Pilsken und Pailletten - Kai Brodersen - E-Book

Pilsken und Pailletten E-Book

Kai Brodersen

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Beschreibung

Vom Travestiekünstler und Callboy zum mehr oder weniger soliden Büdchenbesitzer - eine Entwicklung, die Jens Nobbe nach Jahren des eklatanten Drogenmissbrauchs begrüßt. Doch der Traum des beschaulichen Lebens ist vorbei, als er hinter seinem Kiosk den Filialleiter der Sparkasse in Korsage und Strapsen angekettet findet. Zusammen mit seinem Kumpel, einem begnadeten Einbrecher, befreit er den Mann, nur um ihn kurze Zeit später erneut zu finden - diesmal ermordet. Nobbe nimmt kurzerhand die Ermittlungen auf und verliebt sich - ausgerechnet in einen bekannten Pornodarsteller.

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Kai Brodersen

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2015

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© slavaleks – fotolia.com

© Margarita Borodina – fotolia.com

Bild „Kiosk“ mit freundlicher Genehmigung von

H. Reinhardt

1. Auflage

ISBN 978-3-945934-37-1

ISBN 978-3-945934-38-8 (epub)

Edition Last Laugh

Inhalt:

Vom Travestiekünstler und Callboy zum mehr oder weniger soliden Büdchenbesitzer - eine Entwicklung, die Jens Nobbe nach Jahren des eklatanten Drogenmissbrauchs begrüßt. Doch der Traum des beschaulichen Lebens ist vorbei, als er hinter seinem Kiosk den Filialleiter der Sparkasse in Korsage und Strapsen angekettet findet. Zusammen mit seinem Kumpel, einem begnadeten Einbrecher, befreit er den Mann, nur um ihn kurze Zeit später erneut zu finden – diesmal ermordet. Nobbe nimmt kurzerhand die Ermittlungen auf und verliebt sich – ausgerechnet in einen bekannten Pornodarsteller.

Für Renate und Willi.

Für Peter und Birgit und Lisa.

Für Jörg.

Und natürlich (First things last!):

Für Sven und Barbara.

Kapitel 1 – Mittwoch, 8. Januar

Jeder vernünftige Mensch weiß, dass man nicht nächtens mit zwielichtigen Gestalten in verrauchten Hinterzimmern pokern soll. Was vielleicht nicht jeder weiß: Als Kioskbesitzer soll man nicht mitten in der Nacht den eigenen Laden aufsuchen, um etwaig zur Neige gegangene Hinterzimmerwhiskeyvorräte aufzufüllen. Ein wirklich wichtiger Ratschlag zur Erlangung eines ruhigen Lebens hingegen ist weitestgehend unbekannt: Finde keine angeketteten Sparkassendirektoren auf deinem Weg!

Ich war also in dieser für Anfang Januar nicht allzu kalten Nacht gerade dabei, das Gitter vor der Hintertür meiner Trinkhalle aufzuschließen, als ich schräg links hinter mir ein Stöhnen hörte, dem ich angesichts der Temperaturen und aufgrund jahrelanger einschlägiger Vergleichsmöglichkeiten jegliche lustvolle Komponente absprechen musste. Nicht ohne eine gewisse Vorahnung drehte ich mich um. Hinter meinem kleinen Büdchen befand sich eine Freifläche mit dem Charme eines Schulhofes am Sonntagnachmittag, dem die Verantwortlichen in Hagen-Vorhalle den hochtrabenden Namen „Europaplatz“ verliehen hatten, vielleicht um zu zeigen, was sie von der Nachfolgerin der Montanunion hielten. Ein paar Kopfweiden hielten dort traurige Wacht, gestutzt von Ein-Euro-Jobbern, deren Arbeitsethos verständlicherweise etwa so hoch war wie das der Europaplatznamensgeber. Um besagte Weiden vor Beschädigung durch was auch immer zu schützen, waren sie jeweils mit einer umlaufenden Stange in einer Höhe von etwa 15 Zentimetern umgeben, und an einer dieser Stangen wimmerte und wand sich etwas. Bevor ich mir noch hinreichend bewusst gemacht hatte, wie unglaublich dämlich es ist, in tiefer Nacht einem Wimmern zu folgen, stand ich auch schon neben dessen Quelle und konnte sie als Herrn Schmelter identifizieren, den Leiter der Sparkassenfiliale, die direkt neben meinem Kiosk lag.

Allerdings sah er ganz und gar nicht filialleitermäßig aus: Sein etwas fülliger Körper steckte in einer deutlich zu engen Korsage, um seine stämmigen Beine spannten sich sehr billige schwarze Nylons (so etwas erkannte ich auch im Halbdunkel!) und zwischen seinen zappelnden Füßen lagen scheußliche Neun-Zentimeter-Pumps. Sein rechter Arm war mit einer sehr echt aussehenden Handschelle an das Rohr gefesselt, in der linken hielt er einen Stein, mit dem er offenbar versucht hatte, sich zu befreien. Ich hatte schon einen flotten Spruch auf den Lippen, der verschiedene sexuelle Vorlieben und ihre jeweiligen klimatischen Voraussetzungen zum Inhalt hatte, biss mir aber auf die Zunge, als ich den Mann genauer betrachtete. Sein rechtes Auge war zugeschwollen, auch der Hinterkopf sah seltsam aus, was vermutlich an dem getrockneten Blut auf seinem spärlicher werdenden Haupthaar lag. Das noch geöffnete linke Auge sah mich mit einer Mischung aus Panik und Hoffnung an (etwa im Verhältnis 2:1 für die Panik), die ihre Wirkung nicht verfehlte, obwohl ich den Herrn Schmelter in intaktem Zustand nicht gerade zu meinen Lieblingszeitgenossen zählte. Genau genommen war er sogar ein ziemlicher Unsympath und langweilig noch dazu, eben was man sich so unter einem Sparkassenfilialleiter vorstellt. Wieso haben die eigentlich dieses traurige Image? – Ich verschob die Beantwortung dieser Frage auf einen besser geeigneten, vor allem späteren Zeitpunkt und beugte mich unter Absonderung beruhigender Laute zu dem Verletzten.

„Keine Angst“, flüsterte ich in meinem sonorsten Bariton. „Ich rufe jetzt die Polizei, dann sind Sie in Nullkommanichts wieder frei und im Warmen.“

Das Drittel Hoffnung verabschiedete sich aus seinem Blick und ließ nur die einsame und nackte Panik übrig.

„Keine Polizei, um Gottes willen!“, quiekte er. „Bloß keine Polizei!“

Ein Blick auf seine derzeitige, zweifellos etwas heikle Situation machte schnell klar, was er meinte, und die allgemein menschliche Bosheit, die einen nicht geringen Teil meiner seelischen Landschaft besiedelte, freute sich diebisch: der Herr Filialleiter Schmelter, in ebenso tiefer wie kühler Nacht très dérangé nach einem offensichtlich aus dem Ruder gelaufenen Sexspielchen. – Herrlich!

Andererseits gab es in meiner eigenen, wild bewegten Vergangenheit durchaus zahlreiche Momente, deren Ausbreitung in der interessierten Öffentlichkeit mir alles andere als recht gewesen wäre, und so gewann neben dem kategorischen Imperativ schließlich das Mitleid mit diesem armen, wenn auch unsympathischen Schwein die Oberhand.

„Also gut.“ (Warum flüsterte ich eigentlich noch immer? – Noch so eine Frage ...) „Ich mache einen Anruf und hole Ihnen eine Decke aus dem Büdchen. Ich bin sofort wieder da, rühren Sie sich nicht von der Stelle!“ Ich mag ja meine angeborene Bosheit bisweilen bezwingen können, aber einen Kalauer auslassen? – Nimmermehr!

