Picchu - Hans Peter - E-Book

Picchu E-Book

Hans Peter

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Beschreibung

"Glaubst du wirklich, du kannst dich vor mir verstecken?!"Die neunjährige Julia hat Angst. Vor einem Mann, der ihr im Traum erscheint und der trotzdem ganz real ist.Pech für Julia, dass ihre Eltern, Daniel und Teresa, nicht nur getrennt sind, sondern sich geradezu hassen. Die willensstarke Teresa ist wegen einer neuen Liebe von Nordrhein-Westfalen nach Sachsen gezogen. Daniel, ein schüchterner Grundschullehrer, will seine Tochter zurück in die alte Heimat holen. Der Streit um das Sorgerecht scheint die Eltern blind zu machen für die Nöte ihrer Tochter.Doch ist Julias Furcht vor dem Mann berechtigt oder steckt dahinter nur der verzweifelte Versuch eines Kindes, die Eltern wieder zusammenzubringen?

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Über das Buch

"Glaubst du wirklich, du kannst dich vor mir verstecken?!"

Die neunjährige Julia hat Angst. Vor einem Mann, der ihr im Traum erscheint und der trotzdem ganz real ist.

Pech für Julia, dass ihre Eltern, Daniel und Teresa, nicht nur getrennt sind, sondern sich geradezu hassen. Die willensstarke Teresa ist wegen einer neuen Liebe von Nordrhein-Westfalen nach Sachsen gezogen. Daniel, ein schüchterner Grundschullehrer, will seine Tochter zurück in die alte Heimat holen. Der Streit um das Sorgerecht scheint die Eltern blind zu machen für die Nöte ihrer Tochter.

Doch ist Julias Furcht vor dem Mann berechtigt oder steckt dahinter nur der verzweifelte Versuch eines Kindes, die Eltern wieder zusammenzubringen?

 

Hans Peter

 

Picchu

 

 

 

Scholastika Verlag

Stuttgart

 

 

 

Für meinen Vater

 

Erschienen im Scholastika Verlag

Rühlestraße 2

70374 Stuttgart

Tel.: 0711 / 520 800 60

 

www.scholastika-verlag.com

E-Mail: [email protected]

 

Zu beziehen in allen Buchhandlungen,

im Scholastika Verlag und im Internet.

 

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage

© 2024 Scholastika Verlag, 70374 Stuttgart

ISBN 978-3-947233-86-1

ISBN der Printausgabe: 978-3-947233-81-6

Lektorat: Petra Seitzmayer

Umschlagbild: A. J.

eBook-Entwicklung:

Der Blitz

Beinahe wären Vater und Tochter vom Blitz erschlagen worden. Grelle Lichter flackerten vor ihren Augen und der Donner hallte in ihren Ohren, als sie die Düne hinunterrannten.

Daniel Bode, dreiunddreißig Jahre alt und Grundschullehrer von Beruf, und seine neunjährige Tochter Julia Picchu Kerkhoff machten Ferien in Cadzand, einem kleinen Ort an der niederländischen Nordseeküste. Das Grübchen am Kinn, die braunen Locken und die Veranlagung zur Pummeligkeit hatte Julia von ihrem Vater geerbt. Neben einigen Charaktereigenschaften wie zum Beispiel einer übersteigerten Empfindsamkeit. Daniel war der Einzige, der seine Tochter bei ihrem zweiten Vornamen Picchu nannte, denn nichts drückte ihren Charakter so gut aus wie dieser, fand er.

Niemals würde Daniel den Blitz vergessen. Niemals würde sich Daniel den Blitz verzeihen. Er hatte seiner Tochter etwas bieten wollen, ein Naturschauspiel. Alles versuchte er in diese wenigen Tage mit seiner Tochter zu pressen: Baden, Fischen mit einem kleinen Fischernetz, extensives Haifischzahn-Suchen, die Stadt Brügge mit den schönen alten Gebäuden, den Vogelpark, eine Fahrradtour ins belgische Seebad Knocke – und eine brodelnde See über einem violetten Himmel, aus dem leider ein Blitz geschossen kam und sie beide beinahe erwischt hätte.

Sie hatten gerade die Gartentür passiert, als der Regen einsetzte, sintflutartig, prasselnd, dicht wie ein Tuch. Auf den wenigen Metern bis zur Terrassentür wurden sie völlig durchnässt. Julia schüttelt sich wie ein Hund, als sie endlich im Wohnzimmer standen.

