9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Der neue Roman der Bestsellerautorin von »Jonathan Strange & Mr Norrell«
Ein riesiges Gebäude, in dem sich endlos Räume aneinanderreihen, verbunden durch ein Labyrinth aus Korridoren und Treppen. An den Wänden stehen Tausende Statuen, das Erdgeschoss besteht aus einem Ozean, bei Flut donnern die Wellen die Treppenhäuser hinauf. In diesem Gebäude lebt Piranesi. Er hat sein Leben der Erforschung des Hauses gewidmet. Und je weiter er sich in die Zimmerfluchten vorwagt, desto näher kommt er der Wahrheit – der Wahrheit über die Welt jenseits des Gebäudes. Und der Wahrheit über sich selbst.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 290
Das Buch
Ein riesiges Gebäude, in dem sich endlos Räume aneinanderreihen, verbunden durch ein Labyrinth aus Korridoren und Treppen. An den Wänden stehen Tausende Statuen, das Erdgeschoss besteht aus einem Ozean, bei Flut donnern die Wellen die Treppenhäuser hinauf. Das Obergeschoss ist das Reich der Vögel und der Wolken.
In diesem Gebäude wohnt Piranesi. Er hat sein Leben der Erforschung dieser bizarren Welt gewidmet. Angeleitet von seinem einzigen Freund, einem Wissenschaftler, will er ein Geheimnis lösen, das vor langer Zeit verlorenging. Und je weiter sich Piranesi in die Zimmerfluchten des Hauses vorwagt, desto näher kommt er der Wahrheit – über das Gebäude und über sich selbst …
Die Autorin
Susanna Clarke wurde 1959 in Nottingham geboren und verbrachte ihre Kindheit in Nordengland und Schottland. 1981 machte sie ihren Abschluss in Philosophie in Oxford und arbeitete danach in der Verlagsbranche, ehe sie als Lehrerin nach Turin und Bilbao ging. 1992 kehrte sie nach England zurück und begann mit dem Schreiben. Ihr Debütroman Jonathan Strange & Mr. Norrell aus dem Jahr 2004 war ein weltweiter Bestseller und wurde für den Man Booker Prize nominiert. 2015 wurde das Buch als Fernsehserie adaptiert. Susanna Clarke lebt in Cambridge.
SUSANNA
CLARKE
PIRANESI
Roman
Aus dem Englischen von
Astrid Finke
BLESSING
Das Buch erscheint unter dem Titel Piranesi bei Bloomsbury, London.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright © 2020 by Susanna Clarke
Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe
und der Übersetzung
by Karl Blessing Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Satz: Leingärtner, Nabburg
Covergestaltung: Das Illustrat GbR
Covermotive: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com; U2/U3: Shutterstock / Joker Pix
e-ISBN 978-3-641-26486-4V003
www.blessing-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de
Für Colin
Ich bin der große Gelehrte, der Zauberer, der Experte, der das Experiment durchführt. Natürlich brauche ich Versuchsobjekte, an denen ich es durchführe.
C. S. Lewis, Das Wunder von Narnia
Man nennt mich Philosoph oder Historiker oder Anthropologe, ich bin nichts davon, ich bin Anamnesiologe. Icherforsche, was vergessen wurde. Ich erspüre, was ganz und gar verschwunden ist. Ich arbeite mit Abwesenheiten, mit Lautlosigkeiten, mit merkwürdigen Lücken zwischen Dingen. Eigentlich bin ich mehr Zauberer als alles andere.
Laurence Arne-Sayles, Interview in The Secret Garden, Mai 1976
Inhalt
Erster Teil – Piranesi
Zweiter Teil – Der Andere
Dritter Teil – Der Prophet
Vierter Teil – 16
Fünfter Teil – Valentine Ketterly
Sechster Teil – Welle
Siebter Teil – Matthew Rose Sorensen
Erster Teil
Piranesi
Als Der Mond im Dritten Nördlichen Saal aufging, lief ich in das Neunte Vestibül
Eintrag für den Ersten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam
Als Der Mond im Dritten Nördlichen Saal aufging, lief ich in das Neunte Vestibül, um die Vereinigung dreier Fluten zu erleben. Dies ist ein Ereignis, das nur alle acht Jahre stattfindet.
Das Neunte Vestibül ist außergewöhnlich wegen der drei großen Treppen, die es enthält. Seine Mauern sind von Marmorstatuen gesäumt, Hunderten und Aberhunderten, Reihe auf Reihe, aufragend in ferne Höhen.
Ich kletterte die Westliche Mauer hinauf bis zu der Statue einer Frau mit einem Bienenkorb, fünfzehn Meter über dem Pflaster. Die Frau ist zwei- oder dreimal so groß wie ich und der Bienenkorb übersät von Marmorbienen so dick wie mein Daumen. Eine Biene – das ruft bei mir immer leichte Übelkeit hervor – kriecht über ihr linkes Auge. Ich quetschte mich neben der Frau in die Nische und wartete, bis ich die Fluten in den Unteren Sälen hörte und die Mauern unter der Kraft des Bevorstehenden vibrieren spürte.
Zuerst kam die Flut aus den Fernen Östlichen Sälen. Diese Flut erklomm die Östlichste Treppe ohne Wucht. Sie hatte kaum Farbe, und ihr Wasser war nicht mehr als knöcheltief. Sie breitete einen grauen Spiegel über dem Pflaster aus, dessen Oberfläche mit Streifen von milchigem Schaum marmoriert war.
