gibt auch höchst schwierige Texte in der Philosophie mit einem ganz einfachen Satzbau und ohne philosophisches Vokabular. So schreibt Wittgenstein in seinem tractatus logico-philosophicus (dt.: Logisch-philosophische Abhandlung) trocken und knapp:8
»1 Die Welt ist alles, was der Fall ist.
1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.
1.11 Die Welt ist durch die Tatsachen bestimmt und dadurch, dass es alle Tatsachen sind.
1.12 Denn, die Gesamtheit der Tatsachen bestimmt, was der Fall ist und auch, was alles nicht der Fall ist.
1.13 Die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt ... «
Am Ende seiner Abhandlung kommt Wittgenstein zur Einsicht:
»6.54 Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)
Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.
7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«
Ein solcher Text ist in der Philosophie nicht unbedingt ein »sachlicher« Text. Sachlich heißt, dass Definitionen oder Fakten wie z.B. in der Technik dargestellt werden. Sondern es handelt sich um einen Text, der zum Interpretieren und zur Deutung auffordert – also das, was ein Rechtsanwalt auch tut, wenn er in den Gesetzen liest und sie zugunsten seines Falles zu verstehen versucht. Diese Kunst der Interpretation – der Fachausdruck heißt Hermeneutik, das griechische Wort für die Kunst des Auslegens – dient nicht nur dazu, besser verstehen zu können, was im Text steht und was »gemeint« ist. Dieses Problem hat man auch, wenn man ein Lehrbuch der Konstruktionslehre oder theoretischen Mechanik oder gar eine Bedienungsanleitung liest. Bei philosophischen Texten geht es auch darum, dass man sich bei der Lektüre zu Gedanken anregen lässt, sich mit dem Gesagten oder Geschriebenen auseinandersetzt, den Text vielleicht kritisiert und dadurch neue Einsichten gewinnt, die übrigens mit dem Ausgangstext gar nicht mehr viel zu tun haben müssen. Das zeigt sich ganz massiv auch am Beispiel der Bedienungsanleitung: Natürlich gilt es – besonders beim jugendlichen Endnutzer – als unsportlich, sie zu lesen, denn man will zuerst eigene Erfahrungen mit dem Gerät machen. Wenn das eine oder andere nicht klappt, beginnt man doch zu lesen und ärgert sich über die Unverständlichkeit. Nach dem Lesen kommt man aber doch auf noch ganz andere Gedanken, dass es nützlich gewesen wäre, vorher zu studieren, statt nur zu probieren. Und dann kommt man vielleicht auch noch auf Ideen, wozu ein Gerät sonst noch verwendet werden könnte – wenn auch vielleicht nicht ganz im Sinne des Erfinders ...
Das Nachdenken wird also den Text und die Sprache nicht los – was nicht heißt, dass man nicht auch über eine Konstruktionszeichnung oder einen Schaltplan nachdenken und zu neuen Einsichten kommen könnte. Auch dies ist ein Interpretationsprozess, wenn auch aus anderer Perspektive – und etwas abgewandelt mag dies auch für Musik gelten (siehe Bild 1.2).
Bild 1.2Der Musikliebhaber (Quelle: Vladimir Rencin)
Allerdings – warum soll man über eine Schaltung oder Konstruktionszeichnung philosophieren, wenn das, was sie zeigt, funktioniert? Die Antwort ist einfach – weil man dadurch auf Gedanken kommen könnte, die zu völlig neuen Prinzipien, wie man Schaltungen entwerfen kann, führen könnten. Die Zeichnung ist die Sprache des Ingenieurs – richtig. Und auch diese »Sprache« wird man beim Nachdenken nicht los – wir denken nicht nur durch und in unserer Sprache, wir denken auch in Bildern – und diese Bilder sind im Alltag sehr häufig dadurch bestimmt, was wir technisch »machen« können.
Noch ein paar Nachfragen als kleine Übung:
Gibt es in der Philosophie seit Platon und Aristoteles überhaupt einen Fortschritt? Aristoteles hat über die Physik vier Bücher geschrieben, Platon unter anderem über den Staat. Sind wir heute weiter? Was meinen Sie?
Gottfried Wilhelm Leibniz hat die Frage gestellt: »Warum gibt es etwas und vielmehr nicht nichts?«9
Sicher lösen Beantwortungsversuche keine einzige technische Frage und dennoch bestimmt das Nachdenken über diese Frage – wenn wir uns darauf einlassen – unser eigenes Weltbild, das wir uns jeweils persönlich machen. Viel geistiges Vergnügen mit dieser Frage ...