Ich trabte also zurück zum Kiosk und öffnete das schwere Gitter und die ebenso schwere Eisentür. (Vorhalle ist zwar nicht die Bronx des schönen westfälischen Hagens, aber ein schlecht gesichertes Häuschen voller Schnaps und Zigaretten hatte schon viele auf dumme Gedanken gebracht.) Ich machte Licht und rief Rudi an. Wie immer war er beim zweiten Klingeln wach und sofort am Apparat. Der leichte Schlaf war wohl eine Frucht diverser Knastaufenthalte. Ich erklärte ihm kurz die Lage, unterband seinen Heiterkeitsanfall und beorderte ihn stante pede zum Büdchen. Anschließend machte ich mich auf die Suche nach etwas Wärmendem für das Sexualopfer dort draußen. Ich griff eine Flasche Cognac. (Er würde sie ja wohl bezahlen, sonst hätte es eine Flasche von dem Pennerglück aus dem Großmarkt auch getan ...) Mein gutes Federbett, das im Hinterzimmer für Notfälle auf mich wartete, wollte ich nicht opfern, und so entschied ich mich für den türkisfarbenen Webpelzmantel, den Irina, die russische Perle, die zweimal die Woche den Laden putzte und mich im Notfall auch mal vertrat, irgendwann am Haken vergessen hatte. Schmelter war nicht in einer Situation, in der er auf der Beachtung modischer Feinheiten hätte bestehen können, und so protestierte er auch nur schwach, als ich ihm das scheußliche Teil überwarf. Gegen den Cognac hatte er dagegen überhaupt nichts einzuwenden. So hatten wir zwei es denn eigentlich so gemütlich, wie man es nur haben kann, wenn einer von beiden um drei Uhr morgens bei etwa sieben Grad plus in einer Korsage an eine Baumschutzstange in Hagen-Vorhalle gekettet ist.

Rudi war schnell da, weil er immer sofort zur Stelle war, wenn ich ihn brauchte, schon seit – na ja, seit damals eben. Die mir schon früh in Fleisch und Blut übergegangene Unaufrichtigkeit der Bühnenkinder war ihm gänzlich fremd, und so näherte er sich mit einem breiten Grinsen. „Todschicker Mantel, das. Kommen Sie gerade vom Banker-Ball?“, begrüßte er lautstark den heftig zusammenzuckenden Schmelter.

„Rudi, sei nicht gemein“, wies ich ihn, immer noch flüsternd, zurecht. „Bitte hilf Herrn Schmelter möglichst diskret aus seiner misslichen Lage. Ich bin sicher, er wird uns nachher alles erklären. In der Zwischenzeit mach ich schon mal Kaffee.“ Im Weggehen hörte ich Rudi noch murmeln, dass er auf diese Erklärung mehr als gespannt sei. Dann schusselte ich mit der Espressomaschine herum, bis mich plötzlich die Erinnerung an den eigentlichen Grund meines Hierseins durchzuckte. Das Bewusstsein, das man bestimmte Leute besser nicht auf den, ihnen versprochenen Whiskey warten lässt oder ihnen gar das Gefühl vermittelt, man wolle sich von seinen Spielverlusten absentieren, durchflutete mich mit einer Adrenalinausschüttung, mit der verglichen das nämliche Ereignis bei der Auffindung unseres Sparkassenfreundes ein milder Frühlingsregen gewesen war. Flugs nahm ich zwei Flaschen Dimple (statt einer!), sprang noch schnell bei Rudi vorbei, um ihn zu instruieren, den Schmelter nach erfolgter Befreiung ins Büdchen zu verbringen und dort auf meine Rückkehr zu warten, und war auf dem Weg zur Eule, dem Ecklokal etwa fünfzig Meter von meinem Kiosk entfernt. Massimo, der Wirt, hatte die Hintertür des Lokals, das von der Straße aus den Eindruck striktester Sperrstundenbeachtung erweckte, nicht abgeschlossen, und so stand ich wenige Minuten später vor der Runde meiner Pokerfreunde. Man sah ihnen an, dass sie schon nicht mehr mit mir gerechnet hatten, und es gelang mir nur unter Aufbietung meines gesamten Charmes, ihre aufkommende Verärgerung zu dämpfen, verbunden mit der Zusicherung, der mitgebrachte Whiskey sei selbstverständlich eine Spende, ebenso wie die fünfzig Euro, um die ich meine Spielschulden aufrundete ... Selbstverständlich wusste ich, dass höchstens die Hälfte der Schauermärchen, die man sich über den einen oder anderen der Kartenfreunde erzählte, wahr sein konnte, aber ich wollte keinesfalls am eigenen Leibe erfahren, welche. So war ich einigermaßen erleichtert, als ich die Pokerrunde gesund verlassen und meinen Weg zum Büdchen zurückgefunden hatte. Erwartungsgemäß waren die Handschellen kein großes Problem für Rudi gewesen, sodass die Herren bereits in der Küche saßen – die Cognacflasche beachtlich viel leerer als bei meinem Aufbruch und Schmelter immer noch in Irinas bestem Webpelz.

„Schön, dass ihr beiden es wenigstens gemütlich hattet“, knurrte ich missgünstig. „Herr Schmelter, ich freue mich zu sehen, dass Ihnen augenscheinlich nichts fehlt, was ein ordentliches Quantum Alkohol und mehrtägige Bettruhe nicht beheben könnten.“ Nach einem Blick auf das Monokelhämatom rund um sein rechtes Auge fügte ich hinzu: „Na ja, und vielleicht ein begabter Visagist. – Wie dem auch sei: Sie schulden meinem Freund Rudi und mir eine Erklärung und darüber hinaus den Gegenwert einer Flasche Cognac und zweier Flaschen Dimple sowie fünfzig Euro in bar.“ Sprach’s und griff mir ein Glas.

„Ich bin Ihnen beiden wirklich außerordentlich dankbar“, hob der Angesprochene an, „und selbstverständlich erstatte ich Ihnen auch alle Auslagen, die Sie meinetwegen hatten, Herr ... äh ...“ Das ist der Nachteil der Überheblichkeit: Man kennt den Namen des Gegenübers nicht, auf das man immer herabgesehen hat! Bislang hatte der Herr Filialleiter immer nur die knappste Andeutung eines Nickens als Antwort auf meinen Gruß gehabt, geschweige denn, dass der mal etwas bei mir gekauft hätte!

„Nobbe“, half ich aus. „Und dies ist mein Freund Rudi Völzgen.“

„Hans-Peter Schmelter, sehr angenehm“, murmelte er automatisch. Es schien ihm zusehends besser zu gehen. „An welche Summe hatten Sie denn gedacht?“, fuhr er fort und schob dabei ganz automatisch die Rechte unter den Türkispelz. Da war’s dann allerdings vorbei mit der Erholung: Seine Gesichtsfarbe wechselte von cognacgerötet zu puterrot, um dann auf dem Umweg über grünlich ein sehr unansehnliches Grau zu erreichen.

„Mir will scheinen, Herr Schmelter, Sie sind im Verlaufe der Ereignisse, die Sie schließlich hinter mein Büdchen gebracht haben, Ihrer Kleidung mitsamt Ihrer Brieftasche verlustig gegangen. Vermutlich mitsamt Ihres Hausschlüssels.“ Sein Grau wurde noch ein wenig unansehnlicher. „Ich schlage das nur ungern vor, aber meinen Sie nicht, es wäre jetzt doch an der Zeit, die Polizei zu rufen?“

Rudis Reaktion auf die Erwähnung der Ordnungskräfte war mir vertraut und aus biografischen Gründen nachvollziehbar. Interessanter war Schmelters Reflex: Sein Gesichtsgrau wechselte spontan zurück zu knallrot, und er schrie: „Keine Polizei, um Gottes willen! Sie machen uns noch alle unglücklich!“

Was mich daran unglücklich machen sollte, wenn Hagens Beste sich der Frage annahmen, was einen Filialleiter nächtens in die Korsage trieb, war mir unverständlich. Verständlich allerdings war die Entspannung, die sich auf Rudis Zügen ausbreitet, als er erfuhr, dass wir nicht unmittelbar mit dem Eintreffen der uniformierten Herren rechnen mussten. Meines Wissens hatte er in der letzten Zeit nichts besonders Illegales getan, aber was wusste ich schon?

Ich versuchte es erneut: „Herr Schmelter, Ihre privaten Vergnügungen gehen uns genauso wenig an wie Ihre sexuellen Präferenzen.“ – Er zuckte zusammen. – „Aber wer auch immer Ihr Spielpartner war, er oder sie hat jetzt Ihre Kleider, Ihre Brieftasche und Ihre Hausschlüssel. Meinen Sie nicht, es wäre angeraten, Ihre Wohnung und Ihr Eigentum zu schützen?“

Mittlerweile sah er beinahe wieder so elend aus wie kürzlich draußen am Baum. Er hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, wiegte den Oberkörper hin und her und murmelte vor sich hin: “Keine Polizei!“ Begriffsstutzigkeit zehrte von jeher an meinen Nerven.

