Pinocchios Abenteuer. Die Geschichte einer Holzpuppe - Carlo Collodi - E-Book

Pinocchios Abenteuer. Die Geschichte einer Holzpuppe E-Book

Carlo Collodi

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Beschreibung

Als der Holzschnitzer Geppetto gebeten wird, aus einem Stück Holz eine Marionette zu schnitzen, staunt er nicht schlecht, als die Holzpuppe plötzlich zum Leben erwacht. Er nimmt die Puppe an wie einen Sohn, doch der schelmische Pinocchio macht es ihm nicht leicht: Immer wieder gerät er auf Abwege oder lässt sich von seiner Neugier zu allerlei Abenteuern verleiten. Bösartige Puppenspieler, gerissene Tiere und andere magische Gestalten begleiten seine Reise, an deren Ende er erkennt, was es braucht, um ein »echter Junge« zu werden. Carlo Collodi, der zu früh starb, um den Erfolg seines Kinderbuchklassikers mitzuerleben, schuf mit Pinocchio eine literarische Figur, die Kindern wie Erwachsenen zeigt, was Güte, Freundschaft und Ehrlichkeit bedeuten. – Mit einer kompakten Biographie des Autors.

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Seitenzahl: 222

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Carlo Collodi

Pinocchios Abenteuer

Die Geschichte einer Holzpuppe

Aus dem Italienischen übersetzt und mit einem Nachwort von Hubert BauschMit 81 Illustrationen von Enrico Mazzanti

Reclam

Italienischer Originaltitel: Le Avventure di Pinocchio. Storia di un burattino

 

1986, 2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Durchgesehene Ausgabe

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Coverabbildung: © Gutentag-Hamburg

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962065-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020683-6

www.reclam.de

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

Kapitel XXXII

Kapitel XXXIII

Kapitel XXXIV

Kapitel XXXV

Kapitel XXXVI

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Nachwort

Zeittafel

I

Wie es kam, dass Tischlermeister Kirsche ein Stück Holz fand, das wie ein Kind weinte und lachte

Es war einmal …

»Ein König!«, werden gleich meine kleinen Leser sagen. Nein, ihr Kinder, diesmal habt ihr nicht recht.

Es war einmal ein Stück Holz.

Es war kein edles Holz, nur ein einfaches Stück Brennholz, wie man es im Winter in die Öfen und Kamine wirft, um Feuer zu machen und die Zimmer zu heizen.

Ich weiß nicht, wie es kam, jedenfalls landete dieses Stück Holz eines schönen Tages in der Werkstatt eines alten Tischlers, der Meister Anton hieß, den aber alle Meister Kirsche nannten, weil seine Nasenspitze immer so dunkelrot glänzte wie eine reife Kirsche.

Kaum hatte Meister Kirsche das Stück Holz gesehen, freute er sich sehr, rieb sich zufrieden die Hände und murmelte leise vor sich hin:

»Dieses Holz kommt mir gerade recht. Ich will ein Tischbein daraus machen.«

Gesagt, getan. Er nahm sogleich die scharfe Axt, wollte die Rinde entfernen und das Holz glätten; als er aber gerade zum ersten Hieb ausholen wollte, blieb ihm der Arm plötzlich stehen, denn er hörte ein ganz dünnes Stimmchen, das flehentlich bat:

»Schlag mich nicht!«

Stellt euch vor, wie unserem guten alten Meister Kirsche zumute war. Mit ungläubigen Augen blickte er im Zimmer umher, um festzustellen, woher denn dieses Stimmchen kommen mochte, aber er sah niemanden; er sah unter die Bank – nichts; er sah in einem stets verschlossenen Schrank nach – aber da war nichts; er sah im Korb nach, in den er die Holzspäne und das Sägemehl warf – wieder nichts; er öffnete gar die Werkstatttüre, um kurz auf der Straße nach dem Rechten zu sehen, aber auch da war nichts. Oder …?

»Ach so«, sagte er nun lachend und kratzte sich an der Perücke, »ich habe mir dieses Stimmchen nur eingebildet. Also wieder an die Arbeit.«

Er nahm wieder die Axt in die Hand und tat einen kräftigen Schlag auf das Stück Holz.