Niemals durfte Teresa, Julias Mutter, von diesem Erlebnis erfahren. Sonst würde sie Daniel kreuzigen und er würde Julia vielleicht nicht wiedersehen, bevor sie achtzehn war. Denn Teresa hatte die Macht, und Daniel fühlte sich meistens hilflos und klein ihr gegenüber. Teresa wusste immer, was zu tun war. Vor einem halben Jahr hatte sie Daniel verlassen – für einen Bauunternehmer aus Dresden. Keine Sekunde hatte sie gezögert, nach Sachsen zu ziehen und unter Roberts, so hieß der Bauunternehmer, Decke zu kriechen. Julia hatte sie einfach mitgenommen. Von seiner Tochter hatte Daniel erfahren, dass dieser Robert wollte, dass Julia Papa zu ihm sagte.

Daniel rubbelte seiner Tochter das Haar trocken. Dann ließ er ihr Wasser in die Badewanne ein.

Glücklicherweise hatte einer der Vormieter eine Packung Spaghetti dagelassen. Im Kühlschrank fand Daniel noch etwas Gorgonzola, den er in einer Pfanne schmelzen ließ. Anschließend schnitt er eine Birne klein und warf die Stücke in den geschmolzenen Käse. Leider schmeckte es widerlich, fand auch Julia, die nach dem misslungenen Abendessen und einem kurzen Kartenspiel mit ihrer Mutter telefonierte. Daniel lauschte dem Gespräch aus dem Badezimmer, die Zahnbürste in der Hand und mit Zahnpastaschaum im Mund. Er war froh, dass Julia den Blitz nicht erwähnte.

Die Verräterin

Doch einige Nächte später träumte Julia von dem Blitz. Im Traum stand sie allein auf der Düne, vor ihr eine kochende See, gespenstisch beleuchtet. Der Blitz schlug direkt vor ihren Füßen ein. Sie drehte sich um und rannte auf ihren kurzen, dicken Beinen die Düne hinunter. Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich. Sie drehte sich im Rennen um, da war ein Mann, der mit großen Schritten näherkam. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen. Im Traum wusste sie, wer der Mann war und wusste es gleichzeitig nicht. Er schrie: »Glaubst du wirklich, du kannst dich vor mir verstecken?!« Schreiend wachte sie auf. Sie war nicht mehr in Cadzand, sondern in Krefeld, in der neuen Wohnung ihres Vaters. Daniel stand über sie gebeugt und streichelte ihr die Stirn. »Du hast einen Albtraum gehabt«, sagte er.

 

Am nächsten Morgen am Frühstückstisch hatte Julia den Traum fast vergessen. Sie biss in ein Brötchen, blies sich mit vollem Mund eine Locke aus dem Gesicht und lächelte ihren Vater an.

»Eigentlich ist es zu heiß, um dich heute schon nach Dresden zu bringen. Was meinst du, Picchu?«, sagte er, das Kinn auf einer Hand abgestützt.

Daniel fand seine Tochter heute Morgen noch bezaubernder als sonst. Sie war braungebrannt und in das Grübchen an ihrem Kinn hatte sich eine kleine, etwas hellere Stelle wie eine Mondsichel gelegt. Vater und Tochter saßen an einem großen Holztisch. »Zur Feier des Tages« hatte er Cola zum Frühstück spendiert. Die Tischplatte war übersäht mit Krümeln und über einer halbgeschälten Banane hing ein Schwarm von Obstfliegen. Daniel bereute es, dass er noch keine Zeit gefunden hatte, Vorhänge anzubringen, denn durch das offene Fenster schien eine gnadenlose Julisonne. Am Vorabend waren sie aus Cadzand hierher nach Krefeld gekommen. Krefeld, eine kleine Großstadt am linken Niederrhein, lag etwa drei Autostunden von Cadzand entfernt, wo es deutlich kühler gewesen war als hier. Daniel war untröstlich, dass die Ferien am Meer mit seiner Tochter vorbei waren. Julia würde schon am kommenden Wochenende mit ihrer Mutter und deren neuem Lebensgefährten nach Amerika fliegen, für volle vier Wochen. Wie ein Almosen, so empfand er es, waren ihm nur wenige Tage der Sommerferien angeboten worden. Eine schreiende Ungerechtigkeit ist das, dachte er, während er die Obstfliegen von der Banane verscheuchte und wütend hineinbiss. Ich bekomme gerade mal eine gute Woche der Sommerferien und Madame bedient sich mit fast fünf Wochen. Ein Gefühl von Hass wallte in ihm auf. Einige Obstfliegen näherten sich wieder der Banane und Daniel versuchte, sie mit der flachen Hand zu erschlagen, aber er erwischte keine einzige. Bis Dresden, dieser Hölle auf Erden, diesem tiefsten Dunkeldeutschland, waren es weitere sechs Stunden, sechs Stunden über glühenden Asphalt.