„Na gut, dann schlage ich vor, Sie bestellen ein Taxi, fahren nach Hause und sehen nach dem Rechten. – Ach nein, Sie haben ja kein Geld, keinen Schlüssel und keine Kleidung, die man einem Taxifahrer präsentieren sollte!“

Schmelters Blicke wechselten zwischen Rudi und mir. „Aber wenn Sie vielleicht ...“

„Oh nein, mein Herr!“, fuhr ich ihm in die Parade. „Nein, nein, nein! Wir werden nicht mitten in der Nacht mit Ihnen durch die Gegend fahren und Ihnen Zutritt zu Ihrer eigenen Wohnung verschaffen! Wir werden uns nicht dabei erwischen lassen und die nächsten 24 Stunden in Polizeigewahrsam verbringen! Stattdessen wird sich der liebe Rudi jetzt verabschieden, dann werde ich die Herren von der Polizei informieren, und damit endet die Geschichte!“

So schlecht ging es ihm offenbar doch nicht, dass sich nicht ein schlaues Funkeln in seine Augen hätte schleichen können. „Aber dann müsste ich den Herren ja auch erzählen, wer mich befreit hat und mit wie professionellem Werkzeug das gemacht wurde ...“ Rudi wurde es ungemütlich. Sein Werkzeug war ihm heilig. „Andererseits: Wenn Sie mich diskret nach Hause bringen, mich in die Wohnung lassen und Stillschweigen über die ganze Angelegenheit bewahren, dann sind für jeden von Ihnen 500 Euro drin, bar und steuerfrei!“

Für Fünfhundert muss man eine ganze Menge Krombacher verkaufen. Zu Rudi musste ich gar nicht erst hinübersehen, um zu wissen, dass die Dollarzeichen in seinen babyblauen Augen aufleuchteten. Und am Ende: Was gingen uns schon die privaten Probleme des Herrn Schmelter an?

„Also gut“, sagte ich. „Es läuft so: Wir fahren hin, lassen Sie rein, Sie geben uns die Flocken, wir sind weg, und keiner wird sich jemals wieder an diese Nacht erinnern. Haben Sie das Geld daheim? – Ich meine, falls überhaupt noch etwas da ist?“

„Mein Safe hat ein Zahlenschloss“, erwiderte Schmelter, nun schon sichtlich erholt und mit nahezu normaler Gesichtsfarbe.

„Gut, dann los!“, kommandierte ich. „Hier im Schrank ist ein Jogginganzug, der Ihnen leidlich passen wird. Ziehen Sie den über!“

„Du hast einen Jogger?“, äußerte Rudi sein Erstaunen.

„Das hast du gar nicht erst gehört und außerdem sofort vergessen!“, beschied ich ihm.

Wir hatten uns nicht lange mit Diskussionen über Promillegrenzen aufgehalten, sondern waren direkt in meinen alten Clio gestiegen und in die Innenstadt gefahren. Schmelter wohnte in einem Haus unweit des Hauptbahnhofes, dessen Gründerzeitfassade wirkte, als hätte sie seit eben jener Epoche keine neue Farbe mehr auf den Putz bekommen. Im Treppenhaus roch es genauso, wie es draußen aussah. Umso erstaunlicher war die Wohnung, die sich hinter der Tür mit dem abblätternden Lack im obersten Stockwerk verbarg. (Die Schlösser waren keine Herausforderung für Rudi gewesen.) Die Decken waren ungefähr vier Meter hoch, der Stuck liebevoll und hochpreisig restauriert, und unter den Möbeln befand sich eine beachtliche Menge an Designerstücken. Der Rest war antik. Zu meinen Glanzzeiten war ich in genügend Wohnungen dieser Kategorie ein- und ausgegangen, um zumindest dies beurteilen zu können: Hier stank es geradezu nach Geld!

In seiner heimischen Umgebung ging eine erstaunliche Wandlung mit unserem Gastgeber vor sich: Mit Betreten der Wohnung straffte sich seine ganze, etwa 1,70 Meter messende Gestalt, sogar das Bäuchlein, um das herum mein Laufanzug bedenklich spannte, schien etwas zu schrumpfen.

„Bitte meine Herren, bedienen Sie sich an der Bar, ich mache mich nur schnell frisch!“, forderte Schmelter uns nach einem ebenso schnellen wie erfolglosen Rundgang auf der Suche nach Spuren unbefugten Eindringens auf und wies in Richtung eines ganz zauberhaften Art-déco-Möbels, während er selbst in Richtung Schlafzimmer schritt.

Rudi und ich genehmigten uns ein ordentliches Quantum eines Cognacs, dessen Flasche wahrscheinlich geblasen worden war, als erstmals das „Ça Ira“ an den Ufern der Charente gehört wurde, und von dem vermutlich jeder Schluck den Gegenwert sämtlicher Spirituosen in meinem Büdchen aufwog, vielleicht sogar inklusive Büdchen und Clio und allem.

Schweigend taxierten wir, jeder auf seine Weise, die Einrichtung. Ich konnte förmlich den Abakus in Rudis Kopf klicken hören, während er addierte, welchen Schwarzmarktwert all die kleinen und größeren Wertgegenstände darstellten, die hier scheinbar achtlos herumlagen und -standen. Mich hingegen überkam eine gewisse Wehmut beim Gedanken an die pekuniären Aussichten, die sich in den vielen, vielen Wohnungen dieser Art (und insbesondere in deren Schlafzimmern) meinem früheren, acht Kilo leichteren Ich geboten hatten. „Ach ja, lang, lang ist’s her!“, seufzte ich.

„Für mich bist du immer noch ein Star!“, schmachtete mich der gedankenlesende Rudi mit treuem Aufschlag seiner völlig deplatziert babyblauen Augen an. So war er eben, der Rudi: Für ihn war ich immer noch sein Held in schimmernder Rüstung (oder wahlweise seine Heldin in Strass und Flitter). Ganz wie damals, als man mich in Köln und Dortmund, in Hamburg und Berlin als ChiChi de la Volière bejubelte. – Heute kennt man mich in Hagen-Vorhaller Alkoholikerkreisen als Nobbe vom Kiosk.

Umgekehrt sah ich in diesem Riesenkerl stets den großen Bruder, den ich nie gehabt hatte, der mich beschützte und mir zeigte, wie das Leben beschaffen war. – In Wirklichkeit hatte ich immer eine Feile in der Küche liegen, um sie notfalls in einen Kuchen einzubacken, wenn sie ihn mal wieder hochnähmen. Vielleicht waren es ja gerade diese wechselseitigen Illusionen, die uns so fest aneinanderbanden, obwohl es zwischen uns nie zum Äußersten (oder, gemessen an meiner früheren Gefälligkeitenskala auch nur zum Geringsten) gekommen war. Ich war mir ziemlich sicher, er würde freudig erregt für mich sterben, und ich für ihn – nun, vielleicht töten.

Mein stummer Monolog wurde durch die Rückkehr unseres Gastgebers unterbrochen. Den unmöglichen Jogginganzug hatte er durch einen recht geschmacklosen, aber sauteuren Morgenmantel mit Drachenstickereien ersetzt. Er strahlte eine Selbstsicherheit aus, die ich an dem arroganten, Polyesteranzug tragenden Filialleiter nie bemerkt hatte.

„Ich sehe, Sie sind versorgt, meine Herren. Dann wollen wir mal zum Geschäft kommen.“ Aus jeder Morgenmanteltasche zog er einen Fünfhunderter. „Es tut mir leid, aber ich habe nicht genug kleine Scheine im Haus.“

Beide steckten wir je unseren Schein ein und nahmen noch einen Schluck Branntwein.

„Meine Herren, ich bin Ihnen für Ihre Hilfe – und auch für Ihre Diskretion, versteht sich – ausgesprochen dankbar. Sollten Sie einmal Schwierigkeiten mit Ihrem Konto haben“, dabei lächelte er ebenso vage wie dünn in meine Richtung, „wenden Sie sich bitte jederzeit vertrauensvoll an mich.“

„Vielen Dank, Herr Schmelter!“ Rudi überließ das Reden in der Öffentlichkeit immer ganz gerne mir ... „Mein Freund Rudi und ich wissen Ihre Großzügigkeit zu schätzen. Offensichtlich ist ja in Ihrer Wohnung alles an Ort und Stelle, aber sind Sie sicher, dass das auch über Nacht so bleibt? Und was den Gang der Ereignisse bis zu Ihrer Befreiung angeht ...“

„Herr, äh, Nobbe“, fiel er mir ins Wort, „unsere Verabredung war, dass ich als Gegenleistung für die Ihnen überreichten Geldmittel ein Anrecht auf Ihre Verschwiegenheit habe, und am verschwiegensten ist naturgemäß, wer nichts weiß. Hinsichtlich meiner Sicherheit machen Sie sich keine Sorgen: Sobald Sie ausgetrunken haben, werde ich einen Schlüsseldienst anrufen.“ Er blickte Rudi an und gestattete sich ein weiteres dünnes Lächeln. „Vielleicht sollte ich diesmal etwas besser gesicherte Schlösser nehmen.“

Rudi nickte und holte Luft. Wenn ich ihn jetzt nicht stoppte, würde er zu einem ausführlichen Vortrag über einbruchsichere Schlösser und deren Überwindung ansetzen.