Als Nächstes kam die Flut aus den Westlichen Sälen. Diese Flut brandete die Westlichste Treppe empor und traf mit großem Donner, unter dem alle Statuen erzitterten, auf der Östlichen Mauer auf. Ihr Schaum hatte das Weiß alter Fischgräten, und ihre aufgewühlten Wogen waren zinngrau. Innerhalb von Sekunden stand das Wasser den Statuen der untersten Reihe bis zur Taille.
Als Letztes kam die Flut aus den Nördlichen Sälen. Sie warf sich die Mittlere Treppe hinauf und füllte das Vestibül mit einer Explosion glitzernden eisweißen Schaumes. Ich war durchnässt und geblendet. Als ich wieder sehen konnte, stürzte Wasser an den Statuen herab. In dem Moment erkannte ich, dass mir bei meiner Berechnung des Volumens der Zweiten und Dritten Flut ein Fehler unterlaufen war. Ein turmhoher Wassergipfel klatschte gegen die Stelle, an der ich kauerte. Eine riesige Wasserhand reckte sich, um mich von der Mauer zu reißen. Ich schlang meine Arme um die Beine der Frau mit einem Bienenkorb und betete zu Dem Haus, mich zu beschützen. Das Wasser bedeckte mich gänzlich, und einen Moment lang war ich von der eigenartigen Stille umgeben, die entsteht, wenn Das Meer einen überspült und die eigenen Geräusche erstickt. Ich dachte, dass ich sterbe, oder aber, dass ich in fremde Säle geschwemmt werde, weit fort vom Brausen und Rauschen vertrauter Gezeiten. Ich klammerte mich fest.
Dann, so plötzlich, wie es begonnen hatte, war es vorbei. Die vereinigten Fluten strömten weiter in die umliegenden Säle. Ich hörte das Dröhnen und Krachen, als sie gegen die Mauern schlugen. Das Wasser im Neunten Vestibül sank zügig ab, bis es gerade noch auf die Sockel der untersten Statuen reichte.
Ich bemerkte, dass ich etwas festhielt. Als ich meine Hand öffnete, fand ich den Marmorfinger irgendeiner fernen Statue, den die Fluten dort hineingelegt hatten.
Die Schönheit Des Hauses ist unermesslich, seine Güte grenzenlos.
*
Eine Beschreibung der Welt
Eintrag für den Siebten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam
Ich bin entschlossen, so viel von Der Welt zu erforschen wie mir zu meinen Lebzeiten möglich ist. Zu diesem Zweck wanderte ich schon bis in den Neunhundertsechzigsten Saal im Westen, den Achthundertneunzigsten Saal im Norden und den Siebenhundertachtundsechzigsten Saal im Süden. Ich stieg hinauf in die Oberen Säle, in denen Wolken langsam hintereinander herziehen und Statuen unvermittelt aus dem Dunst auftauchen. Ich erkundete die Versunkenen Säle, wo das dunkle Wasser von weißen Seerosen bedeckt ist. Ich besichtigte die Verfallenen Säle des Ostens, woDecken, Fußböden – und manchmal sogar Mauern! – eingestürzt sind und die Düsternis von grauen Lichtstrahlengespalten wird.
An all diesen Orten stand ich in Türrahmen und blickte nach vorn. Nie entdeckte ich irgendeinen Hinweis darauf, dass Die Welt ein Ende nahm, nur eine regelmäßige Abfolge von Sälen und Korridoren bis in weite Ferne.
Kein Saal, kein Vestibül, keine Treppe, kein Durchgang ist ohne Statuen. In den meisten Sälen nehmen sie den gesamten verfügbaren Raum ein, wobei man hier und dort einen leeren Sockel, eine leere Nische oder Apsis findet oder gar eine freie Fläche an einer ansonsten mit Statuen besetzten Mauer. Diese Abwesenheiten sind auf ihre Art so mysteriös wie die Statuen selbst.
Mir fiel auf, dass die Statuen jeweils eines Saales zwar mehr oder weniger einheitlich in der Größe sind, es allerdings zwischen den Sälen beträchtliche Unterschiede gibt. An manchen Stellen sind die Figuren zwei- oder dreimal so hoch wie ein Mensch, an anderen ungefähr lebensgroß und an wieder anderen reichen sie mir nur bis zur Schulter. Die Versunkenen Säle enthalten Statuen, die riesig sind – fünfzehn bis zwanzig Meter hoch –, aber das ist die Ausnahme.
Ich bin dabei, ein Verzeichnis zu erstellen, in dem ich Standort, Größe und Thema aller Statuen sowie jegliche weiteren Merkmale von Interesse festhalte. Bisher sind der Erste und Zweite Südwestliche Saal fertiggestellt, und ich bin mit dem Dritten beschäftigt. Angesichts des gewaltigen Umfangs dieser Aufgabe wird mir manchmal leicht schwindlig, aber als Wissenschaftler und Forscher ist es meine Pflicht, die Herrlichkeit Der Welt zu dokumentieren.
Von den Fenstern Des Hauses blickt man auf große Innenhöfe; karge, leere Flächen, die mit Steinen gepflastert sind. Die Innenhöfe sind in der Regel vierseitig, obwohl man hier und da auf einen mit sechs, acht oder sogar – diese sind recht seltsam und düster – nur drei Seiten trifft.
Außerhalb Des Hauses gibt es nur die Himmelskörper: Sonne, Mond und Sterne.