»Au, du hast mir wehgetan!«, jammerte das gleiche Stimmchen.

Diesmal erstarrte Meister Kirsche völlig. Die Augen fielen ihm aus dem Kopf, sein Mund war weit aufgesperrt, seine Zunge hing ihm bis zum Kinn. Wie eine Brunnenfigur sah er aus. Kaum hatte er die Sprache wiedergefunden, sagte er zitternd und stotternd vor Schreck:

»Aber von wo kann bloß das Stimmchen gekommen sein, das ›au‹ geschrien hat? – Hier ist doch keine Menschenseele zu sehen. Oder sollte gar dies Stück Holz gelernt haben, zu weinen und zu klagen wie ein Kind? Das kann ich nicht glauben. Da steht doch dieses Holz: Es ist ein Stück Brennholz wie alle anderen auch. Wirft man es ins Feuer, kann man damit einen Topf Bohnen kochen. Oder? – Sollte sich einer da drin versteckt haben? Nun, wenn einer da drin ist, dann hat er eben Pech gehabt. Ich werd’s ihm zeigen!«

Bei diesen Worten packte er mit beiden Händen das arme Stück Holz und warf es erbarmungslos gegen die Werkstattwand.

Dann horchte er, ob da wieder ein Stimmchen wäre, das klagte. Er wartete zwei Minuten – nichts; fünf Minuten – nichts; zehn Minuten – nichts.

»Na klar«, sagte er, zwang sich zu lachen und raufte sich die Perücke, »dies Stimmchen, das ›au‹ gesagt hat, habe ich mir nur eingebildet. Also wieder an die Arbeit!«

Und weil ihm die Angst den Rücken herunterlief, versuchte er sich ein wenig Mut zu machen und fing an, vor sich hinzusingen.

Unterdessen legte er die Axt beiseite, nahm den Hobel in die Hand, um das Stück Holz glatt zu hobeln, aber als er mit dem Hobel auf und ab fuhr, vernahm er wieder das Stimmchen, das er schon kannte, und das ihm zukicherte:

»Hör auf! Du kitzelst mich überall.«

Diesmal fiel der arme Meister Kirsche wie vom Blitz getroffen um. Als er die Augen aufschlug, fand er sich am Boden wieder. Sein Gesicht war entstellt, und seine sonst immer dunkelrote Nasenspitze verfärbte sich vor lauter Angst und wurde dunkelblau.

II

Meister Kirsche schenkt das Stück Holz seinem Freund Geppetto, der es mitnimmt, um daraus eine wunderbare Holzpuppe zu machen, die tanzen, fechten und Purzelbäume schlagen kann

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.

»Kommt nur herein«, sagte der Tischler, der immer noch nicht aufstehen konnte.

Ein rüstiger Alter namens Geppetto trat in die Werkstatt ein; wenn die Jungen aus der Nachbarschaft ihn zur Weißglut bringen wollten, riefen sie ihn mit seinem Spitznamen »Maisbrei«, weil seine gelbe Perücke tatsächlich wie Maisbrei aussah.

Geppetto geriet sehr schnell in Zorn. Wehe, man nannte ihn ›Maisbrei‹! Dann wurde er fuchsteufelswild und war nicht mehr zu halten.

»Guten Tag, Meister Anton«, sagte Geppetto. »Was macht Ihr denn dort auf dem Boden?«

»Ich bringe den Ameisen das Einmaleins bei.«

»Na, dann viel Spaß!«

»Wer hat Euch zu mir gebracht, Gevatter Geppetto?«

»Die Beine! – Hört, Meister Anton, ich bin gekommen, um Euch um einen Gefallen zu bitten.«

»Bitte sehr, ganz zu Euren Diensten«, antwortete der Tischler, der jetzt kniete.

»Heute Morgen hatte ich eine Idee.«

»Lasst hören.«

»Ich habe gedacht, dass ich mir eine schöne Holzpuppe schnitzen könnte; aber eine wunderbare Holzpuppe, die tanzen, fechten und sogar Purzelbäume schlagen kann. Mit dieser Puppe möchte ich durch die Welt ziehen, um mir damit ein Stück Brot und ein Glas Wein zu verdienen. Was haltet Ihr davon?«

»Toll, Maisbrei!«, rief das schon bekannte Stimmchen, von dem man nicht wusste, woher es kam.