„Natürlich haben Sie recht“, platzte ich heraus. „Ich garantiere Ihnen, dass wir die Ereignisse der heutigen Nacht schon auf unserem Weg nach Hause vergessen haben werden, auf den wir uns im Übrigen jetzt machen. – Rudi, kommst du?“

Rudi kippte sein sündhaft teures Getränk hinunter und nickte mir zu: „Jau.“

Im Auto schaute ich auf die Uhr. „Verdammt“, maulte ich, „schon kurz vor fünf! Da brauche ich mich erst gar nicht mehr hinzulegen.“

„Mach dir nichts draus“, tröstete Rudi, der Unverwüstliche. „Früher haben wir auch manche Nacht durchgefeiert. Du steigst am Büdchen aus, kochst dir ein paar Liter Espresso, und ich fahr den Wagen zu dir, kümmere mich um Carlchen und bringe später Auto und Hund bei dir vorbei.“

Carlchen war mein Rauhaardackel, mit  vollem Namen Carl Maria von Weber. Zu seinem Namen war er gekommen, weil ich einmal gelesen hatte, dass eine frühere Bundesministerin ihren Dachshund „Dr. Martin Luther“ genannt hatte. Eigentlich war ich gar kein großer Opernfreund, aber wenn schon, dann bitte so etwas wie Verdi, wo jeder Takt so klingt, als wär’s die italienische Nationalhymne. – Aber rufen Sie mal Ihrem Hund zu: “Giuseppe, bei Fuß!“ Außerdem hatte ich meines Dackels Namensgeber gegoogelt und konnte jetzt sagen, wenn er sich wirklich schwer daneben benahm: “Carl Maria Friedrich Ernst von Weber, so aber nicht!“

„Danke, mein Herz“, sagte ich und stöhnte. „Ich werde dich in mein Frühmorgengebet einschließen.“

Schon unter günstigen Bedingungen war ich kein Morgenmensch. Leute, die des Morgens um sieben mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen aus dem Bett springen, waren mir von jeher ein Gräuel gewesen. Wenn ich aber eine Nacht mit Pokerverlusten, verschiedenen Sorten Alkohol und Bankern in Korsagen hinter mir hatte, dann war eben gar nichts mit mir anzufangen und entsprechend enttäuscht waren meine Frühkunden: Die Grundschüler, die normalerweise immer eine Gummischlange mehr für ihre fünfzig Cent bekamen, wunderten sich über ihre genau abgezählten und lieblos hingeknallten Tüten, die Azubis und Hauptschüler, die sich an meine morgendliche Flirterei gewöhnt hatten, wenn sie Kippen und Kicker bei mir erstanden, waren von meiner steinernen Miene gekränkt, ebenso wie die Nachbarsfrauen, die auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkauf neben Zeitungen, Zigaretten und Brötchen auf ein bisschen aktuellen Klatsch hofften. Gegen elf kam Rudi angetrabt, frisch geduscht und mit Carl Maria im Schlepptau. Beide sahen geradezu unverschämt entspannt aus. Immerhin konnte ich zu ihrer Ehrenrettung feststellen, dass beide sich offenbar freuten, mich zu sehen. So herzte ich denn auch alle zwei, gab Carl Maria ein paar Leckerchen und hob ihn auf seinen Stammplatz im Kioskfenster – auf der Zeitungsseite, nicht bei den Süßigkeiten!

„Und, ist der Banker schon vorbei gekommen und hat dir ’nen Sparkassenkalender gebracht?“, flachste Rudi.

„Der wird sich heute erst mal krankgemeldet haben“, gab ich zurück. „Ich würde das jedenfalls. – Aber ich würde auch nicht bei der Sparkasse buckeln, wenn ich mir so eine Wohnungseinrichtung leisten könnte.“

„Ja, das war ’n Kracher, die Wohnung! Was meinst du: geerbt oder krumme Dinger?“

„Jedenfalls nicht erheiratet.“ Ich grinste boshaft. „Selbst im Seidenmorgenmäntelchen sah er immer noch ganz schön filialleitermäßig aus.“

„Also Drogen? Oder so ’ne Finanzscheiße?“, mutmaßte Rudi.

„Keine Ahnung, mein Lieber. Jedenfalls haben wir ihm Diskretion versprochen, und Diskretion ist die Mutter aller Geschäfte. Also werden wir’s wohl nie erfahren.“

„Ach, hör schon auf! Du bist genauso neugierig wie ich!“

Diesen Moment wählte Irina für ihren Auftritt. Meine deutsch-russische Perle hatte ich zusammen mit der Ladeneinrichtung von der Vorbesitzerin des Kiosks übernommen und während ich einen Gutteil der Einrichtung mittlerweile ausgetauscht hatte, war Irina geblieben. Im Laufe der Jahre hatte sich ein Freundschaftsverhältnis zwischen uns entwickelt, das über Kleinigkeiten wie Staubmäuse unter den Regalen weit erhaben war.

„Irina, mein Herz“, begrüßte ich die Hereinrauschende. Sie betrat einen Raum nicht einfach, sie schwebte, toste, trippelte, was immer ihr gerade angemessen erschien. „Du hast dich im Tag geirrt. Heute ist Mittwoch!“ Ihre festen Tage waren Dienstag und Freitag, darüber hinaus alle, die sie für richtig hielt.

„Hab ich nicht, Schätzchen“, entgegnete sie in akzentfreiem Deutsch. Fehlerhafte Grammatik, vorgeschaltetes „J“ bei hellen Vokalen und Verwechslungen von „O“ und „A“ hob sie sich für unangenehme Kunden und hysterische Anfälle auf.

„Wunderbar!“, log ich, immer noch morgenmuffelig infolge Schlafmangels. „Geh nach hinten und nimm dir einen Espresso!“ Hinter dem eigentlichen Verkaufsraum befand sich eine kleine Küche, an die sich wiederum ein kleines Lager und ein noch kleinerer Wohn-Schlafraum mit winzigem Bad anschlossen. In meiner ersten Zeit in Hagen hatte ich hier geschlafen, und noch immer nutzte ich die Räume gerne als Notquartier, etwa wenn es in der Eule arg spät geworden war oder ich Banker hatte befreien müssen.

Irina ging gekonnt nach hinten ab, und ich verkaufte gerade einen Kicker an Herrn Schlüter, einen freundlichen älteren Herrn aus der Nachbarschaft, als das Geschrei losging.

„Wo ist Mantel?“, hörte ich in einigermaßen schrillem Diskant, gefolgt von unverständlichen Lauten Rudis, die offenbar beruhigend gemeint waren, dem sich steigernden Lamento nach aber ihr Ziel komplett verfehlten. Akzent und Lautstärke meiner Perle verstärkten sich, die Anzahl der eingestreuten russischen Flüche nahm dramatisch zu und mein harmoniesüchtiger Dackel begann zu winseln. Ich bugsierte Herrn Schlüter aus dem Laden, tätschelte den Hund und verfügte mich nach hinten, nicht ohne ein Stoßgebet an den Heiligen Genesius von Rom zu richten, den Schutzheiligen des Bühnenvolkes.

Was Irina an echtem schauspielerischen Talent fehlte, das machte sie durch Hingabe mehr als wett. Als ich den hinteren Raum erreichte, sah ich eine russische Mamutschka vor mir, der eine wütende Soldateska ihren Erstgeborenen von der Brust gerissen und einem ungewissen Schicksal überantwortet hatte. Natürlich ging es um den türkisfarbenen Webpelz, den wir am frühen Morgen bei Schmelter vergessen hatten. Das widerliche Kleidungsstück hatte wochenlang meinen Wandhaken verunziert, ohne von Irina auch nur eines Blickes gewürdigt worden zu sein. Aber selbstverständlich hatte sie gerade heute beschlossen, ihn dringend zu brauchen! Um auf diesen Stand der Dinge zu kommen, brauchte ich solide fünf Minuten, weitere dreieinhalb, um mich über sämtliche Vorzüge dieses abscheulichen Textils aufklären zu lassen, und noch einmal vier, in denen ich die Anrufung einer stattlichen Anzahl an Heiligen der orthodoxen Kirche als Zeugen gegen den treulosen Freund (mich), der eine mittellose Witwe schutzlos in Wind und Wetter hinausjagt, zu hören bekam. Mein eingestreuter Hinweis auf den Mantel, in dem sie den Kiosk betreten hatte, verfing ebenso wenig wie die Andeutung, dass ihre Garderobe vermutlich mehr Mäntel umfasste wie weiland die von Imelda Marcos Schuhe. Erst als ich ihr verzweifelt zusicherte, ihren Mantel stehenden Fußes und unversehrt wieder zu beschaffen, versiegten Lamento und Tränenfluss abrupt. Darum beneidete ich sie wirklich: Irina konnte einen mehrminütigen Heulkrampf hinlegen, ohne ihren Mascara zu verschmieren. Ich hätte bei so etwas ausgesehen wie ein Waschbär, aber meine Mascarazeiten waren ja auch vorbei.

