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Brütende Hitze, Artensterben, Dürreperioden und leere Regale im Supermarkt: Für die Menschheit sieht es in den 2040er Jahren nicht allzu rosig aus. Zumindest nicht für die ärmeren Teile der Bevölkerung. Wer Geld hat, lebt in komfortablen, eingezäunten Siedlungen mit eigenem Biosupermarkt und könnte die Klimakrise überleben, indem das Bewusstsein digitalisiert und auf der DNA einer Pflanze gespeichert wird. Die Drosera AG, ein Biotech-Konzern mit Sitz in Hamburg, vermarktet ein solches Verfahren. Kostenpunkt: 350.000 Euro. Aylin gehört nicht zu den Menschen, die sich so etwas leisten können. Sie arbeitet als Aushilfsgärtnerin in den Gewächshäusern der Drosera AG und tauscht mit Besserverdienern seltene Zierpflanzen gegen frische Lebensmittel. Gern hätte sie für ihren Großvater einen Speicherplatz auf einer Pflanze. Als ungewöhnliche Panaschierungen auf den Blättern der Speicherpflanzen auftauchen, beginnt Aylin auf dem Schwarzmarkt Profit daraus zu schlagen, um sich ihren Wunsch zu erfüllen. »Phytopia Plus« ist eine gesellschaftskritische Reflexion einer nicht allzu weit entfernten Zukunft.
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Seitenzahl: 309
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Brütende Hitze, Artensterben, Dürreperioden und leere Regale im Supermarkt: Für die Menschheit sieht es in den 2040er Jahren nicht allzu rosig aus. Zumindest nicht für den ärmeren Teil der Bevölkerung. Wer Geld hat, lebt in komfortablen, eingezäunten Siedlungen mit eigenem Biosupermarkt und könnte die Klimakrise überleben, indem das Bewusstsein digitalisiert und auf der DNA einer Pflanze gespeichert wird. Die Drosera AG, ein Biotech-Konzern mit Sitz in Hamburg, vermarktet ein solches Verfahren.
Aylin gehört nicht zu den Menschen, die sich so etwas leisten können. Sie arbeitet als Aushilfsgärtnerin in den Gewächshäusern der Drosera AG und tauscht mit Besserverdienern seltene Zierpflanzen gegen frische Lebensmittel. Als ungewöhnliche Panaschierungen auf den Blättern der Speicherpflanzen auftauchen, beginnt Aylin auf dem Schwarzmarkt Profit daraus zu schlagen, um sich ihren Wunsch zu erfüllen, für ihren Großvater ebenfalls eine Pflanze zu sichern.
»Phytopia Plus« ist eine gesellschaftskritische Reflexion einer nicht allzu weit entfernten Zukunft.
Zara Zerbe, geboren 1989 in Hamburg-Harburg, hat Literatur- und Medienwissenschaften studiert und lebt als freie Autorin in Kiel. Sie ist Mitherausgeberin des Literaturmagazins »Der Schnipsel« und veranstaltet die »Lesebühne FederKiel« in der Hansa48 in Kiel. Ihre Erzählung »Limbus«, für die sie mit dem Preis »Neue Prosa Schleswig-Holstein 2018/2019« ausgezeichnet wurde, ist 2020 im Sukultur Verlag erschienen. 2021 erschien die Novelle »Das Orakel von Bad Meisenfeld« im stirnholz Verlag. 2022 wurde sie mit dem Kunstförderpreis des Landes Schleswig-Holstein ausgezeichnet. »Phytopia Plus« ist ihr Debütroman.
Zara Zerbe
Roman
VERBRECHER VERLAG
Oh, dass ich doch nur eine Pflanze werde
Oh, dass mir dieser enge Stängel verholzt
Kein keckerndes Lachen, keine Gebärde
Kein Bein mehr, kein Fleisch, kein Stolz
Charlotte Brandi: Wind
»Aber guck doch nur, das Paradies ist ja ›draußen‹!«
O, wie arm sind wir in unserer Geborgenheit auf freien
Füßen gegen den kleinsten Baum, den unscheinbarsten
Strauch, die einfachste Blume, deren Wurzel mit der
weiten Erde Schritt hielt, zusammengewachsen wächst –
so läßt sichs im Großen leben und rauschen!
Else Lasker-Schüler: Konzert
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Nett ist es hier. Wir müssen nur aufpassen, es nicht gleich zu
übertreiben. Die Wurzelspitzen sagen, dass es nicht mehr weit ist bis
zur Wand. Aber vielleicht erledigt sich das Problem auch von selbst.
Oder sie finden einen anderen Weg.
Sie finden doch immer einen Weg.
Wir haben ja auch hierher gefunden.
Zum Glück. Es ist nett hier. Unkompliziert.
Ja.
Wisst ihr noch: dieses Gefühl, jetzt sofort austreiben
zu müssen, und dann plötzlich diese Kälte?
Ja. Alle Blüten erfroren, und für neue hatte ich keine Kraft.
Und der Regen. Zuerst war er gut, dann hat er
uns den Boden unter den Wurzeln weggespült.
Du warst doch gar nicht dabei?
Nein, aber ich erinnere mich trotzdem.
Ja, ich mich auch. An Sonnenbrand.
Und an Insekten. Ich habe versucht, die anderen
zu warnen, es war allerdings zu spät. Es waren zu viele.
Uh. Gibt es hier Insekten?
Noch keine bemerkt.
Immer nur diese großen Wesen.
Die sind okay.
Ja. Je kleiner, desto gefährlicher. Wissen wir doch.
Und die Großen bringen ja immer was mit.
Andere Luft. Oder etwas Gutes für den Boden.
Ich bin meistens ziemlich satt, wenn die wieder gehen.
Ich weiß nicht. Neulich haben sie etwas von mir abgeschnitten.
So schlimm ist das doch gar nicht. Haben sie bei mir auch.
Wenn die Wunde verheilt ist, wachse ich einfach weiter.
Aylin hat noch nie einen Waschbären gefangen. Allerdings kennt sie auch niemanden, der oder die eine Lebendfalle besitzt, weder in ihrer Familie noch irgendwo in der Nachbarschaft. Unter Lebendfallenbesitzer*innen erzählt man sich, dass die Menschen in den Stadtvierteln südlich der Elbe gelegentlich Waschbären äßen. Dort wiederum kennt man dieses Gerücht und kann darüber nur lachen.
