Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Jens Nobbe betreibt einen Kiosk in Hagen-Vorhalle und kümmert sich im Nebenberuf diskret um die Betreuung solventer, älterer Herren. Eigentlich möchte er ein ruhiges Leben mit seinem Mann Paul, einem international erfolgreichen Pornodarsteller, führen. Doch die Wirklichkeit macht ihm erneut einen Strich durch die Rechnung: Eines Nachts gehen die Lagerhallen neben seinem Wohnhaus in Flammen auf. Eine Frau kommt zu Tode. Brandstiftung! Und verdächtigt wird ausgerechnet Rafik, ein Fünfzehnjähriger, der Nobbe an seine eigene Kindheit erinnert. Kurzerhand versteckt er den Gesuchten und ermittelt selbst.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 387
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Kai Brodersen
© dead soft verlag, Mettingen 2016
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Bildrechte
© Ingairis – fotolia.com
© svetlanamiku – fotolia.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-025-6
ISBN 978-3-96089-026-3 (epub)
Jens Nobbe betreibt einen Kiosk in Hagen-Vorhalle und kümmert sich im Nebenberuf diskret um die Betreuung solventer, älterer Herren. Eigentlich möchte er ein ruhiges Leben mit seinem Mann Paul, einem international erfolgreichen Pornodarsteller, führen. Doch die Wirklichkeit macht ihm erneut einen Strich durch die Rechnung: Eines Nachts gehen die Lagerhallen neben seinem Wohnhaus in Flammen auf. Eine Frau kommt zu Tode.
Brandstiftung! Und verdächtigt wird ausgerechnet Rafik, ein Fünfzehnjähriger, der Nobbe an seine eigene Kindheit erinnert. Kurzerhand versteckt er den Gesuchten und ermittelt selbst.
„Mensch, Nobbe, du hast immer noch Beine wie Marika Rökks uneheliche Tochter! – Jetzt hör’ auf, dich im Spiegel zu begaffen und reich mir den Akkuschrauber hoch, sonst werden wir nie fertig!“
Rudi stand mit allen Zeichen wachsender Ungeduld auf der Leiter und wartete. Ich reichte ihm das Gewünschte und dachte an mein Spiegelbild. Es war ein wunderbarer Maimorgen, deshalb arbeiteten wir beide in Unterhemden und abgeschnittenen Jeans. Rudi hätte sich eigentlich nicht wundern dürfen, dass mein Blick im Spiegel hängen blieb, war es doch eines der ersten Male, dass ich mich traute, sozusagen öffentlich mein rechtes Bein zu zeigen. Die Narbe, von einer großen Brandwunde hinterlassen, war deutlich sichtbar, und ich fand sie abscheulich. Mit der eigentlich deutlich Entstellenderen auf meiner Wange hatte ich mich viel besser abgefunden, indem ich mich der allgemeinen Auffassung anschloss, sie gäbe mir etwas Verwegen-Männliches. Ich unterstützte diesen Eindruck durch einen Dreitagebart, den ich seit den Ereignissen Anfang Februar trug.
Rudi war genervt: „Kannst du mir mal sagen, warum du da rumträumst? – Morgen kommt dein Liebster zurück, und du wolltest das Loft bis dahin fertig haben!“
Loft war ein etwas großes Wort für die ehemalige Kutscherwohnung über einer Remise, aber nachdem wir alle Wände herausgerissen und die niedrigen Decken beseitigt hatten, war doch ein insgesamt recht großzügiges Apartment entstanden. Es standen noch nicht viele Möbel, aber Kücheninsel und Bad waren immerhin benutzbar, zwei Lehnstühle aufgestellt, und eine große Matratze markierte die Ecke, in der der Schlafbereich entstehen würde.
„Sorry“, murmelte ich und reichte ihm eine Gardinenstange an.
„So, fertig!“, verkündete er. „Jetzt räumen wir schnell auf. Du musst in deinen Laden, und ich, äh, ich habe auch noch was vor. Morgen können wir den Rest machen.“
„Hab’ ich mich eigentlich schon bei dir bedankt?“, fragte ich schuldbewusst meinen Freund.
„Ungefähr sechshundert Mal, und langsam könntest du begriffen haben, dass ich das gerne mache. – Wenn Kevin am Samstag zurückkommt, könnt ihr euer Wiedersehen in der neuen Wohnung feiern, und danach kümmern wir uns um den Rest.“
Nur ich nannte meinen Freund Paul, alle anderen kannten ihn unter seinem Künstlernamen „Kevin Colunga“, und was den Rest anging, von dem Rudi gesprochen hatte, so wollte ich lieber nicht darüber nachdenken.
Das hatte ja auch noch Zeit. Wir räumten zügig das Werkzeug zusammen und freuten uns, dass die Dusche endlich funktionierte. Dann fuhren wir unserer Wege, Rudi in einem Ford Granada, in dem ein blödsinnig hochgetunter Motor wohnte, und ich in meinem alten Clio, der mir als Büdchenbesitzer in Hagen-Vorhalle gut zu Gesicht stand. In den Garagen unter der Remise standen noch ein roter Alfa Romeo Spider, den Rudi in zahllosen Stunden für mich restauriert hatte, und ein Bentley Cabrio Baujahr 1986, quasi ein Erbstück. Aber welche Folgen es zeitigen konnte, wenn ich eines dieser Gefährte ans Büdchen stellte, hatte ich zu Anfang des Jahres erlebt, als der Bentley einen mittleren Volksauflauf auslöste.
Im Büdchen ging alles seinen gewohnten Gang. Ich löste meinen Angestellten Diego ab, ein Bild von einem Brasilianer (und mittlerweile – Gelobt sei Gott! – auch endlich volljährig). Der war froh, nach Hause zu kommen. Wahrscheinlich hatte er die gesamte Nacht gesumpft und war direkt aus der Disko zur Frühschicht in den Laden gekommen.
„Dann schlaf gut, Liebes!“, rief ich ihm zum Abschied nach. „Und vergiss dein Training nicht! Ich meine, du wirst langsam etwas voll um die Hüften.“
Er zeigte mir den Stinkefinger und verschwand. Ich setzte meinen Dackel Carl Maria von Weber auf seinen Lieblingsplatz neben dem Verkaufsfenster und brühte mir einen Espresso. Mit Brühen allerdings war das Spektakel nur sehr unzureichend beschrieben, das meine Faema E61 veranstaltete, ein Meisterwerk italienischer Ingenieurskunst und Prunkstück des Büdchens. Der Espresso hatte schon etliche Stammkunden an mein kleines Unternehmen gebunden, insbesondere seit ich ihn auch als Café Coretto mit einem Schuss des tadellosen Grappas anbot, den mein Stammwirt Massimo zuverlässig und in beliebigen Quantitäten ins Land schmuggelte.
Wie aufs Stichwort erschien Karen, eine hübsche junge Amerikanerin, die seit etwa einer Woche täglich kam, Kaugummis kaufte und einen Espresso trank. Sie erinnerte mich an jemanden, aber ich war noch nicht draufgekommen, an wen.
„Karen, mein Double Eagle!“, begrüßte ich sie, und Carl Maria gab ein artiges Begrüßungsbellen von sich.
Der Double Eagle ist eine sehr wertvolle amerikanische Goldmünze, aber auch ein zuverlässiges Modell der Firma Colt, da konnte sie sich etwas aussuchen. Tat sie prompt.
„Guten Morgen, ihr beiden! Vor ein paar Jahren wurde ein St. Gaudens Double Eagle auf knapp acht Millionen Dollar geschätzt, da war sogar der Secret Service hinterher. – Du übertreibst es etwas, Nobbe!“, sagte sie in tadellosem Deutsch mit einem ganz kleinen, niedlichen Akzent.