Als aber Gevatter Geppetto hörte, dass man ihn ›Maisbrei‹ genannt hatte, lief er vor Zorn wie eine Paprika rot an, schaute den Tischler an und sagte vor Wut kochend:

»Warum beleidigt Ihr mich?«

»Wer beleidigt Euch?«

»Ihr habt ›Maisbrei‹ zu mir gesagt.«

»Nein, ich war es nicht.«

»Dann soll ich es wohl selbst gewesen sein! Ich sage, Ihr seid es gewesen!«

»Nein!«

»Doch!«

»Nein!«

»Doch!«

Sie erhitzten sich immer mehr, aus Worten wurden Taten. Sie packten einander, kratzten sich, bissen sich und richteten sich übel zu.

Als die Schlacht zu Ende war, hielt Meister Anton die gelbe Perücke Geppettos in der Hand, und der wiederum stellte fest, dass er die graumelierte Perücke des Tischlermeisters zwischen den Zähnen hatte.

»Gib mir die Perücke zurück!«, schrie Meister Anton.

»Und du mir meine, und dann wollen wir Frieden schließen.«

Und nachdem jeder der beiden Alten seine Perücke wiederhatte, schüttelten sie sich die Hände und schworen, bis an ihr Lebensende gute Freunde zu bleiben.

»Also, Gevatter Geppetto«, sagte der Tischlermeister zum Zeichen der Versöhnung, »welchen Gefallen kann ich Euch tun?«

»Ich hätte gern etwas Holz, um daraus meine Puppe zu machen. Gebt Ihr es mir?«

Meister Anton ging sogleich vergnügt zur Bank, um jenes Stück Holz zu holen, das ihm so viel Angst und Schrecken eingejagt hatte. Aber als er dabei war, es seinem Freund in die Hand zu drücken, machte das Stück Holz einen Ruck, entglitt augenblicklich seinen Händen und schlug heftig auf die dürren Schienbeine des armen Geppetto.

»Ach, Meister Anton, so macht Ihr also Geschenke! Ihr habt mich fast lahm geschlagen.«

»Ich schwöre Euch, ich bin es nicht gewesen.«

»Dann soll ich es also gewesen sein!«

»Schuld ist dieses Stück Holz.«

»Natürlich war es das Holz: aber Ihr habt es mir an die Beine geschlagen.«

»Ich habe es Euch nicht an die Beine geworfen!«

»Lügner!«

»Geppetto, beleidigt mich nicht! Sonst sage ich ›Maisbrei‹ zu Euch!«

»Esel!«

»Maisbrei!«

»Oberesel!«

»Maisbrei!«

»Hässlicher Affe!«

»Maisbrei!«

Als Geppetto sich zum dritten Male ›Maisbrei‹ nennen hörte, sah er rot. Er stürzte sich auf den Tischler, und nun verprügelten sie sich nach allen Regeln der Kunst.

Nach der Schlacht hatte Meister Anton noch zwei Kratzer mehr auf der Nase und der andere zwei Knöpfe weniger an seiner Jacke.

So waren sie quitt; sie schüttelten sich die Hände und schworen, bis an ihr Lebensende gute Freunde zu bleiben.

Dann nahm Geppetto das zünftige Stück Holz in die Hand, dankte Meister Anton und ging hinkend nach Hause.

III

Zu Hause angekommen, macht sich Geppetto sogleich daran, die Holzpuppe zu schnitzen und gibt ihr den Namen Pinocchio. Die ersten Streiche Pinocchios

Geppettos Behausung bestand aus einem kleinen, ebenerdigen Zimmer, dessen Licht aus einer Besenkammer kam. Die Einrichtung konnte kaum bescheidener sein: ein armseliger Stuhl, ein elendes Bett und ein wackeliger Tisch. An der hinteren Wand sah man einen kleinen Kamin, in dem Feuer brannte; aber das Feuer war nur gemalt, und neben dem Feuer war ein Topf gemalt, der munter vor sich hinkochte und aus dem eine Dampfwolke stieg, die wie echter Dampf aussah.