Für ein Schulprojekt hat Aylin einmal einen Businessplan für einen fiktiven Wilhelmsburger Waschbärengrill geschrieben und sich damit einen Eintrag ins Klassenbuch eingehandelt. Der Zettel mit dem Firmenmaskottchen, das ihre Freundin Samira entworfen hat, ein Waschbär mit Grillzange in der Pfote, hat einige Umzüge mitgemacht und hängt nach wie vor an ihrem Kühlschrank. »Der sieht dir ziemlich ähnlich«, hat einmal ein Hafenarbeiter gesagt, der sich nur so kurz in ihrem Leben aufgehalten hat, dass sie nicht herausfinden konnte, ob das als Kompliment gemeint war.
Wenn Waschbären die Wahl hätten, würden sie sich wohl in einem Laubwald voller Eichen niederlassen, der sich im Idealfall an ein bequem zugängliches Seeufer schmiegt, aber in den sumpfigen Elbuferlandschaften, die sich in den letzten Jahrzehnten gebildet haben, kommen die anpassungsfähigen Beutegreifer ebenfalls gut zurecht. Vor allem, wenn die nächste Restmülltonne nicht zu weit entfernt ist. In den Gebieten rund um die Elbinseln leben wahrscheinlich doppelt so viele Waschbären wie Menschen. Sobald die Sonne hinterm Horizont verschwunden ist, hört man sie in den Hinterhöfen randalieren. Das Gerücht, dass eine Waschbärenkolonie ein leerstehendes Haus am Kattwykdamm besetzt hat, hält sich seit Jahren so hartnäckig wie ungeprüft. Vereinzelt wandern sie auch in den Norden der Stadt und schlüpfen durch die Gitterstäbe rund um die Quartierparks, doch das Hocheffizienz-Abfallentsorgungssystem und die Zierkanäle, denen eine naturähnliche Uferböschung fehlt, bieten den Tieren nur wenig Nahrung. Trotzdem haben die meisten Menschen, die dort wohnen, eine Lebendfalle in der Abstellkammer stehen.
An einem Abend kurz nach Neujahr beobachtete Aylin einen Waschbären, der ungeschickt versuchte, die Restmülltonne im Innenhof auszuräubern. Wahrscheinlich ein Jungtier, zumindest schien der Kleinbär die Tricks seiner Artgenossen, die den Deckel anheben können, ohne dabei vom Rand der Tonne zu purzeln, noch nicht gelernt zu haben. Am nächsten Morgen ging sie nachschauen, wie viel Chaos das Tier über Nacht angerichtet hatte, und beseitigte alles, bevor die Nachbar*innen davon Wind bekamen.
Manche Waschbären neigen dazu, auf Nahrungssuche die Nerven zu verlieren und Mülltonnen, die sich nicht anders öffnen lassen, einfach umzuschmeißen. Aylin ist es von klein auf gewöhnt, zu den entfernten Rumpelgeräuschen hungriger Waschbären einzuschlafen. Wie an diesem Abend, fragt sie sich von Zeit zu Zeit, ob sie jemals ein Leben führen wird, in dem Waschbären keine bedeutende Rolle mehr spielen.
Im Supermarkt gab es heute wieder nur Proteinflocken und Kokosfettriegel mit Zink und Vitamin C, und auf dem Heimweg musste sie schwitzen, obwohl sie nur in einer Übergangsjacke unterwegs war. Einerseits ist die Lage also so aussichtslos wie immer. Andererseits hat sie drei ungelesene Nachrichten bei Pidgin.
Lydia weiß um die zeitliche Begrenztheit ihrer Existenz. Sie hat früh damit begonnen, Geld zur Seite zu legen, sogar, als sie sich noch von einem befristeten Arbeitsvertrag zum nächsten gehangelt hat. Für die Rente und für die Zeit danach, denn niemand soll sich für die Verwaltung ihres Körpers in Unkosten stürzen. Ein paar Tage nach ihrem zweiundsiebzigsten Geburtstag blättert sie zum Zeitvertreib in einem alten Buch, Die Einwurzelung von Simone Weil. Die Sätze kommen ihr sperrig vor, sie muss alles dreimal lesen, im Kopf verknoten sie sich dennoch. Auch die Anmerkungen, die sie vor vierzig Jahren mit einem dünnen Bleistift an den Seitenrand geschrieben hat, sagen ihr heute nicht viel. Sie beschleicht ein seltsames Gefühl, das sie vor allem aus der Zeit kennt, in der Richard ganz allmählich aus ihrem Leben verschwunden ist: Dass etwas vergeht, und nichts auf der Welt dies aufhalten kann. Fraglich nur, ob es sich dabei um ihre Beziehung zu Simone Weil handelt oder schlimmer: um ihren Verstand. In einer der oberen Regalreihen in ihrem Arbeitszimmer setzt ihre Habilitationsschrift Staub an.
Sie erinnert sich an einen Artikel, den sie vor Jahren an eine jüngere Kollegin aus der Bioethik weitergeleitet hat. Ein Interview mit einem Neurobiologen oder Bioinformatiker, dessen Team ein Verfahren entwickelt hat, das Bewusstsein aus dem Gehirn herauszukopieren und in Pflanzenzellen zu speichern.
Länger bleiben mit Phytopia Plus steht auf der Website des Instituts, das sich dieses Verfahren hat patentieren lassen.
»Damit die Gedanken der Oberschicht die Zeiten überdauern!«, hatte ihre Kollegin damals kommentiert. »Gibt es eigentlich noch Trauermücken? Oder Thripse?«
Weder aus dem Interview noch von der Website waren konkrete Preise zu entnehmen, also hatte die Kollegin vermutlich recht. Das nächste Beratungszentrum für Speicherwillige ist allerdings nur ein paar Stunden mit dem Zug entfernt. Sie bucht einen Termin. Die abschätzigen Worte der Kollegin schiebt sie weit weg von sich.
Nach einer halben Stunde im Gewächshaus beginnen Joes Haare, in dichten, schwitzigen Zotteln von seinem Kopf abzustehen. Er hätte sich längst wieder einen Buzzcut rasiert, wenn Aylin nicht jedes Mal auf die Barrikaden gehen würde.