„Aber nicht im Geringsten, mein Goldstück! Den Espresso heute mal mit Schuss?“, fragte ich wie jeden Morgen, um sie wie jeden Morgen entsetzt ablehnen zu sehen. Die westfälischen Trinkgewohnheiten, speziell die chez moi waren ihr noch reichlich fremd. Ich brachte ihr den Kaffee und als Gruß aus der Heimat ein Päckchen Wrigley’s und blieb ein wenig an ihrem Stehtischchen, um über dies und das zu plaudern. Viel Zeit blieb mir dafür allerdings nicht, denn Die Drei von der Sparkasse erschienen zu ihrem Mittagskaffee: Petra und Ulla, die beiden Seelen des Geldhauses nebenan, und Johann Nepomuk Gerlachsberger, genannt Johnny, ein ziemlich niedlicher Jungbanker und kommissarischer Geschäftsstellenleiter. Seit Jahresanfang verband uns beide ein Geheimnis, das ihn zunächst sehr befangen in meiner Gegenwart sein ließ. Mittlerweile hatte sich das allerdings wieder gelegt, und wir flirteten wie eh und je.
„Ah, die drei leuchtendsten Sterne am Firmament der westfälischen Hochfinanz!“, begrüßte ich die die Neuankömmlinge und ließ die Faema zischen.
Die drei strahlten mich an, Ulla holte ihr von daheim mitgebrachtes Butterbrot aus der Tasche, Petra die Tüte mit zwei Apfeltaschen, die sie bei Bäcker Vietor erstanden hatte, Johnny nichts. Der Junge aß in letzter Zeit wenig, fiel mir auf. Außerdem hatte er diesen speziellen Glanz in den Augen, und mindestens das linke Nasenloch war etwas gerötet. Wenn sich irgendwer mit synthetischen Hilfsmitteln zur Bewusstseinsveränderung auskannte, dann ich. Vielleicht sollte ich mal in Abwesenheit seiner Kolleginnen ein Wort mit dem Banker wechseln ...
Karen ließ fünf Euro auf dem Bistrotisch liegen und verabschiedete sich.
„Das ist zu viel, Liebes!“, rief ich ihr hinterher.
Sie drehte sich in der Tür um und lächelte: „Just a little tip, dear!“
Gegen Trinkgeld war natürlich niemals etwas einzuwenden. „Dann danke ich auch im Namen meiner zahlreichen hungernden Kinder!“, rief ich ihr grinsend hinterher, während ich den Schein vom Tisch wischte. Sie warf mir einen ziemlich seltsamen Blick zu und verschwand. Ich würde ihr die Redewendung wohl beim nächsten Espresso erklären müssen.
„Sag’ mal, Nobbe“, meinte Johnny aufgekratzt, „willst du eigentlich deine Villa tatsächlich verkaufen?“
„Ja, tatsächlich“, gab ich zurück. „Nach allem, was in diesem Haus vorgefallen ist, kann ich auf keinen Fall mehr dort wohnen. – Auch wenn ich es geerbt habe und es mir ziemlich ans Herz gewachsen ist“, fügte ich seufzend hinzu.
„Und du hattest doch gesagt, dass da noch ’ne Hypothek drauf liegt, oder?“
„Klar!“, meinte ich. „Wieso?“
„Also, besser verkaufen sich Immobilien ja, wenn sie schuldenfrei sind“, erläuterte Johnny. „Bring mir doch deine Unterlagen vorbei, dann mache ich dir ein Angebot für eine Umschuldung auf dein neues Haus, und überhaupt könnte dir unser Immobilienservice beim Verkauf behilflich sein.“
„Warum nicht?“, stimmte ich zu.
Tatsächlich hatte ich mir noch nicht allzu viele Gedanken über die Angelegenheit gemacht. Einstweilen ließ ich Diego dort wohnen, nachdem sein Verhältnis zu einem örtlichen Gebrauchtwagenhändler unrühmlich zu Ende gegangen war. Der hatte sich als deutlich zu wenig großzügig erwiesen.
„Ich suche die Sachen zusammen und bringe sie dir nächste Woche rein.“
Die öffentlich-rechtlichen Finanzjongleure gingen zurück zur Sparkasse, Johnny entschieden zu fröhlich und tatendurstig für einen normalen Donnerstag. Ich sollte wirklich mit ihm reden, obschon es natürlich seine Sache war, ob er seinen Lohn versoff oder durch die Nase zog.
Ein paar verkaufte „Kicker“ und „Hörzu“ später öffnete sich die Ladentür erneut, und ich wollte Rudi gerade in gewohnter Flapsigkeit begrüßen, als mir angesichts seines Begleiters einen Augenblick lang die Luft wegblieb. Der Mann war nicht hübsch, nicht einmal attraktiv, aber er verströmte aus jeder einzelnen Pore Testosteron! Ich fing mich schnell wieder und sonderte etwas Fröhlich-Unverbindliches ab. Beim zweiten Blick auf ihn staunte ich, dass auch die Haut eines Farbigen diesen gräulichen Schleier aufweisen kann, der von zu vielen Zigaretten und zu wenig frischer Luft herrührt. Nahm man dazu den vorsichtigen Blick und die ältlichen Klamotten des Fremden, brauchte es nicht viele Rateversuche, um zu wissen, woher er gerade kam.
„Machst du uns Kaffee – mit?“, fragte Rudi seltsam befangen.
„Klar!“, gab ich zurück. „Setzt euch an den Küchentisch, da kann man besser quatschen.“
An den kleinen Verkaufsraum schloss sich eine noch kleinere Küche an, dahinter ein Lager und ein Wohnschlafraum, ebenfalls klein, aber als Ausweichquartier immer wieder hochgeschätzt. Die beiden nahmen Platz, schüchtern fast, was bei zwei so großen Kerlen im besten Alter ziemlich komisch aussah. Ich servierte den Espresso und stellte eine Grappaflasche auf den Tisch. Dann nahm ich Platz und schaute Rudi erwartungsvoll an, bis der endlich begriff, was die Höflichkeit gebot:
„Oh, ’tschuldigung! Also, das hier ist mein Kumpel Ray. Ray, das ist Nobbe! Also, Ray war längere Zeit nicht hier und, äh, jetzt wohnt er erst mal bei mir.“
Ich hatte mein Lächeln nicht schnell genug unterdrückt, und natürlich hatte Ray es bemerkt.
„Gib dir keine Mühe, Rudi“, warf er ein. „Nobbe hat es schon beim Reinkommen gesehen!“ Er wandte sich mir zu: „Ja, Rudi und ich haben uns im Knast kennengelernt. Ich bin seit heute Morgen raus, und Rudi nimmt mich quasi auf.“
Ich rechnete schnell nach: Rudi war das letzte Mal vor knapp sechs Jahren drin gewesen. Wenn Ray die ganze Zeit gesessen hatte, dann war er für mehr verknackt worden, als alten Omas die Himbeerdrops aus dem Mund zu klauen. Ich selbst kannte vom Knast nur die Besucherräume, aber von Rudi hatte ich genug gelernt, um nicht zu fragen, was Ray nach Werl gebracht hatte. Stattdessen goss ich großzügig Grappa in die Tassen und sagte:
„Na dann, Ray, herzlich willkommen draußen!“
„Danke!“
Sein Lächeln war der pure Sex, zumal er sich seiner Wirkung nicht im Allergeringsten bewusst zu sein schien.