Das Haus besteht aus drei Ebenen. Die Unteren Säle sind das Reich Der Gezeiten; ihre Fenster – über einen Innenhof hinweg betrachtet – sind graugrün vom ruhelosen Wasser und weiß von Schaumspritzern. Die Unteren Säle stellen Nahrung in Form von Fischen, Schalentieren und Meerespflanzen zur Verfügung.
Die Oberen Säle sind, wie gesagt, das Reich der Wolken; ihre Fenster sind grauweiß und beschlagen. Manchmal wird eine ganze Fensterreihe plötzlich von einem Blitz erhellt. Die Oberen Säle sorgen für Süßwasser, das in den Vestibülen als Regen fällt und in Bächen an Mauern und über Treppen hinabfließt.
Zwischen diesen beiden (weitgehend unbewohnbaren) Ebenen befinden sich die Mittleren Säle, die das Reich der Vögel und Menschen sind. Die wunderschöne Geordnetheit Des Hauses ist es, die uns Leben schenkt.
Heute Morgen sah ich aus einem Fenster im Achtzehnten Südöstlichen Saal. Auf der anderen Seite des Innenhofs stand Der Andere an einem Fenster. Das Fenster war groß und dunkel; der edle Kopf Des Anderen mit der hohen Stirn und dem säuberlich gestutzten Bart wurde von einer Ecke eingerahmt. Der Andere war gedankenverloren, wie so häufig. Ich winkte ihm zu. Er sah mich nicht. Ich winkte überschwänglicher. Ich sprang mit großem Elan auf und ab. Aber die Fenster Des Hauses sind zahlreich, und er sah mich nicht.
*
Eine Liste aller Menschen, die je lebten, und was von ihnen bekannt ist
Eintrag für den Zehnten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam
Gesichert ist, dass es seit Anbeginn Der Welt fünfzehn Menschen gab. Möglicherweise waren es mehr, aber ich bin Wissenschaftler und muss mich auf die Beweise stützen. Von den fünfzehn Menschen, deren Existenz verifizierbar ist, sind nur Der Andere und ich jetzt am Leben.
Im Folgenden werde ich die fünfzehn Personen aufzählen und, falls relevant, ihren Aufenthaltsort nennen.
Erste Person: Ich
Ich glaube, dass ich zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt bin. Ich bin circa ein Meter dreiundachtzig groß und von schlanker Statur.
Zweite Person: Der Andere
Das Alter Des Anderen schätze ich auf fünfzig bis sechzig. Er ist circa ein Meter achtundachtzig groß und, wie ich, schlank. Für sein Alter ist er kräftig und fit. Seine Haut hat einen hellen Olivton. Das kurze Haar und der Schnurrbart sind dunkelbraun. Der Bart am Kinn wird allmählich grau, fast weiß; er istordentlich gestutzt und läuft leicht spitz zu. Der Schädel Des Anderen ist ganz besonders elegant, mit hohen, aristokratischen Wangenknochen und einer imposanten Stirn. Der Gesamteindruck, den er vermittelt, ist der eines freundlichen, aber etwas strengen, dem Leben eines Intellektuellen verschriebenen Mannes.
Wie ich ist er Wissenschaftler und das einzig andere lebende menschliche Wesen, weshalb ich seine Freundschaft selbstverständlich sehr wertschätze.
Der Andere glaubt, dass irgendwo auf Der Welt ein Großes und Geheimes Wissen versteckt ist, das uns immense Kräfte verleihen wird, wenn wir es erst gefunden haben. Woraus dieses Wissen besteht, weiß er nicht genau, deutete aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten an, dass es das Folgende beinhalten könnte:
1. Den Tod bezwingen und unsterblich werden
2. durch ein telepathisches Verfahren herausfinden, was andere denken
3. uns in Adler verwandeln und durch Die Luft fliegen
4. uns in Fische verwandeln und durch Die Gezeiten schwimmen
5. Gegenstände allein durch unsere Gedanken bewegen
6. Sonne und Sterne auslöschen und wieder anzünden
7. schlichtere Gemüter dominieren und unserem Willen beugen.
Der Andere und ich suchen eifrig nach diesem Wissen. Zweimal die Woche (dienstags und freitags) treffen wir uns, um unsere Arbeit zu besprechen. Der Andere teilt sich seine Zeit akribisch ein und gestattet nie, dass unsere Treffen länger als eine Stunde dauern.
Wenn er meine Anwesenheit zu anderen Zeiten benötigt, ruft er so lange »Piranesi!«, bis ich komme.
Piranesi. So nennt er mich.
Was seltsam ist, denn soweit ich mich erinnere, ist das nicht mein Name.
Dritte Person: Der Keksdosenmann
Der Keksdosenmann ist ein Skelett, das in einer leeren Nische im Dritten Nordwestlichen Saal wohnt. Die Knochen wurden auf eine ganz bestimmte Art angeordnet: lange von ähnlicher Größe wurden mit aus Seetang gefertigter Schnur zusammengebunden. Rechts liegt der Schädel und links eine Keksdose mit all den kleinen Knochen wie Fingerknochen, Zehenknochen, Wirbel et cetera. Die Keksdose ist rot. Darauf zu sehen ist ein Bild von Gebäck und die Aufschrift »Huntley Palmers« und »Family Circle«.
Als ich den Keksdosenmann entdeckte, war die Seetangschnur vertrocknet und zerbröselt, und er sah ziemlich schlampig aus. Ich stellte eine neue Kordel aus Fischleder her und verschnürte seine Knochenbündel damit. Jetzt ist er wieder schön ordentlich.