Immanuel Kant hat die wohl vier wichtigsten Fragen der Philosophie formuliert: »Was sollen wir tun?«; »Was können wir wissen?«, »Worauf sollen wir hoffen?« und »Was ist der Mensch?«10
Diese Fragen gehören zu unterschiedlichen Disziplinen der Philosophie, nämlich der Ethik, der Erkenntnistheorie, der Metaphysik und der philosophischen Anthropologie, also dem philosophischen Nachdenken über die Rolle des Menschen in der Welt. Wenn Sie versuchen, sich eine Antwort auf diese Fragen zurechtzulegen, werden Sie feststellen, dass Ihre Antworten durchaus etwas mit den Problemen, die Sie als Ingenieur lösen müssen, zu tun haben. Oder ist das zu weit hergeholt? Vielleicht diskutieren Sie erst mal mit Freunden darüber.
Weitere, nicht ganz so kleine Übung: Checklisten der Philosophie
Die Grunddisziplinen der Philosophie, sozusagen ihre Fächer, sind u. a.:
Ontologie (Lehre von Sein und Seienden, Modalitäten
Erkenntnistheorie (menschliche Erkenntnis, Kognition, Intelligenz
Ethik (Prinzipien, Werte, Normen, Moral, Tugenden)
Praktische Philosophie (Handeln in Politik, Technik, Gesellschaft, Wirtschaft)
Wissenschaftstheorie (der reinen, angewandten und gestaltenden Wissenschaften einschl. Handlungstheorie)
Logik (Argumentation, Kalküle, mathematische Logik)
Ästhetik (Lehre vom Schönen und Erhabenen
etc.
Gegenstand philosophischer Fragen: Was ist x, wie ist x möglich, warum ist x so und nicht anders?
Naturphilosophie (Was ist Natur, was sind Naturgesetze?9
Politische Philosophie (Was ist eine gute Gemeinschaft, Gesellschaft, Führung, Verfasstheit)
Rechtsphilosophie (Was ist Recht, Gerechtigkeit, Legitimation, Legalität)
Sprachphilosophie (Was ist Sprache: Strukturen, Bedeutung, Wirkung?)
Philosophische Anthropologie (Was ist der Mensch?)
Technikphilosophie (Wie ist Technik möglich, Verhältnis Natur- Technik – Gestaltung – Mensch)
Religionsphilosophie (Kann man über Gott vernünftig reden? Gibt es einen Sinn?
Geschichtsphilosophie (Gibt es Gesetze oder Strukturen in der Geschichte? Kann man aus ihr lernen)
Lebensphilosophie (Was ist Glück? Was ist ein gutes, erfülltes Leben?)
etc.
Philosophische Grundrichtungen: Beantwortungsversuche in der jeweiligen Zeit auf die Grundfragen oben mit Hilfe der Grunddisziplinen:
Platonisch – idealistische Philosophie (Antike)
Materialistische Philosophie (von Demokrit bis heute)
Scholastik (mittelalterliche Philosophie, von christlichen Glauben geprägt)
Dualismus – Monismus (von Platon bis heute)
Marxistische Philosophie 19h. Jahrhundert bis ca. 1989
Analytische Philosophie (Beginn 20. Jahrhundert
Hermeneutische Philosophie (Kunst der Interpretation -seit Platon und Aristoteles)
Phänomenologie (seit Beginn 20. Jahrhundert)
Existenzphilosophie (seit Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts)
Kritischer Rationalismus (Wiener Kreis, seit den 20 Jahren des 20. Jahrhunderts
Postmoderne (seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts)
etc.
Man kann sich nun eine dreidimensionale Tabelle vorstellen, in der jedes Feld eine Angabe darüber macht, wie jede der philosophischen Grunddisziplinen jede der Grundfragen mit welcher philosophischen Grundrichtung beantwortet. Dazu müsste man vieles nachschlagen – zugegeben. Wenn man alle Felder ausführlich ausgefüllt hat, hat man das geleistet, was mehr oder weniger ein Philosophiestudium verlangt. Wenn man dann noch dazu übergeht, eigene Antworten in die Felder zu schreiben, ist man auf dem Weg zum Philosophieren.
Das Historische Wörterbuch der Philosophie (Ritter et al, 13 Bände, 1971-2007, einschl. CD mit Volltextsuche) gibt zwar über solche Fragen erschöpfend Auskunft, aber dazu muss man schon die Fachausdrücke und die Abkürzungen und ein bisschen Latein und Griechisch können. Erste Hilfe für Ingenieure hierzu gibt Locher (2006).
1 Vgl. Lewin (1951). Der Satz wird auch dem Philosophen Immanuel Kant, dem Mathematiker David Hilbert, dem Physiker Gustav Robert Kirchhoff und manchmal sogar Albert Einstein zugeschrieben. Es handelt sich also wohl um ein »Wanderzitat«.
2 Rechtfertigung in der religiösen Bedeutung des Wortes meint die Weise, wie das durch Sünde gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Gott wieder hergestellt werden kann.
3 Vgl. Weyl (1970), S.2.
4 Im Alltag heißt so etwas Vorurteil. Wenn wir unsere Vorurteile einem Test unterwerfen, dann konfrontieren wir die Schlüsse, die wir aus dem Vorurteil gewinnen können, mit unserer Erfahrung. Psychologische Untersuchungen zeigen, dass wir unsere Erfahrung meistens danach filtern, sodass sie unsere Vorurteile bestätigen. Wir wollen eben sehen, was wir gern sehen würden. Diesen selektiven Wahrnehmungseffekt gibt es auch in der Wissenschaft.