Donnerwetter!Da kenne ich den Rudi nun mein ganzes Leben lang, und dieses Hormonwunder von einem Mann hält er jahrelang vor mir verborgen und sagt kein Wort …
Rudi war immer noch etwas verlegen. „Also, wenn du heute Abend nichts weiter vorhast, äh, also wir wollten ein bisschen Rays Freiheit feiern.“
„Gerne, bei dir?“
„Nee.“ Ray grinste. „Ich freu’ mich schon seit ’ner halben Ewigkeit drauf, mal wieder in ’ne richtige Kneipe zu gehen.“
„Also um neun in der ‚Eule‘?“ – Die Kneipe meines Schnapslieferanten im Eckhaus an der nächsten Kreuzung hatte sich im Laufe der Jahre zu meinem zweiten Wohnzimmer entwickelt.
„Gut“, meinte Rudi, „dann woll’n wir auch mal wieder, ja?“
Die beiden brachen auf, und ich murmelte lächelnd vor mich hin: „Rudi Völzgen, das letzte Mal habe ich dich so verlegen gesehen, als Schwester Scholastika dich mit einem selbstgemachten Dietrich in der Tasche auf dem Weg zum Opferstock erwischt hat!“
Ich verbrachte einen angenehmen Nachmittag im Büdchen, angefüllt mit Kleinverkäufen und ebensolchen Unterhaltungen. Zwischendurch hängte ich ein Schild in die Tür, das meine baldige Rückkehr verhieß, und führte Carl Maria aus. Angesichts des herrlichen Wetters entschied ich mich für die große Runde. Sollte ausgerechnet jetzt Gerda Pötter vom Friseursalon gegenüber Espresso für ihre Lieblingskundinnen holen wollen, würde sie eben einen Moment länger warten müssen. Die Mädels verbrachten ohnehin Stunden um Stunden bei ihr, da würde es wohl auf ein paar Minuten zum Wohle meines Dackels nicht ankommen. Carlchen hatte also ausreichend Gelegenheit, überall nach dem Rechten zu schnüffeln. Besonders ausgiebig tat er das bei der Ulme am Ladenlokal von Bäcker Vietor. „Na, neuer Cowboy in der Stadt?“, fragte ich ihn gerade, als sich die Haustür neben dem Laden öffnete und ein schwarzer Schatten herausgeschossen kam. Der Schatten stürzte sich auf meinen völlig arglosen Dackel, dieser jaulte, ich schrie auf, und von der Tür her hörte man ein atemloses:
„Pfui, Metzger, bei Fuß!“
Dann zog Bäcker Vietor höchstpersönlich das schwarze Ungetüm, das sich bei näherem Hinsehen als ein noch sehr junger Labrador entpuppte, von meinem Hund herunter, der sich natürlich nur erschreckt hatte. Nun begrüßten die beiden neuen Kumpel einander begeistert und beschnüffelten sich an Stellen, für die anständige Damen nicht einmal ein Wort kennen. Nachdem meine Herzfrequenz sich wieder ins Physiologische abgesenkt hatte, gestattete ich mir ein Lächeln.
„Sag mal, Klaus Vietor, wie hast du deinen Hund eben genannt?“
Schief lächelte der ebenfalls erleichterte Bäckermeister zurück.
„Das war die bekloppte Idee von meiner Alten! Was meinst du, was hier los ist, wenn der olle Machate mitkriegt, dass unser Hund Metzger heißt …“
Die Metzgerei Machate lag auf der anderen Straßenseite. Wer das traditionelle Ladenlokal sah, würde darin kaum das Mutterhaus von siebzehn Filialen vermuten.
Ich schmunzelte noch über den Bäckerhund, als ich zurück zum Büdchen kam. Gerda Pötter musste an ihrem Schaufenster auf mich gewartet haben, denn ich hatte noch kaum das Verkaufsfenster hochgeschoben, als sie auch schon vor mir stand, diesmal komplett in Altrosa gewandet und mit reichlich Zucht- und Kunstperlen geschmückt. Ihr Haar hatte den üblichen Stich ins Violette, was sich auf schon beinahe groteske Weise mit ihrer Kleidung biss. Klugerweise verkniff ich mir jeden Kommentar dazu und erzählte ihr stattdessen von Vietors Hundenamenswahl. Ihre Schultern bebten noch immer bedenklich vor Lachen, als sie mit dem Tablett voller Espressotassen über die Straße lief. Bei den Espressi mit lag der Löffel verkehrt herum auf der Untertasse. Es war die Mehrzahl.
Ich hatte ein etwas seltsames Gefühl, als ich den Laden zusperrte und zur „Eule“ hinüberging. Was ich von Ray halten sollte, wusste ich noch nicht so recht, und was von der Tatsache, dass Rudi ihn mir während der letzten sechs (6!) Jahre verschwiegen hatte, erst recht nicht. Mein Freund Rudi, seit Kindertagen mein strahlender Held, und ausgerechnet der hatte jetzt plötzlich Geheimnisse vor mir? Wir kannten beide das Leben des anderen auswendig, jedenfalls hatte ich das bislang gedacht. – Na, es wird sich schon alles weisen, machte ich mir Mut und ging die paar Meter zur Gaststätte. Carl Maria freute sich schon unterwegs wie ein Schneekönig, er würde bei den Perluggianis wieder einmal nach Strich und Faden verwöhnt werden. Ich ließ Massimo und seine Frau Marietta gewähren, Dackel sind ja nicht eitel! Rudi und Ray (Wie seltsam das klang!) waren noch nicht da, also trank ich, nachdem das Ehepaar Perluggiani Carl Maria angemessen geherzt und mit den ersten Leckerbissen versehen hatte, ein Bier am Tresen und tauschte dies und das mit Massimo aus. Von Vietors Hund hatte er selbstverständlich schon gehört, denn am Ende des Tresens saß die unvermeidliche Knobelrunde, die alles sah und alles wusste und alles am Abend taufrisch auf Massimos Tresen packte. Die Tür öffnete sich, und Rudi kam mit dem Zugereisten herein. Die Würfel an der Tresenecke blieben einstweilen unbeachtet: Deutlich länger und intensiver als höflich starrten die Knobelfreunde zu uns herüber. Zum einen war unser kleiner Vorort zwar schon lange keine Bastion der blonden Bestien mehr, aber so stark pigmentierte Menschen wie Ray wohnten normalerweise in der Innenstadt. Hier in Vorhalle dominierten eher Polen, Russen, Türken und Tunesier. Zum zweiten (und darauf hätte ich so allerlei verwettet) fiel auch in dieser unbestrittenen Hochburg der Heterosexualität Rays Ausstrahlung jedem auf.
„Hallo, ihr beiden!“, begrüßte ich die Neuankömmlinge fröhlicher, als ich war. „Tisch oder Tresen?“
„Tresen“, meinte Rudi. „Wir haben schon gegessen, und das bisschen, was du isst, kannst du auf dem Heimweg den Karnickeln klauen!“
Das war unfair: Ich achtete zwar seit meinen Bühnenzeiten strikt auf meine Ernährung, schließlich wollte ich nicht enden wie mein Dackel, den ich schon wieder auf etwas herumkauen sah. Aber wenn mich jemand zum Essen einlud, bestellte ich durchaus auch anderes als Salat und Grapefruit. Unaufgefordert brachte Massimo drei Pils und blieb mit seinem eigenen in unserer Ecke stehen. Rudi unterdrückte einen Seufzer und stellte vor:
„Massimo, das ist mein Kumpel Ray. Ray, Massimo, unser Stammwirt.“
„Willkommen draußen!“ – Massimo hatte die drei tätowierten Punkte, die Ray in der Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand verbarg, sofort bemerkt, und außerdem verfügte er über ein angeboren scharfes Auge für alles Halb- oder Illegale. Wie zum Beweis zauberte er eine unetikettierte Flasche Grappa und vier Stamper auf den Tresen. „Salute, amici!“
Wir plauderten noch ein bisschen, nutzten dann aber die Gelegenheit, als Massimo sich um die Knobler kümmern musste, zum Rückzug an einen der Tische. Manchmal war unseres Wirtes Anteilnahme an seinen Mitmenschen eben einfach etwas anstrengend. Ein bisschen eingeschnappt brachte er uns die nächste Runde, und als er weg war, meinte Ray:
„Also, Nobbe, Rudi macht ja immer aus allem ein Riesengeheimnis, aber du bist sein bester Freund, deshalb: Klartext zwischen uns, okay?“ Er versah mich mit einem so intensiven Blick, dass ich ein bisschen zu schrumpfen glaubte.