„Keine Sorge, Irina-Herzchen“, plapperte ich auf sie ein. „Rudi und ich holen jetzt in Windeseile deinen Mantel! Pass du nur einen Moment auf Dackel und Laden auf, dann hast du das gute Stück in ein paar Minuten wieder.“

„Ährrlich?“, fragte sie, noch immer nicht ganz aus der russischen Großfürstinnenrolle herauskommend und sich dezent die Augenwinkel tupfend.

„Aber natürlich! – Komm, Rudi!“

Auf dem Weg in die Innenstadt fragte ich meinen Kumpel: „Ich nehme an, du hast Schmelters Telefonnummer auch nicht?“

„Woher wohl? – Ich kenne den Typ doch nur vom Weggucken!“

„Na, er wird ja wohl zu Hause sein und ein Kotelett auf dem Auge liegen haben“, meinte ich und parkte ein.

Die Haustür war wie bei den meisten dieser Häuser tagsüber nicht verschlossen. Warum auch? Keine Einbrecher von Ehre würde diese Hütte eines zweiten Blickes würdigen, und selbst die Amateure konnten überall bessere Übungsobjekte finden. Wir stiegen also die vier Stockwerke hoch und klingelten direkt an der Wohnungstür. Im Film wäre die anschließende Nichtreaktion von unheilschwangerer Musik unterlegt gewesen, in der Realität passierte einfach nichts. Man hörte den Straßenlärm, man hörte irgendwo im Haus ein Kind schreien, in der Wohnung hörte man – nada.

„Scheiße“, murmelte Rudi, „Irina wird uns die Haut in Streifen abziehen!“

„Und das an einem Mittag nach einer schlaflosen Nacht“, ergänzte ich maulend und versetzte der Tür einen missmutigen Tritt, worauf diese aufsprang ...

„Ja, das ist bei diesen alten Schnappschlössern schon mal so“, sprach der fachmännische Rudi weise. „Wenn man nicht abschließt, springen die ratzfatz auf.“

„Wie kann man eine Wohnung mit so viel teurem Schnickschnack nur so schlecht gesichert lassen?“, fragte ich Rudi und auch mich selbst.

„Um keinen der Nachbarn nachdenklich zu machen“, kam die prompte Antwort. „Manchmal ist es sicherer, wenn einfach jeder denkt, es ist sowieso nichts zu holen. – Sieh dir doch nur mal das Haus an!“

Ich nickte, schob die Tür ein kleines Stückchen weiter auf und rief durch den Spalt: „Herr Schmelter? – Nobbe und Völzgen hier, wir wollten nur den Mantel wieder holen.“ Keine Antwort.

„Nur kurz rein, Mantel nehmen und wieder raus?“, schlug Rudi erregt vor. Wie jeder wirklich begabte Einbrecher übte er seine Profession nicht allein des Geldes wegen aus, sondern auch – vielleicht sogar in erster Linie – wegen des aufregenden Gefühls, sich ungehindert in einer fremden Lebenswelt zu bewegen. Dieser Reiz war mir völlig fremd. Zu meinen Glanzzeiten hatte ich mich höchstens ungehindert in fremden Ehebetten bewegt, und in allererster Linie war es dabei um Geld gegangen. Aber der Gedanke an Irina und ihre Reaktion, wenn wir ohne den fluchwürdigen Webpelz zurückkehrten, ließ mich alle Bedenken beiseiteschieben.

„Also gut“, flüsterte ich. „Aber nur rein, raus, fertig.“

„Wie früher, was?“, grinste Rudi frech.

„Ich habe nie im Auto gearbeitet, du dummes Ding“, wies ich ihn würdevoll zurecht, „und jetzt voran!“

Schmelter hatte sich vermutlich im Schlaf- oder Badezimmer umgezogen, deshalb wandte ich mich im Wohnungsflur nach links, während Rudi nach rechts ins Wohnzimmer ging, für den Fall, dass unser Freund schon ein Textilpäckchen geschnürt hatte, das er mir in den nächsten Tagen vorbeibringen wollte. Ich war noch gar nicht so recht dazu gekommen, die Stilsicherheit, mit der das Empire-Schlafzimmer eingerichtet worden war, zu würdigen, als ich Rudi ein hässliches Geräusch machen hörte. Ich lief zu ihm und äußerte mich ganz ähnlich. Herr Schmelter war zu Hause, und er war sehr, sehr tot.

Kapitel 2 – Donnerstag, 9. Januar

Sie (wer auch immer sie waren) hatten ihn übel zugerichtet. Schmelter war an einen seiner schicken Esszimmerstühle gefesselt und hatte eine Socke als Knebel im Mund stecken. Bis auf die Seile, die ihn aufrecht auf dem Stuhl hielten, war er vollkommen nackt. Die Wunden, die seinen gesamten Körper (inklusive der delikatesten Stellen) bedeckten, ließen auf eine systematische Folterung schließen, mit Zigaretten und einem sehr scharfen Messer. Dass nur noch Schmelters linkes Auge, das nicht zugeschwollene, ins Leere blickte, machte die Szenerie noch gespenstischer.

Ich stand etwa einen drei viertel Schritt hinter Rudi, der auf halbem Weg zum Esstisch erstarrt war. Ganz automatisch zog ich mein Telefonino aus der Tasche (nicht einmal in Gedanken nannte ich die Dinger Handy) und hatte schon „11“ eingetippt, als Rudi sich zu mir umdrehte und mir das Gerät aus der Hand nahm.

„Denk nicht mal dran“, sagte er unnatürlich ruhig. „Wir nehmen jetzt den bescheuerten Mantel und deinen Jogger. Dann gehen wir und sind niemals hier gewesen, verstanden?“

Nach vergleichsweise kurzer Überlegung musste ich ihm zustimmen: Selbst wenn wir zwei Stützen der Gesellschaft gewesen wären, hätte unser unbefugtes Eindringen samt Auffindung des Verstorbenen einiger Erklärungen bedurft. (Von dem elenden Mantel einmal ganz abgesehen!) Die Tatsache unserer wackligen Alibis für die vergangene Nacht hätte die Situation nicht verbessert und wenn die Ordnungskräfte dann noch einen genaueren Blick auf unsere jeweilige Vergangenheit geworfen hätten ... Ich sprang ins Schlafzimmer und raffte Mantel und Trainingsanzug an mich, die immer noch zusammengeknuddelt auf dem Boden lagen, wie Schmelter sie vermutlich vor einigen Stunden hinterlassen hatte. Innerhalb von Sekunden war ich zurück und keuchte: „Los jetzt, weg!“

„Moment noch, Liebes!“ Rudis Routine in Sachen Aufenthalt in fremden Wohnungen verlieh ihm eine Gelassenheit, die meine Nervosität unbarmherzig in Richtung Hysterie trieb. Er nahm mir mein Joggeroberteil aus der Hand und wischte damit sehr gründlich die Platte der Hausbar ab. Dann wickelte er die beiden Cognacgläser und die Flasche vom frühen Morgen, die noch unverrückt am selben Platz gewartet hatten, in den Stoff und wandte sich mir zu: „Hast du sonst noch irgendwas angelangt?“

Ich konnte nur den Kopf schütteln, sowohl angesichts der Situation als auch antworttechnisch.