5 Dies kostet zugegebenermaßen Zeit. Die Technischen Universitäten machen ja durchaus Angebote im fachübergreifenden Studium.
6 Die Formatierung (Einzüge) soll die grammatikalische Struktur des Satzes besser verständlich machen. Der Satz stammt aus F. Schelling »Einleitung zu einem Entwurf des Systems der Naturphilosophie ...« (1799), § 3, S. 7.
7 Das findet sich in einem Gespräch mit Heisenberg, wiedergegeben in: Heisenberg (1969), S. 92.
8 Vgl. Wittgenstein (1989).
9 Vgl. Leibniz (1982 a), S.12-13, Abschnitt 7.
10 Die drei ersten Fragen finden sich in Kants Kritik der Reinen Vernunft A 805 bzw. B 833, vgl. Kant (1965), S. 728 resp. Kant (1996, IV), S. 677, die letzte Frage steht in Kants Logik (A 25) in Kant (1996, VI), S. 448.
Eine der elementaren Regeln, die gerade ältere Ingenieure ins Feld führen, heißt: »Schaffe, nit schwätze!«1
Die nicht zielführende Diskussion ist, wenn überhaupt, auf ein Minimum zu begrenzen, entscheidend sind die Handlungen, sprich die Arbeit am Projekt oder an der Aufgabe. Zeitdruck mag eine verständliche Begründung hierfür abgeben, tiefer jedoch sitzt der Argwohn gegenüber Argumenten, die sich nicht an »der Sache«, d. h. an der technischen Funktionalität selbst orientieren. Dazu gehört auch die Einsicht, dass man nicht jeden Kausalzusammenhang kennen muss, um technisch erfolgreich handeln zu können – das heißt auch, dass man nicht jede nach dem Kausalzusammenhang gerichtete »Warum-Frage« beantwortet haben muss, um erfolgreich ein Gerät zu bauen. Das verlängert sich im Extremfall bis hin zum Arbeiter, der nicht weiß, was er tut, wenn er arbeitet, weil er das Produkt nicht kennt, zu dessen Herstellung er beiträgt.
Viele Ingenieure sind im Übrigen der Auffassung, dass man erst das, was man bauen kann, auch richtig verstanden habe. Aber was hat man verstanden, wenn man »es« gebaut hat?
Wenn man die Regeln kennt, funktioniert es auch ohne Wissen
McLean, für seine Sparsamkeit bekannt, muss eine Autowerkstatt aufsuchen – irgendetwas klemmt bei der Lenkung. Der Kfz-Meister schaut sich die Sache an, holt einen Hammer und schlägt kräftig auf eine bestimmte Stelle. Die Blockade löst sich – »Kostet 50 $, Sir.« McLean fragt erstaunt: »Wie das denn? Das war doch nur ein Schlag mit dem Hammer.« »Richtig – 10 $ fürs Draufhauen und 40 $ für das Wissen, wohin!«
Wir handeln jeden Tag mehr oder weniger erfolgreich, ohne diese Handlungen und womöglich die Mittel, die wir zur Handlung eingesetzt haben, begründen zu können. Es ist ein Unterschied, ob ich handle, weil ich aufgrund eines mir bewussten Ziels und eines bekannten kausalen Zusammenhangs vorgehe, daraufhin ein gewisses Mittel gewählt habe und es auch einsetze, oder ob ich aufgrund einer Regel, deren Begründung und Zustandekommen ich nicht kenne, ebenfalls erfolgreich handele. Drastisch ausgedrückt: Das gewollte Zeugen von Kindern bedarf keiner höheren medizinischen oder biologischen Kenntnisse, aber die Befolgung einiger Regeln aus der Anatomie und der Psychologie, die junge Menschen offensichtlich schnell lernen. Das Führen von Fahrzeugen klappt auch ohne detaillierte Kenntnisse von Elektronik und Maschinenbau. Es ist jedoch so gut wie unmöglich, ein neues Betriebssystem zu entwerfen, wenn man nicht über die entsprechenden Kenntnisse verfügt. Es scheint eine Grundüberzeugung bei Ingenieuren zu sein, dass sie alle technischen Handlungen, die sie beim Bau und dem Gebrauch von Technik durchführen, dem Grunde nach kausal begründen könnten, diese im Alltagsgeschäft aber nur begründen, wenn es wirklich nötig sein sollte. Tatsächlich ist die Arbeitsteilung aber mittlerweile so ausdifferenziert, dass die meisten Kenntnisse, über die wir in Wissenschaft und der Technik verfügen, keine Kenntnisse über kausale Zusammenhänge, sondern lediglich Regelkenntnisse sind.
Know why und know how