Kaum war Geppetto wieder in seiner Behausung, nahm er gleich das Werkzeug zur Hand und begann, seine Holzpuppe zu schnitzen.

»Wie soll sie denn heißen«, fragte er sich. »Ich will sie Pinocchio nennen. Dieser Name wird ihr Glück bringen. Ich kannte eine ganze Familie, die Pinocchi hieß: Vater Pinocchio, Mutter Pinocchia und die Kinder Pinocchi. Und alle kamen gut durchs Leben. Der Reichste von ihnen bettelte um Almosen.«

Als er den Namen für seine Puppe gefunden hatte, legte er tüchtig los; er machte zuerst die Haare, die Stirn und dann die Augen. Stellt euch sein Erstaunen vor, als er die Augen fertig hatte, und bemerkte, dass sie ihn unentwegt anstarrten.

Und als Geppetto sich von diesen beiden Holzaugen so angestarrt sah, wurde er fast böse und sagte in gereiztem Ton:

»Ihr Glotzaugen, was schaut ihr mich so an?«

Keiner antwortete.

Nach den Augen schnitzte er ihr die Nase; kaum war die Nase fertig, begann sie zu wachsen und wuchs und wuchs und wuchs und wurde in wenigen Minuten eine Nase, die kein Ende mehr nehmen wollte.

Der arme Geppetto mühte sich ab, sie kürzer zu machen; aber je mehr er sie kürzte und zurechtstutzte, desto länger wurde diese freche Nase.

Nach der Nase machte er den Mund.

Der Mund war noch nicht fertig, da fing er schon zu lachen und zu singen an.

»Hör auf zu lachen!«, sagte Geppetto ärgerlich; aber es war, als hätte er gegen eine Wand geredet.

»Ich sage es noch einmal, hör auf zu lachen!«, schrie er mit bedrohlicher Stimme.

Da hörte der Mund zu lachen auf, streckte dafür aber die Zunge ganz heraus. Geppetto, der sein Werk nicht aufs Spiel setzen wollte, tat so, als bemerke er nichts und arbeitete weiter. Nach dem Mund machte er das Kinn, dann den Hals, dann die Schultern, die Brust, Arme und Hände.

Kaum hatte er die Hände fertig, spürte Geppetto, wie ihm die Perücke vom Kopf gezogen wurde. Er drehte sich um, und was musste er sehen? Er sah seine gelbe Perücke in der Hand der hölzernen Puppe. »Pinocchio! Gib mir sofort meine Perücke zurück!«

Statt ihm aber die Perücke zurückzugeben, setzte Pinocchio sie sich selbst auf den Kopf, so dass ihm fast die Luft ausging. Über dieses freche und dreiste Gebaren wurde Geppetto ganz traurig und melancholisch, wie er es in seinem ganzen Leben noch nicht gewesen war. Er drehte sich zu Pinocchio um und sagte:

»Du Lausejunge von einem Sohn, du bist noch gar nicht fertig und fängst schon damit an, es deinem Vater gegenüber an Respekt fehlen zu lassen. Schlimm, mein Junge, schlimm!«

Und er wischte sich eine Träne aus den Augen.

Noch mussten die Beine und Füße gemacht werden. Als Geppetto mit den Füßen fertig war, spürte er auch schon einen Fußtritt gegen seine Nasenspitze.

»Ich habe nichts anderes verdient!«, sagte er zu sich selbst. »Ich hätte vorher daran denken müssen, jetzt ist es zu spät.«

Dann fasste er die Holzpuppe unter den Armen, stellte sie auf die Erde hinunter, auf den Zimmerboden, um ihr das Gehen beizubringen.

Pinocchio hatte aber ganz steife Beine und konnte sich nicht bewegen. Geppetto führte ihn an der Hand, um ihm zu zeigen, wie man einen Fuß vor den anderen setzt.

Als Pinocchio seine Beine bewegen konnte, begann er, von alleine zu gehen und durch das Zimmer zu laufen; schließlich schlüpfte er durch die Haustüre, sprang auf die Straße und brannte durch.