»Soll ich Mama anrufen und fragen, ob ich dich erst morgen bringen darf? Morgen soll es regnen, Picchu.«

Julia klaubte mit dem Zeigefinger ein Hagelslagkorn auf und steckte es sich in den Mund. Sie hatten Schokostreusel, die man in Holland Hagelslag nannte, als Spezialität aus Cadzand mitgebracht.

»Du kannst sie anrufen, Papa. Vielleicht erlaubt sie es ja.«

Daniel fühlte, dass ein Schweißtropfen an seiner Nasenspitze hing. Mit dem Handrücken wischte er ihn rasch weg. »Soll ich sie wirklich anrufen, Picchu? Möchtest du es denn?«

Über der Spüle hing ein kleines Foto von Julia, wie sie als Dreijährige eine Hand aus dem Kinderwagen reckte. Ansonsten war die Küche weiß getüncht und so kahl, dass man glaubte, den Widerhall der eigenen Stimme hören zu können. Bis vor einem halben Jahr hatten Daniel, Teresa und Julia noch zusammen in Krefeld gewohnt, aber nicht hier. Die neue Wohnung ihres Vaters hatte Julia das erste Mal am Vorabend betreten und sich auf der Stelle unwohl gefühlt. Bis auf die Küche, die an ein Krankenhauszimmer erinnerte, war alles unordentlich. In einem Zimmer stapelten sich gar die Kartons bis unter die Decke. In ihrem neuen Zuhause in Dresden war es einfach viel schöner als hier. Dort hatte sie ein Zimmer mit Sternenhimmel und hier gar nichts, wo sie sich hätte zurückziehen können.

»Es gibt eine neue Wasserskianlage am Elfrather See, Picchu. Die können wir ausprobieren, wenn wir erst morgen fahren. Wollen wir das machen?«

Daniel gab seiner Tochter einen sanften Boxhieb. Er trug ein weißes T-Shirt. Auf seinem linken Oberarm saß als Tattoo eine Taube über einem japanischen Schriftzug. Mit dem Bizeps, der unwillkürlich zuckte, machte auch die Taube kleine, aufgeregte Sprünge.

»Wasserski ist cool«, hörte sich Julia mit trockener Zunge sagen. Sie überlegte bei sich, was wohl mehr Spaß machte: Porsche fahren oder Wasserski. Wasserski hatte sie noch nie ausprobiert. Wie es sich in einem Porsche anfühlte, vor allem, wenn er beschleunigte, wusste sie, denn Robert, der neue Freund ihrer Mutter, hatte einen. Sie nahm einen Schluck Cola durch den Strohhalm, die Eiswürfel im Glas hatten sich zwischenzeitlich aufgelöst.

Daniel gab sich einen Ruck. Bevor er das Zimmer verließ, nickte er seiner Tochter verschwörerisch zu.

 

Julia saugte die Cola durch den Strohhalm und ließ sie zischend wieder ins Glas zurückfließen. Das wiederholte sie ein paarmal. Sie hörte die Stimme ihres Vaters durch die geschlossene Tür. Irgendwann schrie er: »Nur ein einziger verdammter Tag, Teresa!« Als er wieder in die Küche kam, schaute er Julia nicht in die Augen. »Es geht nicht«, sagte er. »Wir müssen leider heute schon fahren.«

Mit einem Male schämte sich Julia dafür, dass sie gehofft hatte, ihre Mutter würde Nein sagen.