„Gut, dann Abflug!“

Die Wohnungstür ließ er angelehnt, Knauf und Klingel wischte er ebenso gründlich ab wie zuvor die Bar, diesmal mit der Jogginghose. Beim Hinuntergehen flüsterte er mir zu, während er aus Gläsern, Spirituosen, Sporttextilien und dem Webpelz ein handliches Bündel schnürte: „Wir flanieren jetzt vollkommen gelassen zu deinem Wagen. Lass dir bloß nicht einfallen zu rennen!“

Soviel wusste ich auch: Wenn du willst, dass sich jeder an dich erinnert, dann flitz die Straße runter, als sei der Leibhaftige hinter dir her! Die Umsetzung dieser theoretischen Erkenntnis in tatsächliche Bewegungsabläufe erwies sich allerdings als echte Herausforderung. Meine Beine schienen eine ganz andere Meinung über das der Situation Angemessene zu haben als mein Kopf, sodass ich alle Vorräte an Selbstbeherrschung aufbringen musste, sie am Galopp zu hindern. Als wir die paar hundert Meter zum Auto geschafft hatten, war ich verschwitzt und erschöpft wie nach einem Halbmarathon.

„Und jetzt?“, fragte ich Rudi nicht eben originell, aber zutreffend.

„Jetzt fahren wir zum Büdchen, geben Irina ihren Drecksmantel wieder, leeren heute Abend den Cognac und entsorgen die Gläser.“

„Und dann?“

„Dann vergessen wir die ganze Angelegenheit!“, schloss Rudi die Debatte. Glaubte er.

„Aber bist du denn nicht wenigstens ein ganz kleines bisschen neugierig?“, hakte ich nach.

„Neugierig – ja. Lebensmüde – kein bisschen!“ Diesmal wollte er die Diskussion wirklich beenden. „Der Mann sieht aus, als hätte ihn ein Profi gefoltert. In was auch immer der Schmelter da reingeraten ist, ein Sexunfall war das ganz bestimmt nicht. Und wenn du irgendwo Profis foltern siehst, dann lauf so schnell und so weit du kannst!“

„Aber wie kommt ausgerechnet jemand wie der Schmelter nachts in dem Aufzug an die Stange hinter meinem Laden? Und was wollten die Leute von ihm wissen, die ihn so zugerichtet haben? Und haben sie’s erfahren? Und ...“

„Stopp!“, fuhr mir Rudi in die Fragenparade. „Ich weiß es nicht, und besser ist das! Wenn ich es nämlich wüsste, wär’ ich jetzt genauso tot wie der Bankmensch. Also: Vergiss die ganze Geschichte, freu dich über das leicht verdiente Geld von gestern Nacht und kümmer’ dich um deine Einkaufsliste fürs Wochenende, okay?“

Irina nahm ihren Mantel gnädig entgegen, allerdings nicht ohne intensive optische, taktile und olfaktorische Untersuchung des guten Stücks. Meine Erklärung, ich hätte den Mantel einer Freundin geliehen, fand weniger Gnade vor ihr, zumal ich ihr den Namen der Freundin nicht nennen wollte. So teilte sie mir bei ihrem Abgang mit, sie wisse noch nicht, ob sie am Freitag kommen könne. – Ihre Art der Rache. Pflichtschuldigst bekniete ich sie ein wenig und flehte sie an, mich doch bitte nicht im Dreck verkommen zu lassen. Ohne ihre Hilfe wäre ich doch vollkommen aufgeschmissen etc. Leidlich versöhnt teilte sie mir mit, sie wolle sehen, was sie tun könne, und rauschte ihrer Wege.

Kurz danach überließ ich die Ladenaufsicht Rudi, um mit Carl Maria Gassi zu gehen, dem Hunde zu Nutz und mir zu Frommen. Ich brauchte dringend etwas frische Luft! Aber auch die große Gassi-Runde hatte Schrecken und düstere Stimmung nicht zu vertreiben vermocht, und so war es mir eine willkommene Ablenkung, als ich bei meiner Rückkehr Rudi in vertrautem Gespräch mit Felix Geldern vorfand. Felix war Rudis Vermieter und außerdem ein Phänomen: ein international erfolgreicher Speditionsunternehmer, der nebenbei auch noch mit allem möglichen anderen Finanziellem jonglierte und dabei ein ganz normaler Mensch war. Er war konservativ in Gedanken, Worten und Werken, kleidete sich auch so, ließ sich von seiner Frau im Presbyterium seiner orthodox-lutherischen Kirchengemeinde vertreten und hatte nichts gegen Schwule. Der Mann war auf der ganzen Welt zu Hause und fühlte sich am wohlsten, wenn er in den westfälischen Wäldern auf die Pirsch gehen konnte. Standhaft schmetterte er die periodisch eintrudelnden Übernahmeangebote für seine Firma ab und beließ mit größter Hartnäckigkeit den Firmensitz in Hagen in Westfalen sowie seinen Lebensmittelpunkt in Wetter an der Ruhr, dem Nachbarstädtchen. – Ich hätte vermutlich schon beim leisesten Anzeichen von Interesse die Lkw-Flotte und sämtliche Lagerhallen für ein Achtel des Wertes verkloppt und meinen immer noch knackigen Hintern nach Barbados verfrachtet. Wahrscheinlich hatte ich deshalb auch nur ein Büdchen und keine Lkw-Flotte ...

Rudi hatte von ihm eine ehemalige Tankstelle samt Wohnhaus gepachtet, die sich auf einem der Geldernschen Firmengelände befanden und vor Rudis freundlicher Übernahme fünfzehn Jahre lang leer gestanden hatten. Felix hatte ihm das Gelände zu einem eher symbolischen Pachtzins überlassen, verbunden mit der Auflage, Haus und Hof ordentlich und präsentabel zu halten. Rudi revanchierte sich, indem er sein neues Anwesen gründlich renovierte und eine kleine Autowerkstatt einrichtete, in der er sich überwiegend um die Privatwagen von Felix’ Brummifahrern kümmerte. Bei irgendeiner Gelegenheit hatte ich den Herrn Geldern auch kennengelernt, und nun machte er regelmäßig an meinem Büdchen Station, um einen Espresso zu trinken, gerne auch als Coretto, also mit einem tüchtigen Schluck des sensationellen Grappa, den Massimo von der Eule über seine weitverzweigte Verwandtschaft vom Fuße der Dolomiten einschmuggelte. Da Felix zur Abwicklung seiner Alltagsgeschäfte die Hilfe heimischer Geldhäuser bevorzugte, kam er häufig nach Besuchen bei der Sparkasse nebenan bei mir vorbei, und bei einer dieser Gelegenheiten hatten wir uns so angeregt unterhalten, dass wir schließlich den Kaffee weggelassen und nur noch Grappa getrunken hatten. Seitdem waren wir per Du.

„Felix, mein Bester!“, begrüßte ich ihn. „Verfolgst du Rudi, weil er wieder sein Altöl auf deinen Hof gekippt hat, oder hattest du Sehnsucht nach mir?“ Mein schmachtender Augenaufschlag (gelernt ist gelernt!) amüsierte ihn, hätte ihn aber selbst in meinen allerbesten Zeiten nicht eine Sekunde verunsichert. Er gehörte zu diesen Heteromännern, die sich der eigenen Sexualität so sicher sind, dass Schwule sie nicht im Geringsten nervös machten. Und in seine sonst recht skrupulöse lutherische Theologie passte er das Phänomen völlig problemfrei ein, wie er mir bei unserem Coretto-ohne-Caffè-Nachmittag erläutert hatte: „Unser Herrgott wird sich schon etwas dabei gedacht haben, als er so viele von eurer Sorte geschaffen hat.“

„Ob der noch mit ein paar Fässern Altöl nachhilft, das macht den Kohl auch nicht mehr fett, bei dem Vermögen, dass ich an Entsorgungskosten jeden Monat bezahlen muss!“ Auch in dieser Beziehung war er bodenständig-westfälisch: Noch nie hatte jemand von ihm gehört, dass seine Geschäfte gut gingen, obwohl er geradezu minütlich reicher wurde! Seinem Jammern nach zu urteilen, stand er ständig unmittelbar davor, dass seine Frau und seine drei strammen Buben in die Sklaverei verkauft würden, während er selbst sein elendes Erdendasein im Schuldturm beenden würde.

„Ja, es ist eine Schande, wie sich die ganze Welt verschwört, dich um die so schwer erworbenen Früchte deiner Arbeit zu bringen“, tröstete ich ihn. „Schmeckt wenigstens der Espresso?“

„Ein Traum“, entgegnete er, „oder, wie du sagen würdest, ein Träumchen! Ich nehme an, du hast deine Meinung immer noch nicht geändert?“ Das war so ein Dauerthema zwischen uns: Er hatte mir vor längerer Zeit eine vollkommen blödsinnige Summe für meine Faema E61 geboten, ein Wunder von einer Espressomaschine, das ich völlig verrottet auf einem Flohmarkt entdeckt und das Rudi mit seinen Zauberhänden in unzähligen Stunden wieder zum Leben erweckt hatte.