Der arme Geppetto lief vergeblich hinter ihm her, denn dieser Schelm von Pinocchio schlug Haken wie ein Hase und klapperte mit seinen Holzfüßen so auf dem Straßenpflaster, dass es einen Lärm gab wie von zwanzig Paar Bauernschuhen.

»Haltet ihn! Haltet ihn!«, schrie Geppetto; aber als die Leute, die unterwegs waren, den hölzernen Jungen wie einen Araberhengst rennen sahen, blieben sie vor Begeisterung stehen, schauten ihm nach und lachten, wie man es nicht für möglich halten würde.

Zum Glück tauchte schließlich ein Polizist auf, der dem Lärm nach glaubte, es handele sich um ein Fohlen, das sich von seinem Herrn losgerissen habe. Beherzt pflanzte er sich breitbeinig mitten auf der Straße auf und war wild entschlossen, es zu fassen und Schlimmeres zu verhüten.

Als aber Pinocchio schon von Weitem sah, dass der Polizist die ganze Straße versperrte, wollte er ihm, ohne dass dieser es sich versah, mitten zwischen den Beinen hindurchschlüpfen, was ihm jedoch völlig misslang.

Ohne sich von der Stelle zu rühren, ergriff der Polizist ihn fest an der Nase (seine Nase war ja so fürchterlich lang, dass sie eigens dazu geschaffen schien, von einem Polizisten geschnappt zu werden) und gab ihn Geppetto zurück; der wollte ihn sofort zur Strafe kräftig an den Ohren ziehen. Aber stellt euch vor, wie ihm zumute war, als er die Ohren suchte und keine finden konnte. Und wisst ihr warum? Weil er im Eifer des Gefechts vergessen hatte, sie zu schnitzen.

Dann packte er ihn beim Schlafittchen, und auf dem Nachhauseweg schüttelte er drohend den Kopf und sagte:

»Wir gehen sofort nach Hause. Zu Hause, da kannst du sicher sein, rechnen wir miteinander ab.«

Bei dieser Drohung warf sich Pinocchio zu Boden und wollte nicht mehr weitergehen. Unterdessen blieben die Schaulustigen und Tagediebe stehen und bildeten einen kleinen Menschenauflauf um sie herum.

Der eine sagte dies, der andere das.

»Armer Holzjunge«, sagten einige, »du hast recht, nicht nach Hause zu wollen. Wer weiß, wie ihn dieser Grobian von Geppetto verprügeln wird!«

Und die anderen fügten böse hinzu:

»Dieser Geppetto sieht wie ein Ehrenmann aus, aber den Kindern gegenüber ist er ein richtiger Tyrann. Wenn man ihm den armen Holzjungen lässt, ist er glatt imstande, ihn in Stücke zu hauen.«

Sie redeten so daher und machten so viel Theater, dass der Polizist Pinocchio befreite und den armen Geppetto ins Gefängnis warf. Dieser fand keine Worte der Verteidigung, weinte wie ein Kälbchen und stammelte schluchzend auf dem Weg ins Gefängnis:

»Nichtswürdiger Sohn! Und wenn man bedenkt, dass ich einen rechtschaffenen Holzjungen aus dir machen wollte! Aber mir geschieht es recht, ich hätte vorher daran denken müssen.«

Was sich danach ereignete, ist eine Geschichte, die man kaum glauben kann. Ich will sie euch in den nächsten Kapiteln erzählen.

IV

Die Geschichte von Pinocchio und der Sprechenden Grille, an der man sieht, wie böse Kinder es satthaben, immer von Leuten, die mehr wissen als sie selbst, zurechtgewiesen zu werden

Nun, ihr Kinder, will ich euch erzählen, dass, während der arme Geppetto schuldlos ins Gefängnis gebracht wurde, dieser Schelm von Pinocchio sich den Krallen des Polizisten entzogen hatte, die Beine unter den Arm nahm und quer über die Felder lief, um noch schneller wieder zu Hause zu sein. In der großen Eile sprang er über hohe Böschungen, über Dornenhecken und Wassergräben, gerade so wie es ein von Jägern verfolgtes Böckchen oder Häschen auch getan hätte.

Zu Hause angekommen, fand er die Tür angelehnt. Er stieß sie auf und ging hinein. Kaum hatte er den Riegel vorgeschoben, ließ er sich mit einem großen Seufzer der Erleichterung auf die Erde fallen.