»Soll ich Mama anrufen und ihr sagen, dass ich bis morgen bei dir bleiben will?«

Daniel fühlte, wie Tränen in ihm aufstiegen. Er kniff sich in die Hand, um nicht weinen zu müssen, denn das gehörte zum kleinen Einmaleins des Vaterseins: Nicht vor dem Kind weinen! Das Gespräch mit Teresa war noch deprimierender verlaufen, als er es befürchtet hatte. Teresa hatte ihn gleich, bevor er noch etwas hätte sagen können, gefragt, ob sie denn schon losgefahren seien.

»Das ist lieb von dir, Picchu«, sagte er. »Aber es würde nichts ändern, wenn du Mama anrufst.« Das Einzige, was sich ändern würde, dachte er, wäre, dass Teresa ihn noch mehr hassen würde als vorher.

Kurz darauf saßen sie in Daniels altem Auto, Julia auf dem Beifahrersitz. Krefeld lag mit seinem industriell geprägtem Stadtteil Uerdingen am Rhein. Als sie die Uerdinger Rheinbrücke überfahren hatten, drehte Julia sich noch einmal um. Der Chemiepark, so die beschönigende Bezeichnung, nahm die gesamte Uferrundung ein. Seine Schornsteine bliesen Wolken von dickem, weißem Rauch in den blauen Himmel.

Kurz vor Dortmund zog Julia die Sandalen aus und schaute anschließend lange aus dem Fenster. Als sie nach vielen Stunden die Autobahn verließen, bemerkte Julia, dass über den Augen ihres Vaters ein feuchter Schimmer lag.

»Weinst du, Papa?«

»Quatsch!« Daniel wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Es ist die verdammte Hitze.«

»Ihr sollt nicht so viel streiten, Mama und du.«

»Ich versuche ehrlich gesagt alles, um Streit mit deiner Mutter zu vermeiden.«

»Ich finde das blöd. Mama und …, du weißt schon wer, streiten auch.« Robert war derjenige, dessen Name ihrem Vater gegenüber nicht genannt werden durfte.

»Echt?!« Daniel warf ihr einen kurzen Blick zu.

»Einmal so doll, dass ich Angst hatte.«

»Verstehe.«

Julia fühlte einen Kloß im Hals, als sie anfing zu erzählen. Aber dann purzelten die Worte nur so aus ihr heraus, obwohl sie ihrer Mutter versprochen hatte, mit niemandem darüber zu sprechen. Ihre Mutter hatte ihre kühlen Finger um Julias Gesicht gelegt, ihr tief in die Augen geschaut und gesagt: »Das verraten wir niemandem. Das bleibt unser Geheimnis.« Doch Julia erzählte ihrem Vater alles. Wie ihre Mutter zu spät zum Abendessen kam, das Robert vorbereitet hatte, und wie er deshalb total ausrastete. Wie ihre Mama aufheulte vor Schmerz, weil Robert sie so fest am Handgelenk gepackt hatte. Und wie Robert den Vorhang zur Seite gerissen und Julia angebrüllt hatte: »Glaubst du wirklich, du kannst dich vor mir verstecken?!«

Ihr Vater hatte schweigend zugehört. Julia erkannte schon die ersten Häuser wieder. Lautlos glitten sie über ihren Lieblingsort in Dresden, die Elbbrücke, die Blaues Wunder genannt wurde. Aber in ihrem Kopf hämmerte der Gedanke, dass sie gerade ihre Mutter verraten hatte. Julia schloss für einen Moment die Augen. Sie fühlte, wie alles Blut aus ihrem Kopf wich. Als sie wieder hinsah, fuhren sie schon auf der bergan führenden Schillerstraße. Dort schaltete eine Ampel im letzten Moment auf Gelb. Für einen kurzen Augenblick dachte Julia daran, die Beifahrertür zu öffnen und rauszurennen, irgendwohin, vielleicht zurück zum Blauen Wunder an die Elbe, sich dort hinzusetzen, auf den Fluss zu starren, wie er in der Sonne döste, und darauf zu warten, dass alles vorüberfloss.

Die Ampel schaltete wieder auf Grün. »Du darfst es niemandem erzählen.« Julia fühlte ein Pfeifen in ihrer Brust, so, als wäre sie nicht sitzengeblieben, sondern sei tatsächlich weggerannt. »Ich habe es Mama versprochen, es nicht weiterzuerzählen.«

Daniel fuhr los, aber langsam. Hinter ihm hupte es. Er hielt am Straßenrand. Der Fahrer des Wagens hinter ihnen fuhr mit quietschenden Reifen vorbei und zeigte den Vogel.