Vierte Person: Der Verborgene
Eines Tages vor drei Jahren stieg ich die Treppe im Dreizehnten Vestibül hinauf. Da ich feststellte, dass die Wolken sich aus dieser Gegend der Oberen Säle verzogen hatten und sie hell, klar und voller Sonnenlicht waren, entschloss ich mich, sie näher zu erforschen. In einem der Säle (demjenigen, der unmittelbar über dem Achtzehnten Nordöstlichen Saal liegt) fand ich ein halb zerfallenes Skelett, eingeklemmt in einem schmalen Spalt zwischen einem Sockel und der Mauer. Der derzeitigen Anordnung der Knochen nach zu urteilen, befand es sich ursprünglich in einer sitzenden Haltung, die Knie ans Kinn angezogen. Es war mir nicht möglich, das Geschlecht zu ermitteln. Wenn ich die Knochen herausholen würde, um sie zu untersuchen, bekäme ich sie nie wieder hinein.
Person Fünf bis Vierzehn: Die Menschen aus dem Alkoven
Die Menschen aus dem Alkoven sind alle skelettiert. Ihre Knochen sind nebeneinander auf einem leeren Sockel im Nördlichsten Alkoven des Vierzehnten Südwestlichen Saales ausgelegt.
Drei Skelette identifizierte ich vorläufig als weiblich und drei als männlich, darüber hinaus gibt es vier, deren Geschlecht ich nicht mit ausreichender Gewissheit bestimmen kann. Eines davon taufte ich Fischledermensch. Das Skelett des Fischledermenschen ist unvollständig, und viele der Knochen sind von Den Gezeiten stark angegriffen. Manche sind kaum noch mehr als Kügelchen. In einige davon wurden kleine Löcher gebohrt, und zwischen ihnen fand ich Fragmente von Fischleder. Daraus ziehe ich mehrere Schlüsse:
1. Das Skelett des Fischledermenschen ist älter als die anderen.
2. Das Skelett des Fischledermenschen war früher anders gestaltet, die Knochen waren mit Riemen aus Fischleder zusammengebunden, die aber im Laufe der Zeit zerfielen.
3. Diejenigen, die nach dem Fischledermenschen kamen (mutmaßlich die Menschen aus dem Alkoven), hatten solche Ehrfurcht vor menschlichem Leben, dass sie geduldig seine Knochen sammelten und ihn zu ihren eigenen Toten legten.
Frage: Wenn ich das Gefühl bekomme, bald zu sterben, sollte ich mich zu den Menschen aus dem Alkoven legen? Dort ist, schätze ich, Platz für vier weitere Erwachsene. Obwohl ich ein junger Mann bin und der Tag meines Todes (hoffe ich) noch in einiger Ferne liegt, befasse ich mich mit diesem Thema.
Bei den Menschen aus dem Alkoven liegt ein weiteres Skelett (wobei dieses nicht zu den Menschen zählt, die je lebten). Es sind die Überreste eines Geschöpfs von circa fünfzig Zentimeter Größe, mit einem Schwanz von der gleichen Länge wie der Körper. Ich verglich die Knochen mit den unterschiedlichen Arten von Geschöpfen, die in den Statuen dargestellt sind, und glaube, sie gehören zueinem Affen. Nie sah ich einen lebendigen Affen in Dem Haus.
Fünfzehnte Person: Das Zusammengefaltete Kind
Das Zusammengefaltete Kind ist ein Skelett. Ich glaube, es ist weiblich und hat ein Alter von etwa sieben Jahren. Es hockt auf einem Sockel im Sechsten Südöstlichen Saal. Seine Knie sind bis ans Kinn angezogen, die Arme umschlingen die Beine, der Kopf ist gesenkt. Um den Hals trägt es eine Kette aus Korallenperlen und Gräten.
Ich denke viel über das Verhältnis dieses Kindes zu mir nach. Es sind auf Der Welt momentan (wie ich bereits erklärte) nur Ich und Der Andere am Leben; und wir sind beide männlich. Wie wird Die Welt einen neuen Bewohner bekommen, wenn wir tot sind? Es ist meine Überzeugung, dass Die Welt (oder, wenn man so will, Das Haus, da die beiden ja de facto identisch sind) sich einen Bewohner wünscht, als Zeugen ihrer Schönheit und Empfänger ihrer Gnade. Meine These ist, dass Das Haus das Zusammengefaltete Kind als meine Frau vorgesehen hatte, nur geschah etwas, was das verhinderte. Seit mir dieser Gedanke kam, scheint es mir nur angemessen, mit ihr zu teilen, was ich habe.
Ich besuche alle Toten, vor allem aber das Zusammengefaltete Kind. Ich bringe ihnen Essen, Wasser und Seerosen aus den Versunkenen Sälen. Ich spreche mit ihnen, erzähle ihnen, was ich mache, und schildere ihnen sämtliche Wunder, die ich im Haus entdecke. Auf diese Weise wissen sie, dass sie nicht allein sind.
Nur ich mache das. Der Andere nicht. Soweit ich weiß, übt er keine religiösen Praktiken aus.
Sechzehnte Person
Und Du. Wer bist Du? Wer ist es, für den ich schreibe? Bist Du ein Reisender, der Gezeiten überlistete und eingestürzte Fußböden überquerte und verfallene Treppen überwand, um diese Säle zu erreichen? Oder bist Du vielleicht jemand, der meine eigenen Säle bewohnt, wenn ich schon lange tot bin?