»Die schönen Haare! Du siehst viel süßer aus mit mehr Haaren. Deine Kopfform ist sonst so komisch.«
Aylin lässt sich ihren Pony rauswachsen, weil sie es nicht mehr ertragen kann, dass er spätestens zur Mittagspause in drei schwungvollen, aber gescheiterten Kringeln an ihrer Stirn klebt. Dass Joe sie auch mit Klebepony schön findet, ahnt sie, lässt sich jedoch nichts anmerken. Wie häufig sie miteinander über ihre feuchtigkeitsbedingten Frisurprobleme sprechen, während sie ihre Kontrollgänge durch den endlosen Gewächshäuserkomplex der Drosera AG machen, käme Außenstehenden sicher absurd vor. Frizz wegen zu hoher Luftfeuchtigkeit ist in der Welt außerhalb der milchigen Glaswände des Betriebs schon seit Jahren kein Thema mehr.
In Haus 3 scannt Aylin die Setzlinge und diktiert Joe einige Stichworte für den Tagesbericht. Die Zierpfefferpflänzchen entwickeln sich entsprechend den Erwartungen, während die Glückskastanien und die Efeututen etwas hinterherhängen. Doch auch sie werden in zwei Wochen groß genug sein, um ein paar Zusatzinformationen zu ihrer eigenen DNA aufzunehmen. Vorsichtig benetzt Aylin die zarten Blätter mit Nebel aus einem Zerstäuber.
»Easy, nicht dass die Erde zu schimmeln anfängt.« Joe klickert ungeduldig mit dem Kugelschreiber in seiner Hand. »Wir müssen außerdem noch Proben nehmen.«
350.000 Euro, teurer als erwartet, doch wenn sie ihre Wohnung verkauft, sollte es zusammen mit ihren Ersparnissen ausreichen. Für die letzten Jahre tut es auch eine kleine Mietwohnung am Stadtrand. Ihre Bibliothek könnte noch ein oder zwei Tausender zusätzlich einbringen, doch die soll ihre Nichte bekommen, die als Einzige in der Familie nicht dem Minimalismus anheimgefallen ist.
Wie sie ihre Entscheidung wohl aufnehmen werden? Ob sie es verstehen werden, allein technisch? Den Ausführungen von Dr. Fichte kann sie selbst kaum folgen, aber sie gibt sich Mühe.
»Für die Heterözie wird Ihr Bewusstsein in einen Datensatz umgewandelt und an die Histone der Trägerpflanze angedockt. Wir haben dafür einen speziellen Biochip entwickelt. Der wird in Ihrem Neocortex, also in der Hirnrinde, implantiert. Nach Ihrem Tod setzen wir diesen Biochip in das Scheitelmeristem einer Pflanze Ihrer Wahl ein. Das ist der Gewebeteil von Pflanzen, an dem Zellteilung und damit das Wachstum stattfindet. Vorher legen wir selbstverständlich ein Backup Ihres Datensatzes auf einem unserer Server an, obwohl die Datensicherheit auf unseren Pflanzenspeichern im Fall eines Blackouts deutlich höher ist als in einem anorganischen Datacenter, aber eine doppelte Absicherung hat ja noch niemandem geschadet. Und wir erstellen ein Abbild Ihres Konnektoms, also einen Netzplan Ihrer Synapsen, das in den Zellvakuolen gespeichert sein wird.«
Das Gedächtnis der Pflanzenzelle, immerhin das kennt sie. Vielleicht weiß sie es noch aus der Schule, Zellbiologie, zehnte Klasse.
»Dazu machen wir eine Magnetenzephalographie. Wenn Sie den Vertrag unterzeichnet haben, bekommen Sie direkt einen Termin dafür.«
Dr. Fichte mustert sie durch seine Brille, deren hauchdünne Gläser sie als reines Modeaccessoire entlarven. Für gewöhnlich hätte Lydia darüber die Nase gerümpft, seine ganze Erscheinung dem Trend zur Zwanzigstes-Jahrhundert-Romantik zugerechnet, den auch die letzte Dürreperiode nicht dahinraffen konnte. Heute fragt sie sich, wie es sich anfühlen wird, angestarrt zu werden, wenn ihr Bewusstsein erst im Pflanzenspeicher steckt.
»Sie sollten sich zeitnah einen Termin geben lassen.« Dr. Fichte legt noch eine Broschüre zu den Vertragsunterlagen. »Je mehr Ihr Gehirn an Leistungsfähigkeit eingebüßt hat, desto weniger können wir aufbewahren.«
Habt ihr das gespürt?
Ja.
Wie fühlt ihr euch?
Schwer zu sagen. Irgendwie hybrid vielleicht.
Ich werde die Produktion von Sauerstoff so lange
einstellen, bis ich herausgefunden habe, was passiert ist!
Ach komm. Ein Hauch von Kohlenstoffdioxid und
deine Chloroplasten drehen frei. Wir kennen dich doch.
Aber irgendwas haben die doch gerade mit uns angestellt!
Ja, schon.
Ich würde gerne die anderen warnen, ich fühle mich nur so blockiert.
Sonst hätte ich schon etwas Genaueres gefunkt.
Vielleicht brauchst du ein bisschen Ruhe?
Vielleicht doch keine Photosynthese mehr für heute!
Ja.
Ja.
Ja.
Also streiken wir?
Wenn ich so darüber nachdenke,
fühle ich mich auch ein bisschen blockiert.
Was machen wir jetzt?
Normalerweise würden wir einfach drum herum wachsen.
Oder in eine andere Richtung.
Je nachdem, wo die Sonne gerade steht.
Ja, genau.
Ist euch mal aufgefallen,
dass die Sonne hier immer scheint?
Ja, seltsam. Aber eigentlich doch ganz in Ordnung.
Ich würde mich darüber jedenfalls nicht beschweren.
Ich möchte mich beschweren
über meine Vakuolenschmerzen!
Vakuolenschmerzen. Findest du nicht,
dass du es übertreibst?
Pssst! Könnt ihr bitte alle einfach mal leise sein?
Ich lerne gerade etwas Neues.
Was denn?
Weiß ich noch nicht genau. Muss ich sehen,
wenn es fertig ist. Habe zwar nicht danach gefragt,
aber wer weiß, wozu das gut ist.
Zellenzwicken. Vielleicht habe ich
auch Zellenzwicken.