Aber die Erleichterung sollte nicht lange andauern, denn er hörte jemand im Zimmer, der »zirp-zirp-zirp« machte.

»Wer ruft mich?«, sagte Pinocchio ganz verängstigt.

»Ich bin es.«

Pinocchio drehte sich um und sah eine große Grille, die ganz langsam die Wand hinaufkroch.

»Sag, Grille, wer bist denn du eigentlich?«

»Ich bin die Sprechende Grille und wohne schon über hundert Jahre in diesem Zimmer.«

»Ab heute gehört dieses Zimmer mir«, sagte der hölzerne Junge, »und wenn du mir einen Gefallen tun willst, so verschwinde schleunigst, ohne dich nochmals umzudrehen.«

»Ich werde nicht von hier weichen«, antwortete die Grille, »ohne dir eine große Wahrheit gesagt zu haben.«

»Sage sie mir, aber schnell.«

»Wehe den Kindern, die sich gegen ihre Eltern auflehnen und unüberlegt ihr Elternhaus verlassen. Sie werden es nie mehr gut auf dieser Welt haben, und früher oder später werden sie es bitter bereuen.«

»Sing nur, meine Grille, wie es dir gefällt; ich aber weiß, dass ich morgen bei Tagesgrauen von hier weggehen will. Bleibe ich nämlich hier, wird es mir wie allen anderen Kindern ergehen: Man wird mich in die Schule schicken; und ob ich will oder nicht, ich muss lernen. Und ganz im Vertrauen gesagt – dazu habe ich nicht im Geringsten Lust. Ich laufe lieber den Schmetterlingen nach und steige auf die Bäume, um junge Vögel aus den Nestern zu holen.«

»Armes Dummerchen! Weißt du denn nicht, dass du so, bist du erst erwachsen, ein rechter Esel sein wirst und dass alle sich über dich lustig machen werden?«

»Schweig still, du unkende Grille!«, rief Pinocchio.

Die Grille, die geduldig und klug war, nahm die Frechheit nicht übel und fuhr im gleichen Tone fort:

»Wenn du schon nicht zur Schule gehen willst, warum erlernst du nicht ein Handwerk, mit dem du dir ehrlich ein Stück Brot verdienen kannst?«

»Soll ich es dir sagen?«, erwiderte Pinocchio, der allmählich die Geduld verlor. »Von allen Berufen auf der Welt gibt es nur einen einzigen, der mir gefallen könnte.«

»Und was für ein Beruf wäre das?«

»Essen, trinken, schlafen, mich vergnügen und von früh bis spät ein Vagabundenleben führen.«

»Damit du es weißt«, sagte die Sprechende Grille mit gewohnter Ruhe, »alle, die diesem Beruf nachgehen, landen fast immer im Armenhaus oder im Gefängnis.«

»Pass auf, du unkende Grille –, wenn mir die Galle hochsteigt, wehe dir!«

»Armer Pinocchio, du dauerst mich wirklich.«

»Warum tue ich dir leid?«

»Weil du eine Holzpuppe bist und, was schlimmer ist, weil du einen Holzkopf hast.«

Bei diesen Worten sprang Pinocchio wutentbrannt auf, nahm einen Holzhammer von der Bank und schleuderte ihn gegen die Sprechende Grille.

Vielleicht nahm er nicht einmal an, dass er sie treffen könnte; aber unglücklicherweise erwischte er sie genau am Kopf, sie konnte gerade noch ein »Zirp-zirp-zirp« sagen und blieb dann totgeschlagen an der Wand kleben.

V

Weil Pinocchio Hunger hat, sucht er ein Ei, um sich ein Omelett zu backen; aber im schönsten Augenblick fliegt ihm das Omelett zum Fenster hinaus

Mittlerweile begann es, Nacht zu werden. Und Pinocchio, dem einfiel, dass er noch nichts gegessen hatte, spürte ein leichtes Rumoren im Magen, das sehr an Appetit erinnerte.