„Okay!“, bestätigte ich etwas eingeschüchtert.
Rudi rutschte unbehaglich hin und her.
„Ich bin eingefahren wegen schwerem Raub“, meinte Ray gelassen. „Nix, worauf man stolz sein müsste. Wir brauchten damals dringend Kohle, da haben wir uns ’n paar Knarren besorgt und ’ne Bank klargemacht.“
Ich fröstelte etwas.
„Rudi hat mir schon gesagt, dass du’s nicht so mit Gewalt hast“, fuhr er fort. „Und weißt du was? Du hast völlig recht damit, is’ so! Ich hab’ gehört, eine von den Kassiererinnen von damals hat heute noch Alpträume. Mann, das tut mir echt leid!“
Komischerweise glaubte ich ihm das.
„Ich wollte nur, dass du das weißt.“
„Danke, Ray!“
„Herr Wirt!“, rief Ray und übertönte mühelos einen lautstarken Streit der Knobelbrüder. „Noch eine Runde, und Schnäpsken dabei, bitte! – Mann, das hab’ ich echt vermisst!“
„Was?“, fragte ich naiv. „Den Alk?“
„Nee“, meinte Ray grinsend, und auch Rudi lächelte kopfschüttelnd. „Alkohol kriegst du in jedem Knast, wenn du Kohle hast, oder wenn du keine hast, aber gut mit dem Küchenbullen kannst, dann klaust du dir ’nen Eimer Marmelade. Bisschen Brot dazu, dann sollste mal sehn, wie das gärt! Nee, was ich vermisst habe, ist, mal wieder ganz normal in ’ner Kneipe sitzen und legal ein paar gepflegte Pilsken zischen.“
Massimo hatte seinen kurzen Anfall von Übellaunigkeit überwunden und brachte mit den Bieren auch gleich eine Flasche vom Selbstdestillierten mit an den Tisch. Dazu servierte er kostenlos die Geschichte eines seiner Vettern, der – natürlich völlig unverschuldet – in Konflikt mit dem italienischen Staatswesen geraten war und wie dessen Rückkehr an den Fuß der Dolomiten seinerzeit gefeiert wurde. Massimo hatte ungefähr fünf Cousins weniger als Abraham Nachkommen, und notfalls erfand er noch ein paar.
Schließlich zog er dann doch wieder ab, und Ray nahm mich wieder mit einem dieser intensiven Blicke aufs Korn.
„Rudi hat mir erzählt, du wärst früher mal als Transe aufgetreten. Da siehst du gar nicht nach aus!“
Das stürzte Rudi offenbar in größere Loyalitätskonflikte. Niemals würde er jemandem durchgehen lassen, verächtlich über meine Bühnenkarriere zu sprechen, aber bei Ray fiel ihm das Explodieren offenbar schwer. Bevor er tief genug Luft geholt hatte, kam ich ihm zuvor:
„Ich hatte damals keinen Bart, und über Wachsplatten und Bikinizonen könnte ich dir Geheimnisse verraten, die du ganz sicher nicht wissen willst! – Im Übrigen würde ich den Ausdruck ‚Revuegirl’ bevorzugen. Transen sieht man beim Karneval mit stoppeligen Beinen und verrutschten Brüsten.“
„Bei ChiChi de la Voliére ist nie was verrutscht!“ Rudi war jetzt doch endlich mit dem Einatmen fertig geworden. „Ich könnte dir mal ein paar Plakate zeigen …“, schwärmte er.
„Du hast noch alte Plakate von mir?“, fragte ich, ehrlich erstaunt.
„Mmpf“, machte Rudi und stand auf, um eine Zigarette vor der Tür zu rauchen.
„Natürlich hat er welche von dir“, meinte Ray in komischem Tonfall. „Deine verdammten Pailletten hätte er gesammelt, wenn man ihn gelassen hätte.“
Eine Hand hatte er unter dem Tisch, und ganz sicher war sie zur Faust geballt. Von irgendwoher überkam mich der Rechtfertigungsdrang:
„Ray, Rudi und ich sind bloß Freunde! Wir haben nie …“
„Weiß ich!“, unterbrach er mich. „Weiß ich alles! Ich weiß so ziemlich alles über dich, Nobbe! Wir haben ein Jahr zusammen gesessen, und was meinst du wohl, was Rudis Hauptgesprächsthema war?“
Der Gegenstand unserer Unterhaltung kam zurück an den Tisch, und schnell stürzte ich mich in eine kleine Schwärmerei über meinen Bentley.
„Ah“, meinte der Rückkehrer, „Ray hat dir erzählt, dass er Mechaniker ist, mit Gesellenbrief und allem? – Er will mir vielleicht in der Werkstatt helfen.“
Rudi hatte eine alte Tankstelle samt Wohnhaus gepachtet und betrieb pro forma eine Autowerkstatt. Er besaß keine formale Ausbildung, aber mir schien es immer so, als ob alles Metallene sich genau so verhielt, wie er es gern hätte. Trotzdem war die Werkstatt eigentlich nicht viel mehr als eine Geldwaschanlage für sein liebstes Hobby, den Einbruchdiebstahl. Derzeit war der Werkstattbetrieb allerdings nahezu vollständig zum Erliegen gekommen, da Rudi Tag und Nacht damit beschäftigt war, die Renovierungsarbeiten in meinem Loft zu beaufsichtigen, anzutreiben oder sonstwie zu befördern.
„Also, ich habe gedacht, morgen helfen wir beide, dass die Bude ordentlich aussieht für den großen Tag, wenn Kevin zurückkommt, und in der kommenden Woche schaun wir dann mal, wie wir das mit der Werkstatt und der Baustelle geregelt kriegen.“
„Rudi“, warf ich ein, „du hast jetzt schon unendlich viel mehr getan, als ich jemals wiedergutmachen kann!“ Abgesehen davon, dass er mir vor ein paar Wochen noch so ganz nebenbei das Leben gerettet hatte. „Kümmer’ dich ab sofort um deinen eigenen Laden, wir kommen auf der Baustelle schon zurecht.“
„Das fehlte gerade noch“, schnaubte er. „Wenn ich mich fünf Minuten umdrehe, dann holt ihr euch Firma „Schussel & Brassel“ auf den Hof, und ich kann hinterher sehen, wie ich den Schutt beseitige! Nee, nee, wir finden schon eine Lösung, das heißt, falls Ray mitziehen will.“
Ray wollte, für diese Gewissheit musste ich gar nicht erst zu ihm hinsehen. Ray hätte Cocktailschirmchen im Gulag verkauft, um in Rudis Nähe zu sein.
Die Knobelbrüder verabschiedeten sich, und Massimo kam mit einer weiteren Runde an unseren Tisch. Seine Frau Marietta, Urbild kinderloser Mütterlichkeit, schloss sich ihm an und legte mir einen zufrieden schnarchenden Dackel auf den Schoß. Wahrscheinlich hatte das Vieh in ihrer Küche mehr gefressen als ich in einer Woche, und Frau Dr. Sobielsky, unsere Tierärztin, würde wieder einmal mit mir schimpfen. Aber, hey, er wirkte glücklich und zufrieden! Wir verplauderten noch ein Stündchen, dann brachen wir auf. Auf der Straße grüßte Ray ironisch zu einem Opel hinüber, der etwa fünfzehn Meter entfernt parkte.