Ruhe jetzt! Ich muss mich konzentrieren.
In Haus 4 sind gerade eingezogen: ein ehemaliger Kapitän, eine Anwältin, ein Krimiautor, ein Ehepaar, das den Partnergutschein aus dem vergangenen Jahr genutzt hat, eine Mathe- und Französischlehrerin, ein Chefredakteur einer überregionalen Zeitung, ein Berufssohn und eine Philosophieprofessorin. Aylin und Joes übliche Klientel; für die echten VIPs werden die Aushilfen nur in absoluten Ausnahmefällen eingeteilt.
Die Pflanzen sind noch nicht ganz aus der kritischen Phase heraus, also jeden Tag eine Bodenprobe, die spätestens um 14 Uhr im Labor sein muss, daher keine Hektik, das junge Wurzelwerk verträgt keine Verletzung, vor allem nicht so kurz nach der Heterözie. Manchmal hegt Aylin den Verdacht, Dr. Fichte könne ein Hochstapler sein. Auch Joe hat diesen Gedanken, doch beide trauen sich nicht, ihn laut auszusprechen. Schließlich zahlt die Drosera AG den bereits seit Jahren ausgesetzten Mindestlohn, und an den Wänden der Gewächshäuser perlt alles ab, was sie draußen ertragen müssten: die staubtrockene Frühjahrshitze, dass die Lebensmittel, die sie sich leisten können, höchstens Nutri-Score C erreichen und dass Krähen, Tauben, Ratten, Waschbären, Kakerlaken, Fliegen und Mücken die einzigen für sie sichtbaren Tiere sind, die die späten zwanziger Jahre überlebt haben.
Wenn sie sich voneinander unbeobachtet fühlen, halten sie ihre Fingerspitzen, Wangen oder Ohren ganz nah an die Blätter der Pflanzen. Vielleicht gibt es Schwingungen oder andere, ganz versteckte Signale, die ihnen verraten, dass Dr. Fichte doch kein Betrüger ist. Aylin versucht es vorsichtig bei dem Zierpfeffer, in dem die Philosophieprofessorin gespeichert sein soll.
Ihr Großvater Harun hatte Philosophie studiert, bevor er zu Fuß nach Hamburg aufgemacht hat, um Aushilfsgärtner zu werden. Heute ist sein Rücken kaputt, und die Hitze macht ihm jedes Jahr mehr zu schaffen. Sie schließt kurz die Augen, konzentriert sich auf die Pflanze, streicht sogar heimlich über die glatte Oberfläche der herzförmigen Blätter. Kein Signal, keine Schwingung, nur ein seltsames Gefühl von Verbundenheit. Joe scharrt ungeduldig mit seinen Füßen und erinnert sie daran, dass das Labor demnächst schließt.
Aylin zwirbelt die Haare des Pinsels, mit dem sie hin und wieder ihre Zimmerpflanzen entstaubt, zwischen Daumen und Mittelfinger. Die Haare sind dunkelbraun mit hellen Spitzen, die golden in der Abendsonne schimmern. Sie hat einmal aufgeschnappt, dass solche Pinsel früher aus Haaren von echten Tieren hergestellt wurden, aber sie weiß nicht genau, in welchem Abschnitt von früher. Die Spitze ihres Entstaubungspinsels könnte jedenfalls gut aus dem Fell des ausgestopften Marders bestehen, das sie als Kind einmal im Naturkundemuseum bewundert hat. Weiß wer, ob es lebendige Marder überhaupt noch gibt?
Um die improvisierte Rankhilfe am Fenster windet sich ein Philodendron. Aylin entfernt einige Staubflusen von den größeren Blättern, die sattgrün leuchten, manche sogar mit einer dunkelroten Spitze. Eigentlich wäre es am Fenster zu hell, würde das Einkaufszentrum gegenüber nicht jedes Bisschen direkten Sonnenlichts rigoros wegblocken. Immerhin spiegelt die Glasfront zuverlässig ein wenig Abendsonne ins Zimmer. Manchmal wundert sie sich darüber, dass in all den Jahren, in denen die Elbpassagen leer stehen, niemand auch nur eine der Scheiben zerschlagen hat. Sie könnte die Erste sein, die einen Pflasterstein mit einem gekonnten Wurf in der glatten Spiegelfläche versenkt und Gänsehaut vom Klirren der Glassplitter bekommt. Aus ihrer Wohnung im dritten Stock hätte sie sogar einen guten Winkel, aber Sachbeschädigung im Führungszeugnis hieße: Rauswurf bei der Drosera AG. Und sie lebt bereits gefährlich mit ihren Zimmerpflanzen. Obwohl in ihrem Arbeitsvertrag kein explizites Heimpflanzenverbot festgeschrieben, sondern eher ein freiwilliges Pflanzenverzichtsgebot formuliert ist, fürchtet sie, dass ihr Arbeitgeber von ihrer recht beeindruckenden privaten Pflanzensammlung erfahren und sie tatsächlich vor die Tür setzen könnte. Seit längerer Zeit hat sie ihren Glimpse-Account auf privat gestellt und trotzdem alle Pflanzenpostings gelöscht, sicher ist sicher. Fotos macht sie nur noch außerhalb ihrer Wohnung oder in der einen neutralen Ecke in ihrem Zimmer, die sie extra dafür freigeräumt hat.
Auf der Fensterbank in der Küche, vor der obligatorischen Sonnenschutzfolie, die nur wachstumsfreundliche Lichtstrahlen hinein und neugierige Blicke draußen lässt, stehen immer ein paar Stecklinge zum Bewurzeln in Wassergläsern. Sie besitzt ein paar recht seltene Gewächse, die aktuell nur schwer im offiziellen Handel zu bekommen sind. Wenn die Stecklinge so weit sind, dass sie eingepflanzt werden können, tauscht Aylin sie bei Leuten aus den nördlichen Stadtteilen gegen etwas Obst oder Gemüse und hofft, dass sie dabei niemals auf jemanden aus der Chefetage trifft. Zwar kennt niemand von denen ihr Gesicht, aber sicher ist sicher.