*
Mein Tagebuch
Eintrag für den Siebzehnten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam
Was ich beobachte, schreibe ich in meine Hefte. Das mache ich aus zweierlei Gründen. Der erste Grund ist, dass Schreiben zu Präzision und Sorgfalt erzieht. Der zweite ist, das, was ich an Wissen besitze, für Dich, den Sechzehnten Menschen, zu erhalten. Ich bewahre meine Hefte in einer braunen Umhängetasche aus Leder auf; die Tasche ist normalerweise in einem Hohlraum hinter der Statue eines an einem Rosenstrauch hängen gebliebenen Engels in der Nordöstlichen Ecke des Zweiten Nördlichen Saales verstaut. Dort liegt auch meine Armbanduhr, die ich dienstags und freitags benötige, wenn ich mich um zehn Uhr mit Dem Anderen treffe. (An den übrigen Tagen nehme ich meine Uhr nicht mit, aus Angst, es könnte Meerwasser eindringen und das Uhrwerk beschädigen.)
Eines meiner Hefte enthält meine Gezeitentabelle. Darin notiere ich die Zeiten und Wasserstände von Ebbe und Flut und berechne künftige Gezeiten. Ein weiteres Heft ist mein Statuenverzeichnis. In den restlichen Heften führe ich mein Tagebuch, in dem ich meine Gedanken und Erinnerungen aufschreibe und mein Leben protokolliere. Bisher füllt mein Tagebuch neun Hefte; dieses ist das zehnte. Alle sind nummeriert und die meisten mit den Daten beschriftet, auf die sie sich beziehen.
Nr. 1 ist beschriftet »Dezember 2011 bis Juni 2012«.
Nr. 2 ist beschriftet »Juni 2012 bis November 2012«.
Nr. 3 war ursprünglich beschriftet »November 2012«, das wurde aber durchgestrichen und ersetzt durch »Dreißigster Tag im Zwölften Monat des Jahres des Heulens und Zähneklapperns bis zum Vierten Tag des Siebten Monats in dem Jahr, in dem ich die Korallensäle entdeckte«.
Sowohl Nr. 2 als auch Nr. 3 weisen Lücken auf, an denen Seiten gewaltsam entfernt wurden. Über den Grund dafür rätsele ich schon länger und grübele, wer das gewesen sein könnte, kam aber noch zu keinem Schluss.
Nr. 4 ist beschriftet »Zehnter Tag des Siebten Monats in dem Jahr, in dem ich die Korallensäle entdeckte, bis zum Neunten Tag des Vierten Monats in dem Jahr, in dem ich die Sternbilder benannte«.
Nr. 5 ist beschriftet »Fünfzehnter Tag des Vierten Monats in dem Jahr, in dem ich die Sternbilder benannte, bis zum Dreißigsten Tag des Neunten Monats in dem Jahr, in dem ich die Toten zählte und benannte«.
Nr. 6 ist beschriftet »Erster Tag des Zehnten Monats in dem Jahr, in dem ich die Toten zählte und benannte, bis zum Vierzehnten Tag des Zweiten Monats in dem Jahr, in dem die Decken im Zwanzigsten und Einundzwanzigsten Nordöstlichen Saal einstürzten«.
Nr. 7 ist beschriftet »Siebzehnter Tag des Zweiten Monats in dem Jahr, in dem die Decken im Zwanzigsten und Einundzwanzigsten Nordöstlichen Saal einstürzten, bis zum letzten Tag desselben Jahres«.
Nr. 8 ist beschriftet »Erster Tag des Jahres, in dem ich in den Neunhundertsechzigsten Westlichen Saal wanderte, bis zum fünfzehnten Tag des Zehnten Monats desselben Jahres«.
Nr. 9 ist beschriftet »Sechzehnter Tag des Zehnten Monats in dem Jahr, in dem ich in den Neunhundertsechzigsten Westlichen Saal wanderte, bis zum Vierten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam«.
Dieses Heft (Nr. 10) wurde begonnen am Fünften Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam.
Einer der Nachteile des Tagebuchführens ist die Schwierigkeit, wichtige Einträge wiederzufinden, und deshalb habe ich die Methode, ein Heft als Index für alle anderen zu verwenden. In diesem Heft ist jedem Buchstaben des Alphabets eine gewisse Anzahl an Seiten zugeordnet (mehr Seiten für häufige Buchstaben wie A und M; weniger für Buchstaben, die seltener vorkommen, zum Beispiel Q und X). Unter jedem Buchstaben führe ich Einträge nach Thema und Fundort in meinem Tagebuch auf.
Beim nochmaligen Lesen dessen, was ich gerade schrieb, wird mir etwas bewusst. Ich benutze zwei Systeme zur Nummerierung der Jahre. Wie konnte mir das bisher entgehen?
Ich bin schlechter Methodik schuldig. Nur ein Nummerierungssystem wird benötigt. Zwei Systeme stiften Verwirrung,Ungewissheit, Zweifel und Durcheinander. (Und sind ästhetisch unerfreulich.)
Dem ersten System gemäß nannte ich zwei Jahre 2011 und 2012. Das wirkt auf mich zutiefst prosaisch. Außerdem kann ich mich nicht erinnern, was vor zweitausend Jahren geschehen sein soll, das jenes Jahr in meinen Augen zu einem guten Anfangspunkt machte. Dem zweiten System entsprechend, gab ich den Jahren Namen wie »Das Jahr, in dem ich die Sternbilder benannte« und »Das Jahr, in dem ich die Toten zählte und benannte«. Das gefällt mir viel besser. Es verleiht jedem Jahr einen eigenen Charakter. Dieses System werde ich künftig verwenden.