Aber der Appetit wächst bei Kindern schnell, und flugs wurde nach wenigen Minuten aus dem Appetit Hunger, und aus dem Hunger wurde im Handumdrehen ein Bärenhunger, ein Hunger, den man mit dem Messer hätte schneiden können.

Der arme Pinocchio lief plötzlich zum Herd, auf dem ein kochender Topf stand, wollte den Deckel heben, um zu sehen, was drin war; aber der Topf war ja nur auf die Wand gemalt. Ihr könnt euch seine Enttäuschung vorstellen. Seine Nase, die schon so lang war, wurde noch um mindestens vier Finger länger.

Nun rannte er durch das Zimmer, stöberte in allen Kisten, allen Verstecken herum und suchte etwas Brot, nur ein Stückchen trockenes Brot, eine Brotrinde, einen für den Hund übrig gelassenen Knochen, etwas angeschimmelten Maisbrei, eine Fischgräte, einen Kirschkern, kurz: irgendetwas zum Beißen. Aber er fand nichts, gar nichts, nicht das geringste bisschen.

Und der Hunger wurde immer größer, und der arme Pinocchio konnte sich nur durch Gähnen Erleichterung verschaffen. Und er gähnte so sehr, dass ihm der Mund ein paar Mal bis zu den Ohren offen stand. Und nachdem er gegähnt hatte, spuckte er aus und spürte, wie sich ihm der Magen zusammenzog.

Weinend und ganz verzweifelt sagte er:

»Die Sprechende Grille hatte recht. Es war unrecht von mir, mich gegen meinen Vater aufzulehnen und von zu Hause wegzulaufen. – Wäre mein Papa hier, müsste ich nicht vor lauter Gähnen verhungern. Ach, was ist der Hunger doch für eine schreckliche Krankheit!«

Da glaubte er plötzlich im Abfallhaufen etwas Rundes und Weißes zu sehen, das ganz wie ein Hühnerei aussah. Wie der Blitz sprang er hin und griff danach – es war wirklich ein Ei.

Pinocchios Freude kann man nicht beschreiben, man kann sie sich nur einfach vorstellen. Alles kam ihm wie ein Traum vor. Er drehte das Ei in den Händen, streichelte und küsste es und sagte:

»Und wie soll ich es nun zubereiten? Soll ich ein Omelett machen? – Nein, ich koche es lieber. – Oder würde es nicht besser schmecken, wenn ich es in der Pfanne briete, oder wie wäre es, wenn ich es zum Trinken weichkochte? – Nein, am schnellsten geht es im Tiegel oder in der Pfanne. Und ich habe ja einen solchen Hunger darauf.«

Gesagt, getan. Er stellte ein kleines Pfännchen auf das Becken voll glühender Kohle, tat anstelle von Öl oder Butter etwas Wasser in das Pfännchen, und als das Wasser zu dampfen anfing, knack – zerbrach er die Eierschale und wollte das Ei in das Pfännchen geben.

Aber anstelle von Eiweiß und Dotter schlüpfte ein quietschfideles und liebes Küken aus, machte eine artige Verbeugung und sagte: »Tausend Dank, Herr Pinocchio, Ihr habt mir die Mühe, die Schale aufzubrechen, erspart. Auf Wiedersehen, alles Gute und viele Grüße zu Hause.«

Daraufhin breitete es die Flügel aus und flog durch das offene Fenster und war bald nicht mehr zu sehen.

Der arme Pinocchio stand wie versteinert da, mit starrem Blick und offenem Mund und den Eierschalen in den Händen. Als er sich nach dem ersten Schrecken wieder gefangen hatte, begann er zu weinen, zu schreien und aus lauter Verzweiflung mit den Füßen auf den Boden zu stampfen. Weinend sagte er:

»Also, die Sprechende Grille hatte doch recht. Wäre ich nicht von zu Hause ausgerissen und wäre mein Papa hier, müsste ich nicht vor Hunger sterben. Ach, was ist der Hunger doch für eine schreckliche Krankheit.«

Und weil sein Magen schlimmer als zuvor weiterrumorte und er nicht wusste, wie er ihn zum Schweigen bringen sollte, wollte er das Haus verlassen und rasch ins benachbarte Dorf hinüberlaufen, denn er hoffte, dort eine mildtätige Seele zu finden, die ihm als Almosen ein Stück Brot gäbe.