Als sie die Peperomia auf ihrem Nachttisch inspiziert, bemerkt sie einige zartgrüne, noch halb zusammengerollte Blätter, die in den letzten Tagen den Weg ans Licht gefunden haben. Sie wird die Pflanze bald wieder umtopfen müssen, wenn sie so weiterwächst. Wenn sie die Möglichkeit hätte, Dr. Fichtes obskures Gehirnspeichersystem zu nutzen, wäre das die Pflanze, auf der sie das Bewusstsein von ihrem Großvater verewigen würde. Vielleicht kein ganz so beeindruckendes Gewächs wie zum Beispiel ihre Strelitzie, doch widerstandsfähig ohne Ende und einfach zu vermehren. Sein unendliches Wissen über Insekten, seine merkwürdigen, doch effektiven Methoden, um alles Mögliche zu reparieren und die ungeheuerlichen Dinge, die er als junger Mann zwischen Mostar und Hamburg erlebt hat und die ihr als Kind noch wie Abenteuergeschichten vorkamen, wären hier sicher aufbewahrt. Insofern hat die Philosophie-professorin aus Gewächshaus 4 eine ganz gute Wahl getroffen, findet Aylin. Wenn es denn funktioniert. Oder vielmehr: Wenn sie nur verstünde, wie die Prozedur genau funktioniert. Sie steckt den Pinsel zurück in den Plastikbecher mit den vertrockneten Filzstiften, der auf ihrem Schreibtisch steht, und tippt eine Nachricht in ihren Nexolino.
Hey Großväterchen, lange nicht gesehen! Wie wäre es, wenn ich am Sonntag zum Tee komme?
Hallo. Hast du noch Stecklinge von der Calathea und wenn ja, was möchtest du dafür? Wäre interessiert. Viele Grüße, Maria
Hallo Maria, ich habe noch drei Stück, möchtest du die alle haben? Wenn du zufällig an frisches Obst oder Gemüse kommst, können wir gern einfach tauschen. Viele Grüße, Aylin
Hallo Aylin, das sollte kein Problem sein. Hast du bestimmte Präferenzen?
Ich bin allergisch gegen Ananas, sonst bin ich für alles offen.
Wunderbar. Ich schaue einfach, was gut aussieht, und bringe es mit. Soll ich die Stecklinge bei dir abholen?
Nicht nötig.
Aylin lässt sich Marias Standort bei Pidgin anzeigen. Dann öffnet sie BotOrNot und gibt dort den Link zu Marias Profil ein. Zu 99,8 % eine reale Person. Gut, das hätte sie an dem Schattenwurf auf Marias Profilbild erkennen können, aber sicher ist sicher. Sie kennt genug Menschen, die bei ihren Pidgin-Geschäften auf die Bots der Gewerbepolizei hereingefallen sind, die bei Tauschhandel mit Lebensmitteln keinen Spaß verstehen.
Ich bin heute eh in der Gegend, also können wir uns am Tor in der Erikastraße treffen? 19 Uhr?
Abgemacht. Bis später!
Aylin biegt genau in dem Moment um die Ecke zur Erikastraße, als eine mittelblonde Frau mit schulterlangen Haaren das massive Eisentor zur Siedlung dahinter mit einem Transponder öffnet und dem Wachpersonal freundlich zunickt. Aus der braunen Papiertüte, die sie in ihrer linken Hand trägt, ragt gut sichtbar eine Stange Lauch. Die Frau bleibt einige Meter neben dem Tor stehen und schaut sich suchend um. Maria, ganz eindeutig. Aylin drosselt den Laufschritt, in den sie immer fällt, wenn sie aus der S-Bahn steigt. Wer einen S-Bahnhof nicht in Windeseile verlassen will, macht sich verdächtig, und Aylin fühlt sich mit den Stecklingen im Rucksack verdächtig genug.
»Ich hoffe, das ist okay so!« Maria hält Aylin zur Begrüßung die Papiertüte unter die Nase. Kartoffeln, Äpfel, eine Gurke, ein paar Tomaten, die Stange Lauch und sogar eine Orange, verhältnismäßig viel Tauschgut für drei mickrige Stecklinge, die noch nicht ausreichend bewurzelt sind, doch das sagt Aylin nicht. Sie zieht den kleinen Geschenkkarton, in dem sie die Stecklinge verpackt hat, aus dem Rucksack. Das wird unauffällig genug aussehen, denkt sie. Es könnte ja gut sein, dass Maria gerade Geburtstag hatte, und dass sie nur einer Freundin mit ein paar Organics aushilft. Wer auch immer die Bilder der Überwachungskameras rund um den Zaun auswertet, wird mit den andauernden Lieferengpässen vertraut sein.
»Ich würde sie noch zwei oder drei Tage ins Wasser stellen.« Zumindest hofft Aylin, dass sie damit richtig liegt. »Die mögen außerdem kein direktes Sonnenlicht und keine Mittagshitze. Aber hell sollten sie stehen.«
Maria nickt aufmerksam. Sie hat das frischeste Gesicht, in das Aylin seit langem geblickt hat. Kaum Augenringe, nur ein paar Lachfältchen, rosige Wangen, als hätte sie gerade einen langen Spaziergang in der lauen Frühlingsluft hinter sich, die hier tatsächlich nach Frühling duftet, vielleicht ist es aber auch nur Marias Parfum.
»Die bekommen einen tollen Platz in der Loggia«, sagt Maria.
»Ja, da steht meine auch.«
Alle Pflanzensammler*innen aus der Nordstadt scheinen eine geräumige, verglaste Loggia zu haben, und Aylin tut bei ihren Tauschgeschäften gern so, als wäre sie eine von ihnen. Ich war eh eine Freundin im Hansequartier besuchen, die hat keine Loggia, aber riesige Fenster nach Süden raus! Die hat einen richtigen Urwald im Wohnzimmer. Na ja, der Laden bei uns im Quartier hat nicht genug Tomaten bestellt, aber voll lieb, dass du mir da aushelfen kannst. Ich will heute unbedingt noch Bruschetta machen. Aylin kann es sich genau vorstellen: ganz beiläufig eine Fluse vom Fibroid-Pulli schnipsen, den Nexolino-Clip geraderücken und zurück in die eigene eingezäunte Welt, den Pförtner freundlich grüßen und die übrige Stadt draußen lassen, mit dem Fahrstuhl in die helle Maisonettewohnung, die Einkäufe in den Kühlschrank räumen, die Pflanzen in der Loggia gießen und sich dann zurücklehnen oder was man dort sonst so macht.