„Du weißt doch, Felix“, sagte ich und stöhnte dabei, „meine raffgierige Seele ist in höchster Gefahr, wenn du mit deinem Geld um dich wirfst. Aber wenn ich dir das Maschinchen verkaufe, das wäre so, als wenn du dich von deiner Flotte trennst!“

„Nur dass du vermutlich schon seit vielen Jahren keine laufenden Einnahmen mehr brauchst“, fügte Rudi breit grinsend hinzu.

„Wenn du wüsstest“, hob Felix an. „Diese Bolschewiken in den Finanzämtern ... Aber ich muss los!“, unterbrach er sich selbst mit Blick auf die Uhr. „Ich komme nachher noch auf ein Tässchen vorbei, Nobbe. Tschüss Rudi!“ Und weg war er.

„Tja, ich mach mich dann auch mal auf den Weg“, meinte Rudi. „Ich bin zum Feierabend wieder hier, dann trinken wir den Cognac zum Vergessen.“

„Bis später, Schätzchen!“, rief ich dem Fast-Zwei-Meter-Kerl hinterher und räumte meinen kleinen Verkaufsraum auf. Flugs wischte ich die Marmorplatten der drei Stehtische ab und trug die Espressotässchen in die Küche. Zwischendurch verkaufte ich noch schnell ein paar Marlboro am Fenster und plauderte kurz mit Gerda, die den Friseursalon auf der anderen Straßenseite betrieb und die für ihre Lieblingskundinnen gerne mal einen Espresso bei mir holte. Die nicht so beliebten wurden mit ordinärem Filterkaffee abgespeist. Wir hatten gerade die neuesten Neuigkeiten ausgetauscht und Gerda war mit einem fröhlichen „Tüskes, bis später!“ über die Straße gesprungen, als sich die Tür zum Verkaufsraum öffnete und Felix zurückkam.

„Na, das ging aber schnell, Herr Generalspediteur“, begrüßte ich ihn.

„Wenn ich eins hasse, dann ist es Unzuverlässigkeit!“, entgegnete er barsch. „Hast du noch einen Espresso, diesmal mit?“

„Kommt sofort. – Ist eine Besprechung geplatzt? Dann hast du ja jetzt Zeit für zwei Tässchen.“

„Ja, so kommt aus allem Schlechten auch etwas Gutes.“ Er lächelte schief. „Der Schmelter von der Sparkasse hat mich versetzt. Hat sich noch nicht mal krankgemeldet, der Halunke.“

Ich klapperte ein bisschen mehr mit den Tassen als üblich, aber dank – mittlerweile leider schon – jahrzehntelanger Übung in Gesichtsmuskelbeherrschung konnte ich ihm bei der Espressoauslieferung unschuldigsten Antlitzes versichern: „Also, wenigsten absagen hätte er doch können!“

„Das will ich wohl meinen! – Aber lass mal, wenn ich mit ihm fertig bin, wird er sich so was so schnell nicht mehr erlauben.“

Leider konnte ich Felix ja nicht verraten, dass Herr Schmelter sich bereits jetzt nichts mehr erlaubte, weder derartiges noch anderes. So beschränkte ich mich auf ein paar zustimmende Geräusche.

„Na, Schwamm drüber“, wechselte Felix das Thema, „sag mal, kannst du nicht bei Gelegenheit mit dem Rudi reden? – Ich habe ihm neulich mein Auto gebracht, und dabei ist mir aufgefallen, dass er tatsächlich die Zauberhändchen hat, von denen meine Fahrer immer reden. Also hab ich ihm kurzerhand angeboten, ihn als Werksmechaniker für den Fuhrpark anzustellen. Ich hätte ihm die Werkstatt renoviert und ihm ’n paar Fortbildungskurse für den ganzen Elektronikkram bei den modernen Trucks bezahlt. Bei mir würde er sicher mehr verdienen als mit seiner Feierabendwerkstatt. Zumal er sowieso keine Ahnung vom Geschäft hat. – Viel zu billig! Aber er hat mir glatt einen Korb gegeben.“ Das war Felix offensichtlich nicht gewohnt.

„Ach, Felix“, tröstete ich ihn, „das darfst du nicht persönlich nehmen! In dieser Beziehung ist Rudi genau wie ich: Wir sind einfach nicht fürs Angestelltendasein geschaffen.“ – Unnötig, dieser Stütze der Gesellschaft zu erläutern, dass wir beide unsere Freiräume für Nebenerwerbszweige brauchten, die uns niemals eine Einladung zum Sommerfest bei Pastor Schönborn von der Kreuzkirche einbringen würden.

„Verstehe ich, bin ja schließlich auch selbstständig!“ Zu Felix’ vielen Vorzügen gehörte das Fehlen jeglichen Dünkels. Er betrachtete meine Trinkhalle, Rudis Miniwerkstatt und sein Millionentalerunternehmen als grundsätzlich gleichwertige Ausprägungen freien Unternehmertums, an das er genauso fest glaubte wie an die Rechtfertigung allein aus Gnaden.

„Aber dann muss man das doch auch richtig machen“, fuhr er fort. „Die Hälfte der Zeit ist er nicht da, und wenn er da ist, ist er zu billig!“

„Die Freiheit eines Christenmenschen.“ Ich grinste ihn an. (Meine religiöse wie sonstige Bildung war höchst unvollkommen, aber die Versatzstücke passten erstaunlich oft.)

„Noch was anderes!“ Felix hatte das Thema abgehakt und kam mit der ihm eigenen Effizienz zum nächsten. „Kann man deinen Grappa eigentlich auch kaufen?“ Man konnte sehen, wie hinter seiner hohen Stirn die Kalkulationen ratterten, das gute Stöffchen lastwagenladungsweise zu importieren und an die heimische Spitzengastronomie zu verticken.

„Keine Chance!“ Ich lächelte. „Dieses herrliche Getränk ist eine Spezialabfüllung, die nur in den gastronomischen Einrichtungen der Familie Perluggiani“ – Massimos weitverzweigter Clan – „und chez moi erhältlich ist.“

„Wieder ein Plan im Eimer“, rief er in gespielter Verzweiflung. „Wie soll ich den Pleitegeier von meiner Familie fernhalten, wenn alle meine Geschäftsideen torpediert werden? – Na egal, ich muss mal wieder. Bis neulich dann!“ Brav bezahlte er seine Zeche, um sich wieder dem großen Geld zuzuwenden.

Inzwischen war die Mittagszeit herangekommen und damit die einzige Stressphase meiner üblichen Arbeitstage. Im Laufe der Zeit hatte es sich eingebürgert, dass viele Mitarbeiter der umliegenden Geschäfte und Büros entweder den Abschluss ihrer Mittagspause bei einem Espresso im Büdchen verbrachten oder gleich die ganze Pause, nachdem sie sich bei Bäcker Vietor mit belegten Brötchen eingedeckt hatten. Parallel dazu holten sich Schüler und Lehrer der Hauptschule um die Ecke Zigaretten, Zeitungen, Kaugummi, und die Jungs vom Berufsbildungswerk des Kolpingvereins trabten an, um ihr strikt verbotenes Mittagsbierchen zu schlabbern. Zu diesem Zwecke gab es an der Rückseite des Büdchens drei schwere Stehtische, ebenso hochtrabend wie liebevoll „Der Biergarten“ genannt, der mittags dem Jungvolk gehörte und zuvor von neun bis elf der Frührentnertruppe, die sich dort die Zeit mit Pils und Jägermeister vertrieb, bis Massimos Eule ihre Pforten öffnete.

Ich brachte Espressi „ohne“ zu Petra und Ulla, zwei meiner treuesten Mittagskundinnen und ihres Zeichens Kassiererinnen bei der Sparkasse nebenan.

„Danke, Nobbe“, flötete die kokette Petra. „Ach, wäre das schön, wenn du jetzt noch ein paar kleine Schweinereien zum Kaffee hättest!“

„Oder wenigstens Frikadellen“, ergänzte die bodenständigere Ulla. Diese Debatte führten wir unverdrossen drei- bis viermal die Woche.

„Frikadellen zum Espresso, du Banausin?“, raunzte ich Ulla an. „Und was dich angeht, Petra: Kleine Schweinereien mache ich nach Feierabend, die biete ich nicht hier feil! Das ist ein seriöser Kiosk hier, etwas weiter westlich auch Trinkhalle genannt. Wenn ihr Schnickschnack haben wollt, fahrt nach Sylt oder lasst euch die Haare in München toupieren.“

„Das werde ich der Gerda von gegenüber petzen, dass du hier heimlich andere Friseure empfiehlst.“ Ulla lachte. „Aber lass mal, Petra, eigentlich könnten wir doch heute unseren Expresso“, (Sie sagte immer „Expresso“, völlig beratungsresistent!) „auch mal mit ’nem Schlückchen nehmen, oder? Wo doch der Schmelter nicht da ist ...“

Ich wartete Petras Antwort nicht ab, sondern holte direkt die Flasche aus der Küche. „Dann will ich euch zur Feier des Tages mal den Corettoanteil am Kaffee spendieren, Mädels.“ Ich goss ihnen ein großzügig bemessenes Schlückchen ein.

„Nicht so viel!“, heuchelte Petra, hinderte mich aber keineswegs am Schütten. „Komisch ist es ja schon, dass der Schmelter sich noch nicht mal gemeldet hat“, fuhr sie fort. „Hoffentlich hat er keinen Unfall gehabt, so kurz vor seinem Urlaub!“

„Wer fährt denn Anfang Januar in Urlaub?“, platzte ich heraus. „Der Schmelter macht mir überhaupt nicht den Eindruck eines Wintersportlers.“

„Nee, bestimmt nicht!“ Ulla nickte. „Außerdem haben wir doch gerade jetzt die Sonderprüfung von der Innenrevision. Ich verstehe gar nicht, wie der den Urlaub überhaupt genehmigt gekriegt hat.“

„Innenrevision?“ Ich wusste, dass ich das Thema Schmelter besser großräumig umfahren sollte, aber die Neugier war stärker.

„Ach, das ist nix Besonderes“, meinte Petra abschätzig. „Das kommt alle paar Jahre mal. Aber dass der Filialleiter bei so einer Gelegenheit Urlaub hat, das ist schon seltsam.“ Damit endete unsere Plauderei, denn die übrige Kundschaft verlangte ihr Recht.

Pünktlich um zwei, als die Rushhour vorüber war, öffnete sich die Ladentür, und Adonis persönlich betrat meine bescheidene Halle. Ein Südamerikaner, Anfang zwanzig, trotz des Winters mit offenem Hemd, was seine wohlproportionierte Brustmuskulatur auf das Vorteilhafteste zur Geltung brachte, und mit einem breiten Lächeln, das genau die richtige Anzahl von Zähnen in einem eben noch glaubwürdigen Weiß entblößte.

„Wird auch Zeit!“, knurrte ich ihn an.

„Was denn, was denn? – Es ist Punkt zwei! Immer musst du an mir rummaulen!“

„Schon gut, mein brasilianisches Goldstückchen“, beruhigte ich ihn. „Ich bin nur etwas in Eile! – Meine Vorbereitungen dauern von Mal zu Mal länger.“

„Wir werden eben alle nicht jünger, Schätzchen.“ Er grinste mit der Unverschämtheit des sich seiner ewigen Jugend gewissen Bengels.

„Sei nicht so frech, Diego“, tadelte ich und gab ihm einen herzhaften Klaps auf die Backe (nicht etwa die Wange!). „Pass fein auf, lass den Dackel zwischendurch raus und friss nicht wieder alle Gummifrösche! Es wird der Tag kommen, da du dich gramgebeugt an das erinnern wirst, was ich dir über Hüftgold erzählt habe. Denk dran: Alle Südamerikaner werden irgendwann fett!“

Damit überließ ich ihm das Büdchen. Diego war ein Lebenskünstler, der sich mit allen möglichen Jobs über Wasser hielt und mich immer mal wieder im Kiosk vertrat. Rudi und ich hatten ihn kennengelernt, als wir ihn schräg hinter dem Bahnhof vor ein paar Schlägern gerettet hatten. Gerettet hatte ihn natürlich Rudi der Riese, aber ich hatte den Vorgang überhaupt erst bemerkt und den Jungen anschließend ein wenig unter meine Fittiche genommen.

Zügig fuhr ich nach Hause und gedachte, wie fast immer auf diesem Weg, meines väterlichen Freundes (ein Ausdruck, den ich dem doch etwas vulgären „Sugar Daddy“ klar vorzog) Erwin, der mir Kiosk und Haus hinterlassen hatte. Zu gerne hätte ich seinerzeit das Gesicht von Erwins Gattin gesehen, die ihn durch 52 Ehejahre hindurchkommandiert hatte. Nicht, dass für sie nichts übrig geblieben wäre. Erwin war überaus wohlhabend gewesen, und außer meinen beiden Immobilien ging alles an die trauernde Witwe. Aber Erwins Formulierung, er vermache besagte Baulichkeiten „ChiChi de la Volière, mit bürgerlichem Namen Jens Nobbe, als Dank für die vielen schönen Stunden“, diese Formulierung hätte beinahe zum nächsten Todesfall geführt.

„Ach, Erwin, du warst schon ’ne Nummer“, murmelte ich beim Aufschließen. Dann sprang ich aus Jeans und Pullover und unter die Dusche. Nach Abschluss der Reinigungsprozedur betrachte ich mich kritisch im mannshohen Spiegel, der frei im Bad stand (zur vorletzten Jahrhundertwende hatte man eben noch große Bäder gebaut!). Die acht Kilo, die mich von meinem einstmaligen Bühnen-Ich trennten, klangen viel, aber verteilt auf gut einen Meter achtzig und im Bewusstsein der Tatsache, dass ChiChi immer hart am Rande der Magersucht getanzt hatte, waren sie keine wirkliche Katastrophe. Da ich außerdem mein Trainingsprogramm nie unterbrochen hatte, war mein Körper insgesamt in guter Form und an allen entscheidenden Stellen straff.

„Fürs Top-Varieté reicht’s nicht mehr, aber in der Provinz bist du allemal noch ein Star!“, erklärte ich meinem Spiegelbild. Dann machte ich mich nach der Waschung an Salbung, Ölung und Parfümierung. Ein sehr dezent aufgetragenes Make-up vervollständigte das Programm, und nach dem Ankleiden sah mich ein überaus gepflegter, ja (Nur keine falsche Bescheidenheit!) durchaus attraktiver Metrosexueller an, ein wenig, aber eben auch nur ein wenig zu chic für Hagener Verhältnisse.

„Dir würde ich so gefallen, oder?“, fragte ich Erwins Foto, das neben dem Spiegel in meinem Ankleideraum hing. Ich ging in die Garage, tätschelte dem Clio liebevoll die Motorhaube und setzte mich ans Steuer meines Alfa Spider. Rudi hatte den roten Flitzer bei einem seiner Schrottplatzbesuche gefunden und in Hunderten von Arbeitsstunden wieder hergerichtet.

Wenn jemandes Großvater es beizeiten in Iserlohn zu etwas gebracht hatte, dann wohnte er in einer Villa mit Blick auf den Seilersee. Genau zu einer solchen fuhr ich, parkte meinen Italiener und drückte wie geplant fünfzehn Minuten später als verabredet auf die Klingel an der imposanten Eingangstür. Im selben Moment wurde geöffnet, und vor mir stand ein eleganter Mittsiebziger, ein wenig schüchtern, mit großen, erwartungsvollen Augen und einem flachen Päckchen in der Hand, das mein geübtes Auge sofort als angemessene Behausung für eine hübsche, unnütze Kleinigkeit erkannte (ziemlich sicher aus Gold, höchstwahrscheinlich höchstkarätig).

„Aber Schatz, das solltest du doch!“, lächelte ich ihn an, trat in die Halle und schloss die Tür hinter uns.

Kapitel 3 – Donnerstag, 9. / Freitag, 10. Januar

Gegen 19 Uhr war ich zurück im Büdchen, wieder in Kioskkleidung und natürlich ungeschminkt. Carl Maria begrüßte mich begeistert, und auf dass dies immer so bliebe, überreichte ich ihm ein schönes Stück Fleischwurst von Metzger Machate. Stolz verschwand er damit nach hinten, um seine Beute unter dem Sofa zu verzehren.

„Und, war’s nett?“, fragte meine Kioskvertretung maliziös.

„Diego-Herzchen, Missgunst ist eine sehr hässliche Charaktereigenschaft und lässt die Haut vorzeitig altern“, entgegnete ich lässig und schlenkerte das rechte Handgelenk, sodass mein neues Armband unter dem Pulloverärmel hervorrutschte. In seinen Augen kämpften Erstaunen und Neid um die Vorherrschaft, wurden aber auf der Ziellinie von der nackten Habgier geschlagen.

„Wow“, brachte er heraus. „Wie machst du das bloß?“