VI

Pinocchio schläft mit den Füßen über dem Kohlebecken ein. Am nächsten Morgen wacht er mit völlig verbrannten Füßen auf

Es war ausgerechnet eine abscheuliche Winternacht. Es donnerte fürchterlich und es blitzte, als wolle der ganze Himmel brennen, und ein kalter, heftiger Sturm brauste wütend und wirbelte eine riesige Staubwolke auf und ließ alle Bäume auf den Feldern ächzen und knarren.

Pinocchio hatte vor dem Donner und den Blitzen große Angst; aber der Hunger war größer als die Angst. Darum lehnte er die Haustüre an, und nach hundert Sprüngen war er im Dorf, mit heraushängender Zunge und keuchend wie ein Jagdhund.

Aber dort war alles dunkel und verlassen. Die Läden waren zu, die Fenster waren zu, und auf der Straße lief nicht einmal ein Hund. Das Dorf schien wie ausgestorben.

Vor lauter Hunger und Verzweiflung zog er die Glocke eines Hauses, läutete Sturm und sagte zu sich:

»Es wird schon jemand an die Tür kommen.«

Tatsächlich erschien ein altes Männchen mit der Nachtmütze auf dem Kopf am Fenster und rief zornig:

»Was wollt Ihr zu solcher Stunde?«

»Würdet Ihr mir ein Stückchen Brot geben?«

»Warte, ich komme gleich zurück«, antwortete der Alte, der glaubte, es mit einem der übermütigen Lausbuben zu tun zu haben, die zum Spaß nachts die Hausglocken ziehen, um die Leute in ihrem ruhigen Schlaf zu stören.

Nach einer halben Minute ging das Fenster wieder auf, und die Stimme des besagten Männchens rief Pinocchio zu:

»Stell dich unter das Fenster und halte den Hut hin.«

Pinocchio nahm sogleich sein Hütchen ab; aber als er es hinhalten wollte, spürte er, wie ein gewaltiger Wasserguss auf ihn niederging und ihn von Kopf bis Fuß klatschnass machte, als wäre er ein Topf mit vertrockneten Geranien.

Wie ein begossener Pudel kehrte er vor Müdigkeit und Hunger erschöpft nach Hause zurück. Und weil er nicht mehr die Kraft hatte, sich aufrecht zu halten, setzte er sich und legte seine nassen, schmutzigen Füße auf das Becken voll glühender Kohle.

Und dort schlief er ein. Und während er schlief, fingen seine Füße, die ja aus Holz waren, zu glimmen an, verkohlten allmählich und wurden zu Asche.

Und Pinocchio schlief und schnarchte weiter, als gehörten seine Füße einem anderen. Schließlich erwachte er im Morgengrauen, weil jemand an die Tür geklopft hatte.

»Wer da?«, fragte er gähnend und rieb sich die Augen.

»Ich bin es«, antwortete eine Stimme. Es war die Stimme Geppettos.

VII

Geppetto kehrt nach Hause zurück und gibt dem hölzernen Jungen zu essen, was er für sich selbst mitgebracht hatte

Der arme Pinocchio, der vor Schlaf noch kaum aus den Augen gucken konnte, hatte noch gar nicht festgestellt, dass seine Füße verbrannt waren. Kaum hatte er die Stimme seines Vaters vernommen, sprang er mit einem Satz vom Schemel und wollte den Türriegel öffnen; aber stattdessen fiel er nach zwei oder drei taumelnden Schritten plötzlich der Länge nach auf den Fußboden.

Dabei entstand ein Krach, als wäre ein Sack Kochlöffel aus dem fünften Stockwerk gefallen.

»Mach mir auf!«, rief Geppetto nun von der Straße her.

»Papa, ich kann nicht«, antwortete weinend der hölzerne Junge und rutschte am Boden entlang.

»Warum kannst du nicht?«

»Weil man mir die Füße gefressen hat.«

»Und wer hat sie dir gefressen?«

»Die Katze«, sagte Pinocchio, als er sah, wie die Katze sich damit amüsierte, mit den Vorderpfoten ein paar Holzspäne tanzen zu lassen.