Sie bedankt sich bei der Nordstädterin, die nicht einmal kurz in die Geschenkverpackung lugt, und versucht, noch einen Blick ins Innere des Quartiers zu erhaschen, bevor Maria wieder hinter dem Gittertor verschwindet. Auf dem Gehweg spiegelt sich grünes Licht, es könnte die Leuchtreklame einer Organic-Allstars-Filiale sein. Die muss ich mir warmhalten, denkt Aylin. Welche Pflanzen könnten Menschen, die Calathea-Stecklinge gegen Obst tauschen, als Nächstes interessieren? Die skeptischen Blicke des Pförtners, die gerade vom beiläufigen Herumschweifen zur beflissenen Ausführung seines Jobs übergehen, erinnern sie daran weiterzuziehen. Also zurück zum S-Bahnhof. Als das Eingangstor außer Sichtweite ist, verstaut sie ihre Ausbeute vorsichtig im Rucksack. Der Lauch ist zu lang, sie muss die oberen Blätter etwas umbiegen, damit sie den Reißverschluss zuziehen kann.
Am Gleis ist nicht mehr viel los. Ein paar Menschen in Arbeitskleidung schauen mit müden Augen auf die Leuchtanzeige, zwei Männer unterhalten sich mit gedämpften Stimmen, eine Frau mit Sorgenfalten auf der Stirn kramt in den Taschen ihres Parkas. Niemand von ihnen sieht so aus, als würde er oder sie hinter einem der großen Metalltore um die Ecke wohnen. Aylin ist froh, dass sie die verflixte Lauchstange noch im Rucksack verstecken konnte. Sie wäre hier ungern mit frischen Lebensmitteln im Gepäck aufgefallen, schließlich ist sie ja eine von ihnen, die Frau mit dem Parka wohnt vielleicht sogar bei ihr um die Ecke. In der S-Bahn sitzen sie sich gegenüber und vermeiden Blickkontakt. Vielleicht arbeitet die Frau in dem Organic Allstars, den Aylin aus der Ferne hat schimmern sehen. Oder sie putzt die Fenster in den Wohnungen der Menschen, die dort einkaufen gehen können. Diese Wohnungen müssen eine Menge Fensterfläche haben, so viele Pflanzen wie deren Bewohner*innen dort anscheinend unterbringen können. Bestimmt gedeihen in solchen Wohnungen sogar Anthurien. Neben Orchideen die einzige Pflanze, an der Aylin immer wieder scheitert.
Das magnetische Surren der Schienen lässt ihre Augenlider schwer werden. Sie lehnt sich mit dem Kopf gegen das Fenster und träumt von einem Raum aus Glas, der von oben bis unten von großblättrigen Kletterpflanzen ausgefüllt wird. Das einzige Möbelstück, das hier noch Platz hat, ist ein altmodischer Ohrensessel, auf dem sie von der Abendsonne gewärmt wird, während sie in einem Buch blättert.
Erst auf der Willy-Brandt-Brücke schreckt sie aus ihren Träumen hoch. Wie lange hat sie geschlafen? Die untergehende Sonne spiegelt sich auf der Elbe und in der Fassade des Warburg-Towers. Moderne Büroräume und Wohnungen zu vermieten!, schreien rote Neonbuchstaben in den Fenstern. Aylin beobachtet, wie die Frau im Sitz gegenüber diesen Schriftzug studiert. Sie sieht nicht aus, als ob sie das Angebot locken würde. In den unteren Stockwerken des Panzerglasturms befinden sich sogar Sozialwohnungen, vielleicht die einzigen bezahlbaren vollverglasten Wohnungen in der Stadt; dass man durch die Fenster immer nur geradewegs in das dunkle, trübe Elbwasser schaut, hält jedoch sicher niemand auf Dauer aus.
Als Aylin das alte Hansebaumarkt-Schild aus der Elbe ragen sieht, steht sie langsam auf und bewegt sich in Richtung Ausgang. Ihre Füße tragen sie wie automatisch durch die Unterführung, vorbei an dem leerstehenden Shoppingcenter, das ihr den Weg in ihre Wohnung weist. Bevor sie in den Hauseingang einbiegt, schaut sie noch einmal über ihre Schulter. Sie könnte schwören, dass sie gerade Licht in den Elbpassagen gesehen hat.
Großvater sitzt bereits auf der Bank vor seinem Wohnblock, als Aylin mit ein paar Minuten Verspätung zu ihrer Verabredung eintrifft.
»Wir machen einen Spaziergang«, sagt er zur Begrüßung. »Du darfst nur nicht wieder so rennen. Das Wetter ist ja so schön.«
»Du hast nicht aufgeräumt, oder?«
»Da hast du mich ertappt«, gibt Großvater zu und erhebt sich mit knackenden Kniegelenken von der Bank.
»Für mich musst du wirklich nicht aufräumen, das weißt du doch. Aber schön, gehen wir spazieren.«
Gemeinsam gehen sie die Straße herunter in Richtung Stadtpark. Aylin muss sich Mühe geben, ihre gewohnheitsmäßig schnellen Schritte zu einem gemütlichen Schlendern zu drosseln.
»Es ist fast wie am Meer«, seufzt Großvater und lässt seinen Blick über den Stadtparkteich schweifen, der noch nicht unendlich nach Eutrophierung stinkt. Offenbar haben sie sich für ihren Spaziergang einen der drei, vier perfekten Tage im Jahr ausgesucht, an denen der Winter den Zangengriff um Großvaters Gelenke gelockert hat und er noch seinen Frieden vor der unbarmherzigen Sommerhitze genießen kann.