„Bekannte?“, fragte ich leicht überrascht.
„Sozusagen.“ Er fletschte die Zähne etwas. „Zivilbullen! Die haben die Beute nie gefunden, und der Kumpel, der bei der Sache dabei war, ist vor drei Jahren gestorben. Jetzt stellen die sich so offensichtlich hin, um mir zu zeigen, dass sie mich immer im Blick haben. Schweinebullen!“
Er spuckte aus, und wenn man unbedingt gewollt hätte, hätte man glauben können, es wäre Richtung Opel geflogen.
„Wir fahren besser mit Mütze“, warf Rudi ein. „Wenn wir jetzt in unsere Autos steigen, dann rufen die Zivilen aus lauter Daffke noch die Trachtengruppe, und wir fahren den Rest des Jahres Taxi.“
Mütze war der örtliche Taxifahrer, der die letzten zwei Stunden, bevor er unwiderruflich zu seiner Frau zurückkehren musste, gerne vor der Sparkasse verschlief. Wir klopften ihn wach und stiegen ein.
„Mütze, erst zu mir, und dann bringst du Nobbe nach Hause“, erklärte Rudi.
„Eigentlich ist das doch Quatsch“, meinte ich. „Ihr wollt ja morgen früh sowieso zu mir. Dann fahren wir jetzt alle auf die Baustelle. Ich hab’ auch noch extra Bettzeug da.“
Es entstand eine kleine Pause, gerade lang genug, um mir klarzumachen, dass mein großartiger Vorschlag die beiden um ihre Wiedersehensnacht (nach sechs Jahren!) brachte ...
„Klar! – Mütze, ab ins Industriegebiet“, antwortete Rudi schließlich, und ich fand, es klang seltsam erleichtert.
Tatsächlich war das Anwesen, das wir zu extrem günstigen Konditionen erworben hatten, sozusagen die Keimzelle des späteren Gewerbe- und heutigen Industriegebiets. Einer der Altvorderen hatte vor etwa hundertsechzig Jahren ein großzügiges Haus für die Seinen gebaut, dazu rechter Hand die Remise, in der sich unser Loft befand. Auf der Linken stand eine langgestreckte Werkhalle. Nach und nach war der Betrieb gewachsen, dies und jenes hatte sich angesiedelt, bis irgendwann eine repräsentative Auswahl der für diesen Teil Westfalens typischen Metallverarbeiter versammelt war. Das Ganze war eingeklemmt, von der Ruhr im Süden, der Eisenbahn im Norden, gewaltigen Hochspannungsleitungen in der Höhe, also quasi unverkäuflich. Aber wunderschön!
Mütze fuhr mit – buchstäblich – schlafwandlerischer Sicherheit in die Volmarsteiner Straße und umrundete alle gewerblichen Ansiedlungen, bis er ganz am Ende des Areals zu unserem Haus kam. Die Hofbeleuchtung funktionierte noch nicht, aber der Vollmond warf ein schmeichelhaftes Licht auf das Anwesen. Ray pfiff durch die Zähne.
„So wohnen also die besseren Leute“, meinte er anerkennend.
Ich lachte: „Warte ab, bis du den Kasten bei Tageslicht gesehen hast! – Übrigens wohnen wir nicht im Haupthaus, sondern hier rechts in der ehemaligen Kutschersuite. Wenn die Herren mir bitte folgen wollen?“
Das rechte Drittel der Remise wurde vom ehemaligen Pferdestall eingenommen, in dessen großem Tor ich nun eine normal gebaute Tür öffnete. Den Stall selbst hatten wir einstweilen im Urzustand belassen, wie offenbar eine ganze Reihe von Reitergenerationen aus der Unternehmerfamilie vor uns. Lediglich den ehemaligen Heuboden hatte ich dem Loft zugeschlagen und durch eine Glaswand vom Stall getrennt. Ich führte meine Gäste über eine provisorische Treppe nach oben, und Rudi schimpfte:
„Du hättest eine schöne Wendeltreppe in Auftrag geben sollen, die wär’ jetzt schon fertig gewesen!“
„Schon“, gab ich zurück, „aber ich weiß doch noch gar nicht, ob mein Herzallerliebster die Geschichte mit dem Heuboden so prickelnd findet. Am Ende müssen wir alles rückbauen.“
Paul war seit acht Wochen für Filmaufnahmen in den USA, und die Heubodensache hatte ich kurzerhand selbst entschieden.
„Blödsinn!“, stellte Rudi fest. „Er wird es lieben. – Außerdem hast du doch schon allein für die Glasabtrennung über siebentausend Steine hingelegt.“
„Dein Mann scheint gut zu verdienen“, warf Ray ein. „Oder bezahlst du das alles von den Kioskeinnahmen?“
Sieh an! Alles hatte Rudi dem guten Ray denn wohl doch nicht über mich erzählt. Oder wusste er von meinem Nebenerwerb und wollte nur sehen, wie offen ich damit umgehe?
„Na ja, auch kleine Beträge läppern sich zusammen, Ray“, antwortete ich.
Wir tranken noch ein Schlummerfläschchen und verfügten uns dann auf die 2 x 3 Meter große Matratze.
Ich hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, als mich ein anhaltendes Rütteln an meiner rechten Seite weckte.
„Wach auf, Nobbe, hier stimmt was nicht“, flüsterte Ray.
In meiner Schlaftrunkenheit brauchte ich volle drei Sekunden, bis ich Carl Marias Winseln in die Kategorie Warnhinweise! Bitte beachten! einsortiert hatte.
„Mach mal Licht“, flüsterte ich zurück. – Wieso überhaupt Licht? Als wir angekommen waren, hatte ein voller, runder Mond über uns gelächelt, und kein Wölkchen hatte am Himmel gestanden. Nun war es finster wie auf dem Kreisparteitag der CSU in Amberg-Sulzbach. Ray tastete nach dem Schalter, und noch bevor er ihn gefunden hatte, fluchte Rudi, dessen chronisch leichter Schlaf unser Geflüster und die Bewegung im Bett nicht ertragen hatte:
„Was soll der Krach? Und warum ist es hier so dunkel wie in ’nem verdammten Negerarsch?“
Während ich noch darüber nachdachte, was Ray wohl von Rudis Bildsprache halten mochte, flammte der Deckenfluter am Kopfende des Bettes auf. Der Dackel saß am Fußende und heulte sich die Seele aus dem Leib. Warum Rudi nicht davon wach geworden war, würde wohl auf ewig ein Geheimnis bleiben.
„Der Hund spielt verrückt“, kommentierte Ray überflüssigerweise.
Rudi schwang sich aus dem Bett und schaltete sämtliche verfügbaren Lichtquellen ein. Die eigene Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass Einbrecher hellerleuchtete Wohnungen nicht schätzten. Er trat an eins der kleinen Kutscherfenster, die wir für teuer Geld originalgetreu, aber in Dreifachverglasung hatten neu einsetzen lassen, und starrte hinaus.
„Stockeduster!“, kommentierte er, und das war nun wirklich seltsam.
Schließlich befanden wir uns am Rande eines Industriegebietes, und wenn auch nicht überall rund um die Uhr gearbeitet wurde, Licht gab es bei Tag und Nacht. Rudi öffnete das Fenster: Sofort quoll dichter, fettiger, bösartiger Qualm herein. Steven Spielberg hätte seine helle (oder besser: düstere) Freude gehabt! Rudi schlug das Fenster zu und schrie ein wenig redundant:
„Feuer! Es brennt!“
Ich war derweil aufgesprungen und hatte den fiependen Dackel an die Brust gedrückt, mehr fiel mir einstweilen nicht ein.