*
Statuen
Eintrag für den Achtzehnten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam
Es gibt Statuen, die ich lieber mag als den Rest. Dazu gehört die Frau mit einem Bienenkorb.
Eine andere – vielleicht die Statue, die ich am allerliebsten mag – steht an einem Türeingang zwischen dem Fünften und dem Vierten Nordwestlichen Saal. Es ist die Statue eines Fauns, eines Wesens, das halb Mensch und halb Ziegenbock ist, mit einem üppigen Lockenkopf. Er lächelt zart und drückt sich den Zeigefinger an die Lippen. Ich hatte immer das Gefühl, er wollte mir etwas mitteilen oder mich vielleicht vor etwas warnen: »Still!«, scheint er zu sagen. »Sei vorsichtig!« Aber welche Gefahr es geben könnte, weiß ich nicht. Ich träumte einmal von ihm; er stand in einem verschneiten Wald und sprach mit einem weiblichen Kind.
Die Statue eines Gorillas, die im Fünften Nördlichen Saal steht, zieht meinen Blick immer an. Er hockt auf seinen hinteren Gliedmaßen, beugt sich vor und stützt sich mit seinen kraftvollen Armen auf die Fäuste auf. Sein Gesicht fasziniert mich. Die gewaltige Stirn überschattet die Augen, und bei einem Menschen würde man seine Miene als finster bezeichnen, bei dem Gorilla aber scheint sie mir das genaue Gegenteil zu bedeuten. Er steht für vieles, unter anderem Frieden, Gelassenheit, Stärke und Ausdauer.
Es gibt diverse andere, die ich sehr gern mag: den kleinen Jungen, der das Becken schlägt, den Elefanten mit einem Schloss auf dem Rücken, die zwei Könige beim Schachspiel. Die letzte, die ich erwähnen werde, ist nicht unbedingt einer meiner Lieblinge. Sondern es ist eine, beziehungsweise, genauer gesagt sind es zwei zusammengehörige Statuen, die mich in ihren Bann ziehen, wann immer ich sie sehe. Die beiden Statuen flankieren den Östlichen Eingang des Ersten Westlichen Saales. Sie sind circa sechs Meter hoch und besitzen zwei ungewöhnliche Merkmale: Erstens sind sie viel größer als die anderen Statuen im Ersten Westlichen Saal; zweitens sind sie unvollständig. Ihr Oberkörper ragt auf Bauchhöhe aus der Mauer, die Arme greifen nach hinten, um mit aller Kraft zu drücken, die Muskeln sind vor Anstrengung geschwollen und die Gesichter verzerrt. Sie scheinen Schmerzen zu haben, darum zu ringen, geboren zu werden; das Ringen mag vergeblich sein, und doch geben sie nicht auf. Auf dem Kopf tragen sie aufwendig gestaltete Hörner, daher taufte ich sie die Gehörnten Riesen. Sie symbolisieren Anstrengung und den Kampf gegen ein elendes Schicksal.
Ist es Dem Haus gegenüber respektlos, einige Statuen lieber zu mögen als andere? Manchmal stelle ich mir diese Frage. Meine Überzeugung ist, dass Das Haus selbst alles, was es schuf, in gleichem Maße liebt und segnet. Sollte ich dasselbe versuchen? Doch ich stelle auch fest, dass es in der Natur des Menschen liegt, eines einem anderen vorzuziehen, eines als bedeutungsvoller als ein anderes zu empfinden.
Gibt es Bäume?
Eintrag für den Neunzehnten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam
Vieles ist unbekannt. Einmal – vor ungefähr sechs oder sieben Monaten – sah ich einen leuchtend gelben Fleck auf sanften Wellen unter dem Vierten Westlichen Saal treiben. Da mir nicht begreiflich war, worum es sich handeln könnte, watete ich in das Wasser und fischte es heraus. Es war ein Blatt, sehr schön, mit zwei an beiden Enden zu einer Spitze zulaufenden Kanten. Natürlich ist es möglich, dass es zu einer Art von Meerespflanze gehört, die ich noch nie sah, aber ich bin skeptisch. Die Beschaffenheit wirkte falsch. Die Oberfläche war wasserabweisend, wie etwas, das zum Leben in Der Luft gedacht ist.
Zweiter Teil
Der Andere
Batter-Sea
Eintrag für den Zwanzigsten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam
Heute Morgen um zehn Uhr ging ich in den Zweiten Südwestlichen Saal, um mich mit Dem Anderen zu treffen. Als ich den Saal betrat, war er bereits da, lehnte an einem leeren Sockel und tippte auf einem seiner glänzenden Geräte herum. Er trug einen gut geschnittenen Anzug aus schwarzgrauer Wolle und ein leuchtend weißes Hemd, das einen angenehmen Kontrast zu seinem olivfarbenen Hautton bildete.
Ohne von seinem Gerät aufzublicken, sagte er: »Ich brauche Daten.«
So ist er oft: derartig konzentriert auf das, was er gerade macht, dass er vergisst, mich zu begrüßen oder zu verabschieden oder zu fragen, wie es mir gehe. Mich stört das nicht. Ich bewundere seine Hingabe an seine wissenschaftliche Arbeit.
»Was für Daten?«, fragte ich. »Kann ich behilflich sein?«
»Klar«, sagte er. »Besser gesagt komme ich ohne dich nicht weit. Mein heutiges Forschungsthema« – an dieser Stelle sah er auf und lächelte mich an – »bist du.« Er hat ein höchst charmantes Lächeln, wenn er daran denkt, es einzusetzen.