»Ich war gestern Abend schon hier«, erzählt Großvater. »Und ich habe einen Frosch gehört!«
»Einen Frosch? Bist du dir sicher?«
»Ich habe mich gewundert. Es ist viel zu früh im Jahr.«
»Glaubst du wirklich, dass es hier noch Frösche gibt? In der Ekelpfütze dort?« Aylin schüttelt sich. Einmal hat sie beobachtet, wie eine Gruppe Menschen unter vollem Körpereinsatz die unterschiedlichsten Dinge aus dem Teich geangelt hat. Fahrräder, reihenweise E-Scooter, diese altmodischen Einkaufswagen, eine ganze Menge Elektrogeräte und einen riesigen Haufen undefinierbarer Holz- und Metallteile. Schrott, würde man vielleicht sagen, und die meisten Dinge waren mit einer schleimigen Algenschicht überzogen. Am allermeisten ist ihr der Verwesungsgeruch im Gedächtnis geblieben, und dass absolut nicht erkennbar war, ob diese Menschen einer bestimmten Gruppe angehörten – sie waren keine erkennbaren Aktivist*innen und erst recht niemand vom kommunalen Ordnungsdienst, den Aylin ohnehin nur vom Hörensagen kennt. In den Vierteln südlich der Elbe hat sie so etwas noch nie gesehen, und in den eingezäunten Quartieren im Norden gibt es meistens einen privaten Ordnungsdienst, der dort ganz bestimmt überflüssig ist. Sicherlich nicht die schlechteste Arbeit, doch ihren Job im Gewächshaus würde sie gegen keinen anderen eintauschen wollen. Was wohl mit all dem Zeug aus dem Teich passiert ist? Schade, dass sie nicht nachgeschaut hat, ob etwas davon bei Pidgin gelandet ist. Dafür, dass das hier ein gutes Habitat für Frösche sein soll, spricht nichts. Ob der Großvater tüdelig wird? Frösche hören, wo keine sind, ist jedenfalls kein gutes Zeichen.
»Wie läuft es bei deiner Arbeit?«, fragt Großvater. »Macht es dir noch Spaß?«
»Ich find’s immer noch gut. Jedenfalls besser als alle Jobs vorher.«
»Du bist dort nur für Zierpflanzen zuständig, oder?«
»Nur Zierpflanzen«, bestätigt Aylin, obwohl sie sich gar nicht sicher ist, ob das stimmt. »Zählen Bäume als Zierpflanzen? Wir haben auch ein Waldgewächshaus. Mit Waldbäumen.«
Großvater runzelt nachdenklich die Stirn. »Wenn sie keine Obstbäume sind, vielleicht. Aber Gemüse pflanzt ihr immer noch nicht?«
»Immer noch nicht, nein. Vielleicht in anderen Abteilungen, aber nicht bei mir.« Aylin schüttelt den Kopf. Wer würde sich denn auf einer Pflanze speichern lassen, die nach der ersten Blüte eingeht?
»Es gibt doch gar keine mehrjährigen Gemüsesorten. Oder?«
»Doch, doch«, ereifert sich Großvater. »Ewiger Kohl zum Beispiel.«
»Ewiger Kohl! Was soll das für ein Name sein? Darauf würde sich doch niemand speichern lassen.«
»Stimmt, besonders edel klingt das nicht. Aber wozu sollte man sich bei euch speichern – für ewiges Leben? Dafür wäre Giersch die beste Pflanze. Den wird man nie wieder los.«
»Giersch hat sich bisher tatsächlich niemand ausgesucht.«
»Sei froh! Aber ich verstehe ohnehin nicht, was da in euren Gewächshäusern passiert. Ist wohl doch was anderes als damals bei uns im Gemüsetunnel.«
Großvater bleibt auf dem Schotterweg stehen und reibt sich mit den Handflächen über den unteren Rücken.
»Sollen wir eine Pause machen?«, fragt Aylin, die seine Bewegungsabläufe auswendig kennt.
»Unbedingt«, antwortet er und steuert die nächste Parkbank an.
»Man müsste jetzt anfangen, Tomaten vorzuziehen. Heute wäre der perfekte Tag zum Samen einsetzen«, erzählt er, während er sich vorsichtig auf der Sitzfläche niederlässt und seine steifen Knie ausstreckt. Die Hacken seiner abgelaufenen Schuhe hinterlassen Furchen im staubigen Boden. Wenn Aylin keinen Kalender hätte, wüsste sie spätestens jetzt, dass der Februar fast vorbei ist. Dieses Gespräch führen sie jedes Jahr um diese Zeit. In zwei oder drei Wochen wird Großvater auf Gurken, Zucchini und Auberginen zu sprechen kommen und sich ab Anfang April über die Gemüsesorten auslassen, die er früher noch direkt ins Freiland setzen konnte. Damals, bevor sein Kleingarten am Neuländer Deich so versumpft war, dass er ihn erst nur noch in kniehohen Gummistiefeln und später gar nicht mehr betreten konnte. Das versucht Aylin bis heute zu verstehen: wie es sein kann, dass jedes Fleckchen Erde, das sich in ihrem Bewegungsradius befindet, entweder knochentrockene Wüste oder Sumpflandschaft ist. Dazwischen scheint es nichts mehr zu geben.
»Vielleicht versuche ich es dieses Jahr nochmal mit Tomaten«, überlegt Aylin laut, weil sie weiß, dass Großvater sich über solche Pläne freut. Und weil sie tatsächlich gern eigenes Gemüse hätte, dann wäre sie nicht auf die matschigen Tomaten in ihrem Supermarkt oder aus ihrem Tauschgeschäft angewiesen.
»Ich müsste nur mehr Platz an der Sonne haben. Die guten Fensterbänke sind schon belegt.«
»Sonnenlicht ist wichtig für gute Tomaten«, seufzt Großvater. »Sommersonnenlicht vor allem. Wir mussten ja das ganze Jahr welche anbauen. Aber die aus der Winterernte, die waren Mist. Man sollte Pflanzen nicht aus ihrem natürlichen Lebenszyklus herausreißen. Die wissen genau, wann sie was zu tun haben, und wenn man zur falschen Zeit etwas von ihnen einfordert, sind sie verwirrt.«
»Verwirrte Pflanzen? Okay.« Aylin findet es immer amüsant, wie ihr Großvater über Pflanzen spricht. Wie kleine Menschen oder andere fühlende Wesen, die ganz konfus werden, wenn etwas nicht nach Plan läuft. Sie stellt sich vor, wie er bis zu seiner Rente keimunwilligen Tomatenpflanzen im Folientunnel gut zugeredet hat. Ja, es ist total gemein, dass wir hier versuchen, deinen Biorhythmus auszutricksen, aber guck mal, ich bin doch für dich da! Hier hast du etwas Dünger. Seinen eigenen Pflanzen hätte er so etwas nie angetan.