»Hat er dich auch einmal so fest angepackt?«

»Nein!« Julia schüttelte heftig den Kopf. »Er ist übelst nett. Wirklich, Papa.«

Daniel atmete tief aus und fuhr dann wieder an. Jetzt war es noch eine Kurve bis zu Julias neuem Zuhause. Julia hörte das Klackern des Blinkers. Ihr Vater bog ab in die schmale Straße, in der sie wohnten. Wurzeln der hohen Bäume, die links und rechts der Fahrbahn standen, hatten an einigen Stellen den Asphalt aufgerissen. Menschenleer lag die Straße in der Gluthitze vor ihnen. »Ich will zu dir, Papa. Nimm mich bitte wieder mit!«, hörte sich Julia flüstern. »Robert ist böse.« Daniel starrte mit leerem Blick geradeaus, so als hätte er nicht zugehört.

»Nimm mich wieder mit, Papa!«, jammerte Julia. Im nächsten Augenblick trat Daniel das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf. Alles wäre wohl ganz anders gekommen, wenn der Golf nicht altersbedingt eine so miserable Beschleunigung gehabt hätte, denn plötzlich schoss etwas Rotes von der Seite auf die Mitte der Fahrbahn. Es war Teresa in einem stoppschildfarbenen Sommerkleid. Sie wedelte wild mit den Armen. Daniel bremste scharf. Teresa rannte auf das Auto zu. Er wollte rückwärtsfahren, aber Teresa riss die Beifahrertür auf.

»Wolltest du mich überfahren, du Arschloch?«, schrie sie.

»Julia will zu mir!«, brüllte er zurück. »Lass sie sofort los!«

Doch sie hatte schon Julias Gurt geöffnet und zerrte das Kind aus dem Auto. »Gib mir ihre Tasche!« Ihre Stimme war wieder ruhig. »Und dann verschwinde für immer aus unserem Leben.«

Durch den Rückspiegel musste Daniel mitansehen, wie Teresa seine Tochter durch das Gartentor schob. Wie eine Strafgefangene, schoss es ihm durch den Kopf, so führt sie sie ab. Bevor Julia aus seinem Sichtfeld verschwand, drehte sie sich noch einmal zu ihm um.

Der Sachverhalt

Daniel kam erst nach Mitternacht wieder in Krefeld an. Direkt am nächsten Morgen begab er sich zur Polizei.

Vor ihm saß ein dicker Polizist. Sein schütteres Haar hätte leicht von dem Tischventilator in Bewegung gehalten werden können, wäre er eingeschaltet gewesen. Es war noch heißer als am Vortag, der erwartete Regen war ausgeblieben.

»Ich kann alles aufnehmen. Aber a: Wir sind nicht zuständig, sondern Dresden, und b: Das wird nichts geben. Am Handgelenk packen reicht leider noch nicht einmal für eine Einstellung gegen Geldbuße. Das ist einfach gar nichts. Das ist fies, aber nicht strafbar. Außerdem: Im Zweifel ist die Dame dann urplötzlich mit dem betreffenden Herrn verlobt und beruft sich auf ihr Aussageverweigerungsrecht.« Er machte eine abfällige Geste. »Tausendmal erlebt in Fällen, die oft richtig schlimm waren. Unbefriedigend ist das, sage ich Ihnen.«

Daniel war schon halb zur Türe raus, als ihn der Polizist zurückrief. »Wegen Ihrer Tochter. Das sollten Sie nicht auf sich beruhen lassen. Da würde ich mir auch Sorgen machen als Vater. – Wo genau wohnt Ihre Tochter?« Seine fleischigen Finger huschten über die Tastatur. Dann surrte ein Drucker.

 

Ich möchte Ihnen einen Sachverhalt zur Kenntnis geben.

Daniel löschte den Satz wieder. Mit entblößtem Oberkörper saß er in seiner Küche am runden Holztisch. Vor ihm ein aufgeklapptes Notebook und der Zettel mit den Daten des Jugendamtes Dresden, den ihm der Polizist gegeben hatte.

Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, was meine neunjährige Tochter Julia Picchu Kerkhoff mir im Vertrauen mitgeteilt hat.