»Tatsächlich?«, fragte ich. »Was möchtest du herausfinden? Hast du eine Hypothese über mich?«
»Ja.«
»Und zwar?«
»Darf ich dir nicht sagen. Es könnte die Daten verfälschen.«
»Ach ja! Das stimmt. Entschuldigung.«
»Schon okay. Es ist normal, neugierig zu sein.« Er legte sein glänzendes Gerät auf den leeren Sockel und drehte sich um. »Setz dich«, sagte er.
Ich ließ mich im Schneidersitz auf dem Pflaster nieder und wartete auf seine Fragen.
»Bequem?«, fragte er. »Gut. Jetzt erzähl mal. Woran erinnerst du dich?«
»Woran ich mich erinnere?« Ich war verwirrt.
»Ja.«
»Als Frage mangelt es ihr an Genauigkeit.«
»Trotzdem«, sagte er. »Versuch, sie zu beantworten.«
»Tja, die Antwort lautet wohl, alles. Ich erinnere mich an alles.«
»Ehrlich?«, sagte er. »Das ist eine ziemlich kühne Behauptung. Bist du dir sicher?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Gib mir ein paar Beispiele, woran du dich erinnerst.«
»Also«, sagte ich. »Nehmen wir einmal an, du würdest mir einen Saal viele Tagesreisen von hier nennen. Vorausgesetzt, ich hätte ihn schon einmal besucht, könnte ich dir aus dem Stegreif den Weg dorthin erklären. Ich könnte dir die beachtenswerten Statuen beschreiben und, mit einigermaßen vertretbarer Exaktheit, ihren Standort, also, an welcher Mauer sie stehen, ob Norden, Süden, Osten oder Westen, und auf welcher Höhe. Außerdem könnte ich sämtliche …«
»Was ist mit Batter-Sea«, fragte Der Andere.
»Äh, was?«
»Batter-Sea. Erinnerst du dich an Batter-Sea?«
»Nein … ich … Batter-Sea?«
»Genau.«
»Das verstehe ich nicht.«
Ich wartete auf eine Erklärung, aber Der Andere blieb stumm. Ich sah ihm an, dass er mich eingehend beobachtete, und war mir sicher, dass diese Frage von entscheidender Bedeutung für seine wie auch immer geartete Forschung war, doch wie ich sie beantworten sollte, war mir absolut schleierhaft.
»Batter-Sea ist kein Wort«, sagte ich schließlich. »Es hat kein Bezugsobjekt. Es gibt nichts auf Der Welt, das von dieser Lautkombination bezeichnet wird.«
Immer noch schwieg Der Andere. Er betrachtete mich weiterhin forschend. Beunruhigt erwiderte ich den Blick.
Dann: »Ach so!«, rief ich, als mir plötzlich ein Licht aufging. »Jetzt verstehe ich, was du da machst!« Ich begann zu lachen.
»Was mach ich denn?«, fragte Der Andere lächelnd.
»Du musst herausfinden, ob ich die Wahrheit sage. Ich behauptete gerade, ich könne den Weg zu jedem Saal beschreiben, in dem ich schon gewesen sei. Ob das stimmt, kannst du allerdings nicht beurteilen. Wenn ich zum Beispiel die Route zum Sechsundneunzigsten Nördlichen Saal schildern würde, wüsstest du nicht, ob meine Wegbeschreibung korrekt ist, weil du noch nie dort warst. Deshalb enthielt deine Frage ein Nonsens-Wort, nämlich Batter-Sea. Sehr listig wähltest du ein Wort, das nach einem Ort klingt. Einem Ort an der See vielleicht, an einer sturmgepeitschten Küste. Würde ich jetzt sagen, dass ich mich an Batter-Sea erinnere, und dann den Weg dorthin beschreiben, wüsstest du, dass ich lüge. Du wüsstest, dass ich nur prahle. Das war eine Kontrollfrage.«
»Genauso ist es«, sagte er. »Exakt darum ging es mir.«
Wir lachten beide.
»Hast du noch viele Fragen an mich?«, erkundigte ich mich.
»Nein. Schon fertig.« Er wollte sich gerade umdrehen, um die Daten in sein glänzendes Gerät einzutragen, da fiel ihm etwas an mir ins Auge, und er sah mich leicht verwundert an.
»Was ist denn?«, fragte ich.
»Deine Brille. Was ist damit passiert?«
»Meine Brille?«
»Ja«, sagte er. »Sie sieht ein bisschen, äh, komisch aus.«
»Was meinst du?«
»Die Bügel sind mit lauter Streifen umwickelt. Und die Enden hängen an der Seite runter.«
»Ach so!«, sagte ich. »Ja! Die Bügel meiner Brille brechen immer wieder ab. Erst der linke. Und dann der rechte. Die salzhaltige Luft greift das Plastik an. Ich experimentiere gerade mit unterschiedlichen Methoden, um sie zu flicken. Am linken Bügel verwendete ich Fischlederstreifen und Fischleim und am rechten Seetang. Das funktioniert weniger gut.«
»Ja«, sagte er. »Kann ich mir vorstellen.«
In den Sälen unter uns prallte die auflaufende Flut gegen eine Mauer. Bumm. Sie zog sich zurück, brandete durch die Türöffnungen an die Mauer des nächsten Raumes. Bumm. Bumm. Bumm. Zog sich erneut zurück; wogte erneut voran. Bumm. Der Zweite Südwestliche Saal vibrierte wie die gezupfte Saite eines Instruments.