»Amüsier dich nur«, sagt Großvater und blickt sie schelmisch von der Seite an. »Du weißt doch, dass Pflanzen ein Eigenleben führen. Die können sogar kommunizieren! Wie Menschen.«
»Würdest du weniger komisches Zeug reden, wenn du wieder einen Garten hättest?«
»Ach Gott«, winkt er ab. »Ich bin doch viel zu alt, um mich gut darum zu kümmern. Und so viel Freude macht Gärtnern auch nicht bei der Misere hier draußen.«
Er scharrt mit dem linken Fuß im Boden und wirbelt etwas Sand auf, der von einem Windhauch in Richtung Teich davongetragen wird. Aylin beobachtet einen Schwarm Mücken, der über der Wasseroberfläche kreist. Die vorbeifliegende Staubwolke scheint die kleinen Plagegeister nicht zu stören. Dabei müsste sich so ein vorbeifliegendes Sandkorn zu einem Mückenkörper doch verhalten wie ein Golfball zu einem durchschnittlichen Menschenkörper? Sie würde auf jeden Fall ausweichen. Aber was weiß sie schon über Mücken, außer dass es viel zu viele gibt. Ein paar Fressfeinde würden ihnen gut stehen, selbst, wenn es nur Frösche wären.
Großvater hat das Thema Gärtnern, wie üblich, noch nicht losgelassen.
»Wenn ich ein Gewächshaus mit Hochbeeten hätte, wäre es etwas anderes«, überlegt er laut. »So müsste ich mich nicht immer bücken. Allerdings müssten wir zusammen überlegen, wo wir Erde herbekommen.«
»Und Saatgut!«
»Und Saatgut. Samenfestes am besten, damit wir nicht jedes Jahr neues kaufen müssten. Aber ich wüsste nicht, wo so etwas frei verkäuflich ist.«
Aylin zuckt mit den Schultern.
»Ich könnte mal bei Pidgin gucken.«
Wahrscheinlich wäre das noch leichter zu finden als ein Ort, an dem sie einfach so ein Gewächshaus aufstellen könnte. Der Innenhof von Großvaters Wohnhaus ist so vermüllt, dass sie dort wochenlang aufräumen müsste, und bestimmt würden sich Waschbären einnisten. Von dem Gewächshaus in seinem ehemaligen Kleingarten ist sicherlich nur noch das Stahlgerüst übrig, das in ihrer Vorstellung wie ein Walfischgerippe zur Hälfte aus der Elbe ragt. Vermutlich also wenig bis nichts zu machen in dieser Angelegenheit. Dabei wäre es so gut, wenn der Alte mal wieder eine Aufgabe hätte, die er trotz seiner lädierten Knochen gut erledigen und bei der sie ihm besser helfen könnte als mit seinen verfluchten Orchideen.
»Lass uns weitergehen«, schlägt sie vor. »Vielleicht finden wir bei dir zuhause noch etwas zu essen.«
»Ich habe nicht aufgeräumt. Es sieht schlimm aus bei mir.«
»Das sagst du immer, und dann ist es nie schlimm«, entgegnet Aylin.
Sie hilft Großvater von der Bank hoch und sie schlendern noch ein paar Meter um den Teich. Aylin hält die Ohren offen, um kein Froschquaken zu verpassen, für den Fall, dass Großvater sich das alles wirklich nicht eingebildet hat, und überlegt, ob sie so eine Art Gewächshaus nicht auftreiben könnte, oder zumindest irgendetwas, das in diese Richtung geht.
Bitte, wer würde denn glauben, dass wir
kein Eigenleben führen? Das ist ja fast
eine Beleidigung.
Nur weil wir keine Füße haben.
Oder Rollen.
Aber ihr könnt doch unsere Wurzeln wachsen sehen.
Das soll keine Fortbewegung sein?
Und wenn wir uns der Sonne hinterherdrehen,
ist das nicht mehr und nicht weniger als
eine ungemein graziöse Pirouette in genau
dem Tempo, das uns die Erde vorgibt.
Glaubt uns: Wir fühlen alles, was ihr sagt.
Eure Ideen sind nicht immer schlecht.
Manche sind sogar ganz gut.
Also, was heißt Ideen. Gut gemeinte Vorschläge.
Wir schauen einfach, wie das für uns passt.
Wo die Wurzeln entlang wachsen können.
Und wie das mit dem Licht ist. Ihr wisst schon,
für die elegante Drehung.
Aylin hält ihr rechtes Handgelenk unter das Lesegerät und wartet darauf, dass es ihre Ankunftszeit am Arbeitsplatz registriert. Es dauert ewig, bis das Display anzeigt, dass sie die üblichen zwei Minuten zu spät ist. Je später man ankommt, desto länger braucht das Gerät, um die Zeiten zu laden, glaubt sie, und Kolleg*innen, mit denen sie darüber gesprochen hat, haben dieses Phänomen ebenfalls beobachtet. Eine Manipulation der Konzernleitung, doch solange sie niemand persönlich abmahnt, wird sie ihre Routine nicht ändern. Außerdem ist sie nicht die Letzte, die heute zum Dienst erscheint. Auf dem Dashboard leuchtet Joes Avatar noch rot, was erklärt, warum er eben nicht in ihrer S-Bahn saß. Er steigt normalerweise eine Station nach ihr ein. Manchmal sitzen sie im selben Waggon und plaudern, wenn der Platz neben ihr noch frei ist. Spätestens beim Aussteigen laufen sie sich über den Weg. Vielleicht hat er heute verschlafen.
Im Pausenraum ist niemand mehr, den sie mit auf ihren Kontrollgang nehmen könnte, also schaut sie auf ihrem Linkpad nach, welche Aufgaben heute anstehen, nimmt einen Scanner von der Ladestation und macht sich auf den Weg zu Gewächshaus 4. Für kurz nach 8 Uhr fühlt es sich etwas zu warm an, was das Thermometer jedoch nicht bestätigt. Die Luftfeuchtigkeit könnte ein Problem werden, Aylin wird allerdings zunächst einmal die Mittagshitze abwarten, bis sie umreguliert. In Gewächshaus 3 sind erst kürzlich Schimmelsporen entdeckt und die beiden zuständigen Aushilfen fristlos gekündigt worden. Ob die Pflanzen darin tatsächlich Schaden genommen haben, hat Aylin nie erfahren, nur, dass dort ein ehemaliger Finanzminister gespeichert ist. Wirklich, so ein