„Wir müssen hier raus“, sagte Ray so ruhig, wie ein Henker sagt: Nehmen Sie doch bitte den Zopf beiseite!
„Aber der Qualm kommt doch von draußen!“, schrie ich ihn an.
Ich war nicht gut in so Sachen! Extremsituationen lösten bei mir von jeher gerne mal Panikattacken und Hysterie aus.
„Ray hat recht.“ Rudi redete auf mich ein wie auf den sprichwörtlichen kranken Gaul. „Wir können doch nicht hierbleiben und warten, bis der Qualm reinkommt, oder?“
Mir war nicht nach Diskussionen. Ich presste Carl Maria an mich und ging vorsichtig hinter Ray her zur Treppe, sanft vorwärtsgeschoben von Rudi. Im Pferdestall sah man trotz der unterdimensionierten Beleuchtung, wie die schwarze Masse unter dem Tor hervorkroch.
„Mach das nicht auf!“ wimmerte ich, gegen den ersten Hustenreiz kämpfend.
Offenbar war der kleine Bruder des richtig dicken Rauchs schon im Raum verteilt. Ray ignorierte mich.
„Nützt nix!“, sagte er zu Rudi. „Ich mache jetzt die Tür auf, dann hakst du Nobbe rechts unter, und ich links. Wir laufen rechts um das Haus rum Richtung Ruhr. Wenn’s schiefgeht: Danke für alles, Bruder!“
Sie nahmen sich einen Moment Zeit für einen sehr tiefen Blick, dann nahmen sie mich, und Ray öffnete die Tür. In derselben Sekunde waren wir komplett umgeben von Dunkelheit in ihrer bösartigsten Form. Die beiden zogen mich nach vorne, allerdings nicht weit. Zuerst löste sich erst rechts Rudis Hand von mir, eine Sekunde später ließ Ray los. Ich stolperte noch zwei Schritte, dann gaben meine Beine nach, und ich krampfte meine Finger in das Dackelfell, dass der Hund laut aufheulte. Das nimmt er nun also als Andenken an dich mit in die Ewigkeit!
Dann sah ich das Licht. All die Berichte über Nahtoderfahrungen stimmten also! Bei allen Entgiftungen früherer Jahre hatte ich nie Licht gesehen, höchstens allerlei Buntes, und auch das nicht immer. Hier war Licht, eindeutig! Schwankend zwar – und ein bisschen schummrig durch den Qualm, wenn man ehrlich war – aber Licht! Und es kam auf mich zu!
„Verunfallte Person!“, quäkte eine Stimme, die durch das Atemschutzgerät klang wie eine Kreuzung aus Darth Vader und Godfather (nicht synchronisiert).
Dann wurde mir der Hund aus den Armen gerissen, und ich bekam eine Maske übergestülpt. Zuerst wollte ich mich wehren, aber dann bemerkte ich, dass ich mit diesem Plastikding atmen konnte. Atmen! Ich sog den Sauerstoff gierig ein wie bei meinem ersten Klaps auf den Po. Nie wieder würde ich mich über irgendetwas beschweren, solange ich nur Luft hätte! Willig ließ ich mich von Marlon Brando und seinem Kumpel zu einem Rettungswagen schleppen. Nachdem dessen Türen geschlossen waren, nahm mir der Notarzt die Maske ab, um mit einer Untersuchung zu beginnen.
„Carl Maria?“, fragte ich.
„Nein, mein Name ist Mehmed“, sagte der Doktor und lächelte. Offenbar ein echtes Sonnenscheinchen.
„Mein Hund“, versuchte ich etwas kurzatmig zu präzisieren.
„Oh, der Dackel.“ Dr. Mehmed lächelte noch immer. „Der sitzt vorn beim Fahrer. Es scheint ihm nichts zu fehlen, aber natürlich bin ich kein Dackelfachmann.“
Mühsam drehte ich mich auf der Trage um, die glücklicherweise keine Bahre geworden war, und schaute zum Führerhäuschen. Zwei Dackelpfoten versuchten angestrengt, die Glasscheibe aufzukratzen, die uns trennte. Gott sei Dank!
„Rudi und Ray?“ – Vielleicht spricht es nicht für mich, dass ich nicht zuerst an die Menschen gedacht hatte, aber so war es nun mal!
„Es sind noch zwei weitere Personen gerettet worden, um die kümmern sich meine Kollegen gerade“, wurde mir prompt die Antwort hingelächelt. Die Fortsetzung wollte mir nicht so recht gefallen: „So, und jetzt müssen Sie ein wenig schlafen.“
Es passiert einem ja nicht häufig, dass Ärzte auf einen hören, aber mein energisches „Stopp!“ ließ Mehmed kurz innehalten.
„Dottore“, sprach ich so ruhig ich konnte, „ich komme direkt aus einem Albtraum hierher. Ich weiß nicht, wie es meinen Freunden geht, ich weiß nicht, wie es meinem Hund geht.“ Diesmal stimmte wenigstens die Reihenfolge! „Vor allem weiß ich, verdammt noch mal, nicht, was eigentlich passiert ist! Bitte reden Sie mit mir, abschießen können Sie mich dann ja immer noch.“
„Sie haben Qualm eingeatmet …“
„Ach, was!“
Zwei Dinge kann kein Arzt der Welt ertragen: Sarkasmus und klugscheißende Patienten. Dr. Mehmeds Lächeln verrutschte, und er fuhr deutlich kühler fort:
„… über dessen Zusammensetzung wir noch nichts wissen. Ihr Dackel ist etwas nervös, aber seine Vitalfunktionen scheinen in Ordnung zu sein. – Ein EKG habe ich allerdings nicht geschrieben.“ Wenn schon Sarkasmus, dann stand der ausschließlich dem Herrn Doktor zu. „Was Ihre Freunde angeht, so kann ich über deren Zustand nichts sagen, aber wenn ich von Ihnen ausgehe, würde ich vermuten, dass beide bereits wieder leidlich erholt und reichlich aufmüpfig sind.“
Ich wollte ihm gerade mal so richtig was müpfen, als sich die Tür des Rettungswagens öffnete und sich Rudis sorgenfaltenzerknitterter Schädel hereinschob.
„Geht’s, Nobbe?“, fragte er.
Ach, Rudi, mein strahlender Held! Wie oft hatte er mich seit unseren Kindertagen schon rausgeboxt, wenn ich mich wieder einmal klaftertief in die Scheiße geredet oder geritten hatte. Er hatte Carl Maria auf dem Arm, der sich wand wie ein Aal und zu mir wollte. Ich richtete mich auf und stellte erstaunt fest, dass ich gar nicht verkabelt oder an Schläuche angeschlossen war. – Fernsehen ist eben doch nicht alles.
„Klar, Dicker“, antwortete ich, bevor Dr. Mehmed den Zauber des Augenblicks zerstörte.
„Was wollen Sie denn hier?“
„Nobbe mitnehmen“, antwortete Rudi der Hüne seelenruhig.
Ich würde wohl nie erfahren, wie Rudi die Ärzteschaft davon überzeugt hatte, dass unsere jeweiligen Rauchvergiftungen gar nicht so schlimm seien. Er würde doch wohl hoffentlich nicht einen oder zwei Notärzte niedergeschlagen haben! Ein Rätsel blieb mir auch, wie er mitten in der Nacht Mütze an einen polizeilich abgesperrten Brandherd gelotst hatte, aber wir fanden uns wenig später alle in Rudi Wohnzimmer wieder. Ich wollte nicht hier sitzen, ich wollte nach Hause und sehen, was aus meinem, aus unserem Heim, Pauls Nest, geworden war!