Mit diesem Einleitungssatz ließ sich arbeiten, dachte er, während er die Krähen beobachtete, die den Kirchturm von St. Gertrudis in trägen Bahnen umkreisten.

Als ich sie am 26.07., also gestern, absprachegemäß zu ihrer Mutter gebracht habe, hat mir unsere Tochter (kurz vor der Übergabe an ihre Mutter) berichtet, dass sie Opfer von psychischer Gewalt durch den Lebensgefährten ihrer Mutter geworden ist. Dieser hat ihr angedroht, er werde sie – so wörtlich – »überall finden« und sie könne sich nicht vor ihm verstecken. Meine Tochter hielt sich zu diesem Zeitpunkt hinter einem Vorhang verborgen.

»Welcher Vorhang?«, fragte der Mann vom Jugendamt Dresden, der sich mit »Lommatzsch« gemeldet hatte.

»Keine Ahnung, ich war nicht dabei. Ich kenne das Haus nicht. Aber ich will verhindern, dass sie am Sonntag mit einem Psychopathen für vier Wochen in die USA fliegt.«

»Uns erreichen täglich Dutzende solcher Mitteilungen. Wir nehmen jede von ihnen ernst. Das dürfen Sie mir glauben. Auch Ihre, Herr Bode.«

»Und das bedeutet?«

»Für eine Grenzsperre wird es nicht reichen. Es ist doch keine Kindesentführung, oder?«

»Aber die Mutter ist ja auch Opfer.«

»Aber volljährig, oder? – Ich lege einen Vorgang an und mache eine Notiz. Leider beginnt am Montag mein Sabbatical, für drei Monate bin ich weg. Aber meine Kollegin, Marlene Müller, ist für Sie da, falls Ihnen noch etwas einfällt oder falls sich die Dinge dramatisch ändern. Darf ich fragen – wie soll es denn überhaupt weitergehen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie und die Kindesmutter, wollen Sie sich belauern? Oder wollen Sie Lösungen im Sinne Ihres gemeinsamen Kindes finden?«

»Ich belauere niemanden.«

»Es sollte kein Vorwurf sein. – Meine Kollegin steht gerade im Zimmer. Marlene, kommst du mal bitte!« Daniel hörte ein Flüstern.

»Müller«. Es klang wie die Stimme einer Zwölfjährigen. »Sie können mich wirklich jederzeit anrufen. Für eilige Fälle haben wir auch einen Notdienst. – Herr Bode, sind Sie noch da?«

»Ja.«

»Herr Bode, hier noch mal Lommatzsch. Etwas möchte ich Ihnen noch sagen: Fragen Sie die Mutter, ob an dem, was Ihre Tochter gesagt hat, etwas dran ist. Und wenn ja, sollten Sie als Eltern nach Möglichkeit an einem Strang ziehen. Trauen Sie sich das zu?«

»Keine Ahnung. – Kann ich denn wirklich nicht verhindern, dass sie am Sonntag fliegt?«

Tomatensaft mit Salz und Pfeffer

Das Dröhnen der Turbinen wurde immer lauter. Für Robert gab es auf der Welt wenig, was er so erregend fand wie den Start eines Flugzeugs. Er schloss für einen kurzen Moment die Augen, um dieses Gefühl ganz in sich aufnehmen zu können. Aber dann passierte etwas Merkwürdiges. Er bekam noch mit, wie die Maschine beschleunigte, aber bereits das Abheben musste er verschlafen haben, denn als er wieder zu sich kam, waren sie schon hoch in der Luft. Er schob dieses plötzliche Wegnicken auf die Tabletten, die er nehmen sollte, weil sie angeblich wichtig waren.

Neben Robert saß die kleine, etwas dickliche Julia, für die er in den letzten Monaten väterliche Gefühle entwickelt hatte. Äußerlich war das Mädchen leider nach ihrem Vater geraten, den Robert einmal aus der Ferne gesehen hatte. Und neben Julia saß Teresa. Robert hatte beiden Damen den Fensterplatz angeboten, aber Teresa wollte lieber am Gang sitzen und Julia unbedingt neben ihrer Mutter. Teresa strahlte ihn über den Lockenkopf ihrer Tochter hinweg an. Es war dieses kleine, entzückende Lächeln – halb schüchtern, halb kess –, das ihm als erstes an Teresa aufgefallen war. Ihr nachtschwarzes Haar hatte selbst in der fahlen Bordbeleuchtung einen besonderen Glanz. So eine wunderschöne Frau, dachte Robert. Er fühlte, wie das Blut aus seinem Kopf in untere Regionen floss. Ein Freund von ihm hatte ihm erzählt, dass er, also der Freund, Sex an Bord eines Flugzeugs mit einer Bekannten gehabt hätte. Robert musste bei dem Gedanken lächeln, wie es wäre, wenn er jetzt mit Teresa in eine der winzig kleinen Bordtoiletten verschwinden würde. Es ging natürlich nicht, zumal es Julia mitbekäme. Leider fiel ihm auch der Ausdruck nicht ein für das erste Mal Sex im Flugzeug. Er konnte sich einfach nicht erinnern. Es passierte ihm in letzter Zeit immer häufiger, dass er sich Dinge nicht merken konnte. Auch dies schob er auf die Tabletten.

 

Julia war fasziniert von Roberts linker Hand, die er auf die Ablage zwischen ihnen gelegt hatte. Dem kleinen Finger fehlte das vorderste Glied. Dort war die Haut weiß, während der Rest der Hand tief gebräunt war. Ihre Mutter hatte gemeint, sie solle Robert lieber nicht fragen, weshalb ihm das letzte Fingerglied fehle, denn er reagiere sehr empfindlich, was das angehe.

»Na, magst du meinen Ring?« Robert lächelte sie an. Er hob die Hand hoch und hielt sie Julia vor die Nase. So nah hatte sie seinen kleinen Finger noch nie sehen dürfen. »Weißt du, was das für ein Stein ist? – Es ist ein Diamant, es gibt nichts Härteres. Und außen rum ist Gold. Der Ring erinnert mich immer daran, was das Wichtigste auf der Welt ist. Weiß du, was das ist?«

Julia schüttelte den Kopf.

»Gold ist eigentlich weich. Es geht darum, hart zu sein und gleichzeitig weich. In der Familie und zu Freunden soll man weich sein wie reines Gold. Zu dir, zu deiner Mutter, zu Marlon.« Marlon war Roberts Sohn. »Aber zu allen anderen – na, was glaubst du, Julia, wie soll man sein?« Robert grinste. Julia war froh, dass die Stewardess mit der Zahnlücke und der Schleife im Haar bei ihnen angekommen war und sie erst einmal nicht weiter mit Robert über seinen Ring und das Wichtigste im Leben reden musste.

Sie saßen zu dritt im Flugzeug nach San Francisco, Teresa, Robert und Julia. Es waren immer noch dieselben Sommerferien. Cadzand, Krefeld, Dresden und bald San Francisco. Es konnte einem schwindelig werden, fand Julia.

»Ob wir deinem Papa noch einen Sekt spendieren?« Die Stewardess zwinkerte Julia zu.

Julia dachte daran, ihr zu erklären, dass der Mann auf dem Sitz neben ihr nicht ihr Papa war. Aber sie ließ es bleiben, auch weil die Stewardess so freundlich lächelte.

»Oh, einen könnte ich schon noch vertragen.« Robert lachte. »Und vielleicht kriegt die junge Dame«, er stieß Julia sanft in die Seite, »ja auch noch einen Tomatensaft. Aber bitte mit Salz und Pfeffer.«

»Einmal im Leben sollte jeder Mensch in San Francisco gewesen sein.« Robert gähnte in seine Hand. »Ich war einundzwanzig, als ich das erste Mal in Frisco war.«

»Das war bestimmt auf eurer legendären Jungstour.« Ihre Mutter grinste wie ein verliebtes Kalb, fand Julia.

»Genau!« Robert nickte zufrieden. »Wir sind damals von Alaska nach Feuerland gefahren. Zu viert, mit den Motorrädern, mit unseren Bikes. Panamericana.«

Julia hatte ein Brummen im Ohr. Auf dem kleinen Bildschirm vor ihr konnte sie erkennen, dass sie immer noch über dem Wasser flogen. Sie war müde und aufgeregt zugleich.

»Aber ihr seid nicht alle vier dort angekommen in Feuerland, oder Liebling?« Teresa lächelte immer noch.