Der Andere wirkte besorgt. »Das klingt ziemlich nah«, sagte er. »Sollten wir nicht lieber abhauen?« Er versteht Die Gezeiten nicht.
»Das ist nicht nötig«, sagte ich.
»Okay.« Aber er war nicht beruhigt. Seine Augen weiteten sich, und sein Atem ging flacher und schneller. Unentwegt schielte er von Tür zu Tür, als erwartete er, jeden Moment Wasser hereinströmen zu sehen.
»Ich will nicht eingeschlossen werden«, sagte er.
Einmal war Der Andere im Achten Nördlichen Saal. Eine starke Flut aus den Nördlichen Sälen lief im Zehnten Vestibül auf, kurz darauf gefolgt von einer ebenso starken Flut aus den Östlichen Sälen im Zwölften Vestibül. Riesige Wassermengen flossen in die umliegenden Säle, einschließlich desjenigen, in dem Der Andere sich befand. Das Wasser hob ihn hoch und trug ihn fort, schwemmte ihn dabei durch Türöffnungen und schleuderte ihn gegen Mauern und Statuen. Mehrmals war er vollständig untergetaucht und rechnete damit zu ertrinken. Nach einer Weile warfen die Fluten ihn auf das Pflaster des Dritten Westlichen Saales (eine Entfernung von sieben Sälen von seinem Ausgangspunkt). Dort fand ich ihn. Ich holte ihm eine Decke und heiße Suppe aus Tang und Muscheln. Sobald er wieder laufen konnte, machte er sich ohne ein Wort davon. Wohin er ging, weiß ich nicht. (Das weiß ich nie so recht.) Dies geschah im Sechsten Monat des Jahres, in dem ich die Sternbilder benannte. Seitdem hat Der Andere Angst vor Den Gezeiten.
»Es besteht keine Gefahr«, teilte ich ihm mit.
»Bist du dir sicher?«, fragte er.
Bumm. Bumm.
»Ja. In fünf Minuten wird die Flut im Sechsten Vestibül ankommen und die Treppe hinaufklettern. Der Zweite Südliche Saal – zwei Säle östlich von hier – wird eine Stunde lang überschwemmt sein. Aber das Wasser wird nicht höher als knöcheltief sein und uns nicht erreichen.«
Obwohl er nickte, ließ seine Nervosität nicht nach, und bald darauf verließ er mich.
Am frühen Abend ging ich zum Fischen in das Achte Vestibül. Ich dachte nicht an mein Gespräch mit Dem Anderen; ich dachte an mein Essen und die Schönheit der Statuen im Abendlicht. Doch als ich dastand und mein Netz im Wasser der Unteren Treppe auswarf, stieg ein Bild vor mir auf. Ich sah schwarzes Gekrakel vor einem grauen Himmel und ein hellrotes Flackern; Worte trieben auf mich zu – weiße Worte auf einem schwarzen Hintergrund. Gleichzeitig nahm ich plötzlich dröhnend laute Geräusche und einen metallischen Geschmack auf der Zunge wahr. Und all diese Bilder – eigentlich nicht mehr als Fragmente oder Andeutungen von Bildern – schienen sich um das seltsame Wort »Batter-Sea« zusammenzuballen. Ich versuchte, sie zu fassen, sie vor meinem geistigen Auge schärfer zu stellen, aber wie ein Traum verblassten sie und waren fort.
*
Ein weißes Kreuz
Eintrag für den Dreißigsten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam
Wenn man mein voriges Heft überprüft (Heft Nr. 9), wird man feststellen, dass ich im letzten Monat des vergangenen und in den ersten eineinhalb Monaten dieses Jahres sehr wenig schrieb. (Das kommt manchmal vor, aus einem Grund, den ich weiter unten erklären werde.) Während dieses Zeitraums ereignete sich etwas, über das ich schon länger hatte schreiben wollen. Jetzt hole ich das nach.
Es war tiefster Winter. Schnee häufte sich auf den Stufen der Treppen. Jede Statue in den Vestibülen trug einen Umhang oder ein Tuch oder eine Mütze aus Schnee. An jeder Statue mit ausgestrecktem Arm (von denen es viele gibt) hing ein Eiszapfen wie ein baumelndes Schwert oder eine ganze Reihe von Eiszapfen, als wüchsen ihr Federn.
Es gibt Dinge, die ich weiß, aber immer vergesse: Der Winter ist hart. Die Kälte nimmt kein Ende, und nur mit Mühe und Aufwand hält man sich warm. Jedes Jahr, wenn der Winter naht, beglückwünsche ich mich zu meinem üppigen Vorrat an als Brennmaterial zu verwendendem trockenen Tang, doch im Laufe der langen Tage, Wochen und Monate schwindet meine Gewissheit, genug zu haben. Ich trage so viel von meiner Kleidung gleichzeitig, wie ich nur irgend übereinanderziehen kann. Jeden Freitag mache ich eine Bestandsaufnahme meines Brennmaterials und rechne aus, wie viel ich mir pro Tag gestatten kann, damit es bis zum Frühling ausreicht.
Im Zwölften Monat des letzten Jahres unterbrach Der Andere seine Arbeit an Dem Großen und Geheimen Wissen und sagte unsere Treffen ab, weil er meinte, es sei zu kalt, um herumzustehen und zu reden. Meine Finger waren taub vor Kälte, weshalb sich meine Handschrift verschlechterte. Irgendwann hörte ich ganz auf, Tagebuch zu führen.