„Soweit ich das mitgekriegt habe“, sagte Rudi gerade, „sind die Hallen von Felix abgefackelt worden. Hat mit eurer Bude gar nix zu tun.“
Er würde nie lernen, dass die gespielte Sorglosigkeit nur bei Leuten zog, die ihn nicht kannten. Mit Felix meinte er Felix Geldern, einen unverschämt erfolgreichen Großspediteur und außerdem Rudis Pachtherrn. Zudem hatten Paul und ich unser Anwesen von ihm erworben. Oder jedenfalls das, was jetzt noch davon übrig war!
„Ich will jetzt sofort nach meinem Haus sehen“, sagte ich bockig wie ein Dreijähriger und wurde auch entsprechend behandelt.
„Wir können da jetzt nicht hin“, sagte Ray betont ruhig und schaute mich an wie einen Schwachsinnigen, „und das weißt du auch selbst. – Die tun, was sie können, um euer Haus zu schützen. Wenn es Neuigkeiten gibt, ruft mich ein Kumpel an, der ist bei der Freiwilligen Feuerwehr Wetter.“
Vermutlich hatten sie für den Großbrand sämtliche Feuerwehren im weiteren Umkreis mobilisiert. Ray legte mir die Hand aufs Knie.
„Ich weiß, dass dich das wahnsinnig macht, aber im Moment können wir absolut nichts tun. Warum versuchst du nicht ein wenig zu schlafen?“
Ich widersprach noch ein bisschen, und mitten in meiner Rede schlief ich im Sessel ein.
Zwei Stunden später wachte ich mit Kaffeegeruch in der Nase auf. Nicht die schlechteste Art, den Tag zu beginnen, selbst wenn es sich um Rudis scheußlichen Gefriergetrockneten handelte. Seine Vorliebe für diese trübe Brühe war eindeutig ein Relikt aus seinen Knastzeiten; er nannte die Gläser, in denen das Zeug verkauft wurde, auch nach wie vor „Bomben“. Ich hatte die Diskussionen um die Qualität dieses kaffeeähnlichen Staubes schon längst aufgegeben, und an diesem Morgen nahm ich die dampfende Tasse, die Ray mir hinhielt, dankbar entgegen. Rudi kam frisch geduscht und rasiert in den Raum, verstaute sein Telefonino in der Hosentasche und rief fröhlich:
„Alles paletti! Euer Haus steht noch, die Jungs von der Feuerwehr haben ganze Arbeit geleistet. Angeblich ist nicht mal eins von euren sauteuren Fenstern kaputt. – Alles nur ein bisschen dreckig vom Qualm.“
So sieht also ein bisschen dreckig aus!, dachte ich traurig, als wir zehn Minuten später durchs Tor fuhren. Die beiden Eichen, die die Einfahrt säumten, hatten arg gelitten. Ich hatte sie Skylla und Charybdis getauft, nachdem ich zuvor schnell noch gegoogelt hatte, dass dies auch die Namen waren, an die ich gedacht hatte. Auf der dem Feuer zugewandten Seite waren sie jeder Menge an Ästen und fast aller Blätter verlustig gegangen, aber zum Haus hin waren sie weitgehend intakt geblieben, sodass sie jetzt ein wenig wie Kulissenbäume in einer preiswerten Aufführung wirkten. Fassaden und Fenster waren von einem schmierigen, schwarzen Fettfilm überzogen, ebenso das Kopfsteinpflaster des Hofes.
„Da müssen wir wohl ein paar Tonnen Sand drauf kippen“, murmelte Rudi beim Betrachten des Pflasters.
In der Tat: Die Wassermassen, die unsere braven Brandwehrleute verspritzt hatten, um ein Übergreifen des Feuers zu verhindern, hatte die Zwischenräume zwischen den „Katzenköpfen“ so ziemlich leergespült. Immerhin überzeugte mich ein genauerer Blick über die Gebäude, dass Rudi recht gehabt hatte: Es war alles eklig und dreckig, aber es stand, und von unserem Standort aus war nicht ein Sprung in den Fenstern zu entdecken. Mir wurde etwas schwummerig vor lauter Erleichterung. Ich stützte mich an Rudis Ford F-100 ab, mit dem wir gekommen waren. Sein Granada stand ja noch vor meinem Büdchen, und kultiger war dieser Pickup von 1953 allemal.
„Wir werden wohl beim nächsten Feuerwehrfest alle Lose kaufen und außerdem mindestens drei Hekto Bier spenden müssen“, meinte ich und stellte erstaunt fest, dass ich schon wieder lächeln konnte.
In diesem Moment kam Felix Geldern auf den Hof, der unglückliche Hallenbesitzer. Im Schlepptau hatte er einen Unbekannten, der uns als Karl Heinzerling vorgestellt wurde, in irgendeiner Funktion für die Versicherung tätig, die das Pech hatte, die Policen für die Hallen ausgestellt zu haben. Felix sah ein bisschen blass um die Nase aus, erholte sich aber, nachdem er überzeugt war, dass uns nichts Ernsthaftes geschehen war. Er war zwar ein geschickter bis gerissener Geschäftsmann, zugleich aber auch ungeheuchelt frommer Lutheraner, und wenn Menschen zu Schaden gekommen wären, weil sein Eigentum abgefackelt war, hätte ihn das schwer mitgenommen. Der Versicherungs-Heinzerling hatte offenbar andere Prioritäten, er sah sich mit sorgenvoller Miene um, dann öffnete er seufzend ein Formular auf seinem Tablet und schaute Felix an. Die Rollen schienen klar verteilt.
„Also, für die Eichen brauchen wir wohl einen Baumchirurgen, aber einen guten“, begann Felix, als diktierte er wie in der guten, alten Zeit seinem Vorzimmerfräulein einen Brief.
In schneller Folge fielen die Stichworte ‚Fenster- und Gebäudereiniger‘, ‚Tiefbauer für Pflastersanierung‘, ‚Landschaftsgärtner.‘
„Die Rasenflächen sind ja völlig hinüber!“ Waren sie vorher schon gewesen, aber wollte ich in solcher Situation rechten? Herr Heinzerling offenbar auch nicht: Er machte den Eckermann für Geheimrat Geldern und schrieb mit, sonst tat er nicht viel. Es hatte eindeutig Vorteile, wenn man eine riesige LKW-Flotte und wer weiß wie viel tausend Quadratmeter Lagerflächen in der ganzen Republik bei derselben Gesellschaft versichert hatte.
„Habt ihr schon nachgeschaut, ob der Qualm auch nach drinnen gekommen ist?“, fragte Felix.
„Nee, wir sind ja auch gerade erst gekommen“, antwortete ich mit unschönen Vorahnungen.
Die Werkhalle war schnell besichtigt. Sie war innen so dreckig wie außen, aber da hier außer dem neuen Dach noch keinerlei Renovierungen vorgenommen worden waren, hatte selbst ich Bedenken, irgendwelche Zerstörungen geltend zu machen.
„Na, wenn die Fassadenreiniger da sind, können sie die Hütte hier gleich mit von innen abspritzen. Spart euch Zeit und Geld, und in der Gesamtrechnung wird das wohl nicht auffallen“, raunte Felix mir zu. – Einen kleinen Spielraum ließ offenbar auch Luthers Moraltheologie.
Wir gingen hinüber zum Haupthaus. Hier wären Schäden durch den Rauch ebenfalls noch nicht besonders schlimm, denn auch dieses Gebäude hatten wir bislang nur neu decken lassen. Felix sah das anders.
„Von hier aus sehe ich schon drei kaputte Fenster, Herr Heinzerling!“
Er sagte das so, als hätte der arme Karl von der Versicherung die Scheiben höchstselbst eingeschmissen. Der schrumpfte entsprechend und seufzte. Es war nicht ganz so schlimm innen, wie man hätte befürchten können, aber schlimm genug: Das Haus stand ein gutes Stück entfernt von der Straße und war deshalb nicht so intensiv gewässert worden wie die beiden Nebengebäude, aber der Qualm hatte sich überall festgesetzt, und ein paar tausend Liter Wasser waren es vermutlich doch gewesen, die ihren Weg ins Haus gefunden hatten.
„Das Parkett ist im Arsch!“, kommentierte Rudi beim Betreten der schönen, großen Halle.
„Ja“, bestätigte Felix traurig. „Ich habe das Parkett seinerzeit selbst mit meinem Architekten angeschaut. Eine sehr schöne Arbeit, die nach entsprechender Restaurierung bestimmt die nächsten zweihundert Jahre überstanden hätte. Da wird wohl eine Komplettsanierung nicht reichen, das müssen wir neu legen lassen.“
Gegen Felix Geldern und seinen Architekten würde Herr Heinzerling nicht antreten, er seufzte und schrieb. Mir tat es leid um das schöne, alte Holz, aber ein neues, frisch verlegtes Parkett nach unseren Wünschen? – Die Heilige Mutter Kirche hatte doch recht: Auch im Bösen findet sich Gutes!
In dieser Überzeugung wurde ich bestätigt, als der Versicherungsmann freiwillig sagte: „Natürlich wird man den kompletten Putz entfernen müssen. Wer weiß, was für Giftstoffe in dem Qualm enthalten waren.“
Das war schon die halbe Miete für den Trockenausbau! Über den Ersatz für die Fenster gab es eine kleinere Debatte, weil selbst Heinzerling bemerkt hatte, dass es sich um Uraltmodelle handelte. Rudi machte eine abwiegelnde Geste in meine Richtung, vermutlich hatte er schon das Gespräch vor Ohren, in dem er mit den beteiligten Firmen die Gewerke und deren Abrechnung solange hin- und herschieben würde, bis die Kosten für die teuren Fenster irgendwo zwischen Parkett und Putz verschwunden sein würden. – Im Keller stand etwas Wasser, und die Feuerwehr war fleißig mit ihren Pumpen zugange.
„Trockenlegen, neu verputzen“, murmelte Heinzerling gottergeben, bevor Felix auch nur den Mund aufgemacht hatte.
Der Pferdestall sah aus wie erwartet: Alles, aber auch wirklich alles war mit diesem ekelhaften Schmierzeug bedeckt, das sich aus Qualm in Verbindung mit Wasser gebildet hatte. Die Glaswand allerdings hatte dichtgehalten. Das Loft war unversehrt.
„Also, auch hier: Putz von den Wänden, alle versifften Holzteile raus, neumachen“, fasste Felix zusammen.
Heinzerling nickte, rappelte sich ein bisschen auf und wandte sich mir zu: „Am besten lassen Sie die Schäden durch Ihre Handwerker beheben und reichen die Belege bei uns ein. Ich schicke Ihnen ein Schadensprotokoll zu mit den entsprechend vorzunehmenden Maßnahmen, dann sollten wir diese Geschichte schnell abgewickelt haben.“
Es war klar, dass er sich mit unseren Bagatellen nicht lange aufhalten wollte. – Der wirkliche Schaden lag gegenüber!
Rudi und ich sahen einander an. Wir bekamen glänzende Augen. Einen erheblichen Teil der ohnehin notwendigen Arbeiten am Anwesen könnten wir der Versicherung aufs Auge drücken, weil man erstens mit Gelderns Millionenschaden genug zu tun haben und zweitens einem ebenso guten wie einflussreichen Versicherungsnehmer nicht unnötig auf die Zehen steigen würde.
Wir standen in unserem Loft (Irgendwann müsste ich mir einen treffenderen Namen einfallen lassen – vielleicht Wohnung?), und Felix sah sich anerkennend um. Er hatte noch die alte Kutscherwohnung mit ihren kleinen, niedrigen Räumen in Erinnerung.
„Das habt ihr richtig schön hingekr…“, begann er, als sein Blick auf den Dachstuhl fiel und er den Rest des Satzes verschluckte. „Aber ihr habt ja das Dach gar nicht gedämmt!“ brachte er entsetzt hervor.
Rudi und ich blickten einander an, je ein stolzes Lächeln auf den Gesichtern.
„Haben wir, haben wir!“, erklärte Rudi. „Sonst wäre doch das Löschwasser gestern Nacht kubikmeterweise hier reingelaufen. Das hier war Nobbes Idee!“
Er strahlte wie ein Lehrer, der einen besonders gelungenen Aufsatz seines Lieblingsschülers vorliest.
„Als das Dach erneuert wurde, haben wir die alten Sparren, Balken und Pfannen verwahrt. Dann wurde ganz normal gedämmt, Rigipsplatten druntergekloppt und zuletzt mit dem alten Material quasi das Originaldach nachgebaut!“
„Klasse!“, meinte Felix, und selbst Herr Heinzerling schien beeindruckt.
„Wir haben sogar an ein paar Stellen, wo die alten Pfannen schadhaft waren, LED-Lämpchen eingesetzt. Im Dunkeln sieht das dann so aus, als wenn man durch die Pfannen auf die Sterne schauen kann.“, fügte ich hinzu.
Bis jetzt hatte die Idee allen gefallen; ich hoffte nur, dass es meinem Schatz – und Miteigentümer, by the way – auch so gehen würde. Ich lotste die drei zu den zwei Lehnstühlen, die derzeit die einzigen seriösen Sitzmöbel darstellten und stellte drei Klappstühle dazu, die ich im Herrenhaus requiriert hatte. Dann holte ich eine Flasche vom besten Schmuggelgrappa Westfalens, und wir stießen – inklusive des Herrn Heinzerlings – auf die Tatsache an, dass zumindest Paul und ich glimpflich davongekommen waren.
„Bei dir drüben ist vermutlich alles im Dutt?“, fragte ich Felix mitfühlend.
„Wie Dresden 1945“, meinte der dumpf. „Das wird schon eine Heidenarbeit, allein die Schadenshöhe genau festzulegen.“
An dieser Stelle schloss der arme Heinzerling schaudernd die Augen, und ich goss noch ein Trostründchen Grappa ein.
„Weiß man denn schon, wie das Feuer entstanden ist?“, fragte Rudi.
„Also, Genaues wissen wir natürlich noch nicht, aber es sieht so aus, als ob das Feuer an mehreren Stellen gleichzeitig ausgebrochen wäre“, übernahm der Versicherungsmann die Antwort. Wir starrten ihn an.
„Brandstiftung?“, brachte ich schließlich hervor.
„Meine Fresse!“, entfuhr es Ray, als Karl Heinzerling bekümmert nickte.
„Das können Sie laut sagen“, presste Felix zwischen den Zähnen hervor. Er war passionierter Jäger, und Pazifisten waren die Lutheraner noch nie gewesen. Fast musste man hoffen, dass die Polizei den Brandstifter fand, bevor Felix Geldern das tat …
„Na, was soll’s“, schloss er das hässliche Thema ab. „Soll die Polizei erst mal ihre Arbeit machen, dann sehen wir weiter.“
Er entschuldigte sich kurz, um zu telefonieren. Beim Zurückkommen meinte er:
„Herr Heinzerling, ich habe gerade mit unserem Fensterputzer telefoniert. Er kommt heute Nachmittag mit ein paar Leuten und schickt dann die Rechnung direkt an Sie, das geht doch wohl in Ordnung?“
Der Angesprochene nickte, und ich überlegte einmal mehr, wie einfach die Kleinigkeiten des Alltags für die Reichen sein konnten. Felix zwinkerte mir zu und sagte: